Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - Oktober 2020 Ausgabe 85 AMYOTROPHE LATERALSKLEROSE - ALPHA NRW
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Ansprechstellen im Land NRW zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen Oktober 2020 Ausgabe 85 Schwerpunkt: AMYOTROPHE LATERALSKLEROSE
Liebe Leserinnen und Leser, „es geht auch viel um Leben und Liebe“, so der Filmproduzent Lars Pape in unserem Interview. In die Versorgerterminologie übersetzt heißt das: Lebensqualität einerseits und Wertschätzung, Zuwendung und Respekt andererseits. Darum geht es immer und in den letzten Lebenstagen auf besondere Weise. Bei der Begleitung von Patientinnen und Patienten mit einer Amyotrophen Lateralsklerose wird den Beteiligten viel abverlangt. Wie bei allen eher selten auftretenden Erkrankungen liegt das nicht ausschließlich an den Herausforderungen in der medizinisch- pflegerischen oder der Heil- und Hilfsmittelversorgung. Auch ist bei ALS das sektorenübergreifen- de, vernetzte Denken und Handeln besonders wichtig und (noch) nicht selbstverständlich. Dazu gehört ebenso, sich der von Nassehi et al. benannten – je nach Rolle und Beziehung – unterschiedlichen Bewertungen palliativer Situationen bewusst zu sein. Denn nur, wenn die verschiedenen Perspektiven erkannt und besprechbar sind, ist ein Hand-in-Hand-Arbeiten im Sinne der Patientinnen und Patienten möglich. Die Beiträge im Schwerpunkt dieser Ausgabe zeichnen ein Bild der Erkrankung und eröffnen den Blick für die Erfordernisse der Hospiz- und Palliativversorgung. Eine gute Lektüre wünscht Ihnen Ihre Dr. Gerlinde Dingerkus INFORMATION SCHWERPUNKT AMYOTROPHE LATERALSKLEROSE 4 Jeder Moment ist Leben 15 Amyotrophe Lateralsklerose – Frank Gunzelmann Die Sicht des Neurologen Torsten Grehl 5 Informieren, vernetzen und koordinieren 17 Frühzeitige Palliativversorgung Corinna Weiß für ALS-Erkrankte Felix Grützner 7 Die Organisation des Sterbens Armin Nassehi, Irmhild Saake et al. 20 Diagnose ALS was nun e.V. Claudia Weber 10 Unterwegs in der Trauer Annerose Märkle 23 … es ging auch viel um Leben 13 Wenn eine von uns geht! und Liebe Gerda Graf Interview mit Lars Pape 26 Veranstaltungen Hospiz-Dialog NRW - Oktober 2020/85 27 Impressum
4 JEDER MOMENT IST LEBEN Neue Plakate zur Hospiz- und Palliativversorgung in Nordrhein-Westfalen FRANK GUNZELMANN I m Jahr 2017 haben erstmals die nordrhein- westfälischen Hospiz- und Palliativtage stattgefunden. Die hierfür erstellten Werbe- materialien sind im Rahmen der Öffentlich- keitsarbeit von Einrichtungen der Hospiz- und Palliativversorgung frei nutzbar. Das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) hat nun zwei weitere Motive zur Verfügung gestellt. Aktuell kann damit aus vier Plakaten ausgewählt werden. Ziel der beiden neuen Motive ist es, insbesondere Menschen mit Einschränkungen sowie Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund anzu- sprechen und sie auf die Angebote der Hospiz- und Palliativversorgung aufmerksam zu machen. Sie folgen dem schon bekannten Motto „Jeder Moment ist Leben“ und wollen darauf hinweisen, dass sich Leben bis zuletzt in allen seinen Facetten entfalten kann: traurig, hoffnungsvoll, fröhlich, selbstbe- das beispielsweise zur Ankündigung Ihrer Veran- stimmt und in Gemeinschaft. staltungen genutzt werden kann. Abbildung Motive Alle Motive können kostenlos unter folgendem Link http://www.mags.nrw/broschuerenservice im Bro- Die Motive können schürenservice des MAGS bestellt oder herunter- in jeweils zwei Vari- geladen werden. Die neuen Plakate erscheinen zur- anten angefordert zeit über die Stichwortsuche „Hospiz“ ganz oben werden: bei den Ergebnissen. Variante 1 kann als Wir freuen uns, wenn Sie auch die neuen Motive Poster ohne frei be- für Ihre Öffentlichkeitsarbeit einsetzen und damit schreibbares Feld die Angebote der Hospiz- und Palliativversorgung beim Broschüren- in NRW weiter bekannt machen. Hospiz-Dialog NRW - Oktober 2020/85 service des MAGS bestellt werden. Frank Gunzelmann Variante 2 ist als ALPHA Rheinland Download zum Aus- Heinrich-Sauer-Str. 15 53111 Bonn drucken abrufbar. Tel.: 02 28 - 74 65 47 Sie enthält ein frei rheinland@alpha-nrw.de beschreibbares Feld, www.alpha-nrw.de
5 INFORMIEREN, VERNETZEN UND KOORDINIEREN Die Koordinierungsstelle für Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland CORINNA WEISS D ie Koordinierungsstelle für Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland ist ein vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförder- tes Projekt, welches sich intensiv mit der nachhal- tigen Umsetzung der Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen und ihrer Handlungsempfehlungen einsetzt. Ein Satz, von dem die Koordinierungsstelle zur Beschreibung des eigenen Tätigkeitsfeldes nur schwer abweichen kann und welcher einem beim erstmaligen Lesen etwas verzwickt erscheinen mag. Die Komplexität liegt nicht nur in der Sache an sich, nämlich unter anderem dem Anspruch, einer Vernetzung aller relevanten Akteure der Hospiz- und Palliativversor- gung in Deutschland gerecht zu werden, sondern auch im Entstehungs- und Entwicklungsprozess der Charta selbst. © G. Achtermann Nach 10 Jahren Charta – ein kleiner Rückblick Die fünf Leitsätze der Charta wurden 2010 von über 50 Organisationen und Institutionen aus Gesell- schaft und Gesundheitssystem im Konsens verab- schiedet und der Öffentlichkeit präsentiert. Das Besondere hier ist nicht nur, dass jedes Wort in der Charta im Konsens beschlossen wurde, kurz gesagt, es gab keine Mehrheitsentscheidungen, sondern Seit nunmehr zehn Jahren steht die Charta für ein auch, dass sich die drei Erfinder der Charta, die Deut- würdevolles Sterben, wobei im Fokus immer der be- sche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), der troffene Mensch steht. Die Förderung des internen Deutsche Hospiz- und Palliativverband (DHPV) und Dialogs der relevanten Gruppen und die Bildung von die Bundesärztekammer (BÄK), als drei unterschied- Grundlagen für politische Realisierungen sind nur Hospiz-Dialog NRW - Oktober 2020/85 liche Institutionen in einer Trägerschaft befinden. zwei von vielen wichtigen Zielen der Charta. Unter Und das bis heute. Im Rahmen einer Nationalen Stra- anderen Umständen hätten wir in diesem Jahr das tegie war es anschließend das Ziel, die formulierten zehnjährige Charta-Jubiläum gefeiert. Aufgrund der Leitsätze so umzusetzen, dass jeder Betroffene eine Covid-19-Pandemie musste dies jedoch leider auf qualitativ hochwertige palliative und hospizliche das Jahr 2021 verschoben werden. Was jedoch nie Behandlung und Begleitung erhält. Somit wurde verschoben werden sollte: der Zeitpunkt, um über der Charta-Prozess schlussendlich 2016 mit den das Sterben und die Hospiz- und Palliativversor- Handlungsempfehlungen abgeschlossen. gung in Deutschland zu sprechen. Genau dafür wur-
