Plant Studies: Pflanzen kulturwissenschaftlich erforschen - Grundlagen, Tendenzen, Perspektiven - Artikel - Sciendo
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Artikel Plant Studies: Pflanzen kulturwissenschaftlich erforschen – Grundlagen, Tendenzen, Perspektiven © 2020 Urte Stobbe, licensee De Gruyter Open. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License
92 10.2478/kwg-2019-0009 | 4. Jahrgang 2019 Heft 1: 91–106 Abstract: In der deutschsprachigen Forschungslandschaft bildet sich derzeit eine kulturwissenschaftliche Pflanzenforschung (Plant Studies) heraus, die auf den neueren Untersuchungen der Botanik und Philosophie zu Pflanzen fußt und die theoretischen Grundlagen mit denen des Ecocriticism und der Animal Studies teilt. Zentrale Strömungen und aktuelle Tendenzen werden ebenso vorgestellt, wie auch der aktuelle Forschungsstand mit dem Fokus auf der kulturwissenschaftlichen Germanistik. Keywords: Plant Studies; Pflanzen in Literatur und Kultur; Kulturwissenschaftliche Pflanzenforschung; Ecocriticism; Environmental Humanities *Dr. Urte Stobbe, Universität Vechta, Germany Pflanzen stehen derzeit hoch im Kurs. Filme Fähigkeit der Bäume, Sozialformationen auszu- wie Avatar: Aufbruch nach Pandora (2009) oder bilden, in denen sich die Bäume als soziale Wesen Guardians of the Galaxy (2014) erwecken den gegenseitig helfen und einander beistehen. Auch Eindruck, als erführen Bäume auch im Block- fragt er, wie es sich eigentlich mit Begriff und buster-Bereich eine große Wertschätzung. Die Bestimmung des ‚Alters‘ verhält, wenn aus alten Bücher des Försters und ‚Baumflüsterers‘ Peter Baumstümpfen neue Bäume wachsen und die Wohlleben werden nicht nur zu Bestsellern, son- Generationen sich rhizomatisch verbinden, und dern ihrerseits zur Vorlage eines erfolgreichen er lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass auch Kinofilms. Florilegien wie Benjamin Bühlers und Bäume hochgradig empfindungsfähige Lebewe- Stefan Riegers Das Wuchern der Pflanzen (2013) sen sind. dokumentieren eine botanische Vertiefung und Wohllebens Buch steht im Kontext einer Viel- Intensivierung der Beschäftigung mit Pflanzen; zahl von Publikationen, die sich publikumswirk- die Reihe wäre leicht fortzusetzen. Dieser kul- sam mit den Besonderheiten und der Relevanz turelle Wandel und die gleichzeitige Abholzung nicht nur von Bäumen, sondern von Pflanzen ins- großer Waldflächen weltweit, die Vernichtung der gesamt für das (zukünftige) Leben auf der Erde grünen Lungen der Erde, scheinen zwei Seiten beschäftigen. Zu nennen ist exemplarisch Die einer Medaille zu sein: Der systematischen Ver- Wurzeln der Welt (2018) von Emanuele Coccia. nichtung steht eine gesteigerte kulturelle Aurati- Ähnlich wie Wohlleben verweist auch er auf seine sierung gegenüber. Dabei zeigt die zunehmende lebensweltlichen Erfahrungen mit Pflanzen, durch Präsenz handelnder, sprechender, wirkmächtiger die er einen anderen Blick auf sie entwickelt habe: Bäume im Unterhaltungsgenre, dass sich etwas in der Wahrnehmung und Bewertung der ‚pflanz- Der jahrelange tägliche Kontakt mit Lebewesen, die mir ursprünglich so fern waren, hat meinen Blick auf lichen‘ Natur verändert. die Welt nachhaltig geprägt. Dieses Buch versucht, die Der Bestseller Das geheime Leben der Bäume Gedanken zu neuem Leben zu erwecken, die aus diesen (2015, gleichnamiger Film 2020) von Peter Wohl- fünf Jahren Betrachtung ihrer Natur, ihres Schweigens, leben, der als einer der bekanntesten Fürspre- ihrer anscheinenden Gleichgültigkeit gegenüber aller cher für eine neue Sicht auf Pflanzen gelten kann, ‚Kultur‘ erwachsen sind (Coccia 2018, ohne Pag., S. 9). betrachtet Bäume als soziale Wesen mit eigenen Kommunikations- und Handlungsformen, denn Als deren zentrale Eigenschaft nennt er, dass sie ihm zufolge vermögen sie untereinander zu kom- sich uns gegenüber nicht verständlich machen munizieren, andere vor Schädlingen zu warnen können und keine unmittelbar wahrnehmbare und ihren Wuchs den äußeren Bedingungen anzu- Reaktion auf Menschen und Menschengemach- passen. Wohlleben betont (oder behauptet) die tes zeigen. Dabei gäbe es, dies ist die Voraus-
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2019 93 setzung seiner Überlegungen, die Welt, wie wir verarbeiten, miteinander kommunizieren, Erfah- sie kennen, ohne Pflanzen gar nicht. Sie erschaf- rungen offensichtlich nicht nur über ein unterir- fen sich ihre Umwelt selbst und damit das, was disches Netz oder Duftstoffe an andere Pflanzen „für die übrigen Lebewesen Wohnraum, ja Welt weitergeben, sondern auch speichern und ihrem wird“(Coccia 2018, S. 20). Nachwuchs weitergeben. Getragen werden diese Angesichts dieser fundamentalen, weil welt- Beobachtungen von der Annahme, dass Pflanzen erschaffenden Bedeutung von Pflanzen sticht über ein spezifisches ‚Schwarm‘-Gedächtnis ver- umso stärker die vergleichsweise Geringschät- fügen und ‚lernen‘ können. Mit einem Wort: Es zung von Pflanzen in der Biologie und Natur-Phi- geht in all diesen jüngeren Veröffentlichungen losophie hervor (vgl. Coccia 2018, S. 20-23). So darum, wie wir Pflanzen hinsichtlich ihrer kogniti- sprechen Biologen wie Wandersee und Schussler ven, sensitiven und kommunikativen Fähigkeiten in Bezug auf ihre eigene Fachdisziplin von einer grundlegend neu denken können. ‚Blindheit‘ gegenüber Pflanzen, einer „plant blind- So sind in jüngster Zeit aus den „underdogs“ ness“ (Wandersee/Schussler 2001, S. 2). Michael (Ingensiep 2019, S. 72, Hervorhebung im Origi- Marder konstatiert im Bereich der Philosophie, nal) in Naturwissenschaft