Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - Juli 2022 Ausgabe 92 GENERATIONENWECHSEL - ALPHA NRW
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Ansprechstellen im Land NRW zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen Juli 2022 Ausgabe 92 Schwerpunkt: GENERATIONENWECHSEL
Liebe Leserinnen und Leser, wie in vielen anderen sozialen oder auch kulturellen Bereichen erleben wir in der Hospizarbeit einen Generationenwechsel – nicht nur in der ehrenamtlichen Begleitungs- und Vorstandsarbeit, sondern auch im Hauptamt. Dieser unvermeidliche Wechsel bringt viele Chancen mit sich, ist jedoch mancherorts auch mit Sorgen verbunden, vor allem dann, wenn die Frauen und Männer der ersten Stunde als Wegbereiterinnen und Wegbereiter vermeintlich große Fußstapfen hinterlassen haben. Auch wenn es so wäre: Jedes Engagement erhält einen individuellen Anstrich. Mit jedem neuen Mitarbeiter und jeder neuen Mitarbeiterin ändert sich der Farbton. Kein Weg ist wie der andere. Dabei bleibt er zwar gesäumt von den für die Begleitung Sterbender unerlässlichen Grundhaltungen und Werten, doch kann er nun – und muss vielleicht auch – neu gestaltet werden. So gilt es, das Bewährte zu erhalten, Kreatives zu schaffen, Neuartiges zu etablieren und dabei mutig mit den eigenen Schuhen den Weg in die Zukunft zu beschreiten. Eine gute Lektüre wünscht Ihnen Ihre Dr. Gerlinde Dingerkus INFORMATION SCHWERPUNKT GENERATIONENWECHSEL 4 Tod, Trauer, Trost – Mit Kunst 16 Zwischen Tradition und Ökonomi- gegen die Ohnmacht sierung – Kann die ursprüngliche Boris Hait, Elena Margolina-Hait & Robert J. Hospizidee bewahrt werden? Hait Miriam Püschel 7 Ein Bewusstsein für die 19 Haltung weitergeben, Übergänge politische Biographie gestalten Interview mit Gereon Heuft Sabine Löhr, Judith Kohlstruck 10 Trauernden begegnen – 23 Junges Ehrenamt Ein Seminarkonzept Bernadette Groebe Irmgard Hewing 25 Leserbrief 13 Das Lebensende thematisieren Zum Beitrag „Sterben ohne Abschied“ (Autorin: Nicola Rieder et al., Palli-Kom Anke Sauter) von Norbert Mucksch Hospiz-Dialog NRW - Juli 2022/92 26 Veranstaltungen 27 Impressum
4 © Grete Achtermann TOD, TRAUER, TROST – MIT KUNST GEGEN DIE OHNMACHT BORIS HAIT, ELENA MARGOLINA-HAIT & ROBERT J. HAIT D ie Eheleute Boris Hait und Elena Margo- Spuren. Der Lichtspalt beherbergt alles. All das, lina-Hait sind in Lwiw, Ukraine, geboren was uns ausmacht, was das Leben lebenswert und leben schon seit vielen Jahren in macht, was uns menschlich macht: Freude und Be- Unna. Dem Palliativmediziner und der stürzung, Hoffnung und Angst, Liebe und Verlet- Konzertpianistin und Klavierprofessorin an der zung, Errungenschaften und Rückschläge – Tod, Hochschule für Musik in Detmold ist es schon seit Trauer und Trost. langem ein Herzensanliegen, sich dem Thema „Tod, Trauer und Trost“ gemeinsam literarisch und musi- Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Was ist, wenn kalisch zu nähern. Mit Kriegsbeginn in der Ukraine ich nicht mehr bin? ist der Moment gekommen, dieses besondere Seit jeher ist die Beschäftigung sowohl mit Fragen Projekt in Form einer CD in die Tat umzusetzen. des Lichtes als auch mit denen ewiger Dunkelheit eine unumstößliche Konstante unseres Seins. Es „Die Wiege schaukelt über einem Abgrund, und berührt und bewegt die Menschen über alle Hospiz-Dialog NRW - Juli 2022/92 der platte Menschenverstand sagt uns, dass Lebenslagen, Gesellschaftsschichten und Zeitdi- unser Leben nur ein kurzer Lichtspalt zwischen mensionen hinweg. So überrascht es keineswegs, zwei Ewigkeiten des Dunkels ist.“ dass diese Gedanken gerade auch in der Musik und Vladimir Nabokov Literatur Einzug halten und Künstler sich kontrovers mit dem Thema „Tod, Trauer und Trost“ ausein- Innerhalb dieses kurzen Lichtspaltes wandeln wir andersetzen – so wie die Pianistin und Interpretin auf gewundenen Wegen und hinterlassen unsere dieser CD.
5 Doch auch für die Medizin ist dieser Balanceakt Seit Anfang März leben in unserem Haus zwei Ju- eine unabdingbare Existenzgrundlage. Nirgendwo gendliche aus Charkiw. Mit beklemmender Fas- verschwimmen hierbei die Grenzen so flüssig wie sungs- und Sprachlosigkeit beobachteten wir, wie in der Palliativmedizin. Für den Sprecher der Texte die beiden am Frühstückstisch zusammenzuckten, dieser CD, der seit langem in der medizinischen als sie das dumpfe Grollen der Flugzeugtriebwerke Versorgung Schwerstkranker arbeitet, ist seine über ihren Köpfen vernahmen. Zum Glück war es – Tätigkeit als Palliativmediziner von unschätzbarem dieses Mal – lediglich eine Passagiermaschine im Wert. Sterbebegleitung eröffnet einzigartige Per- Landeanflug auf Dortmund. spektiven auf das Leben, den Tod und das, was Musik und Literatur wirken auf die Menschen als danach kommen mag. Im Dialog mit Menschen an Berührung mit dem Schönen, als Leuchtfeuer glü- ihrem Lebensende offenbart sich ein reichhaltiger hender Ideale, als Vermittler wahrhaftiger Werte. Schatz: Wut, Angst und Verzweiflung angesichts Sie sind somit ein einzigartiges Mittel, um Trost zu des Unbekannten, Vorahnung des Unaus- weichlichen, die Reue vertaner Chancen, das Ringen mit dem eigenen Schicksal, unendli- che Trauer und Einsamkeit – aber auch die Weisheit und das Glücksgefühl eines erfüll- ten Lebens, Hoffnung, Freude der Erinne- rung, Befreiung, Zuversicht und Neugier auf das Nahende. Wie durch ein Kaleidoskop ermöglicht es die Sterbebegleitung, einen flüchtigen Blick auf den illustren Lichtspalt des Menschenlebens zu erhaschen. Eine Niederschrift simpler Worte vermag es nicht, die Erfahrungen am Sterbebett in ihrem Gefühlsreichtum, ihrer Widersprüchlichkeit, ihrer Komplexität und ihrer Schönheit zu er- zählen. Doch das klangliche Zusammenspiel von Musik und Literatur erlaubt es, die Tiefe und Wahrhaftigkeit der menschlichen Seele zu beleuchten. Daher rührt die Ursprungs- idee dieser CD. Mit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine war für die Träger dieses Projektes der Zeit- punkt gekommen, die Idee zu realisieren. Cover CD Am 24. Februar 2022 ist das Thema „Tod, Trauer und Trost“ nahezu unvorstellbar grausam, spenden, um Ohnmacht zu überwinden, um aufs erbarmungslos und betäubend über uns hereinge- Neue Hoffnung zu fassen. Die Musik und die Texte brochen. An dem Tag, der den Lauf der Geschichte dieser CD haben nicht nur zum Ziel, einen Beitrag veränderte – für die Ukraine, für Europa, für die zur Enttabuisierung des Todes zu leisten. Vielmehr Hospiz-Dialog NRW - Juli 2022/92 Welt. Auch für uns. Einige unserer engsten Freunde wollen sie den Menschen, die sich mit der neuen befinden sich auch aktuell noch im Kriegsgebiet, Welt, einer düsteren und lähmenden Kriegsrealität, ihrer Heimat. Manche von ihnen verbringen ihren konfrontiert sehen, bei der Verarbeitung ihrer Trau- Alltag stundenlang in Luftschutzbunkern. Andere er eine Stütze sein. schaffen angesichts der heranrückenden Lebens- gefahr ihre Kinder außer Landes, nicht wissend, ob Uns Trägern dieses Projektes ist es ein besonderes und wann die Familie wieder vereint sein wird. Anliegen, unsere Zuhörerinnen und Zuhörer mit