6 der Charta ausgetauscht hat. Darüber hinaus haben auch einige „Initiativen zur Umsetzung der Charta und ihrer Handlungsempfehlungen“ ihre Work- shops und Veranstaltungen in die virtuelle Welt verlagert und die Vernetzung der Akteure und de die Charta ins Leben gerufen und genau des- Betroffenen möglich gemacht. Ein Beispiel hierfür wegen gibt es die Koordinierungsstelle, die die Leit- ist der „Letzte Hilfe Kurs“. An diesen Umsetzungs- sätze der Charta und ihre Handlungsempfehlungen partnern der Charta wird deutlich, dass jeder die in der Öffentlichkeit bekannt macht und deren Um- Initiative auf ganz individuelle Art ergreifen kann, setzung vorantreibt. um die Charta und ihre Ziele in der Öffentlichkeit präsenter zu machen sowie Kolleginnen und Kolle- Die drei Säulen der Koordinierungsstelle gen zu inspirieren. Die Leitsätze formulieren Aufgaben, Ziele und Handlungsbedarfe, um die Betreuung schwerst- „Übers Sterben zu reden hat noch niemanden kranker und sterbender Menschen in Deutschland umgebracht …!“ zu verbessern. Für deren Umsetzung ist die Koor- Als Koordinierungsstelle stehen wir beratend zur dinierungsstelle im Einsatz: Wir informieren, Seite und unterstützen Akteure bei der konkreten vernetzen und koordinieren. Im Fokus unserer Umsetzung ihrer Maßnahmen, denn „Übers Ster- Arbeit steht zuallererst die Öffentlichkeitsarbeit mit ben zu reden hat noch niemanden umgebracht …!“ Messe- und Veranstaltungsauftritten sowie aktive und sollte ein gutes Gespräch auch nicht zum Presse- und Medienarbeit. Ersteres hat unter der Erliegen bringen. Da man für den Einstieg in ein Corona-Pandemie in diesem Jahr stark gelitten. Gespräch über Sterben, Tod und Trauer oftmals Nahezu alle Veranstaltungen wurden abgesagt. Aus einen Anstoß braucht, gibt es unseren einprägsa- diesem Grund musste man sich einmal mehr der men Spruch nun nicht mehr nur auf den Flyern, Herausforderung stellen, die Charta und die sondern auch auf den von uns erstellten Jutebeu- Hospiz- und Palliativversorgung im Allgemeinen teln. Für die öffentliche Wahrnehmung des Themas durch Social-Media und die Medienarbeit gesell- auf jeden Fall ein guter Vermittler, denn nicht nur schaftlich in den Fokus zu rücken. Doch wie erreicht Institutionen und Organisationen können durch die man die Betroffenen, ihre Angehörigen, relevante besagten Initiativen unterstützend tätig werden, gesundheitspolitische Organisationen oder die sondern auch jeder einzelne Mensch mit einer Kommunen, wenn man keine Workshops, Vorträge einfachen Unterschrift. Damit die Charta-Umset- oder offizielle Charta-Unterzeichnungen anbieten zungsprozesse politisch und gesellschaftlich kann? Eine Frage, die sich heute online beantworten voranschreiten können, bedarf es einer allgemei- lässt. So war es möglich, dass sich das Begleitgre- nen Bereitschaft der Bevölkerung, sich im Sinne mium der Charta, bestehend aus den 50 Organisa- der Charta für die Verbesserung der Situation tionen und Institutionen, im Rahmen einer virtuellen schwerstkranker und sterbender Menschen in Zukunftswerkstatt über die nachhaltige Umsetzung Deutschland einzusetzen. Hospiz-Dialog NRW - Oktober 2020/85 Corinna Weiß Koordinierungsstelle für Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland Aachener Str. 5 10713 Berlin https://www.koordinierung-hospiz-palliativ.de https://www.charta-zur-betreuung-sterbender.de
7 DIE ORGANISATION DES STERBENS Zum Umgang mit Perspektivendifferenzen ARMIN NASSEHI, IRMHILD SAAKE, CHRISTOF BREITSAMETER, ANDREAS WALKER, NIKLAS BARTH, KATHARINA MAYR D ie vielleicht wichtigste Transformation Bilder, die nicht nur von Fall zu Fall unter- des Sterbens seit Mitte des 20. Jahrhun- schiedlich sind, sondern auch unter- derts besteht darin, dass es immer stär- schiedliche Perspektiven auf ein und ker aus privaten Bezügen herausgelöst denselben Fall aufweisen. Entscheidend wurde und sich seitdem mit wachsender Tendenz sind hier freilich nicht durchaus vorhan- © Hans-Günther Kaufmann unter professioneller Betreuung innerhalb organi- dene persönliche Stile, entscheidend ist, satorisch geregelter Kontexte abspielt (vgl. Dasch aus welcher systematischen Sprecher- et al., 2015). Das Ideal eines guten Sterbens bezieht perspektive heraus der konkrete Fall in sich aber nach wie vor sehr stark auf ein Sterben den Blick gerät. Prof. Dr. Armin Nassehi außerhalb der Organisation, möglichst im Kreis der Familie, weswegen sich auch Hospize und in gerin- – Angehörige etwa möchten Sterbende gerem Umfang Palliativstationen an diesem Ideal oftmals mit Essen versorgen, um so orientieren. Wo immer die Organisationsförmigkeit an gewohnte Routinen anknüpfen zu der Sterbebegleitung sichtbar wird, scheint dies können und eine familiäre Normalität Kritik hervorzurufen und in eine Ernüchterung zu simulieren, während das aus wis- darüber zu münden, dass auch Hospize und Pallia- senschaftlich-medizinischer Sicht für tivstationen letztlich nur Organisationen sind. In ein komplikationsfreies und in die- unserem von der DFG oder Deutschen Forschungs- sem Sinne gutes Sterben geradezu gemeinschaft geförderten Forschungsprojekt fragen hinderlich ist. Was für den einen eine Dr. Irmhild Saake wir deshalb nicht allgemein nach unserem Umgang Lösung ist, ist für den anderen ein mit dem Sterben, sondern konkret danach, mit Problem. welchen Mitteln Hospize und Palliativstationen als – Die Ärztin ringt mit einer Patientin, die sich Organisationen Sterbende begleiten. gegen die Beendigung einer aussichtslosen Therapie wehrt, während der Seelsorger dieses Typischerweise rücken dabei unterschiedliche Ringen als Ausdruck einer authentisch Sterben- Akteurskonstellationen, die damit verbundenen den sehen kann: „Sie war eben schon immer Perspektivendifferenzen und deren jeweilige nor- eine Kämpferin!“ Wiederum: für die eine ein mative Muster in den Blick. Medizin, Seelsorge, Problem, für den anderen eine Lösung. Pflege, Atem- und Kunst-/Musiktherapie, Sozialar- beit, hauswirtschaftliche Versorgung, Familie, Freunde, Ehrenamtliche und auch die Sterbenden 1 Wir haben zur Beantwortung dieser Frage im Rahmen eines von der DFG geförderten Projekts „Vom ‚guten Sterben‘. selbst stehen unter dem Anspruch, eine „ganzheit- Hospiz-Dialog NRW - Oktober 2020/85 Akteurskonstellationen, normative Muster, Perspektivendif- liche“ und familienähnliche Harmonisierung des ferenzen“ (Projektnummer 343373350, Leitung: Armin Geschehens rund um den Patienten/die Patien- Nassehi, Christof Breitsameter, Irmhild Saake), leitfadenge- tin/den Gast zu ermöglichen. Aber wie lassen sich stützte Experteninterviews mit allen beteiligten professio- nellen und ehrenamtlichen Akteuren sowie mit Sterbenden all diese Perspektiven sinnvoll aufeinander bezie- und Angehörigen geführt. Darüber hinaus wurden hen?1 Und was erscheint aus diesen unterschied- Feldethnographien angefertigt, also Beobachtungsproto- lichen Perspektiven als ein „gutes“ Sterben? kolle von Übergaben, Fallbesprechungen, Teamsitzungen In unseren Ergebnissen stoßen wir nicht auf ein etc. Sieben über Deutschland verteilte Institutionen wurden beforscht, davon 5 Hospize sowie 2 Palliativstationen. Bild des guten Sterbens, sondern auf verschiedene Insgesamt konnten 149 Interviews geführt werden.