und Philosophie Lebe- dass Pflanzen im westlichen Denken lediglich eine wesen geworden, denen geradezu „menschen- Position am Rand des Randständigen zugespro- ähnliche Eigenschaften wie Psyche, Intelligenz, chen werde („the margin of the margin“, Mar- Gedächtnis oder Gefühl“ (Ingensiep 2019, S. 72) der 2013, S. 2). Auch im Alltagswissen zeigt sich, zugesprochen werden. Damit zeichnet sich eine dass es zwar eine Liste der ausgestorbenen und ähnliche Tendenz ab, wie sie zuvor in der kul- bedrohten Pflanzen gibt, doch dass diese im Ver- turellen Wahrnehmung von Tieren zu beobach- hältnis zu ausgestorbenen und bedrohten Tierar- ten gewesen ist. Insbesondere das Verhältnis ten deutlich weniger oder gar nicht bekannt sind zwischen Affe und Mensch lädt dazu ein, die bis- (vgl. ähnlich auch Heise 2016, S. 23). Warum ist herigen Kategorien zur Unterscheidung zwischen das so? Pflanzen verfügen, anders als Tiere, über Mensch und Tier zu überdenken, wobei notwen- kein Gesicht und vor allem über keine Augen, digerweise zwischen Sprache und Kommuni- mit denen sie für den Menschen erkennbar eine kation zu differenzieren ist: Zwar können Tiere Beziehung aufbauen oder zumindest Kontakt zu über Gerüche, Laute und bestimmte Bewegun- nicht-pflanzlichen Lebewesen herstellen können. gen miteinander kommunizieren, doch zeichnet Lange Zeit wurde ihnen deshalb auch die Fähig- sich menschliche Sprache zudem durch Kreati- keit zu denken, zu empfinden oder zu handeln vität, Unendlichkeit, Abstraktion und Rekursion, abgesprochen – die deutsche Redensart ‚vor also Rückbezüglichkeit auf vorher Gesagtes, aus; sich hinvegetieren‘ zeugt davon. Das mag einer Grundvoraussetzung für eine Speicherung von der Gründe dafür sein, warum Pflanzen deutlich Informationen und den Aufbau komplexer Aus- weniger bewusst und meist nur als Hintergrund sage-, Erzähl- und Regelsysteme (vgl. Tischel wahrgenommen werden – es sei denn, jemand 2018, S. 152f. und 165). beschäftigt sich professionell oder hobbymäßig Ähnliche begriffliche Unschärfen lassen sich mit ihnen oder widmet ihnen ein künstlerisches auch in Bezug auf Pflanzen beobachten. Hans oder schriftstellerisches Interesse. Werner Ingensiep, Verfasser einer Geschichte der An dieser vergleichsweise geringen Aufmerk- Pflanzenseele (2001), zeichnet in einer jüngeren samkeit gegenüber Pflanzen scheint sich derzeit Veröffentlichung die verschiedenen Modelle zur etwas zu ändern. Jüngste Veröffentlichungen Pflanzenseele, zum Vegetativen im Menschen beschäftigen sich mit der „Intelligenz der Pflan- und zur Vorstellung der Pflanze als Maschine von zen“ (z.B. Mancuso/Viola 2015) und verkünden der Antike bis hin zu aktuellen Diskussionen nach. eine „Revolution der Pflanzen“, bei der die „Pflan- Zurecht stellt er die Frage, wie weit eine anschau- zen unsere Zukunft erfinden“ (Mancuso 2018). liche Sprache zur Beschreibung von Phänomenen Auch andere Autoren (z.B. Baluška/Gagliano/Wit- gehen darf, ohne die tatsächlichen Unterschiede zany 2018; Chamovitz 2012; Koechlin 2008, 2014 zwischen Mensch, Tier und Pflanze zu nivellie- u. 2016; Nealon 2016; Pollan 2013) stellen heraus, ren – wie etwa das Faktum, dass Pflanzen „ses- wie Pflanzen über die verschiedenen Sinne wahr- sile autotrophe Lichtesser sind, höhere Tiere aber nehmen, wie sie die so erworbenen Informationen mobile heterotrophe Energieräuber“ (Ingensiep
94 10.2478/kwg-2019-0009 | 4. Jahrgang 2019 Heft 1: 91–106 2019, S. 77). Notwendig sei eine Diskussion darü- lan 2013) – auf den Plan ruft, die, je nachdem, ber, ob es sinnvoll und zulässig sei, Anpassungs- eine differenzierte, historisch fundierte und theo- vorgänge einer Pflanze ohne weitere Differenzie- retisch reflektierte Betrachtung anmahnen oder rungen als Intelligenz auszuweisen, wie auch aus sich durch die Metaphorik provoziert fühlen. Das biophilosophischer Perspektive eine Egalisierung Phänomen ist wissenschaftshistorisch betrachtet von Mensch, Tier und Pflanze statt eines hierar- nicht neu. chischen Ordnungsmodells die Frage aufwirft, ob Die verschiedenen Beiträge zur Diskussion das der Tatsache gerecht wird, dass es klar zu über den Stellenwert und die Besonderheiten von benennende Interdependenzen in den Nahrungs- Pflanzen fordern mit den Kulturwissenschaften ketten gibt. So erfolgte aus Perspektive der Anth- auch die sich kulturwissenschaftlich verstehenden ropogenese die Sesshaftwerdung des Menschen Literaturwissenschaften heraus. Wie in der biolo- in direkter Abhängigkeit von Pflanzen. Ingensiep gischen und philosophischen Forschung wurden plädiert für ein reflektiertes, terminologisch prä- Pflanzen auch in den Kulturwissenschaften lange zises Vorgehen: Zeit kaum als untersuchungswerter Forschungs- gegenstand betrachtet. Selbst im Ecocriticism bzw. Wissenschaftstheorie, Naturphilosophie und expe- in den Environmental Humanities – und damit in rimentelle Pflanzenforschung sind zu differenzieren, Forschungsrichtungen, die sich per definitionem statt solche populären Terme enthusiastisch zu einem populistischen Brei zu vermischen (Ingensiep 2019, mit Repräsentationen und Konzepten von Natur in S. 76). unterschiedlichen kulturellen Kontexten beschäf- tigen –, lässt sich eine gewisse ‚Pflanzenverges- Die skizzierten Entwicklungen zeigen, wie sehr senheit‘ beobachten. In den zahlreichen Einfüh- die jahrhundertelang etablierte Sicht auf Pflan- rungen und Handbüchern (Goodbody/Rigby 2011; zen in den letzten Jahren in Bewegung geraten Garrard 2012a; Garrard 2014; Westling 2014; Dür- ist: Pflanzen agieren nicht nur in der Fiktion von beck/Stobbe 