6 Werken ukrainischer Künstlerinnen und Künst- ler vertraut zu machen. Die entmenschlichende, aufhetzende Rhetorik des russischen Staates benutzt Begriffe wie „Entukrainisierung“, um die historischen Wurzeln des ukrainischen Volkes, seine Sprache und seine Kultur zu verhöhnen, zu negieren und zu pervertieren. Daher fühlen wir uns verpflichtet, die Schönheit und Schätze der ukrainischen Kultur in Wort und Klang lebendig zu erhalten. Zu musikalischen Werken von Bach, Mozart, Schubert, Chopin, Gluck, Nepomuceno, Glinka sowie von den ukrainischen Komponisten Lyssenko, Skoryk und Bortkiewicz sind literari- sche Beiträge zu hören von Goethe, Ringelnatz, Kaléko, Rilke, Bonhoeffer, Roth, Eichendorff, Droste-Hülshoff, Streiff, Münchhausen, Ander- v. l. n. r.: Elena Margolina-Hait, Boris Hait & Robert J. Hait sen, Blumenthal, Fossen, Fried, Saint-Exupéry, Nabokov, Tolstoi, Latendorf und von den ukraini- schen Dichtern Schewtschenko, Franko, Lessja Ukrajinka, Tschuprynka und Swidsinskyj. Kontakt Die CD kann bestellt werden unter: Dr. Boris Hait cd-margolina@gmx.de. Palliativzentrum am Christlichen Klinikum Unna Mitte Die Erlöse aus dieser CD sollen insbesondere Kran- Obere Husemannstraße 2 kenhäusern in der westukrainischen Stadt Lwiw 59423 Unna sowie jungen aus der Ukraine nach Deutschland mobil: 01 78 - 8 76 48 34 geflohenen Menschen zugutekommen. Wir bedan- dienstlich: 0 23 03 - 1 00 60 34 ken uns ganz herzlich für die freundliche Unterstüt- b.hait@gmx.de zung bei „Rotary Club Unna, District 1900“ & b.hait@hospitalverbund.de „Rotary Unna Stiftung“. Hospiz-Dialog NRW - Juli 2022/92
7 ©istock.com/mammuth EIN BEWUSSTSEIN FÜR DIE POLITISCHE BIOGRAPHIE Die Bedeutung des Ukrainekriegs für die Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges Interview mit Prof. Dr. Gereon Heuft, geboren 1954, ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Münster. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind u. a. die Psychotraumatologie, Gerontopsychosomatik, Alterspsychotherapie. Was geschieht bei den Menschen, die den Flucht oder haben sexualisierte Gewalt erlebt. Für Zweiten Weltkrieg erlebt haben, wenn sie jetzt diese Gruppe besteht eine relativ erhöhte Wahr- die Bilder aus der Ukraine sehen? scheinlichkeit, dass durch die Kriegsberichterstat- Wir sollten da unterscheiden zwischen den heute tung lange zurückliegende Belastungen wieder Hochaltrigen, 93 Jahre und älter, die z. B. selbst in hochkommen, evtl. mit Symptomen einer spät Kampfhandlungen involviert waren, und den 77- beginnenden Posttraumatischen Belastungsstö- bis 93-Jährigen, also der Kriegskindergeneration, rung oder durch Symptome, in denen sich die die nicht direkt mit Kampfhandlungen konfrontiert Belastungssituation im Körpersymptom symboli- war. Von diesen sind ein Drittel der nichtjüdischen sierend wiederholt. Dass man z. B. keine Luft mehr Hospiz-Dialog NRW - Juli 2022/92 Bevölkerung schwerstbelastet und traumatisiert, bekommen hat und heute bei einer sogenannten während es bei der jüdischen Bevölkerung in der Trauma-Reaktivierung diese Luftnot wieder auftritt, Altersgruppe zu 100 % Betroffene gibt. auch wenn sie organisch nicht begründet ist. Bei diesem Drittel bestehen die Traumata z. B. auf Für die Hochaltrigen gilt das genauso, mit dem Grund von Tiefflieger- oder Bombenangriffen, es Akzent, dass unter Umständen noch die Täter-, also gab praktisch nichts zu essen, sie waren auf der die Schuldthematik hinzukommt.
8 Was genau wirkt auf die alten Menschen und bei dieser vulnerablen Gruppe der in absehbarer was können die Angehörigen tun? Zeit Sterbenden, bei denen die psychische Kraft Der stärkste Motor für die Reaktivierung schwerer und Perspektive gegebenenfalls nicht mehr aus- Belastungen sind die Bilder. Wenn Angehörige das reicht, sind diese „anstrengenden Psychotherapie- bemerken, dann könnten sie den älteren Menschen methoden“ vielleicht nicht mehr indiziert. mit Kriegserfahrungen raten, den Bilderkonsum einzuschränken, z. B. auf Radionachrichten zurück- Dann würde ich alternativ vorschlagen, gut wahr- zugreifen. zunehmen und zuzuhören, ob jemand sprechen möchte. Man sollte das Gesprächsangebot nicht Es gibt keine Studien in dieser Altersgruppe, aber forcieren und auch keinen Druck ausüben. Wenn wir wissen aus klinischen Zusammenhängen, dass jemand reden möchte, sollte es jedem bewusst die Konfrontation mit Bildern stärkere Erinnerungs- sein, dass die Inhalte auch für den Zuhörenden sehr reize setzt. Und wir wissen auch, dass es nicht gut belastend sein können. ist, ununterbrochen Nachrichten zu verfolgen, was wir möglicherweise aus Solidaritätsgründen tun. Manchmal neigt man als Zuhörer zum Beschwich- Da ist eine gesunde Abgrenzung notwendig. tigen. Das könnte jedoch bei dem Sprechenden zum Gefühl eines Abgewimmeltwerdens oder auch Wie erkennt man insbesondere bei Menschen einer Abwertung führen … daher ist es besser, als mit Demenz, ob und was die Bilder in ihnen Zuhörer begleitend und spiegelnd, aber nicht be- auslösen? schwichtigend zu reagieren. Und auch auf keinen Hier kommen weitere Faktoren hinzu. Ich würde Fall überreagieren und dramatisieren, sondern eher gern das Beispiel einer Bewohnerin anführen: Sie in Verbundenheit mitfühlen. Das ist oft eher eine war gut integriert und völlig unauffällig, solange zugewandte Haltung, bei der man nicht allzu viel sie noch selber mobil war und sich weitgehend sprechen muss. selbstständig pflegen konnte. Bei Fortschreiten ihrer Erkrankung und als sie auf Hilfe bei der Kör- Was ist wichtig für Fachleute aus Pflege und perpflege angewiesen war, wurde sie zunehmend Medizin? aggressiver. Das verstand niemand und die Pflege- Es kann schon eine Herausforderung für die kräfte fühlten sich abgelehnt. Keiner hatte mehr Behandelnden sein, wenn z. B. jemand mit 87 