8 © G. Achtermann – Die von der Pflege überforderte Fa- rungen bevorzugt zu berücksichtigen, auch auf die milie wird durch die Aufnahme ihrer Gefahr hin, andere in den Hintergrund treten zu Mutter und Ehefrau im Hospiz entlas- lassen, bietet das Gespür für das situativ richtige tet. Diese wiederum interpretiert das Handeln ein ausreichendes Fundament, zumal aber als Ort ohne Wiederkehr. Für die Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte oder Ehren- Angehörigen ist dies eine Lösung, für amtliche ein Verständnis für die Standpunktabhän- die Pflegebedürftige ein Problem. gigkeit ihres Entscheidens und Handelns erkennen – Entfernt wohnende Angehörige und lassen (vgl. Breitsameter, 2020). Dabei scheint Prof. Dr. Christof Freunde, die sich mittlerweile in großer gerade die Organisation des Sterbens, die Vielfalt Breitsameter Zahl in den gastfreundlichen Hospizen der Akteure, ihrer Perspektiven und bewährter einfinden, verbinden den Besuch und normativer Muster dafür zu sorgen, dass ein das Abschiednehmen mit einem klei- Gespür für das situativ Richtige entsteht. Der nen Urlaubstag im Hotel, während Einzelne wäre überfordert, all das im Blick zu Sterbende mit viel, manchmal auch behalten, aber der qua Organisation hergestellten zu viel Besuch sich fragen, warum sie Summe der Bemühungen Einzelner kann man so viel Besuch haben. zutrauen, den richtigen Beitrag zum Wohl der – Oftmals gerät das Ideal der Bewusst- Patientin/des Patienten/des Gastes zu leisten. heit des Sterbens selbst in einen Zielkonflikt mit dem Ideal der Schmerz- In der Figur der Sterbenden zeigt sich damit wie in freiheit. Wer kann sich seines Sterbens einem Brennglas der Charakter moderner Gesell- Dr. Andreas Walker bewusst werden, wenn er sediert ist? schaft: Es sind stets die unterschiedlichen Erwar- Hier treten beide Ideale als Lösung und tungen der Akteure, die Problemlösungshorizonte als Problem zugleich zu Tage. ihrer Perspektiven und die mitgebrachten normativen Muster, die eine konkrete Situation bestimmen. Aus einer ethischen Perspektive zeigt Das vielleicht eindrücklichste Beispiel dieser Per- Hospiz-Dialog NRW - Oktober 2020/85 sich, was kaum verwundert, dass situa- spektivendifferenzen bezieht sich auf die Akzeptanz tive Forderungen gegeneinander ausbal- des Sterbens. Als Organisationsmitarbeitern anciert werden müssen und manchmal erscheint professionellen Sterbebegleiterinnen und nicht gleichzeitig berücksichtigt werden -begleitern dies als erstrebenswertes Ziel. Unsere oder gar in Konflikt zueinander treten Ergebnisse zeigen jedoch, dass solche Erwartungen Katharina Mayr können. Geht es darum, konkurrierende Patientinnen und Patienten oftmals überfordern. Forderungen einigermaßen in eine Ba- Sich seines eigenen Todes bewusst zu werden – das lance zu bringen oder bestimmte Forde- ist leichter gesagt als getan (vgl. Saake et al. 2019).
9 Deshalb ist es bemerkenswert, dass mit den unter- derten Perspektivendifferenzen prägen schiedlichen Akteursgruppen auch neue Freiheiten den Alltag weitaus stärker, als es unter im Umgang mit dem Thema Sterben entstehen. dem Etikett der Ganzheitlichkeit sichtbar Während sich eine medizinische Perspektive werden kann. Die beteiligten Akteure bemüht, die Zustimmung zum Therapieende ein- entwickeln jeweils sehr unterschiedliche zuholen, sind Pflegekräfte mit Waschen, Eincremen, normative Erwartungen, die sich besser Kämmen und vielem mehr beschäftigt und reden verstehen lassen, wenn man auch „ganz- dabei über die Tomaten im Garten, über Urlaubs- heitliche“ Organisationen als Organisa- Dr. Niklas Barth ziele und Enkelkinder. Sie denken, sie müssten tionen versteht. Als ganzer Mensch mit eigentlich auch – im Sinne der Ganzheitlichkeit – unterschiedlichen Adressierungen und den damit über das Sterben reden, aber es entlastet nicht nur verbundenen Freiräumen kann sich ein Sterbender sie, sondern auch Sterbende, wenn das Sterben oder eine Sterbende gerade dort erfahren, wo es nicht zum Thema wird. Auch Seelsorgerinnen und innerhalb der Organisation zu Differenzen und Seelsorger haben aufgrund ihrer eigenen Perspek- Differenzierungen kommt. tive andere Freiheiten und Einschränkungen. Sie reden über ähnliche Themen wie die Pflegekräfte und verstehen diese als Hinweis auf die Trauer über Literatur den bevorstehenden Tod. Vielleicht geht es Ster- Breitsameter, C. (2020). Die Semantik des „guten Sterbens“ benden in solch einem Moment tatsächlich um die aus ethischer Perspektive. Ethik in der Medizin, 32, online first. Tomaten, die Urlaubsziele und die Enkelkinder, Dasch, B., Blum, K., Gude, P., Bausewein, C. (2015). Place of vielleicht denken sie sich aber auch während des Death: Trends over the Course of a Decade—a Population- Gesprächs ihren Teil. Based Study of Death Certificates from the Years 2001 and 2011. Deutsches Ärzteblatt, 112, S. 496–504. Saake, I., Nassehi, A., Mayr, M. (2019). Gegenwarten von Die Fachliteratur zu Hospizen und Palliativstationen Sterbenden. Eine Kritik des Paradigmas vom „bewussten“ und auch unsere Interviews zeigen, dass das Sterben. Kölner Zeitschrift für Psychologie und Sozialpsy- Personal von Hospizen und Palliativstationen oft chologie, 71, S. 27-52. nicht die Organisationsförmigkeit ihrer Arbeit in Rechnung stellt. Es grenzt sich kritisch von einer leistungsfähigen Akutmedizin ab, wendet sich DFG-Projekt ganzheitlichen Idealen zu und verliert dabei die „Vom Guten Sterben“ Leistungsfähigkeit der eigenen Organisation als Konradstr. 6 Organisation aus dem Blick. Das Konzept der ganz- 80801 München heitlichen Sterbebegleitung prämiert die scheinbar gerade nicht organisationsförmigen Elemente der Organisation, die zeitliche Flexibilität, die Gastlich- keit gegenüber dem Umfeld der Sterbenden, die persönliche Ansprache, unterschlägt aber, dass auch dies alles organisiert werden muss und – so unsere Interviews – in vielen Einrichtungen offen- bar sehr professionell organisiert wird. Die mit den Perspektivendifferenzen verbundenen Probleme Hospiz-Dialog NRW - Oktober 2020/85 und Lösungen werden zum Schluss auch dadurch immer wieder verdeckt, dass alle Unterschiede mit dem Tod der Sterbenden ja ein gleichsam natürli- ches harmonisches Ende zu finden scheinen. Die professionellen Routinen und die damit ver- bundenen Perspektivendifferenzen rücken dabei zu Unrecht in den Hintergrund. Die von uns geschil-