2015; Bühler 2016; Zapf 2016; Heise Filmen und Romanen als aktiv handelnde Wesen, 2017; Dürbeck/Stobbe/Zapf et al. 2018) ebenso in sondern sie werden auch in der empirischen Wirk- der kulturökologischen Literaturdidaktik (Garrard lichkeit so wahrgenommen. Sie sind damit näher 2012b; Grimm/Wanning 2016) sind Pflanzen bzw. an Mensch und Tier herangerückt als je zuvor in Plant Studies bislang nicht präsent (einzige Aus- der Kulturgeschichte; ihnen werden zumindest nahme: Sandilands 2016). Doch rücken Pflanzen in Teilen der philosophischen und biologischen derzeit gerade in den Fokus kulturwissenschaft- Forschung Eigenschaften und Fähigkeiten zuge- licher Forschung. sprochen, die traditionell nur an Menschen und Die folgenden Überlegungen verstehen sich seit einiger Zeit auch an Tieren wahrgenommen als Bestandsaufnahme der bisherigen Grund- werden, und es wird zunehmend stärker begrif- lagen, Tendenzen und Perspektiven im Bereich fen, was es heißt, dass Leben auf der Erde ohne der Kulturwissenschaften, mit dem Schwerpunkt Pflanzen schlechterdings nicht möglich ist und auf Beiträgen einer sich kulturwissenschaftlich dass sich die Tierwelt einschließlich des Menschen verstehenden Germanistik. Dieses Vorgehen ohne Pflanzen nicht hätte entwickeln können. redet nicht einer disziplinären, schon gar nicht Gleichzeitig aber werden Stimmen laut, die die einer nationalen Trennung das Wort, sondern sich andeutende Auffassung einer allzu großen ist neben der fachlichen Herkunft vor allem der Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Mensch, Einsicht geschuldet, dass vor einem globalen Tier und Pflanze problematisieren. transdisziplinären Austausch erst die Klärung des Damit zeigen sich ganz typische Dynamiken, eigenen, disziplinär gebundenen Standpunkts wie sie sich stets dann entwickeln, wenn bislang stehen sollte. Welche Aspekte bei der kulturwis- dominant in der kulturellen Überlieferung eta- senschaftlichen Pflanzenforschung im Fokus des blierte Gewissheiten erschüttert werden: Eine Interesses stehen, an welche Studien produktiv gesteigerte Präsenz in den Medien wird flankiert angeknüpft werden kann und inwiefern Pflanzen von entsprechenden wissenschaftlichen Studien, als Figuren bzw. Handlungsträger zu begreifen die für eine andere Sichtweisen plädieren, was sind, ist Gegenstand dieses Artikels. Diese Klä- wiederum die Beharrungskräfte – auch inner- rung ist umso notwendiger, als das Forschungs- halb der Pflanzenwissenschaften selbst (vgl. Pol- feld, soll es sich mittel- und langfristig etablieren,
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2019 95 anschlussfähig in Bezug auf fachinterne Grund- Inspirationsquellen schlechthin, um auf innova- annahmen zu gestalten ist. Zugleich ist das Ziel, tive und resiliente Weise die Herausforderungen eine intersubjektive Verständigung über die kul- der Zeit (Klimawandel, Ressourcenknappheit) zu turwissenschaftliche Relevanz von Plant Studies meistern (vgl. Mancuso 2018). auch außerhalb dieser engeren wissenschaftli- Pflanzen sind nicht nur existenzielle Nah- chen Community zu ermöglichen. rungsmittel- und Sauerstofflieferanten für das Leben auf dem Planeten Erde; sie haben auch, Plant Studies als kulturwissenschaftliches wie Dutli (2016) exemplarisch anhand der Olive Forschungsfeld gezeigt hat, ganze Kulturen, wie die des Mittel- Die kulturwissenschaftliche Pflanzenforschung meerraumes, geprägt. Pflanzen begegnen uns richtet ihr Interesse auf die Imaginations- und entsprechend häufig in kulturellen Artefakten Darstellungsformen des Vegetabilen in Kunst sowie in mythischen Erzählungen. Sie sind Attri- und Literatur ebenso wie in der Alltagskultur. bute von Göttern und Göttinnen, sie sind in den Plant Studies, so der in Anlehnung an die Animal alten Mythen der Menschheit präsent – zu den- Studies bereits etablierte anglophone Terminus, ken ist an die Mensch-Pflanze-Verwandlungen in beschäftigen sich mit ethischen und philoso- Ovids Metamorphosen oder die Esche Yggdrasil phischen Fragen über den Status von Pflanzen, in der Edda –, auf ihrem Gebrauch gründen kom- widmen sich den historischen wie gegenwärtigen plexe Rituale, und sie sind seit Jahrhunderten Mensch-Pflanze-Verhältnissen und fragen nach Träger symbolischer und metaphorischer Sinnzu- den Praktiken der Interaktion zwischen Menschen schreibungen in der Literatur und bildenden Kunst und Pflanzen in Literatur, Kunst und Kultur. Im (vgl. exemplarisch Heizmann 1993; Duve/Völker Fokus des Interesses steht die Weise, in der bota- 2002). Damit entspricht die kulturelle Repräsen- nisches und botanikales, d.h. ein nicht wissen- tanz der Pflanzen ihrer existenziellen Bedeutung schaftlich und institutionell anerkanntes Wissen für das biologische Leben des Menschen. über Pflanzen (in Anlehnung an die Bezeichnung‚ Die deutschsprachige Dichtung handelt nicht medikales Wissen‘ von Pethes/Richter 2008, nur in ihren erkennbaren mythischen Ursprün- S. 6f.) in literarischen und nicht-literarischen gen (die Linde im Nibelungenlied, die magischen Texten repräsentiert, modifiziert und reflektiert Bäume und Blumen in den ältesten Überliefe- wird – und gegebenenfalls Schreibweisen (mit-) rungsschichten der ‚Volksmärchen‘), in den sti- hervorbringt, die mit dem Vegetabilen verbunden lisierten Jahreszeiten und Landschaftsszenerien sind. Plant Studies arbeiten mit einem kultur- der Minnedichtung und in der Poesie der Frü- wissenschaftlich weiten Textbegriff; er umfasst hen Neuzeit (eindringlich bei Albrecht von Hal- neben Literatur im engeren Sinn (Lyrik, Epik, ler, geradezu