Jahren, Lust, mit ihr zu arbeiten. Einige Zeit später gelang der mit diesen Bildern aus dem Ukrainekrieg kon- es, über die Schwester der Bewohnerin zu erfahren, frontiert ist, plötzlich wieder eigene schwerste dass sie Ende des Zweiten Weltkriegs ein Vergewal- Kriegserfahrungen erinnert und ansprechen möchte. tigungstrauma erlitten hatte. Ihr ganzes weiteres Sollten sich aufgrund der Erinnerungen psychische Leben war sie alleinstehend und hatte damit auch oder körperlich nicht erklärbare (psychosomatische) körperliche Nähe vermieden. Nun war Berührung Symptome entwickeln, ist die Differenzialdia- über die Pflege notwendig. Die Kenntnis dieser Not gnostik oft auch für die behandelnden Ärzte nicht ermöglichte es den Pflegenden, wieder Solidarität einfach. mit der Bewohnerin zu entwickeln und den Ablauf der körperlichen Pflege so zu gestalten, dass die Man wird zunächst immer auch körperliche Ursa- Patienten bei der Körperpflege nicht ganz aufge- chen für die Symptomatik ausschließen müssen. deckt war und gleichzeitig mit ihr beruhigend Wenn man weiß, dass der Betroffene solche Erfah- gesprochen wurde. Dieser neue Ansatz führte allseitig rungen gemacht hat, und deswegen unter Erinne- Hospiz-Dialog NRW - Juli 2022/92 zu einer Entlastung. rungsbildern leiden könnte, dann könnte man zumindest vorsichtig versuchen, die Zusammen- Wie kann die Kommunikation mit den Menschen hänge zwischen den damaligen Erfahrungen und den gestaltet werden, die angesichts ihrer Erinne- heutigen Symptomen anzusprechen. Man merkt rungen unter Angstgefühlen leiden? relativ schnell, ob der Betreffende den Ball aufgreift, Grundsätzlich sind traumatherapeutische Behand- oder ob er „abblockt“. lungsmethoden nicht altersgebunden. Aber gerade
9 Denken Sie, dass es genug Professionelle gibt, Menschen im Hospiz befinden sich in einer erhöhten die in diesem Bereich unterstützen können? Vulnerabilität. Sie realisieren die Lebensbegren- Sicher nicht. Der gesamte Bereich der Alterspsy- zung und sind mit dem Tod bedroht. Diese Erfah- chotherapie ist erheblich unterbesetzt. Im Hinblick rungen führen unter Umständen zu einer höheren auf ältere Menschen zeigt sich hier ein noch grö- psychischen Empfindlichkeit. Daher sollte man ßeres Defizit. Das hängt mit verschiedenen Fakto- Menschen im Hospiz ermöglichen, dass sie ange- ren zusammen. Therapeuten im mittleren und jün- sichts der Belastungen, die sie jetzt für sich geren Erwachsenenalter lassen evtl. das Thema des persönlich zu tragen haben, eine Grenze setzen Alternsprozesses nicht so gerne an sich herankom- dürfen. Dazu darf man die Bewohner auch aktiv men, da sie selber diese Entwicklungsaufgabe noch ermutigen. vor sich haben – und das macht Angst. Diese Jahr- gänge suchen auch noch weniger aktiv nach Psychotherapie. Deutschland und Österreich waren ja bis zum II. Weltkrieg führend in der Psychothe- Univ.-Prof. Dr. Dr. med. Gereon Heuft Sektion für Psychosomatische rapie. Nach Ende des II. Weltkrieges hatte die Na- Medizin und Psychotherapie tionalsozialistische Diktatur die meisten Experten Universitätsklinikum Münster vertrieben oder umgebracht, so dass in den ersten Albert-Schweitzer-Campus 1 (Geb. A9) Jahrzenten nach dem 2. Weltkrieg das psychothe- 48149 Münster rapeutische Wissen erst mühsam wieder „impor- Tel.: 02 51 - 8 35 29 01 tiert“ werden musste. Die nachwachsende Alters- Fax: 02 51- 8 35 29 03 heuftge@ukmuenster.de generation hat oft schon im mittleren Lebensalter selber Erfahrungen mit Psychotherapie sammeln können oder kennt Menschen, die von einer sol- chen Behandlung profitiert haben. Daher erwarte ich in 10-20 Jahren eine deutliche Veränderung. Die nachfolgende Altersgeneration wird Psychothera- pieangebote viel eher einfordern. Gibt es noch etwas, was Sie unseren Leserinnen und Lesern aus der Hospiz- und Palliativversor- gung empfehlen würden? Ja, ich glaube, es ist wichtig, dass sie ein Bewusst- sein dafür entwickeln, dass ihre Schutzbefohlenen, egal in welchem Kontext, auch eine politische Bio- graphie haben. Diese kann relativ unbelastet gewesen sein: Nehmen wir z. B. jemanden, der während des Kriegs im Allgäu in der Landwirtschaft aufgewachsen ist. Die Eltern waren beide unab- kömmlich auf dem Hof und wurden nicht eingezogen, es gab immer genug zu essen und keine Flucht, kei- ne Bombenangriffe, keine Kinderlandverschickung. Andere wiederum waren, wie bereits erwähnt, Hospiz-Dialog NRW - Juli 2022/92 mittel- oder stark betroffen von Kriegsgeschehnissen. Und dies kann eben auch Anlass dafür sein, dass im Alter, wie z. B. jetzt durch den Ukraine-Krieg, Erinnerungen und Traumata wieder hochgespült werden.
10 ©iStock.com/FredFroese TRAUERNDEN BEGEGNEN – EIN SEMINARKONZEPT IRMGARD HEWING T rauer ist ein höchst individueller Prozess. Nahestehenden neu auf sich selbst besinnen, in Für den einen ist der Verlust mit einer einer veränderten Lebenssituation orientieren und emotionalen oder auch existentiellen neu zurechtfinden. Trauer kann ein wegweisender Krise verbunden, für den anderen ist der heilender Prozess sein, um mit dem Vergangenen Verlust berührend und doch annehmbar. Kein abzuschließen, sich dem Zukünftigen zuzuwenden Mensch trauert wie der andere, auch stellen sich und das Leben in einen neuen Zusammenhang zu Menschen, die einen Verlust erlebt haben, diesem stellen. auf sehr unterschiedliche Weise. Seit 2019 ist die sogenannte „anhaltende Trauer- Was wir meinen, wenn wir von Trauer sprechen störung“ als pathologische Trauerreaktion eine in Trauer ist die Reaktion eines Menschen auf einen der ICD1 11 klassifizierte Krankheit. Die Kriterien für Verlust, ob durch Tod oder Trennung von einem die Diagnose sind laut WHO: Funktionseinschrän- Hospiz-Dialog NRW - Juli 2022/92 Nahestehenden, aber auch durch den Abschied von materiellen Dingen, z. B. von der beruflichen Rolle, 1 Die ICD ist ein weltweit genutztes Klassifikationssystem, in dem finanziellen Status oder auch von der eigenen dem Krankheiten definiert werden. Die Abkürzung ICD steht gesundheitlichen Unversehrtheit. Trauern ist eine für „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ oder auf deutsch: „Internationale angeborene emotionale Fähigkeit, mit Verlusten statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter umzugehen. Denn alle Menschen – ob Kinder oder Gesundheitsprobleme“. In der Kurzform spricht man von Erwachsene – müssen sich nach dem Tod eines der „Internationalen Klassifikation der Krankheiten“.