10 UNTERWEGS IN DER TRAUER Die „TrauerWege“ auf dem Herrenberger Waldfriedhof – ein Bürgerprojekt ANNEROSE MÄRKLE D en Weg, den Du vor Dir hast, kennt kei- det, mit Vertreterinnen aus den verschiedenen ner. Nie ist ihn einer so gegangen, wie Kirchengemeinden, des Hospizdienstes und der Du ihn gehen wirst. Es ist Dein Weg. Mit Stadt Herrenberg. Bei der späteren Umsetzung diesem Satz beginnen die Stationen auf waren aber auch viele Handwerker, Bürger und den „TrauerWegen.“ Die TrauerWege auf dem Wald- Schülergruppen beteiligt. friedhof bieten den Menschen einen Ort, an dem Zunächst besuchte die Projektgruppe bereits sie ihrer Trauer, aber auch den „kleinen Abschieden bestehende Trauerwege in der Umgebung und setzte im Leben“ Raum geben und ganz individuell sich ausgiebig mit dem Thema Trauer auseinander. begegnen können. Das Begehen dieser Wege kann Zeitnah wurde ein Areal auf dem Waldfriedhof dabei unterstützen, einen Weg zu finden mitten im besichtigt, in dem viele Bäume, Gestrüpp, Unter- Leid. holz und sumpfartige Flächen vorherrschten. Dieses Gelände war nicht als Grabfläche vorgese- Mit dem Tod konfrontiert zu sein, ist immer schmerz- hen. Der Wald als Kraftquelle, als Ort der Ruhe und haft. Wohin mit der Trauer, wenn plötzlich die Welt Geborgenheit, stellte sich als der ideale Platz für im Chaos zusammenbricht, wenn die Gefühle über- die TrauerWege heraus. handnehmen und mitten im Alltag das gewohnte Umfeld plötzlich zu einer fremden Welt wird? Ganz Die TrauerWege haben ihren besonderen Reiz, nicht gleich welcher Religion, Konfession oder Glaubens- nur in der Natur, sondern auch mit der Natur. Jede richtung die Menschen angehören, dort inmitten Jahreszeit hat ihren ganz besonderen Charme. der ursprünglichen Natur können sie zur Ruhe und Besinnung kommen. An neun Stationen finden sie Trauernde berichten, dass sie den Weg nicht nur ein- ganz unterschiedliche Anregungen, über das Leben mal begehen, sondern immer wieder an diesen Ort und den Tod, über Gott und die Welt, über sich, die zu unterschiedlichen Jahreszeiten und Anlässen eigene Vergänglichkeit, aber auch über Hoffnung kommen. Hier haben sie das Gefühl, nicht alleine und Lebensmut nachzudenken. in ihrer Situation zu sein. Es ist möglich, den ganz individuellen Weg in der Bereits im Frühjahr Trauer, im selbstgewähl- 2012 kam die Idee auf, ten Tempo und mit der diese Wege anzulegen. eigenen Intensität zu Ein Vorstandsmitglied gehen. des Ökumenischen Hospizdienstes in der Die TrauerWege sind im Region Herrenberg Kreis angelegt und haben Hospiz-Dialog NRW - Oktober 2020/85 warb dafür, weil es eine keinen Anfang und kein andere Form sei, um Ende. An den beiden Trauernde anzuspre- gegenüberliegenden Ein- chen. gängen liegt jeweils ein entwurzelter Baum. Dann Recht bald hat sich folgen die neun Statio- dann die „Projektgrup- nen mit Texten und Lied- pe TrauerWege“ gebil- versen. Es werden aber Trauerwege
11 auch Fragen gestellt und Gefühle benannt, die zum den Wurzeln die Farben des Regenbogens, des Nachdenken einladen. Die Natur begleitet die auf- Lebens hervor. Bunt wie ein Kaleidoskop für alle kommenden Gedanken und Gefühle. Gefühle. Im Folgenden werden einzelne Stationen beschrie- Station: Unwegsames Gelände ben, um einen ersten Eindruck davon zu gewinnen, Schüler haben Rinden, Tannenzapfen, Wurzeln, mit welcher Symbolik die Gefühle und das Erleben Steine und Moos gesammelt und in einem Terrain von trauernden Menschen dargestellt werden. platziert. Die Füße der Trauernden stehen oft auf unsicherem Boden – sie geraten schnell mal aus dem Gleichge- wicht. Beim Betreten dieser Station gilt es, behutsam einen Fuß vor den anderen zu setzen. Alte und ver- traute Wege fühlen sich fremd an und können zur Herausforderung werden. Solche Erfahrungen kön- nen die Trauernden mitunter auch in ihrer Seele spüren. Hier findet man folgende Fragen: „Wie kann ich ein kleines bisschen mehr Stabilität bekommen und meinen Schritten wieder trauen?“ „Wodurch finde ich für einen kleinen Moment mein Gleichgewicht wieder?“ Station: Raum für mICH Manchmal brauchen Trauernde Abstand. Sie möch- ten sich zurückziehen, und sich in den hintersten Winkel eines Schneckenhauses verkriechen. Diese Möglichkeit bietet der sehr zentral gelegene „Raum für mICH.“ Zwar umschließen hohe Palisaden den Raum, der in Schneckenform angelegt ist. Gleich- zeitig gewähren die Palisaden schmale Lichtblicke nach außen. Das Wort Ich ist mit Großbuchstaben geschrieben. ICH brauche Orte der Trauer, in denen ICH versuchen kann, mich zu spüren. Station: Entwurzelter Baum Eingangsstation: Entwurzelter Baum „Ich fühle mich entwurzelt. Nichts ist mehr, wie es war. Ich habe den Boden unter den Füßen verloren. Mein Leben ist auf den Kopf gestellt. Ich fühle mich Hospiz-Dialog NRW - Oktober 2020/85 verletzlich.“ Dieser Text beschreibt eine typische Empfindung, die Trauernde häufig schildern. Auf Tafeln werden für den Trauerprozess relevante Fragen gestellt: „Wer oder was gibt mir Halt?“ „Wie kann ich mich wieder verwurzeln und was brauche ich dazu?“ Dabei schimmern zwischen den in die Höhe ragen- Station: Raum für mICH
12 Die Fragen an dieser Station lauten: „Was von mei- Der Wunsch der Menschen, die diesen Weg gestaltet nen Gefühlen möchte ich nach außen tragen und haben, ist, dass Trauernde hier einen Ort erleben, mit anderen teilen?“ „Was möchte ich hier lassen an dem sie sich verstanden und vielleicht sogar an Gedanken und auf den Tafeln aufschreiben?“ geborgen fühlen können. Dass sie kleine Momente „Welche Last möchte ich am liebsten gemeinsam des Trostes erfahren und ein wenig Entlastung spü- mit einem Stein hier ablegen?“ ren, weil sie entdecken, dass sie mit den so fremden Empfindungen nicht allein sind. Die TrauerWege sind für die Besucher kostenlos und zu den Öffnungszeiten des Waldfried- hofs in Herrenberg zu jeder Jahreszeit begehbar. Von März bis Oktober finden einmal monatlich samstags öffentliche Führungen statt. Die Termine können der Homepage des Hospizdienstes entnommen werden. Seit der Einweihung im Sommer 2015 haben zudem viele Verei- ne, Schulklassen, Hospizdiens- te, Konfirmandengruppen und sonstige Gruppen das Angebot einer individuellen Führung auf Anfrage in Anspruch genommen. Station: Labyrinth Die Gesamtkosten des Projekts wurden zur Hälfte aus dem Bür- Station: Labyrinth gertopf der Stadt Herrenberg als Bürgerprojekt „Mein Lebensweg geht weiter, ich will ihn gehen, finanziert, die andere Hälfte kam durch Spenden und doch erscheint der Weg oft unendlich lang. zusammen. Hinzu kamen rund 1000 Stunden Manchmal komme ich gut voran. Ich ahne das Ziel. ehrenamtliche Eigenleistung. Es gibt kein Geradeaus nur ein Weiter.“ Wer Interesse an einer Führung oder Fragen zu dem Diese Fragen regen zum Nachdenken an: „Wohin Projekt hat, kann sich an die Autorin wenden. führt mich mein Weg?“ „Was ist meine Mitte?“ Manche Trauernde beschreiben ihr Leben als ein Gehen im Labyrinth. Es ist ein mühevolles Gehen, Annerose Märkle Hospiz-Dialog NRW - Oktober 2020/85 mit weiten Wegen, aber es ist – im Gegensatz zu Ökumenischer Hospizdienst einem Irrgarten – ein Weg ohne Sackgassen. Wenn Mozartstr. 12 71083 Herrenberg er im eigenen Tempo gegangen wird, wenn die Tel.: 0 70 32 - 2 06 11 55 Umwege angenommen werden, dann wird man hospiz@evdiak.de ankommen: in der Mitte, bei sich, bei Gott, im www.hospiz-herrenberg.de Leben. Das Labyrinth ist nicht nur ein Symbol für Trauerwege, sondern auch für Lebenswege.