enzyklopädisch in Brockesʼ Natur- Dramatik) auch Filme und multimodale Erzähl- dichtung), sondern auch in der neueren Literatur texte (Comics, Graphic Novels) ebenso wie nicht- seit der Goethe-Zeit prominent und meist schon fiktionale (z.B. wissenschaftliche) Texte. im Titel markiert von Pflanzen: Goethes Meta- Heilkunst wäre ohne die Wirkstoffe von Pflan- morphose der Pflanzen, die „blaue Blume“ der zen kaum möglich, viele Drogen (im Sinne hal- Romantik, Hölderlins Die Eichbäume, Drostes Die luzinogener Stoffe) und Gifte basieren auf Pflan- Judenbuche und Mörikes Die schöne Buche, Stif- zenextrakten (vgl. z.B. Balick 1997; Stewart ters Der Hochwald und Der beschriebene Tänn- 2011). Genussmittel wie z.B. Kaffee, Tee, Kakao, ling, Benns Kleine Aster und Rilkes Blaue Hor- Wein und Bier gäbe es ohne Pflanzen nicht. Pflan- tensie, Brechts Rede an den Baum Green oder zen sind die Grundlage fossiler Brennstoffe (z.B. Döblins Die Ermordung einer Butterblume mögen Braunkohle), sie waren lange Zeit für die Farb- als Beispiele genügen, um anzudeuten, dass gewinnung unerlässlich (z.B. Indigo) wie auch für sich schon im Bereich der kanonischen Literatur die Herstellung von Kleidung (Baumwolle, Seide), reiches Untersuchungsmaterial findet. Auch die Musikinstrumenten und Schreibgrundlagen (holz- Gegenwartsliteratur zeigt sich botanisch sensi- haltiges Papier, Papyrus). Holz ist zudem ein zen- bilisiert; Gedichte von Heinrich Detering, Marion traler Bau- und Heizstoff. Pflanzen abgeschaute Poschmann, Silke Scheuermann und Jan Wag- Bau- und Organisationsstrukturen gelten der- ner sind als Beispiele zu nennen. Erkennbar ist zeit als die zukunftsträchtigen Ideengeber und zudem, dass auch das neuere Nature Writing (vgl.
96 10.2478/kwg-2019-0009 | 4. Jahrgang 2019 Heft 1: 91–106 dazu Fischer 2019) die pflanzliche Perspektive Derzeit wird in der anglophonen Forschung zunehmend stärker in ihre Beobachtungen und der Terminus „Critical Plant Studies (CPS)“ am Reflexionen einbezieht. häufigsten verwendet. 2013 begründet Michael Plant Studies sind in ihrer Ausrichtung und Marder, der Verfasser von Plant-Thinking (2013), Zielsetzung noch fluide. Wenn sich Plant Studies die US-amerikanische Buchreihe Critical Plant derzeit im deutschsprachigen Bereich zu etablie- Studies mit dem geradezu programmatischen ren beginnen, so geschieht das in einer dreifa- ersten Band Plants and Literature (Laist 2013). chen Verklammerung: erstens in Anlehnung an Aktuell sind sechs Bände in der Reihe erschienen. die Ausdifferenzierung der Animal Studies (vgl. Das erklärte Ziel der Buchreihe lautet: Borgards 2015, S. 69-71), zweitens in der Über- nahme analoger Bezeichnungen aus den anglo- […] to initiate an interdisciplinary dialogue, whereby philosophy and literature would learn from each other phonen Plant Studies und drittens in Verbindung to think about, imagine, and describe, vegetal life with mit dem großen Forschungsfeld des Ecocriticism critical awareness, conceptual rigor, and ethical sensi- und der Environmental Humanities. Die künfti- tivity (https://brill.com/view/serial/CPST). gen Entwicklungen werden zeigen, ob sich zwi- schen diesen Forschungsfeldern Divergenzen Critical Plant Studies sind folglich als ethisch abzeichnen und andere Schwerpunkte herausbil- begründetes und interdisziplinär ausgerichte- den oder ob sich, auch das ist denkbar und sogar tes Forschungsfeld zu verstehen, das angesichts wünschenswert, weitere Synergien ergeben und des derzeitigen Umgangs (Abholzung, Patentie- multiperspektivische Forschungsverbünde ent- rung von Saatgut, profitorientierte Agrikultur) stehen. Möglicherweise setzt sich eine Binnen- auf einen respektvolleren Umgang mit Pflanzen unterteilung eingedenk der ohnehin fließenden zielt (https://brill.com/view/serial/CPST). Die Übergänge nicht durch bzw. wird als wenig ziel- Untersuchungen sollen dazu dienen, kritisches führend erachtet. So umreißen Vieira, Gagliano Denken in Bezug auf die drängenden Fragen der und Ryan das Forschungsfeld auf eine Weise, die Zeit zu entwickeln, wobei die Fragestellungen für die gesamte kulturwissenschaftliche Pflanzen- denen der Tierethik in den Critical Animal Studies forschung gelten dürfte: ähneln. Matthew Hall hat in Plants as Persons. A Philosophical Botany (2011) die Grundlagen der Critical plant studies (also known as human-plant CPS (mit-)gelegt, indem er die Exklusions- und studies or, simply, plant studies) has emerged as a Inklusionsprozesse von Pflanzen in philosophi- broad framework for re-evaluating plants, their repre- sentations, and human-plant interactions (Vieira/Gag- schen, religiösen und naturwissenschaftlichen liano/Ryan 2017, S. 10). Texten unterschiedlicher Kulturkreise analysiert. Der Autor skizziert aus ethisch-moralischen Wenn im Folgenden die Teilbereiche Cultu- Überlegungen heraus ein ideales Verhältnis zwi- ral Botany, Critical Plant Studies, Human-Plant schen Mensch und Pflanze, das auf Hierarchie- Studies und Literary (Cultural) Plant Studies freiheit, Verwandtschaftlichkeit und ‚care‘ basiert, vorgestellt werden, so soll damit eine Diskus- da Pflanzen Personalität (‚personhood‘) zuzu- sionsgrundlage geschaffen, nicht ein bereits fest sprechen sei. Auch Literatur zeuge davon: „The umrissenes Forschungsgebiet kartographiert notions of plant personhood and human-plant werden. John C. Ryan hat 2011 den Vorstoß unter- kinship are expressed in stories, poems, and nommen, das Forschungsfeld der Cultural Botany myths“ (Hall 2011, S. 11f.). in Anlehnung an die Grundannahmen des Ecocri- Im