11 kung im Alltag, ein starkes Verlangen nach und eine Angst, etwas falsch zu machen, etwas Falsches zu anhaltende Beschäftigung mit der/dem Verstorbe- sagen. Ich fühlte mich so hilflos!“ nen, verbunden mit starkem emotionalem Schmerz „Auch nach zwei Jahren wiederholt meine Nachba- – über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr. Das rin immer wieder die alten Geschichten um ihren Einfügen der Trauer in die ICD wurde und wird im- verstorbenen Bruder. Ich kann es nicht mehr hö- mer noch kritisch diskutiert. ren!“ „Vor zwei Wochen ist meine Tochter gestorben. In Aus der Trauerforschung ist bekannt, dass ein ge- meinem ganzen Schmerz und meiner ganzen Trauer sunder Trauerprozess keine zeitlich fest definierten werde ich nun auch noch von vielen Menschen ge- Grenzen hat. Das erste Trauerjahr ist von besonde- mieden. Dabei wünschte ich mir so sehr ihre An- rer Bedeutung, da jedes bisher gemeinsam gelebte sprache!“ Ritual, jeder Geburtstag, besondere Festtage oder Solche und ähnliche Aussagen zeigen die Angst Erlebnisse, die in einem Kalenderjahr stattgefun- und die Hilflosigkeit im Umgang mit Trauernden. den haben, mindestens einmal ohne die/den Ver- storbene/n durchlebt werden. Aber die intensiven Gefühle gehen oft sehr weit über das traditionelle Das Seminar „Trauernden Begegnen – ein Mut- Trauerjahr hinaus. machseminar“ All diese Gedanken mündeten in der Idee, ein Kon- zept zu entwickeln, das Menschen in ihrem alltäg- Was Trauernde brauchen lichen Leben darin stärken und sie ermutigen soll, Menschen in Trauer benötigen wertfreien Respekt Trauernde nicht alleinzulassen, sondern ihnen mit in ihrem Handeln und auch in ihrem Nichthandeln. Achtsamkeit, Empathie, Wertschätzung und Ver- Sie leben in einem Gewirr von Gefühlen, die im Le- ständnis zu begegnen. Mit dem „Mutmachsemi- ben derer, die nicht trauern, so nicht vorkommen. nar“ machte Sabine Wüppenhorst einen großen Für sie gibt es nicht die Trauerkultur, die ihnen eine Schritt in diese Richtung und damit hin zu einer po- Orientierung oder einen „Leitfaden“ bieten könnte. sitiven Entwicklung unserer Gesellschaft, indem die Und auch wenn man sich durch Literatur oder Filme Trauer aus der Tabuzone heraus- und wieder ins mit der Thematik beschäftigt hat, ist letztendlich Leben hineingeholt wird. In Zusammenarbeit mit wohl niemand vorbereitet: auf den emotionalen ALPHA NRW und Koordinatorinnen aus ambulanten Schmerz, auf die eigene Verunsicherung oder auf Hospizdiensten entstand eine Publikation, die das andere plötzlich aufkommende Gefühle und Verän- Seminarkonzept enthält (incl. Arbeitsblätter und derungen. Wenn ein geliebter Mensch stirbt, bleibt Präsentation) mit dem Ziel, Trauer besprechbar zu eine schmerzliche Lücke im Alltag der Hinterblie- machen und Berührungsängste abzubauen. benen. Plötzlich ist nichts mehr wie vorher. Auch wenn Tod und Sterben zum Leben gehören, An wen sich das Seminar richtet ist es in unserer Gesellschaft häufig ein Tabuthema. Das niedrigschwellig ausgerichtete Mutmachsemi- Gerade dann ist es aber wichtig, dass die Menschen nar richtet sich an Menschen, die sich im Umgang in der Umgebung nicht wegschauen und auswei- mit Trauernden hilflos fühlen, die mehr über Trauer chen, sondern im Gegenteil: hinschauen und da- und Trauernde erfahren wollen und die bereit sind, bleiben. Trauernden zu begegnen, braucht jedoch sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Es hat manchmal eine Portion Mut. Ihr Gegenüber ist un- einen Umfang von wenigen Stunden. Wichtig für Hospiz-Dialog NRW - Juli 2022/92 sicher, hat Sorge, nicht die richtigen Worte zu fin- die Ausschreibung ist es, deutlich zu machen, dass den, oder fühlt sich ohnmächtig. es sich nicht um ein Selbsthilfe- oder Trauerbeglei- tungsangebot handelt. Die Umsetzung soll durch „Gestern bin ich in der Stadt einer alten Bekannten erfahrene und fachlich sichere Referentinnen und begegnet, deren Ehemann kürzlich verstorben ist. Referenten, Koordinatorinnen und Koordinatoren Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Am liebs- erfolgen. ten wäre ich ihr aus dem Weg gegangen. Ich hatte
12 Das Seminarkonzept Der rote Faden in diesem Seminar, das ursprünglich Biographiearbeit, Trauermodelle, Trauerverläufe in Präsenz gedacht war, aber auch sehr gut online sind hilfreiche Elemente, um Trauer zu verstehen, durchführbar ist, besteht in der Wertschätzung der und werden hier vorgestellt. Es geht nicht um das Teilnehmerinnen und Teilnehmer, da zu sein, um Trösten: Die Kraft des Zuhörens und ein einfaches Gedanken zu sortieren, den Blickwinkel zu verän- Dasein helfen. Die eigene Unsicherheit im Gespräch dern, eigene Kompetenzen zu entdecken und den mit Trauernden zu thematisieren, durch Nachfragen Mut, die Leichtigkeit zu finden, Trauernden zu be- ihre Wünsche bezüglich des Umgangs mit ihnen zu gegnen, so wie sie es zulassen können, hinzu- erkunden und Hilfsbereitschaft zu signalisieren, schauen, da zu sein, zu akzeptieren. können hilfreiche Gesten sein, um ins Gespräch zu kommen. Sie können die Publikation als Druckfassung In fünf Pilotveranstaltungen wurde das Seminar on- bestellen oder als PDF über www.alpha-nrw.de line durchgeführt, die Rückmeldungen der Teilneh- abrufen. menden waren mehr als positiv und machten den Bedarf deutlich. „Wie leicht kann das Gespräch sein, wenn dem Thema Trauer normal begegnet wird!“ Viele waren überrascht darüber, wie berüh- rend, offen und leicht sie miteinander ins Gespräch kamen. Irmgard Hewing Ansprechstelle im Land NRW zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung Landesteil Westfalen Friedrich-Ebert-Straße 157-159 48153 Münster Tel.: 02 51 - 23 08 48 alpha@muenster.de www.alpha-nrw.de Hospiz-Dialog NRW - Juli 2022/92
13 ©iStock.com/Spotmatik DAS LEBENSENDE THEMATISIEREN Kommunikationstraining zur Förderung des frühzeitigen Ansprechens palliativmedizinischer Themen bei unheilbar an Krebs erkrankten Patientinnen und Patienten NICOLA RIEDER (FÜR DIE PALLI-KOM-PROJEKTGRUPPE*) D ie interprofessionelle Projektgruppe Krebshilfe e. V. ein Kommunikationstraining für Ärz- PALLI-KOM (Verbesserung der Palliativ- tinnen und Ärzte entwickelt und erprobt. versorgung durch frühzeitige Aufklärung von Krebspatientinnen und -patienten) Viele Studien zeigen die unterschiedlichen positiven hat im Rahmen einer Förderung durch die Deutsche Auswirkungen einer frühzeitigen Kommunikation palliativmedizinischer und das Lebensende betref- * Projektgruppe: Karin Oechsle1 und Corinna Bergelt2 (Pro- fender Themen auf die Versorgung onkologischer jektleitung), Nele Harnischfeger1, Hilke Rath2, Anne Letsch3, Patientinnen und Patienten, beispielsweise mit Rudina Marx3, Hannah Brand3, Peter Thuss-Patience4, Karl Blick auf die Lebensqualität, Symptomkontrolle, Haller4, Bernd Alt-Epping5,6, Nicola Rieder5,6 1Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, 2. Medizinische Zufriedenheit und die Umsetzung wunschgerechter Klinik und Poliklinik, Palliativmedizin, Hamburg, 2Univer- Therapien (Bakitas et al., 2015). Zudem weisen sitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut und Poliklinik verschiedene Studien darauf hin, dass unheilbar Hospiz-Dialog NRW - Juli 2022/92 für Medizinische Psychologie, Hamburg, 3Universitätskli- an Krebs erkrankte Patientinnen und Patienten nikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel, Klinik für Innere Medizin mit Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie, Kiel, frühzeitige Gespräche über den Verlauf ihrer 4Charité Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow- Erkrankung, das Sterben und die Möglichkeiten der Klinikum, Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Hämatologie, Versorgung am Lebensende selbst für sehr wichtig Onkologie und Tumorimmunologie, Berlin, 5Universitäts- erachten (Collins et al. 2018; LeBlanc et al., 2018). medizin Göttingen, Klinik für Palliativmedizin, Göttingen, 6Universitätsklinikum Heidelberg, Klinik für Palliativmedizin, Dennoch gibt es unterschiedliche Faktoren, die Heidelberg solch ein rechtzeitiges Ansprechen immer wieder