13 WENN EINE VON UNS GEHT! I ch finde, wir arbeiten sehr professionell in Wenn dann eine Kollegin lebensbedrohlich krank der Begleitung der Menschen, die uns um wird, wenn das Leiden groß ist, wenn sie eines Ta- Unterstützung bitten,“ so die Koordinatorin ges nicht mehr da ist, ist es anders. eines großen Hospizdienstes, „und wir be- schäftigen uns auch häufig mit dem Thema Distanz Das ist der Grund, warum wir in dieser Ausgabe mit und Nähe, damit uns dies weiterhin gut gelingt. der Rubrik „Wenn eine von uns geht!“ beginnen Aber …“ so sagt sie weiter, „wenn es eine von uns möchten – mit Gedanken über die Verstorbenen trifft, dann sind wir mitunter wie gelähmt.“ oder auch mit Reflexionen dazu, wie die Kollegin- nen/der Dienst mit dieser besonderen Situation Natürlich ist es anders, „wenn es eine von uns umgegangen sind – und so ist sie auch damit trifft“. Im Hospizdienst, im Hospiz, auf der Pallia- verbunden, den Menschen und das, was ihn aus- tivstation oder im palliativmedizinischen Dienst ar- machte, zu würdigen. beiten wir mit Menschen zusammen, denen wir in kurzer Zeit sehr nah gekommen sind, weil wir uns Dabei geht es nicht nur um die prominenten Perso- ihnen in existentiellen Fragen nahezu uneinge- nen (prominere = hervorragen), wie wir sie mit schränkt geöffnet und große Nähe zugelassen ha- Petra Afonin in dieser Ausgabe finden. ben, weil wir ihnen in vielen Überzeugungen ähn- Es geht um die Menschen, die wichtig waren, die lich sind und weil sie uns über die Jahre ans Herz Menschen mit und ohne Bühne, mit und ohne gewachsen sind. Verdienstkreuz, mit lauter und mit leiser Stimme, deren Tod uns bestürzt und die fehlen werden. Petra Afonin VON GERDA GRAF … wenn einer geht, dann spüren wir „Nachwehen“. ßer Zärtlichkeit dem Leben und Sterben gegenüber Sei es ob der Verlorenheit, die wir erfahren und den schuf Petra Afonin in diesen Stücken einen Rahmen nicht mehr erlebbaren Begegnungen. So wird auch für die Endlichkeit menschlichen Daseins. Ihre sie uns fehlen, Petra Afonin, Schauspielerin und schauspielerische Größe spiegelte sich wider in der Ehrenpreisträgerin der BAG Hospiz (DHPV), die am Faszination des Publikums. Schwere Themen mit 09.06.2020 im Alter von 65 Jahren verstorben ist. künstlerischem Ausdruck zu versehen, gelang Petra Afonin stets durch ihre sprachliche Gewandtheit. Hospiz-Dialog NRW - Oktober 2020/85 Petra Afonin war Schauspielerin, Autorin, Regis- Mit pointierter Formulierung erreichte sie prägnant seurin und Mitbegründerin des Prinz Regent Thea- und präzise den wunden Punkt. ters Bochum. Für die Hospizlandschaft in NRW war Petra Afonin eine besondere Wegbegleiterin. In Der letzten Lebensphase ein Ansehen geben, das weiteren Bundesländern hinterließ sie in unzähli- berührend zum Nachdenken anregt und nachwirkt, gen Hospizdiensten mit den von ihr verfassten The- das war ihr Anliegen, mit dem sie zur Botschafterin aterstücken „Bevor ich gehe, bleibe ich“ und „Es der Hospizidee wurde. Eine Botschaft, die auch po- ist nie genug“ einen bleibenden Eindruck. Mit gro- litisch Wirkung zeigte. So bezeichnete die Schirm-
14 © afonin.de Petra Afonin herrin des DHPV, Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin, mehr denn je überzeugt – eine einzigartige Mög- die Schauspielerin und Kabarettistin Petra Afonin lichkeit, dass Menschen einander tief berühren“, als ein „Ausnahmetalent“ des künstlerischen so Petra Afonin*. Ausdrucks in der Darbietung existenzieller Krisen- situationen. Wer Petra Afonin erleben durfte, kam Die Krebsdiagnose traf Petra Afonin in der Fülle ih- wieder, um sie erneut zu begreifen. Ob in der rer Schaffenskraft. Sie hat ihre eigene Todesanzei- stationären oder ambulanten Hospizarbeit – allge- ge mitgestaltet und verlässt uns hier mit dem Satz genwärtig war ihr Tun. So unterstützte Petra Afonin „What a wonderful world“. nicht nur die Öffentlichkeitsarbeit in der gesamten Hospizbewegung, es gelang ihr ebenso, das Thema Wir werden ihr leidenschaftliches Engagement ver- sensibel in die Gesellschaft zu tragen. Für dieses missen. unermüdliche Engagement wurde Petra Afonin auf Initiative unterschiedlicher Hospizdienste und u. a. Hospiz-Dialog NRW - Oktober 2020/85 des stationären Bochumer Hospizes mit dem Gerda Graf Ehrenpreis der BAG Hospiz (DHPV) im Jahr 2005 Ehrenvorsitzende DHPV ausgezeichnet. 2.Vorsitzende Hospizbewegung Düren-Jülich e.V. Ich erinnere mich an die vielen Begegnungen mit ihr, die immer das Kennzeichen von Lebenslust und * In: Bödiker, M.-L., Graf, G. et al. (2011). Hospiz ist Haltung, leidenschaftlicher Inszenierung trugen: „Theater Kurshandbuch Ehrenamt, Ludwigsburg, hospizverlag, S. ist und bleibt – davon bin ich nach 30 Berufsjahren 205.
AMYOTROPHE LATERALSKLEROSE 15 AMYOTROPHE LATERALSKLEROSE – DIE SICHT DES NEUROLOGEN TORSTEN GREHL D ie Amyotrophe Lateralsklerose ist eine einer wichtigen Therapieentscheidung, initial zur seltene Nervenerkrankung. Sie gehört Verbesserung der Lebensqualität, da die Patientinnen zu den neurodegenerativen Erkrankun- und Patienten unter der Therapie nicht nur besser gen, verläuft daher chronisch progre- schlafen, sondern auch am Tage besser belastbar dient ohne bisher bekannte Ursache und betrifft sind und keine Symptome einer Hyperkapnie wie nahezu ausschließlich die sogenannten Motoneu- Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen und rone, also Nerven, die benötigt werden, um Tagesmüdigkeit aufweisen. Erst später kann diese Muskeln aktiv zu steuern. Das bedeutet, dass Therapie dann zu einer lebensverlängernden Maß- Patienten eine zunehmende Schwäche oder nahme werden. Ähnlich sieht es bei der Tracheo- „Bewegungsstörung“ der betroffenen Muskeln ent- stomie und einer intermittierenden, invasiven wickeln. Dabei können sowohl der Beginn der Beatmung aus. Auch hierbei kann die Therapie Erkrankung als auch der Verlauf durchaus unter- initial ausschließlich der Verbesserung der Lebens- schiedlich sein. So unterschiedlich, dass heute qualität dienen, wenn eine Maskenbeatmung auf mindestens zehn Varianten, also Phenotypen Grund z. B. eines profusen Speichelflusses oder unterschieden werden, die alle auch eine unter- bei anderen Komplikationen nicht möglich ist. Der schiedliche Prognose haben. Allen gemeinsam ist lebenserhaltende Aspekt ist hierbei aber natürlich jedoch, dass der zugrundeliegende Krankheitspro- deutlicher und oft auch früher erreicht. Wann eine zess nicht ursächlich behandelt und der Verlauf der intermittierende Beatmung begonnen werden Erkrankung daher nicht maßgeblich verändert muss, ist sehr unterschiedlich und hängt stark vom werden kann. Die Krankheitsspanne variiert von Phenotyp ab. In der Regel sind die Patienten zu wenigen Monaten bis zu vielen Jahren, selten sind diesem Zeitpunkt bereits auch in anderen Körperre- sogar Krankheitsverläufe von über 10 Jahren mög- gionen maßgeblich eingeschränkt und entsprechend lich. Im Durchschnitt versterben Patienten jedoch hilfebedürftig. nach etwa 3-5 