deutschsprachigen Bereich wird die Frage ticism bzw. der Kulturökologie und der Environ- einer spezifischen ‚Würde der Pflanzen‘ mittler- mental Humanities zu begründen (vgl. Ryan 2011, weile intensiv diskutiert (vgl. Koechlin 2019). S. 124). Ryan spricht von Floral Poetics und nennt Koechlin hat sowohl Die Würde der Kreatur bei als deren Fokus den „dialogue between botany Pflanzen – Die moralische Berücksichtigung von and the humanities, and particularly between Pflanzen um ihrer selbst willen (http://www.ekah. plant research and poetry“ (2011, S. 138). Ziel ist admin.ch/de/) von 2008 als auch die Rheinauer es, die verschiedenen Wissensbereiche in Bezug Thesen zu Rechten von Pflanzen mitverfasst, die auf Pflanzen einschließlich der Literatur im engen u.a. das Recht der Pflanzen auf das Überleben Sinn transdisziplinär zusammenzuführen. ihrer Art und die Nichtpatentierbarkeit festschrei-
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2019 97 ben (http://www.blauen-institut.ch). Ausgangs- Im deutschsprachigen Bereich gibt es das punkt von Koechlins Engagements ist die Fest- Forschungsfeld der Human-Plant Studies bis stellung: dato nicht – zumindest nicht unter den in die- ser Bezeichnung resümierten Voraussetzungen –, Wir wissen nicht, ob Pflanzen fähig sind, subjektiv zu sodass sich nicht einschätzen lässt, mit welchen empfinden, ob sie zum Beispiel Schmerzen empfinden Prämissen Mensch-Pflanze-Verhältnisse bzw. können. Nach heutigem Wissensstand lässt sich dies nicht belegen, doch wir können es auch nicht einfach ihre jeweiligen Interaktionen erforscht werden. ausschließen. […] Auch Tiere wurden lange Zeit als Anknüpfen ließe sich an die jüngeren Studien seelenlose Maschinen betrachtet, und erst in den zur (Kultur-)Geschichte der Botanik, der Baum- letzten Jahrzehnten sind sie – zumindest teilweise – schulen und der Suche nach exotischen Pflanzen aus dieser mechanistischen Falle entronnen (Koechlin (z.B. Müller-Wille 1999; Hielscher/Hücking 2002; 2019, S. 218). Pavord 2008; Butenschön 2012; Lack 2012; Bauks 2013; Dietz 2017; Klemun 2017), zu Kulturpflan- Ryan hat 2012 in der anglophonen Forschungs- zen und deren Verbindung zum Kolonialismus Community die Human-Plant Studies (HPS) aus- und zur Globalisierung (Hobhouse 1992; Schie- gerufen – und zwar in expliziter Anlehnung an die binger/Swan 2001; Schiebinger 2004; Miedaner Human-Animal Studies (vgl. Ryan 2012, S. 111f.), 2014) sowie zur Kulturgeschichte einzelner Pflan- deren Fokus auf den Interaktionen, Beziehungen zen (z.B. Pollan 2001; Dücker 2016; Fischer 2017). und Verhältnissen zwischen Mensch und Tier liegt. Darüber hinaus wären die kulturellen Praktiken So heißt es in der deutschsprachigen Einführung des Züchtens, Pfropfens, Sammelns und Herba- von Gabriela Kompatscher: risierens, des Gärtnerns und des kulinarischen Sie [die Human-Animal Studies] untersuchen, welchen Zubereitens von und floristischen Schmückens Raum Tiere in Kultur und Gesellschaft einnehmen und mit Pflanzen in den Blick zu nehmen, ebenso wie wie sich die Lebensweisen von Tieren und Menschen die ästhetische Zurschaustellung von Pflanzen in begegnen und gegenseitig beeinflussen (Kompatscher den unterschiedlichsten Kontexten (z.B. Parkan- 2017, S. 16). lagen). Als drittes sind die Literary (Cultural) Plant Stu- Nach Auffassung von Ryan geht es um ganz ähn- dies (LPS) zu nennen – ein entsprechendes Netz- liche Themen in den Human-Plant Studies, wobei werk (Literary and Cultural Plant Studies Network) er Pflanzen nicht mehr wie bisher als rein passiv wurde von Joela Jacobs und Isabel Kranz gegrün- (im klaren Gegensatz zu aktiv handelnd), sondern det (https://plants.sites.arizona.edu/). In der Ein- als „acted upon constituents – rather than acting leitung zum Themenheft Das literarische Leben der partners“ bzw. als „agentic und active participants Pflanzen: Poetiken des Botanischen (2017) heißt es in socioecological systems“ (Ryan 2012, S. 105, zu dem neuen Forschungsfeld einzig: Hervorhebung im Original, und S. 110) auffasst. Mit der Wahrnehmung, dass Pflanzen Wirkungen Im Zentrum der Literary Plant Studies steht die Frage, auf andere Lebewesen ausüben, verlieren sie wie Pflanzen in der Literatur erscheinen, welche ihren bloßen Objektstatus; ihr Wert definiert sich aktiven Handlungsspielräume ihnen eingeräumt nicht länger allein über die Nützlichkeit für Tiere werden und inwiefern sie daher als Akteure verstan- den werden können. Damit unlösbar verbunden ist die und Menschen. Fünf Jahre später hat Ryan selbst gegenläufige Perspektive: Inwiefern ändert sich unser diese Bezeichnung als Synonym für die Critical Verständnis von Literatur, sobald wir uns den Pflanzen Plant Studies bzw. insgesamt die Plant Studies zuwenden? Denn wir verstehen pflanzliche Konzepte vorgeschlagen (vgl. Vieira/Gagliano/Ryan 2017, und vegetabile Seinsweisen weniger als Darstellungs- S. 10). Das scheint insofern sinnvoll, als die HPS problem für die Literatur denn als Möglichkeit, grund- legende Fragen dessen, was Literatur sein kann, neu auf den gleichen Grundannahmen basieren bzw. zu stellen. Aus diesem Grund lohnt es sich, Kulturtech- auf identische Referenztexte verweisen wie die niken, die aus dem Bereich der Flora stammen, wieder CPS und zudem die „ethics of research involving auf ihre vegetabile Herkunft hin zu befragen, um ihre care and connectivity with plants“ betonen (Ryan Potenzialität im Sinne der Cultural Plant Studies zu 2012, S. 116). Die bisherigen Ausdifferenzierungs- nutzen (Jacobs/Kranz 2017, S. 87). versuche sind folglich noch unscharf.