14 erschweren. So wird die frühzeitige palliativmedi- che mit speziell geschulten Schauspielpatientinnen zinische Mitbetreuung in nationalen und interna- und -patienten, die hierbei unterschiedliche, stan- tionalen Leitlinien zwar als Standard angesehen dardisierte Rollen einnahmen. Die Aufzeichnungen (Leitlinienprogramm Onkologie, 2020; Giligan, dieser Gespräche wurden anschließend durch 2017), ist in Deutschland aber noch immer kein Forscherinnen und Forscher, die keine Informationen systematisch etablierter Teil der Regelversorgung über die Gruppenzugehörigkeit hatten, anhand (Gärtner et al., 2016; Berendt et al., 2017; Berendt eines Bewertungssystems hinsichtlich der et al., 2016). Nicht-palliativmedizinisch weiterge- Gesprächskompetenz bezüglich palliativmedizinischer bildeten Ärztinnen und Ärzten fällt es oft schwer, Themen beurteilt. Diese wird in fünf Kategorien palliativmedizinische Themen frühzeitig im Krank- unterschieden: „über Emotionen sprechen und heitsverlauf anzusprechen. Gründe hierfür können Empathie zeigen“, „Vermittlung von Möglichkeiten beispielsweise kommunikative Unsicherheiten, und Hoffnung“, „Thematisierung des Lebensendes“, fehlendes Wissen, Zeitdruck oder die Angst vor „Erläuterung des Konzepts der Palliativmedizin“ negativen Auswirkungen auf die weitere Beziehung und „weitere tumorspezifische Behandlung zu den Patientinnen und Patienten sein (Granek et besprechen“. Zudem wurde die teilnehmende al., 2017). Ärzteschaft gebeten, die geführten Gespräche mittels eines Fragebogens selbst einzuschätzen. Ein Ziel des PALLI-KOM Projekts war somit die Ent- Auch die Simulationspatientinnen und -patienten wicklung eines niedrigschwelligen Trainings, das die wurden gebeten, anhand eines dafür vorbereiteten ärztliche Gesprächsführungskompetenz im Hinblick Fragebogens die Gesprächsleistung ihres Gegen- auf palliativmedizinische und das Lebensende übers einzuschätzen. Nach Abschluss der Daten- betreffende Themen fördert und Barrieren im erhebung erhielten auch die Teilnehmenden der Gespräch mit unheilbar an Krebs erkrankten Patien- Wartekontrollgruppen ihr Training. tinnen und Patienten abbaut. Die Entwicklung erfolgte basierend auf einer eingehenden Literatur- Pandemiebedingte Anpassungen recherche, den Ergebnissen von vier hierzu durch- Das Training sowie die Simulationsgespräche vor geführten Fokusgruppen (Anm.: eine moderierte und nach dem Training wurden ursprünglich als Form der Gruppendiskussion) sowie den Erfahrun- Präsenzformat entwickelt. Durch die Corona- gen verschiedener Expertinnen und Experten. Pandemie musste in beiden Fällen auf ein Online- Format ausgewichen werden. Dies ließ sich sehr So konnte ein 2 x 90-minütiges, manualisiertes gut umsetzen und wurde von allen Teilnehmenden Kommunikationstraining entwickelt werden, in dem positiv angenommen. mittels theoretischer Inhaltsvermittlung, einer Insgesamt nahmen 141 Ärztinnen und Ärzte an der beispielhaften Videosequenz, praktischen Rollen- Studie teil, von denen 73 der Interventions- und 68 spielen, professionellem Feedback und einer Kom- der Wartekontrollgruppe zugeteilt wurden. Die Teil- munikationshilfe für den Berufsalltag die ärztliche nehmenden waren im Durchschnitt etwa 33 Jahre Gesprächskompetenz gefördert werden soll. alt. Zu einem etwas größeren Anteil waren Frauen vertreten (59,8 %). Nach Absolvieren des Trainings Um das Training in einem zweiten Schritt wissen- wiesen die Teilnehmenden der Interventionsgrup- schaftlich zu erproben, wurden die Teilnehmenden pen im direkten Vergleich in vier von fünf Bewer- (onkologisch tätige Ärztinnen und Ärzte aus unter- tungsskalen eine signifikant größere Verbesserung schiedlichen Fachrichtungen an fünf unterschied- der Gesprächsleistung auf. Lediglich für die Skala Hospiz-Dialog NRW - Juli 2022/92 lichen Standorten) zunächst zufällig in Interven- „weitere tumorspezifische Behandlung bespre- tions- oder Wartekontrollgruppen aufgeteilt. Die chen“ ließ sich durch das Training keine signifikant Erhebung der Studien-Daten erfolgte zu zwei unter- größere Verbesserung erwirken. Auch im Blick auf schiedlichen Messzeitpunkten (vor und nach dem die ärztliche Selbsteinschätzung zeigten sich sig- Training), zwischen denen jeweils nur die Interven- nifikante positive Effekte des Trainings, beispiels- tionsgruppe das Training erhielt. Dabei führten die weise in Bezug auf eine höhere wahrgenommene Teilnehmenden videobasierte Simulationsgesprä- Selbstwirksamkeit der Ärztinnen und Ärzte, eine
15 weniger negative Einstellung gegenüber der Ver- Gilligan, T., Coyle, N., Frankel, R., Berry, D., Bohlke, K., Ep- sorgung Sterbender und weniger vermeidende stein, R., Finlay, E., Jackson, V., Lathan, C., Loprinzi, C. L., Nguyen, L., Seigel, C., Baile, W., (2017). Patient-Clinician Kommunikationsstrategien. Auch die selbstemp- Communication: American Society of Clinical Oncology fundene Sicherheit, das Lebensende anzuspre- Consensus Guideline. Journal of Clinical Oncology, chen, selbst wenn es noch nicht unmittelbar bevor- 35(31):3618-32. steht, konnte durch das Training positiv beeinflusst Gärtner, J., Wedding, U., Alt-Epping, B., (2016). Frühzeitige spezialisierte palliativmedizinische Mitbehandlung. Wiener werden. Aus Sicht der Simulationspatientinnen und Klinisches Magazin, 19(1):22-28. -patienten konnte unter anderem die Qualität der Berendt, J., Stiel, S., Nauck, F., Ostgathe, C., (2017). Early pal- Interaktion signifikant positiv beeinflusst werden. liative care: current status of integration within German comprehensive cancer centers. Journal of Supportive Care in Cancer, 25(8):2577-80. „[…] anbei der Fragebogen nach meinem heutigen Berendt, J., Oechsle, K., Thomas, M., van Oorschot, B., Gespräch mit der Simulationspatientin. Ich muss Schmitz, A., Radbruch, L., Simon, S., Gärtner, J., Thuß- sagen, dieses Mal fiel mir das Gespräch sehr viel Patience, P., Schuler, U., Hense, J, Gog, C., Viehrig, M., leichter. Ich wollte mich erneut bei Ihnen und bei Mayer-Steinacker, R., Stachura, P., Stiel, S., Ostgathe, C., (2016). State of integration of palliative care at Compre- [Name Dozent] bedanken für die Möglichkeit, in hensive Cancer Centers funded by German Cancer Aid. dieser Studie teilnehmen zu dürfen. Es war wirklich DMW-Deutsche Medizinische Wochenschrift, 141(02):e16- super lehr- und hilfreich für unseren Alltag.“ e23. (Rückmeldung einer teilnehmenden Ärztin) Granek, L., Nakash, O., Cohen, M., Ben-David, M., Ariad, S., (2017). Oncologists’ communication about end of life: the relationship among secondary traumatic stress, compas- Die Ergebnisse zeigen, dass ein niederschwelliges, sion satisfaction, and approach and avoidance communi- kompaktes Training bereits zu Verbesserungen der cation. Journal of Psychooncology, 26(11):1980-86. frühzeitigen ärztlichen Kommunikation über palli- ativmedizinische Themen führen kann. Eine zukünf- tige Implementierung – z. B. durch die Aufnahme in Fortbildungscurricula – könnte ein rechtzeitige- Nicola Rieder res Ansprechen fördern und damit die Versorgung Wissenschaftliche Mitarbeiterin Universitätsmedizin Göttingen onkologischer Patientinnen und Patienten weiter Klinik für Palliativmedizin verbessern. Forschungsabteilung Von-Siebold-Str. 3 37075 Göttingen Literatur nicola.rieder@med.uni-goettingen.de Bakitas, M., Tosteson, T., Li, Z., Lyons, K., Hull, J., Li, Z., Dion- ne-Odom, J., Frost, J., Dragnev, L., Hegel, M., Azuero, A., Ahles, T., (2015). Early versus delayed initiation of concur- rent palliative oncology care: patient outcomes in the ENA- BLE III randomized controlled trial. Journal of Clinical On- cology, 33(13):1438. Collins, A., McLachlan, S., Philip, J., (2018). Communication about palliative care: A phenomenological study exploring patient views and responses to its discussion. Palliative medicine, 32(1):133-42. LeBlanc, T., Bloom, N., Wolf, S., Lowman, S., Pollak, K., Stein- hauser, K., Ariely, D., Tulsky, J., (2018). Triadic treatment decision-making in advanced cancer: a pilot study of the Hospiz-Dialog NRW - Juli 2022/92 roles and perceptions of patients, caregivers, and oncolo- gists. Support Care Cancer, 26(4):1197-205. Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF), (2015). Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung, Lang- version 2.2, 2020, AWMF-Registernummer: 128/001OL, https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/ leitlinien/palliativmedizin/ Zugriff am: 12.05.2022.