Jahren, die ALS ist daher eine der bösartigsten Erkrankungen auf neurologischem Insgesamt ist die ALS eine Erkrankung, die das Fachgebiet und der Prototyp einer Erkrankung, die Leben der Patientinnen und Patienten, aber auch palliativmedizinisch behandelt werden muss, der Angehörigen, nicht nur durch die infauste Pro- eigentlich ab dem Zeitpunkt der Diagnosestellung. gnose, massiv verändert und belastet. Gerade aber Die Patienten versterben in der Regel an der Schwä- das Gefühl der Patienten zu einer Belastung für die che der Atemmuskulatur, was aber nicht bedeutet, Angehörigen zu werden, führt zu einer der stärks- dass sie ersticken. Vielmehr kommt es im „norma- ten Einschränkungen der Lebensqualität, weitaus len“ Krankheitsverlauf nicht zu einem relevanten ausgeprägter als die reine körperliche Behinde- Hospiz-Dialog NRW - Oktober 2020/85 Problem der Sauerstoffaufnahme, sondern viel- rung. Es ist daher entscheidend, bereits früh und mehr zu einem Problem, Kohlendioxid abzuatmen auch kontinuierlich feste Bezugspersonen der und zwar in erster Linie in der Nacht und im Liegen. Betroffenen mit in die Betreuung in der ALS Ambu- Die Patientinnen und Patienten versterben dann lanz einzubinden. ohne Luftnot, Angst oder Schmerzen in einer CO2- Narkose. Für Patienten ist diese Information sehr Die Betreuung im spezialisierten Setting erscheint wichtig, da es Ihnen die Angst nehmen kann, zu er- schon daher sinnvoll, da ansonsten geschätzte sticken. Entsprechend gehört die Einleitung einer 8.000 ALS Patienten in Deutschland von etwa 7.500 nicht-invasiven Maskenbeatmung in der Nacht zu Neurologen beziehungsweise 1.500 niedergelasse-
16 AMYOTROPHE LATERALSKLEROSE © G. Achtermann nen Neurologen behandelt werden. In wenigen Aber auch der Zeitpunkt der Beatmung beziehungs- mittlerweile etablierten ALS Zentren in Deutschland weise zur Versorgung mit einer Magensonde (PEG) werden hingegen im Jahr jeweils mehrere Hundert kann in dem spezialisierten Setting einer ALS Am- ALS Patienten behandelt. Darüber hinaus sind bulanz frühzeitig festgelegt und wenn gewünscht diese Ambulanzen untereinander, aber auch mit auch praktisch durchgeführt werden. Die Anlage kleineren, aber interessierten Einrichtungen einer PEG gehört dabei zu einer der wichtigsten vernetzt (MND-Netzwerk in Deutschland, MND = Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität, motoneuron disease) und auch wissenschaftlich was durch die Trennung der Ernährung vom soge- tätig. Durch die regelmäßige Betreuung in einer nannten „Genussessen“ ab dem Zeitpunkt einer spezialisierten Ambulanz ist es möglich, sowohl auf subjektiv empfundenen Einschränkung eben dieser die wechselnden Anforderungen der medikamen- durch eine Schluckstörung erreicht werden kann. tösen, zumeist symptomatischen Therapie zu Die Anlage sollte daher so früh wie nötig und nicht reagieren, aber auch die Heilmittelversorgung so spät wie möglich erfolgen. Der lebenszeitverlän- anzupassen und insbesondere die Hilfsmittelver- gernde Aspekt der PEG ist dann lediglich Folge sorgung zu koordinieren und zu optimieren. weniger auftretender Komplikationen sowie der Möglichkeit, einem weiteren Gewichtsverlust ent- Diesbezüglich hat sich seit über 10 Jahren ein Ver- gegenzutreten, was die Dynamik der Erkrankung sorgungsnetzwerk „AmbulanzPartner“ etabliert, positiv beeinflussen kann. über das Datenbank-basiert Versorgungsbedarfe Hospiz-Dialog NRW - Oktober 2020/85 digital erfasst, dokumentiert und koordiniert wer- Die palliativmedizinische Versorgung kann somit den können, was die Hilfsmittelversorgung der Pa- über einen langen Zeitraum, auch in den letzten tienten in sämtlichen Krankheitsstadien erleichtert, Lebensphasen, über die ALS Ambulanz erfolgen, den Ambulanzen Zeit spart und eine wertvolle Ver- lediglich in der finalen Sterbebegleitung, die von sorgungsforschung möglich macht, deren Ergeb- den Patienten sehr häufig in der gewohnten nisse wiederum direkt Einfluss auf die Qualität der Umgebung gewünscht wird, ist eine Betreuung dann Behandlung der Patientinnen und Patienten neh- so nicht mehr möglich. Hier wäre dann eine enge men kann. Zusammenarbeit z. B. mit einem SAPV zu wünschen.
AMYOTROPHE LATERALSKLEROSE 17 Natürlich gehören auch die frühzeitige Thematisie- werden und als letztes auch die Fähigkeit der Augen- rung einer Vorsorgevollmacht sowie einer Patien- bewegung und damit der Kommunikation verlieren. tenverfügung zu den Aufgaben einer spezialisierten Für diesen Fall muss der Patient/die Patientin ALS Ambulanz. In unserer Ambulanz bieten wir ein entscheiden, ob die lebenserhaltende Therapie, spezielles Dokument an, das sich an eine Patien- also in der Regel die Beatmung, fortgesetzt oder tenverfügung der ALS Ambulanz der Charité in aber eingestellt werden soll. Berlin anlehnt, aber in einigen Punkten verändert wurde. Der entscheidende Punkt ist dabei gar nicht, Zusammengefasst versteht sich unsere ALS Ambu- welche Versorgungen von den Betroffenen lanz daher als zentrale Anlaufstelle für Patientinnen gewünscht oder abgelehnt werden, da eine ALS- und Patienten und deren Angehörige, um sämtliche Patientin/ein ALS-Patient im „normalen“ Krank- Aspekte der Erkrankung betreuen zu können heitsverlauf, also ohne lebenserhaltende Beat- (Gespräche führen, wiederholte Aufklärung, medika- mung, in der Regel kommunizieren kann, da die mentöse Therapie, einschließlich Studienbetreuung, Augenbewegung bis zu diesem Zeitpunkt immer Heilmittel- und Hilfsmittelversorgung, Einleitung der erhalten bleibt und somit in der Regel eine selbst- Beatmung, der mechanischen Hustenassistenz, ständige Entscheidung über Maßnahmen wie NIV der PEG, was in enger Kooperation mit der hiesigen (Nicht-Invasive Beatmung) oder PEG möglich bleibt. internistischen Klinik erfolgt). Eine spezialisierte Eine Kommunikationsunfähigkeit tritt erst zu einem Versorgung hat dabei auch direkt Einfluss auf die Zeitpunkt ein, an dem die Patienten bereits über Lebensqualität der Patienten und Patientinnen. einen längeren Zeitraum lebenserhaltend beatmet Dr. Torsten Grehl Leiter der Ambulanz für ALS und andere Motoneuronerkrankungen Oberarzt der Neurologischen Klinik Alfried Krupp Krankenhaus Alfried-Krupp-Str. 21 45131 Essen Tel.: 02 01 - 4 34-4 14 26 torsten.grehl@krupp-krankenhaus.de http://als-krupp-krankenhaus.de FRÜHZEITIGE PALLIATIVVERSORGUNG FÜR ALS-ERKRANKTE Hospiz-Dialog NRW - Oktober 2020/85 FELIX GRÜTZNER M it der Diagnose einer Amyotrophen Belastungen mit sich, die alle Lebensbereiche ein- Lateralsklerose (ALS) gerät das Le- schließen. Zu dringlichen körperlichen, psychi- ben der Betroffenen und ihrer Zuge- schen und spirituellen Bedürfnissen kommen wirt- hörigen aus den Fugen. Heilung ist schaftliche, aber auch solche der Kommunikation nicht möglich und die meist rasch fortschreitende und Mobilität, wenn z. B. die Sprachfähigkeit ab- Erkrankung bringt extreme Einschränkungen und nimmt und eigenständige Bewegungen mehr und