98 10.2478/kwg-2019-0009 | 4. Jahrgang 2019 Heft 1: 91–106 Weitere Veröffentlichungen sind angekündigt, Die Formulierung einer Poetik des Pflanz- aber noch nicht erschienen. Eine darüber hinaus- lichen erfolgt auf der Grundlage einer Wissens- gehende Bestimmung dieses Forschungsfelds poetik, einer Poetik des Wissens, die nach den steht folglich noch aus. epistemischen Kontexten fiktionaler Texte fragt, Das, was im Folgenden skizziert und zur Dis- den Anteil historisch variabler Wissensforma- kussion gestellt wird, basiert auf einer partiellen tionen an Genese und Ausformung literarischer Übertragung und Modifizierung der entsprechen- Texte rekonstruiert und diese Texte selbst als den Überlegungen von Roland Borgards aus dem Teil dieser dynamischen Formierung von Wissen Bereich der Literary (Cultural) Animal Studies. begreift. So stehen die Modi der Beobachtung Borgards sieht unter anderem in einer kultur- und Darstellung pflanzlicher Aspekte in literari- und literaturgeschichtlich informierten Historisie- schen und nicht-literarischen Texten im Fokus, rung und Kontextualisierung den entscheidenden deren Schreibweisen sich wechselseitig als „glei- Unterschied zu traditionell motivgeschichtlichen chermaßen produktiv und anschlussfähig erwei- Untersuchungen (vgl. Borgards 2016, S. 228). sen“ können (Pethes 2016, S. 11; allerdings nicht Übertragen auf Pflanzen könnte in den Literary bezogen auf Pflanzen). Im Sinne einer Veranke- (Cultural) Plant Studies untersucht werden, wie rung der Plant Studies in der Germanistik ist es jeweils zeitgenössisch über Pflanzen gedacht und sinnvoll und wünschenswert, sie in dem mittler- gesprochen und was mit ihnen verbunden wurde weile weiten und ausdifferenzierten Forschungs- – kurz: Es geht darum, das Diskursfeld Pflanze feld ‚Wissen und Literatur‘ zu situieren, das hier zu rekonstruieren. Auch ist nach den Mensch- lediglich unter Nennung zentraler Veröffentli- Pflanze-Interaktionen im Text selbst zu fragen chungen umrissen werden kann (z.B. Klausnitzer – mit der Annahme, dass Literatur nicht nur ein 2008; Vogl 2010; Köppe 2011; Borgards/Neu- spezifisches Wissen repräsentieren, sondern die- meyer/Pethes et al. 2013). ses auch beobachten, reflektieren, modifizieren Künftig wird auch im deutschsprachigen oder diesem in unterschiedlichen Poetisierungen Bereich darüber zu diskutieren sein, inwieweit eigene Formen des Wissens entgegensetzen kann und in welchem Sinne Plant Studies als politisch (vgl. Borgards 2016, S. 231f.). verstanden werden sollen, zielen doch ethisch Der bisherigen, auch in den Literatur- und basierte Forschungsansätze wie der Ecocriticism Kulturwissenschaften verbreiteten Sicht auf ausdrücklich und nachdrücklich auf „das Wohl- Pflanzen als etwas Randständigem und selbstver- ergehen aller möglichen Formen des Lebens, ob ständlich Existentem wird mit der Lektürepraxis menschlich oder nicht-menschlich, einschließlich begegnet, wie sich das Verständnis eines Texts desjenigen der Umwelt“ (Culler 2018, S. 184) ab. ändert, wenn er unter der Prämisse gelesen wird, In der anglophonen Welt wurden die Critical Plant dass es sich auch anders verhalten kann. Dabei Studies und insbesondere Michael Marder seitens spielen auch formsemantische Aspekte eine zent- der Tierrechtsaktivisten wegen der Konsequen- rale Rolle, etwa wenn Homologien zwischen bota- zen für die Debatte um eine ethisch angemessene nischen Wachstumsprozessen und poetischen Ernährungsweise der Menschen (‚Food Politics‘) Verfahren hergestellt werden (vgl. Detering 2015, kritisiert, weil indirekt vom Tierleid abgelenkt S. 211-215). Zu analysieren ist somit insgesamt, werde (vgl. dazu Stark 2015, S. 182f.). a) auf welche Weise Pflanzen in Literatur, im Möglich sind auch Wechselwirkungen und Zusammenwirken mit wissenschaftlichen Texten, Austauschprozesse zwischen öffentlichen Debat- kulturell konstruiert sind, d.h. ihnen bestimmte ten über Umweltfragen, Theoriediskussionen Eigenschaften zugeschrieben oder abgesprochen im Bereich Plant Studies und literarischen Neu- werden, b) welche Auswirkungen Pflanzen auf erscheinungen. So entstehen beispielsweise vor der Ebene der erzählten Handlung einschließ- dem Hintergrund der politischen Tierrechtsbe- lich der erzählten Welt seitens der Erzählinstanz wegung und der Animal Studies in jüngerer Zeit zugesprochen werden und wie Pflanzen auf der Gedichte über Tiere, die diesen Diskussionen ver- Ebene der kompositorisch-sprachlichen Gestal- suchen gerecht zu werden: tung des Texts realisiert sind und c) inwiefern sich das ‚Vegetabile‘ des Textes als eine Poetik Gedichte über Tiere stellen zuweilen außergewöhn- lich imaginationsreiche Versuche dar, einfühlend der des Pflanzlichen begreifen lässt.