16 GENERATIONENWECHSEL © H. Renner ZWISCHEN TRADITION UND ÖKONOMISIERUNG – KANN DIE URSPRÜNGLICHE HOSPIZIDEE BEWAHRT WERDEN? Vermittlung einer hospizlichen Haltung nach dem Pflegemodell für stationäre Hospize MIRIAM PÜSCHEL D ie Hospizbewegung entstand aus dem durch professionelle Fähigkeiten und Kenntnisse Bemühen, neue Wege für die Gestaltung beschrieben als vielmehr durch eine besondere in- des Lebensendes zu entdecken. Als sei- nere, wertegetragene Haltung, die von unbedingter nerzeit charismatische, bürgerschaftli- Akzeptanz, Mitgefühl und Zuwendung geprägt ist che Kontrabewegung wandte sie sich gegen das – intuitiv, empathisch, ehrenamtlich. herkömmliche Gesundheitssystem mit seinen Fort- schrittsbestrebungen und seiner zunehmenden Die Hospizbewegung ist mittlerweile in der Gesell- Objektivierung des Menschen. Sie verkörperte die schaft etabliert; die einstige Pionierphase ist längt Lossagung von der damals aufkommenden eher einer Konsolidierungsphase gewichen. Und ihr kommerziellen „Apparatemedizin“, trat für eine un- strukturelles Eindringen unter dem Label „Palliative bedingte Humanisierung der Medizin ein und hat Care“ in die Gesundheitspolitik sichert seit einigen als eine der bedeutendsten sozialen Bewegungen Jahren ihr Fortbestehen: Das SGB V normiert einen weltweit, trotz erheblicher Widerstände, den Um- Rechtsanspruch auf Palliativversorgung. Rahmen- gang mit sterbenden Menschen nachhaltig verän- vereinbarungen zwischen Krankenkassen und Hos- Hospiz-Dialog NRW - Juli 2022/92 dert. pizträgern eröffnen tragfähige Finanzierungsmög- lichkeiten stationärer Hospize als Gegenleistung Gepflanzt wurde die Hospizphilosophie von enga- für verbindliche Standards und Effizienzverspre- gierten Bürgerinnen und Bürgern, die ihre Über- chen. Der ursprüngliche Hospizansatz, von Ehren- zeugung von einem würdevollen, selbstbestimm- amt und Spenden getragen zu sein, ist einem kas- ten Leben bis zuletzt lebten. Das besondere Wesen senfinanzierten Erstattungsansatz von mittlerweile des hospizlichen Handelns wurde damals weniger 95% gewichen.
GENERATIONENWECHSEL 17 Die Folge: Leistungserbringer jeglicher Art Der Vielfalt mit Vielfalt begegnen – so würde ich es aus meiner Erfahrung heraus drängen in den Gesundheitsmarkt. Sowohl beschreiben. Unser Team ist sehr gemischt: Ältere, Jüngere, Erfahrene und weniger Institutionalisierung, Professionalisierung als Erfahrene. Auch bei Nachbesetzungen achten wir darauf, dass unsere Unterschiedlichkeit auch Ökonomisierung der Hospizangebote erhalten bleibt, denn die Anforderungen an uns sind enorm vielfältig. Wer gerade seine Ausbildung beendet hat, bringt aktuelles Wissen mit. Wer schon länger da ist, hat praktische nehmen weiter zu und verdrängen mehr und Erfahrungen. Und jedes Lebensalter birgt unterschiedliche Qualitäten. Menschen zwischen mehr den ursprünglichen Charakter des bür- 30 und 50 und darüber hinaus haben in der Regel eigene Erfahrungen mit existenziellen gerschaftlichen Engagements. Die Erfahrung Fragestellungen, junge Menschen können sich hier häufig zunächst nur einfühlen. Die zeigt, dass sich in der Konsequenz auch Mitar- entscheidenden Faktoren sind aber im Grunde altersunabhängig: Persönlichkeit, Charakter und Haltung. – Ich finde übrigens, dass unser Berufsfeld sich unbedingt eignet für Neu- beitende deutlich weniger mit der Hospizidee einsteiger im Alter von 50+. verbunden fühlen, die persönliche Anteilnah- Anne Storcks, Leitung Stationäres Hospiz Haus Hörn, Aachen me merklich sinkt, und sich die Sterbebeglei- tung mehr und mehr zu einem normalen Be- rufsfeld entwickelt, das allenfalls eine professio- nisorientierung, Kultursensibilität und Achtsamkeit nelle Fachlichkeit erwartet. seien hier nur beispielhaft genannte Haltungsmerk- male. Will man die wesentlichen Kernelemente Die heutige Hospizversorgung bewegt sich im einer solchen Grundhaltung vermitteln, bedarf es Spannungsfeld zwischen Tradition und wirtschaft- eines klaren Orientierungsrahmens, der zudem licher Rentabilität, zwischen lebendiger Begegnung Lernwege aufzeigt. Und genau hier setzt das und regelhafter Grundversorgung. „Pflegemodell für stationäre Hospize“ an. Es Der seit einiger Zeit stattfindende Generationen- gewährt einen umfänglichen Verständnis- und wechsel in stationären Hospizen entspannt die Handlungsrahmen, der dabei unterstützen kann, Situation keineswegs. Die Gründerinnen-/Gründer- die hospizlichen Werte in eine praxisorientierte generation verabschiedet sich nach und nach in Beziehungsgestaltung (Hospizarbeit) zu übertra- den Ruhestand. Vieles aus der Pionierzeit wird gen. Schwerpunkt ist dabei grundsätzlich die damit in Vergessenheit geraten. Erschwerend tritt Entwicklung der hospizlichen Haltung. hinzu, dass der vorherrschende Fachkräftemangel kaum personelle Auswahloptionen belässt und Haltung Kommunikation damit auch weniger humanitär motivierte Mitarbei- als Basis als Instrument tende anzieht, die aus anderen Gründen als der hospizlichen Überzeugung eine Anstellung im Hos- piz suchen. Die hospizliche Kultur in den bestehenden Einrich- tungen zu bewahren und zu erhalten, aber auch in BEZIEHUNGSGESTALTUNG den neu entstehenden Hospizen zu entwickeln, wird eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben sein. Abb.1: Hospizarbeit ist in seinem Kern Beziehungsgestaltung durch wache Kommunikation und Begegnung auf der Basis einer Haltung bewahren bestimmten inneren Haltung. Das Wesen der Hospizarbeit ist durch ein In-Kon- takt-Sein, In-Beziehung-Sein, schlicht: durch Beziehungsgestaltung und situatives Handlungs- Pflegemodell für stationäre Hospize vermögen charakterisiert. Beides bedarf einer Das Pflegemodell für stationäre Hospize ist auf der Hospiz-Dialog NRW - Juli 2022/92 empathischen, einfühlsamen Grundhaltung. Für eine Basis eines wissenschaftlichen Praxisprojektes ent- solche Grundhaltung gibt es keine allgemeingültige standen. Hierfür wurde im Jahre 2017 eine bundes- Definition, wohl aber verschiedene Komponenten weit angelegte Interviewreihe mit insgesamt 190 auf der Verhaltensebene, die eine bestimmte innere stationären Hospizen durchgeführt und der darauf- Haltung erfahrbar machen. Gemeinsames Aushalten hin entwickelte Modellansatz im Rahmen eines auch von Unsicherheiten, schwierigen Situationen strukturierten Fachdiskurses mit Hospizvertrete- und Nöten, Wertschätzung und Akzeptanz, Bedürf- rinnen und -vertretern reflektiert und konsensiert.