18 AMYOTROPHE LATERALSKLEROSE mehr unmöglich werden. Die Besonderheiten des zu. Deshalb bleibt für den Aufbau eines individuel- Krankheitsbildes ALS stellen deshalb hohe Anfor- len Versorgungsnetzes wenig Zeit. Da in kurzer Zeit derungen an die Versorgung und Unterstützung. eine Vielzahl belastender Symptome auftreten „ALS-Patientinnen und -Patienten haben spezifi- können, hat es sich bewährt, schon früh im Krank- sche Bedarfe und Bedürfnisse, die sich zum Teil er- heitsverlauf die spezialisierte ambulante Palliativ- heblich von denen anderer Patientinnen unter- versorgung (SAPV) in das Versorgungskonzept scheiden. Zudem variieren diese innerhalb der einzupassen. Die dort vorhandenen Kenntnisse und Krankheitsverläufe der Patienten stark, sodass die Erfahrungen sind nicht nur bei Luftnot, Angst vor Standardisierung der Behandlung und Begleitung dem Ersticken, Schluckstörungen oder übermäßi- nur eingeschränkt möglich ist“, erklärt Prof. Dr. gem Speichelfluss hilfreich, sondern auch zur Lukas Radbruch, Lehrstuhlinhaber für Palliativme- Koordination und Organisation der Versorgung. dizin an der Universität Bonn, der zwischen 2016 Eine solche intensive Betreuung ist indes nicht und 2018 ein Modellprojekt zur Versorgung dieser ständig notwendig. In Phasen geringerer Belastung Patientinnen- und Patientengruppe geleitet und können Patientinnen und Patienten durch ihre Haus- durchgeführt hat.1 ärztinnen und -ärzte im Zusammenspiel mit dem Pflegedienst und anderen Mitversorgern gut betreut werden. Patientinnen und Patienten, Zuge- hörige, Haus- und Fachärztinnen und -ärzte wie auch Pflegende tun sich zu Beginn allerdings häufig schwer, Angebote der Palliativversorgung in Be- tracht zu ziehen, da diese eher als Option für die letzte Lebensphase verstanden werden. Dabei kön- nen sie hilfreiche Unterstützung im gesamten Ver- lauf einer unheilbaren Erkrankung sein. „Wenn die Menschen frühzeitig und behutsam Informationen über unsere Angebote erhalten, fällt es ihnen sehr viel leichter, diese auch anzunehmen“, so Andrea Gasper, die als Palliative-Care-Fachkraft im Bonner SAPV-Team immer wieder auch ALS-Patientinnen und -Patienten begleitet und darüber hinaus in der ALS-Ambulanz der Klinik für Neurodegenerative Erkrankungen & Gerontopsychiatrie am Universitäts- klinikum Bonn tätig ist. „Schon zu Beginn der Erkrankung haben die Patientinnen und Patienten und ihre Zugehörigen viele Fragen und einen hohen Informationsbedarf. Da geht es häufig um Behand- lungsmöglichkeiten, aber auch um so wichtige Dinge wie den Anspruch auf Pflegeleistungen der Krankenkassen oder die Versorgung mit Hilfsmit- teln.“ Wichtig werden auch ethische Fragestellun- Der Hilfe- und Pflegebedarf ist oftmals schon bei gen, wenn beispielsweise der Zeitpunkt erreicht Hospiz-Dialog NRW - Oktober 2020/85 der Diagnosestellung hoch und nimmt im Verlauf wird, an dem eine selbstständige Atmung nicht der Krankheit stetig und mit hoher Geschwindigkeit mehr möglich ist. Als hauptsächliche Bedürfnisbe- reiche können Atmung, Ernährung, Kommunikation 1 Radbruch, L., Gasper, A., Kern, M.: Modellprojekt zur und Mobilität genannt werden. Entwicklung eines Konzeptes zur Palliativversorgung von Patient*innen mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) (2016- 2018), durchgeführt im Auftrag von ALPHA NRW, gefördert Das Modellprojekt zur „Entwicklung eines Konzep- durch das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales tes zur Palliativversorgung von Patientinnen und des Landes NRW. Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS)“
AMYOTROPHE LATERALSKLEROSE 19 zielte darauf ab, die besonderen Bedarfe und Tätigkeit sieht das Autorenteam der Empfehlungen Herausforderungen der Betroffenen, Zugehörigen in fundierten Kenntnissen in Palliative Care und sowie die Anforderungen an Behandelnde und Case Management sowie in einschlägigem Wissen Begleitende aufzuzeigen und ein passgenaues und relevanten Erfahrungen zum Krankheitsbild Behandlungs- und Versorgungskonzept zu entwickeln. ALS. Angesiedelt sein könnten die Lotsinnen und Das Projektteam hat Empfehlungen formuliert, die Lotsen entweder in den spezialisierten Zentren dazu dienen sollen, die Zugangsmöglichkeiten und oder in solchen Teams der SAPV, die einen Schwer- Versorgungsangebote zu verbessern. Versorgungs- punkt in der Versorgung von ALS-Patientinnen/ lücken und -engpässe können aus dem komplexen -Patienten haben. und dynamischen Verlauf der Erkrankung heraus entstehen. So treten mitunter Krisen auf, die nur Weitere Empfehlungen beziehen sich auf die Schaf- mit hohem Aufwand und einer Vielzahl beteiligter fung einer regionalen ambulanten Ethikberatung. Berufe und Fachrichtungen überwunden werden Sie kann in mit der ALS verbundenen Fragestellungen können. Zur aktuellen Situation heißt es im Pro- Orientierung bieten und bei Entscheidungsfindun- jektbericht: „Bei der derzeitigen Versorgungslage gen hilfreich sein. Zur Entlastung der Hausärztin- ist davon auszugehen, dass Patientinnen und nen/-ärzte, Neurologinnen und Neurologen und Patienten mit ALS häufiger stationär im Kranken- Palliativmedizinerinnen/-medizinern sowie aller haus behandelt werden, weil die hausärztliche Ver- weiteren an der Behandlung und Begleitung betei- sorgung nicht ausreicht und Fachärztinnen/-ärzte ligten Personen wird die Entwicklung eines speziellen wie auch Krankenhausambulanzen keine Hausbe- prozessorientierten ALS-Behandlungspfades emp- suche gewährleisten. Obwohl die überwiegende fohlen. Die Qualität der Versorgung könne, so führen Mehrzahl der Betroffenen möglichst lange im eige- die Autorinnen und Autoren des Modellprojekts nen Zuhause bleiben möchte, wird dennoch oft ein aus, durch die Einführung und Moderation regionaler Wechsel in eine Pflegeeinrichtung oder eine und landesweiter, regelmäßiger Qualitätszirkel Pflege-Wohngemeinschaft vorgeschlagen, weil die zur ALS gesteigert werden. Die oben genannten Versorgung zuhause nicht dauerhaft gewährleistet Lotsinnen und Lotsen könnten diese ihrerseits initi- werden kann.“ ieren und verstetigen. Schließlich bedarf es geeigneter multiprofessioneller Bildungsangebote, Abhilfe schaffen könnte demnach die Etablierung um eine Überlastung und Überforderung der sogenannter Lotsinnen und Lotsen. Diese könnten begleitenden Teams zu reduzieren. im Sinne einer frühzeitigen Integration ab dem Zeit- punkt der Diagnosestellung die Koordination und Das wichtige Ziel, die Zugangswege zu den vorhande- die Vernetzung der Behandelnden übernehmen. nen Angeboten zu verbessern, kann – so die Empfeh- Durch ihre frühe Einbeziehung kann Vertrauen auf- lungen weiter – in erster Linie über die Bereitstellung gebaut und Unsicherheit abgebaut werden. Die von geeigneten Informationen erreicht werden: kontinuierliche Betreuung durch eine Person kann „Große Bedeutung kommt der Entwicklung von auch dazu beitragen, Redundanzen in der Behand- Informationsmaterial über die Erkrankung ALS zu. lung zu vermeiden, den Informationsfluss sicher- Analog zum Krebs-Kompass sollte ein ALS-Kompass zustellen und Entscheidungsprozesse zu begleiten. erstellt werden als Informationsbroschüre mit den Lukas Radbruch: „Dies ermöglicht es, die Häufig- Kontaktinformationen der neurologischen, pulmo- Hospiz-Dialog NRW - Oktober 2020/85 keit von Krisensituationen zu reduzieren, bei nologischen, palliativmedizinischen und hospiz- Änderungen der Prioritäten und Zielsetzungen der lichen Einrichtungen, die zur Versorgung beitragen Patientinnen und Patienten insbesondere während können, sowie Adressen zur Physiotherapie, Psycho- und nach Krisen. Beim Fortschreiten der Krankheit therapie, Logopädie und von Pflegediensten, Sani- kann so rascher mit einer Anpassung der Therapie- tätshäusern und Selbsthilfegruppen mit Angeboten ziele reagiert werden.