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2019 99 Einzigartigkeit des Tiers gerecht zu werden und sich ist auch der Mensch erst kultiviert worden. Zu zugleich die Unmöglichkeit bewusst zu machen, Worte zu finden, die das Tier nicht umgehend wieder für fragen ist folglich, ob sich nicht beides, das Kulti- menschliche Zwecke zu vereinnahmen (Culler 2018, vieren und Kultiviert-Werden, gegenseitig bedingt S. 183). und konstituiert (vgl. Bühler/Rieger 2013, S. 12f.). Die einzelnen Artikel zeigen, dass die Beobach- Vergleichbares ist in Bezug auf Pflanzen zu erwar- tung und Formulierung, dass Pflanzen Sozial- ten, wobei derartige Wechselwirkungen bei der formen ausbilden, schon Ernst Meyer im Jahr Bewertung der Entstehung dieser Texte mit zu 1834 herausgestellt hat (vgl. Bühler/Rieger 2013, reflektieren sind. S. 72-84), und dass auch die sensuelle Erregbar- Letztlich berührt das Forschungsfeld der Plant keit und Kommunikationsfähigkeit von Pflanzen Studies, wie alle ethisch fundierten Ansätze, die die Forschenden bereits um 1800 beschäftigt hat Frage nach den übergeordneten Zielen von For- (vgl. Bühler/Rieger 2013, S. 58-71). Mit diesen schung. Ein sinnvoller Vorschlag könnte sein, was Beispielen soll mit Nachdruck auf die kultur- und Colin Tudge in seinem Buch The Tree als Leitvor- wissensgeschichtliche Tiefendimension der aktu- stellung formuliert: ellen Debatten hingewiesen werden. Als ebenso grundlegender neuerer Beitrag I like the idea (I have found that some people don’t, zum sich herausbildenden Feld kulturwissen- but I do) that each of us might aspire to be a conno- schaftlicher Pflanzenforschung ist der Ausstel- isseur of nature, and connoisseurship implies a com- bination of knowledge on the one hand and love on lungskatalog Von Pflanzen und Menschen (Meyer/ the other, each enhancing the other. Conservation – of Weiss 2019) zur gleichnamigen Ausstellung im all living creatures, including trees – has little chance Deutschen Hygiene-Museum in Dresden zu nen- of long-term success without understanding, which nen, decken doch die darin versammelten Pers- depends in large measure on excellent science. […] pektiven auf Pflanzen die wesentlichen ethischen, Yet when the science is done, its primary role […] is not to change the world but to enhance appreciation alltags- und hochkulturellen sowie wissenschaft- (Tudge 2005, S. 16). lichen und wissensgeschichtlichen Aspekte der Plant Studies ab (wie z.B. Ethnobotanik, Kunst- wissenschaft, Philosophie). Der Versuch, verschie- Exzellente Wissenschaft ist demnach neben intui- dene Disziplinen und Wissenskulturen zusam- tiver Naturliebe die entscheidende Vorausset- menzuführen, liegt auch den Sammelbänden The zung für die Entwicklung einer auf Anerkennung Green Thread: Dialogues with the Vegetal World und Wertschätzung basierten Haltung gegenüber (Vieira/Gagliano/Ryan 2015) und The Language allem Lebendigen. Dem ist nichts hinzuzufügen – of Plants: Science, Philosophy, Literature (Vieira/ außer dem Hinweis, dass auch exzellente kultur- Gagliano/Ryan 2017) zugrunde. Ausgangspunkt wissenschaftliche Pflanzenforschung dazu gehört. für The Language of Plants ist die Feststellung, dass Pflanzen in der westlichen Literatur bislang Forschungsstand vornehmlich dargestellt wurden Das Wuchern der Pflanzen, Ein Florilegium des Wissens (2013) von Bühler und Rieger ist grund- […] as part of the landscape, or as the backdrop for legend für die deutschsprachige kulturwissen- human and, on occasion, animal dramas, as evident schaftliche Pflanzenforschung geworden, auch in some fairytales and fables. For many writers, plants wenn darin der Begriff Plant Studies noch nicht become, at most, the correlatives of human emotions, eliciting feelings of pleasure and displeasure, trigger- vorkommt. Ausgangspunkt der wissensge- ing memories, and reflecting human states of mind, schichtlichen Fallstudien, die in kurzen Artikeln including inner turmoil or spiritual meditation. The wie ein Lexikon bzw. Florilegium organisiert sind mysterious intricacies of vegetal lives, obscure to the (und analog zu entsprechenden Experimenten human subject, are largely cast aside and relegated to mit dem Bestiarium und dem Lapidarium), ist narrative blindspots in a wide array of literary works (Vieira/Gagliano/Ryan 2017, S. 4). der enge Zusammenhang zwischen Pflanze und menschlicher Kultur. Schon das Wort ‚Kulturʼ ver- weist in seiner etymologischen Herkunft auf eine Allein diese Passage ist geeignet, die verschie- zentrale Kulturtechnik (lat. ‚colereʼ: ‚bebauenʼ), denen Literaturwissenschaften zu Re-Lektüren mehr noch: Durch die Pflanze und ihren Anbau zentraler Werke anzuregen und dabei auch die
100 10.2478/kwg-2019-0009 | 4. Jahrgang 2019 Heft 1: 91–106 Konjunkturen verschiedener Pflanzendarstellun- und Wissen‘ von hoher Relevanz ist. Die Sprache gen diachron und synchron sichtbar zu machen. der Blumen oder ‚Floriographie‘ bzw. insgesamt Darüber hinaus bietet die Einleitung zu The die floralen Kommunikationsmedien sind hin- Language of Plants einen umfassenden Über- gegen bereits mehrfach in den Blick genommen blick über die bisherigen Betrachtungsweisen von worden (z.B. Kranz 2016; Kranz/Schwan/Wittrock Pflanzen von der antiken Philosophie bis heute, 2016; Polaschegg 2018). Untersucht werden der die sich als überwiegend zoozentrisch erweisen Niederschlag forstwissenschaftlicher Diskurse in (vgl. Vieira/Gagliano/Ryan 2017, S. 6). Die neu- der Literatur (Kittelmann 2017a), das Zusam- ere botanische Pflanzenforschung, Philosophie menspiel von Botanik und Ästhetik (Kittelmann und der Ecocriticism haben dazu beigetragen, 2017b) sowie die Idee der Nachhaltigkeit aus das Verhältnis zwischen Mensch und Pflanze zu dem Wunsch ressourcenschonenden Handelns im rekonzeptualisieren und Untersuchungen anzure- Umgang des Menschen mit Pflanzen (Grober 2013; gen, die neben dem Pflanzenverhalten auch deren Stobbe 2019). Zu nennen sind weiterhin Studien Verkörperung (‚embodiment‘), Handlungsmacht zu den verschiedenen Diskursen des anthropoge- (‚agency‘) und