18 GENERATIONENWECHSEL Das Pflegemodell basiert auf einem Theorierah- im tiefen Zuhören und Verstehen wollen, im Spüren men, der die hospizlichen Wurzeln und Traditionen und Erspüren von Ungesagtem sowie in der wert- beschreibt, aber auch die Ziele und Aufgaben der schätzenden Einbeziehung des Umfeldes. Hospizarbeit konkret ausformuliert. Wesentlicher Kern des theoretischen Unterbaus ist jedoch die Diese Haltung erfahr- und erlernbar zu machen, Darstellung der philosophischen Grundannahmen, wird unter Zuhilfenahme der Ansätze im Pflegemo- die in ihrer Gesamtheit betrachtet wesentliche Ele- dell sowie unter Einsatz verschiedener Workshop- mente der hospizlichen Haltung darstellen. Nach methoden mit praktischen Übungen, biografischer einer Beschreibung der palliativpflegerischen Selbstreflexionsarbeit und Selbsterfahrungseinhei- Handlungsvoraussetzungen werden die Besonder- ten ermöglicht. Es wird ein Raum eröffnet, in dem heiten im Rahmen des hospizlichen Pflegeprozes- die Beteiligten ihre persönlichen Überzeugungen ses besprochen. Es folgt eine Analyse des Modells und Werte vor dem Hintergrund der philosophi- auf der Basis des pflegewissenschaftlichen Meta- schen Grundannahmen reflektieren und sie be- paradigmas. Das Konzept schließt mit Hinweisen wusst in Beziehung zur eigenen Hospizarbeit set- und Ansätzen zur Praxisumsetzung ab. zen können. Dabei hat sich gezeigt, dass sich die Gruppenarbeit als kooperative Lernform für die hos- pizliche Haltungsentwicklung und -reflexion sehr Bewusste Orientierung am Systematische Einbeziehung und sterbenden Menschen Begleitung der Zugehörigen eignet; sie ermöglicht ein gemeinsames Lernen sowie einen entspannten Austausch in einer ver- Humanistische und existentialistische Perspektive trauensvollen Atmosphäre; und alle Beteiligten Jeder Mensch weiß am besten, was für ihn gut und richtig ist. Er trägt die Verantwortung für sein Wohl. profitieren von dem vielseitigen Erfahrungswissen der jeweils anderen. Hierbei wird vielen Teilneh- Konstruktivistische Perspektive menden auch deutlich, dass sich die hospizliche Jeder Mensch konstruiert seine Wirklichkeit und damit sein individuelles Verständnis von sich und seiner Umwelt. Wahrnehmungen und Realitäten sind daher verschieden. Haltung nicht nur in der Beziehung zum Gast zeigt, sondern auch im Umgang zwischen Mitarbeitenden Hermeneutische Perspektive des gesamten interdisziplinären Teams. Eine dialogische Grundhaltung und der damit einhergehende Wunsch, den anderen verstehen zu wollen, ist das Fundament einer wirksamen Pflege und Begleitung. „Haltung“ zu lernen, war lange für die Hospizarbeit Körperphänomenologische Perspektive undenkbar. Es galt, sie in der eigenen Tätigkeit zu Menschen begegnen sich in einem gemeinsamen „Gefühlsraum“, der es ermöglicht, emotionale Aspekte des eigenen Körperempfindens in das Spüren, Verstehen und Handeln erfahren, sie mit den eigenen Händen und Sinnen miteinzubeziehen. zu begreifen. Mit dem Pflegemodell gibt es nun ei- Systemische Perspektive ne Möglichkeit, gemeinsam mit Mitarbeitenden zu Zugehörige sind Teil eines komplexen Systems, in dem der sterbende Mensch lebt. Alles hängt mit allem zusammen. hospizlicher Haltung zu arbeiten, die eigene Hal- tung zu reflektieren und zentrale Elemente der hos- pizlichen Haltung zu vermitteln. Abb. 2: Philosophische Grundannahmen und Perspektiven als Basis für die Entwicklung einer hospizlichen Haltung Das Pflegemodell für stationäre Hospize ist im on- line-Buchhandel (Books on Demand) erhältlich. Hospizliche Haltung ist erlernbar Die hospizliche Haltung nährt sich von bestimmten Denkweisen, Einstellungen und Werten, die ihren Ursprung in verschiedenen, im Pflegemodell näher dargestellten, philosophischen Grundannahmen Hospiz-Dialog NRW - Juli 2022/92 Miriam Püschel haben: der Humanismus und Existenzialismus, der Hospiz Minden – Volker Pardey Konstruktivismus, die Hermeneutik und Körperphä- Haus nomenologie sowie der systemische Ansatz. Marienburger Straße 10 Nach diesen Grundannahmen zeigt sich hospizliche 32427 Minden Tel.: 05 71 - 82 97 47 41 Haltung in der bewussten Achtung der Würde und m.pueschel@hospiz-minden.de Selbstbestimmung des sterbenden Menschen, in der Akzeptanz seiner Sichtweisen und Bedürfnisse,
GENERATIONENWECHSEL 19 HALTUNG WEITERGEBEN, ÜBERGÄNGE GESTALTEN GENERATIONENWECHSEL IN AMBULANTEN HOSPIZDIENSTEN SABINE LÖHR, JUDITH KOHLSTRUCK E ine Blitz-Umfrage1 unter den Mitgliedsein- land als auch in Westfalen geplant. Präsenztreffen richtungen des HPV NRW ergab: Knapp waren dann jedoch nicht mehr möglich, daher musste 20 % der Koordinationsfachkräfte sind äl- die Bearbeitung des Themas bis Ende 2021 ver- ter als 60, weitere 50 % sind älter als 50 schoben werden. Inzwischen haben wir drei der vier Jahre. Damit steht mit großer Sicherheit in den Veranstaltungen mit etwas mehr als 100 Teilneh- nächsten 10 - 15 Jahren ein erheblicher Personen- menden durchgeführt. wechsel bei den ambulanten Hospizdiensten an. In der Vorbereitung haben wir gemerkt: Obwohl der Diesen Eindruck hatten wir bereits in den letzten Generationenwechsel nicht nur in der (ambulanten) Jahren bei den regelmäßigen Fachtreffen der Koor- Hospizarbeit, sondern in der Pflege allgemein eine dinationsfachkräfte gewonnen und daher für 2020 große Rolle spielen wird, gibt es dazu bisher kaum zweiteilige Zukunftswerkstätten2 sowohl im Rhein- Veröffentlichungen, Untersuchungen, Informatio- Hospiz-Dialog NRW - Juli 2022/92 nen. Dabei stellen sich in diesem Feld sehr viele 1 Die nicht repräsentative Umfrage ging an 149 ambulante Fragen: Wie können sich die Einrichtungen auf die- Hospizdienste, die Mitglied im HPV NRW sind. Geantwortet sen Wechsel vorbereiten? Welche Bereiche werden haben 96 Hospizdienste (> 64 %) mit Angaben zu insge- betroffen sein? Worauf gilt es, ein besonderes Au- samt 230 Koordinationsfachkräften. genmerk zu legen? Wie kann der Generationen- 2 Die Zukunftswerkstätten haben wir mit Unterstützung von Annegret Lodewick – Beratung, Coaching, Supervision — wechsel gut gelingen? aus Düsseldorf durchgeführt.