“ Lotsinnen und Lotsen könnten für Patientinnen und Patienten mit ALS.“ es auch übernehmen, Versorgungslücken in der Region aufzudecken oder ungenutzte Ressourcen Ein erster Schritt in diese Richtung wurde jetzt zu identifizieren. Anforderungen an die Lotsen- getan: Erkenntnisse aus dem Modellprojekt sind in
20 AMYOTROPHE LATERALSKLEROSE einen Leitfaden für eine patientenorientierte Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) Versorgung von an ALS-Erkrankten eingeflossen, Leitfaden für eine patientenzentrierte Versorgung die als kostenlose Broschüre bei ALPHA NRW Lukas Radbruch/Andrea Gasper/Martina Kern angefordert werden kann. (2020) Neben Grundwissen zum Krankheitsbild sind darin Download: https://alpha-nrw.de/aktuelles/bro- eine Übersicht bestehender Versorgungsangebote, schueren/#hilfen-fuer-den-alltag Behandlungsmöglichkeiten sowie die Beschrei- bung der häufigsten Begleitsymptome und ihre Linderung enthalten. Ein Adressverzeichnis enthält wichtige landes- und bundesweite Anlaufstellen. Dr. phil. Felix Grützner Heinrich-Sauer-Str. 15 53111 Bonn Tel.: 02 28 - 74 65 47 rheinland@alpha-nrw.de www.alpha-nrw.de DIAGNOSE ALS WAS NUN E.V. CLAUDIA WEBER H allo, mein Name ist Matthias Weber. Ich wurde die Krankheit schon 2000 sichtbar. Es fing bin 49 Jahre alt und seit 2006 weiß ich, damit an, dass immer mehr Geschirr zerbrach, weil dass ich ALS habe.“ Mit diesen Worten mein Mann es nicht mehr festhalten konnte. Auch begann für uns die Arbeit mit der Krank- beim Fußball (er war Torwart im Verein) konnte er heit ALS. Als 2009 nach dem Tod von Matthias die nicht mehr alle Bälle fangen, die auf ihn zuflogen. Entscheidung anstand, ALS-Patientinnen und Wir haben es damit abgetan, dass er alt wird. -patienten mit Informationen und Wissen eine Hilfe Niemand in unserem Umfeld kannte zu diesem Hospiz-Dialog NRW - Oktober 2020/85 zu bieten, fanden sich seine Freunde und Familie Zeitpunkt die Krankheit ALS. zusammen, um sich gemeinsam auf den Weg zu begeben, einen Verein zu gründen. ALS erfordert Es ging dann damit weiter, dass er sich sehr verletzte, im Umgang mit den Menschen viel Mut und Kraft, als beim Spülen ein Glas zersprang. Da zeigte sich mit der Diagnose verändert sich das Leben radikal. zum ersten Mal, dass die Feinmotorik der Hände nachließ. Dazu kamen Taubheitsgefühle in der Hand Als mein Mann Matthias die Diagnose ALS erhielt, und im Arm. Zwischenzeitig ging alles wieder zurück, war er schon eine Zeit lang sehr krank. Im Rückblick so als sei nichts gewesen. Dann veränderte sich
AMYOTROPHE LATERALSKLEROSE 21 seine Sprache. Mein Mann hatte immer eine sehr klare Aussprache, doch nun begann er zu nuscheln. Im Jahr 2006 ging er zu einer Routineuntersuchung zum Arzt. Dabei fiel ein Muskelzucken auf seinem Rücken auf. Der Arzt kannte dieses Phänomen nicht und meinte, das müsse beobachtet werden, etwas Gutes könne es nicht sein. Ende 2006 konnte mein Mann mit der einen Hand sein Handy nicht mehr festhalten und musste die andere Hand zur Unter- stützung nehmen. Dann verschlechterte sich seine Aussprache zunehmend und der Arzt wies ihn mit Verdacht auf Schlaganfall in die Neurologie ein. Nach einer Woche wurde er mit der vorläufigen © U. Ludwig Diagnose „Verdacht auf Erkrankung des ersten und zweiten Motoneurons“ entlassen. Zunächst hörte sich das für mich nicht schlimm an. Es war ja nur ein Verdacht, außerdem wusste ich zu dem Zeit- punkt nicht, was ein Motoneuron ist. Der zweite che, das Schlucken und außerdem für das Atmen. Blick offenbarte etwas anderes: Das erste Moto- Er ist auch der Trainer bei einem Sprachcomputer. neuron ist eine Nervenzelle, die eine Nervenleitfa- Die Physiotherapeutin ist dafür zuständig, die ser bildet, die bis ins untere Rückenmark reicht. Es Muskeln, die noch da sind, zu erhalten. Wichtig ist treten reflexgesteuerte Bewegungen auf, d. h. es dabei, den Patienten nicht zu überfordern, denn erfolgt eine spastische Lähmung. Das zweite dies könnte den Muskelabbau beschleunigen. Motoneuron ist die Vorderhornzelle, die motorische Auch trainiert der Physiotherapeut das Fallen, was Endzelle, die die Muskulatur versorgt. Es erfolgt – durch Schwindel ausgelöst – vorkommen kann. eine Lähmung der Arme und Beine, die auch die Alles das hatte mein Mann. Rumpf- und Atemmuskulatur beeinträchtigt. Es kommt häufig zu Muskelzittern und Muskelkrämp- Es fiel ihm immer schwerer, sich zu waschen und fen. Dann folgt noch die sogenannte Bulbärparalyse anzuziehen. Die Arme wurden schlaffer und hingen der Alpha-Motoneurone: Hier sind das Sprechen am Körper herunter. Auch essen war nicht einfach, und Schlucken beeinträchtigt und es kann auch weil er den Arm nicht mehr heben konnte und zum Zwangslachen und Zwangsweinen kommen. auch, weil das Kauen und Schlucken ihn sehr anstrengte. Also besorgten wir einen Warmhalte- Der Verdacht musste nun erst mal bestätigt wer- teller und suchten nach Möglichkeiten, ihm etwas den. Dazu brauchte der Arzt den Entlassungsbrief, zu essen zu geben, was leichter zu schlucken war. der – wie in vielen Fällen – sehr lange auf sich warten Dabei war es uns wichtig, auf das Aussehen des ließ. Ohne diesen Brief gibt es keine Behandlung, Essens zu achten, denn wer möchte schon etwas keine Neurologen oder Neurologinnen, keine essen, was unansehnlich ist. Außerdem musste ich Hospiz-Dialog NRW - Oktober 2020/85 Therapeutinnen oder Therapeuten, keinen Schwer- ihn immer häufiger füttern. Dann mussten wir behindertenausweis. Ist dieser Brief dann da, muss darauf achten, dass er sich nicht verschluckt, denn der Verdacht bestätigt werden. Der Neurologe kann wiederholtes Verschlucken begünstigt eine nun Rilutek verschreiben, das einzige Medikament Lungenentzündung. für ALS Patienten, welches einen Glutamathemmer enthält und die Lebenserwartung verlängern kann. Auch beim Toilettengang benötigte er vermehrt Hilfe. Trinken ging nur noch mit dem Strohhalm. Nun erst konnten die Therapeuten ihre Arbeit auf- Tabletten habe ich mit einem Mörser zerstoßen und nehmen. Der Logopäde ist zuständig für die Spra- unter Joghurt gerührt, damit er die Medikamente
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