20 GENERATIONENWECHSEL Ein Fallbeispiel: Den Hospizdienst Lebensfriede e. V. standssitzung damit. Beide Koordinatorinnen wer- gibt es in der mittleren Kleinstadt mit ca. 50.000 den in die weiteren Überlegungen einbezogen. Eine Einwohnern seit 25 Jahren. Von Anfang an dabei ist Stellenausschreibung erfolgt frühzeitig, so dass ein die Koordinatorin Gundula W. mit aktuell 30 Wo- Arbeitsbeginn etwa acht Wochen vor dem Renten- chenstunden. Seit 10 Jahren dabei ist ihre Kollegin beginn von Gundula W. möglich ist. Zudem ist so Michaela S. mit aktuell 25 Wochenstunden. Gun- auch Zeit für Bewerberinnen und Bewerber, fehlen- dula W. ist 65 Jahre alt, ihr Ruhestand beginnt im de Qualifikationen für die Koordinationstätigkeit Juli 2023. Michaela S. ist 63 Jahre alt, ihr Ruhestand zu erwerben. beginnt etwa 2,5 Jahre später: Zwei erfahrene Ko- ordinatorinnen, die seit langem ein aufeinander Herausforderungen: eingespieltes Team bilden, aber nun relativ kurz • Zeitliche und personelle Defizite auf Seiten des hintereinander den Hospizdienst verlassen werden. Vorstands • Kommunikationsschwierigkeiten Wie könnte ein guter Verlauf dieses Wechsels der • Wenig Bewerberinnen und Bewerber beiden hauptamtlichen Mitarbeiterinnen in den • Fehlende Qualifikationen nächsten 3,5 Jahren aussehen und mit welchen • Geringe Kursdichte Herausforderungen und Hürden müssen die Betei- Insbesondere die letzten Punkte stellen ein großes ligten rechnen? Problem dar. Hier kann ausreichend zeitlicher Vor- lauf einen kleinen Vorteil bedeuten. Der Vereinsvorstand agiert vorausschauend und verantwortlich Die Koordinatorinnen dokumentieren sorgfältig Der Vorstand von Lebensfriede e. V. hat die Renten- und nachvollziehbar eintrittsdaten der beiden Koordinatorinnen im Blick Vieles im Alltag ist selbstverständliche Routine und und beschäftigt sich bereits frühzeitig auf einer Vor- braucht keinen Ablaufplan. Für einen Wechsel ist Hospiz-Dialog NRW - Juli 2022/92
GENERATIONENWECHSEL 21 Das Miteinander unterschiedlicher Generationen erlebe ich als sehr bereichernd. Die neuen es jedoch vorteilhaft, wiederkehrende Auf- oder jüngeren KollegInnen gehen mit Unerschrockenheit auf Veränderungen in der Organi- sation oder auf Neuerungen, vor allem im Bereich Technik, zu und bringen oft etwas Frisches gaben und Abläufe im Jahresverlauf zu und Leichtes mit. Sie haben einen offenen Blick, der dann manchmal das ganze Team dokumentieren und damit abrufbar zu bestimmte Situationen anders bewerten lässt. Die Kolleginnen und Kollegen, die über machen. Dies trägt dazu bei, sowohl Fristen lange Jahre viel Erfahrung in der Palliativarbeit sammeln konnten und aufgrund des Alters nicht zu versäumen als auch Traditionen, oft auch Krisenerfahrung mitbringen, können dafür meist unerschrockener auf emotionale Herausforderungen mit PatientInnen und Patienten und Zugehörige zugehen. Sie lassen Regeln oder Gewohnheiten zu identifizieren sich im guten Sinn nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Als Stationsleitung liegt mir – ohne den Anspruch, dass diese auch fort- daran, beide Stärken optimal zu nutzen. Damit wir auf dem Boden von Wissen und Erfahrung geführt werden. auch im routinierten Alltag immer wieder neu schauen, einschätzen und bewerten und nicht in die Falle gehen: „Ich weiß schon! Das kenne ich!“ Astrid Conrad, Leitung der Palliativstation, Helios-Klinikum Bonn/Rhein-Sieg, Bonn Herausforderungen: • Mangelnde Zeit im Arbeitsalltag für die Dokumentation selbstverständlicher, aber rele- vanter Tätigkeiten Leitsatz: „So wie es heute ist, muss es morgen • Erwartungshaltung, dass mit dem Wissen der nicht bleiben“ Abläufe auch deren Fortführung verbunden ist So vieles klappt doch „wie am Schnürchen“, darum sollte es auch so bleiben. Die systemische Anspruch: „Haltung weitergeben“ Sichtweise auf ein Beziehungs- beziehungsweise Als Gundula W. mit der Hospizarbeit begann, gab Organisationsgefüge nutzt gern das Mobilé als es keine Förderung. Lebensfriede e. V. finanzierte Bild. Ein Mobilé ist ein ausbalanciertes, leichtes die Koordinierung der ehrenamtlichen hospizlichen Ensemble von einzelnen Elementen, das sich als Begleitung aus Spendengeldern. Eine hauptamt- Ganzes bewegt, wenn nur ein Teil berührt wird. Das liche Koordinatorin war damals relativ selten, was Mobilé Lebensfriede e. V. gerät also ohnehin in ein Grund dafür sein kann, dass laut unserer Bewegung, daher nur Mut zur Veränderung und Umfrage lediglich 10 % der Koordinationsfachkräfte Erneuerung. Auf einer der Zukunftswerkstätten seit mehr als 20 Jahren hauptamtlich in der Hospiz- sagte eine Teilnehmerin: „Die jungen Kolleginnen arbeit tätig sind. Seit 2002 werden die Personal- und Kollegen kommen mit frischen Ohren“ und sie kosten in der Ambulanten Hospizarbeit durch die bringen wohl auch neue Fähigkeiten mit. Ein Krankenkassen gefördert. Als Michaela S. 2012 bei Hospizverein mit einem klaren Leitbild und einer Lebensfriede e. V. begann, wurden die Sachkosten gefestigten Haltung wird dieser Bewegung gut noch nicht gefördert, dies war erst ab 2016 der Fall. standhalten und sich neu auspendeln. Beide Koordinatorinnen wissen also um die Bedeu- tung von Spenden und Ehrenamt für ihre Arbeit. Herausforderungen: Jüngeren und/oder in der Hospizarbeit neuen • Gefahr der Verletzlichkeit, weil eine neue Her- Kolleginnen und Kollegen fehlt diese Erfahrung. angehensweise auch verstanden werden kann Häufig wird damit auch eine ökonomisch-orientier- als Kritik an der bisherigen – Wertschätzung und te Haltung assoziiert – was sein kann, aber nicht Sensibilität sind hier ausgesprochen wichtig sein muss. In jedem Fall lohnt es sich, innerhalb • Zu viel Neuerung kann einen Wirbel auslösen, der Einrichtung über die eigene Haltung als Grund- der das Mobilé verknoten lässt lage der Hospizarbeit zu diskutieren, um diese dann auch weitergeben zu können. Um es mit Heinrich Pera zu sagen: „Hospiz ist kein Ort, an Die ehrenamtlich Mitarbeitenden in den dem wir uns einrichten, sondern eine Haltung“ und Prozess einbinden Hospiz-Dialog NRW - Juli 2022/92 sie entstand aus bürgerschaftlichem Engagement. Die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitar- beiter sind der Schatz der Arbeit. Sie tragen die Herausforderungen: Begleitung. Nicht zuletzt ist ihr Dasein auch die • Mangelnde Klarheit über Leitbild und Haltung Grundlage der Förderung durch die Krankenkassen, des Vereins für die Hospizarbeit errechnet sich die Fördersumme doch aus der Zahl • Verwechslung von Haltung mit „Beharren auf dieser Mitarbeitenden und der Begleitungen. Sie Bestehendem“ sind auf die Gesprächsbereitschaft und Unterstüt-
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