Bewusstsein (‚consciousness‘) nen Zugriffs auf Natur, einschließlich der pflanz- berücksichtigen (vgl. Vieira/Gagliano/Ryan 2017, lichen Welt in Hettches Pfaueninsel (Kanz 2018) S. 10). Die Autoren unterscheiden dazu konzeptu- sowie zu der Frage, wie pädagogische Metaphern ell zwischen einer extrinsischen und einer intrinsi- aus dem Bereich der Pflanzenzucht in Rasps Ein schen Sprache der Pflanzen. Erstere bezieht sich ungeratener Sohn wörtlich genommen werden auf die Sprache, mit der Wissenschaftler, Schrift- (Wanning 2015). Darüber hinaus lassen sich Ana- steller, Theoretiker usw. über Pflanzen sprechen; lysen zu Pflanzen in der Lyrik aus biozentrischer Letztere zielt auf die Kommunikationsformen von Sicht anführen (z.B. Rigby 2015; Zemanek 2018), Pflanzen mit anderen Pflanzenindividuen, Tieren ebenso wie Gegenwartsgedichte auf die ihnen wie auch mit Mikroorganismen im Boden sowie inhärenten, widerständigen pflanzlichen Sicht- insgesamt der pflanzlichen Umwelt (vgl. Vieira/ weisen hin analysiert werden (Hayer 2018). Diese Gagliano/Ryan 2017, S. 11f. und 14). In Rückbe- Reihe an Untersuchungen ließe sich lange wei- zug auf die Phytosemiotik, ein Unterbereich der terführen – was umso mehr dafür spricht, dass Biosemiotik, der sich dem Zeichengebrauch von aktuell eine viel diskutierte Forschungsperspek- Pflanzen widmet, gehen sie davon aus, dass die tive auf eine bereits lebendige Pflanzenforschung Sprache der Pflanzen ein Ausdruck ihrer Physio- in der Germanistik trifft und eine Neujustierung logie mit semiotischer Resonanz ist (vgl. Vieira/ der bisherigen Forschungen unter den theore- Gagliano/Ryan 2017, S. 13, unter Verweis auf tischen Prämissen der Plant Studies fruchtbrin- Krampen 2010). Dieses denkbar weite Verständ- gend zu sein verspricht. nis von Sprache steht indes in deutlicher Span- Im angloamerikanischen Bereich wurden nung zu dem bisher anerkannten Verständnis Texte von Autoren untersucht, die zugleich Bota- menschlicher Sprache (vgl. oben). niker waren (Mahood 2008), und es wurde nach Im deutschsprachigen Bereich ist in den letz- dem Zusammenhang von Pflanzen-Wissen und ten Jahren eine Vielzahl von Forschungsbeiträgen literarischer Form gefragt (Roxburgh/Sprang zu Pflanzen erschienen, die in ihrer Fülle an dieser 2018). John C. Ryan hat gleich mehrere Studien Stelle nicht vollständig aufgelistet werden kön- vorgelegt wie z.B. Green Sense. The Aesthetics nen. Heinrich Detering zeigt in seiner jüngsten of Plants, Place and Language (2012) und Plants Studie, Menschen im Weltgarten (2020), unter in Contemporary Poetry – Ecocriticism and the anderem anhand der Werke von Haller und Goe- Botanical Imagination (2017). Insgesamt wer- the, wie in der Zeit zwischen 1700 bis ca. 1835 die den in der anglophonen Forschung ganz selbst- wissenschaftliche und ästhetische Beschäftigung verständlich Filme und Literatur im engen Sinn mit Pflanzen noch im Werk eines einzigen Autors gleichrangig themenspezifisch untersucht, sei zusammengehen konnte, da die Grenzen zwi- es in Bezug auf Pflanzendarstellungen in der schen Wissenschaft und Dichtkunst zu dieser Zeit deutschsprachigen Moderne (Janzen 2016), im noch durchlässig waren – eine These, die auch Horror-Genre (Keetley/Tenga 2016) oder hin- über die Plant Studies hinaus für die Environmen- sichtlich des Konnexes zwischen fossilen pflanz- tal Humanities und das Forschungsfeld ‚Literatur lichen Brennstoffen, Pflanzen und Menschen im
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2019 101 Anthropozän, soweit er z.B. in Frank Herberts – also auch Pflanzen – können als menschenähn- Dune: der Wüstenplanet greifbar ist (Sullivan lich Handelnde erlebt werden, sofern mindestens 2019). Letztere Untersuchung ist schon deshalb eines der folgenden vier Kriterien erfüllt ist: (a) innovativ, weil sie das Augenmerk darauf lenkt, eine menschenähnliche äußere Erscheinung, (b) dass Pflanzen als Grundlagen fossiler Brennstoffe intentionales Handeln, (c) Sprache bzw. Sprach- indirekt das ermöglicht haben, was als grund- fähigkeit und (d) ein psychisches Innenleben. legend für die Bestimmung des Zeitalters des Alle genannten Kriterien sind per definitionem – Anthropozän angenommen wird: die Industriali- und zugleich unhintergehbar – anthropozentrisch sierung samt ihren Folgen. gedacht. Eng mit der narratologischen Perspektive ver- Pflanzen als Handlungsträger (Figuren, bunden ist die philosophische Frage, ob Pflanzen Akteure und Aktanten) handeln können – und wenn ja, wie bzw. inwiefern. Entscheidend für die Frage, ob sich die kultur- Aufgeworfen wird diese Sicht nicht zuletzt durch wissenschaftliche Pflanzenforschung im deutsch- die provokante These Michael Pollans in seinem sprachigen Forschungskontext und namentlich Buch The Botany of Desire: A Plant’s-Eye View of in der sich kulturwissenschaftlich verstehenden the World, worin er behauptet, dass Pflanzen die Germanistik etablieren kann, ist der Status von Menschen dazu bringen, in ihrem Sinne zu han- Pflanzen als Figuren, Akteuren oder Aktanten. deln („a clever evolutionary strategy for advan- Bislang wurden Pflanzen in literarischen Texten in cing their own interests“, Pollan 2001, S. xvi). Kri- der Germanistik vor allem als Symbole gelesen: tisiert wird daran von Hannah Stark, dass diese die Rose als Symbol der Liebe, die weiße Lilie als Studie „entirely on the place of plants in human Symbol der Unschuld usw. (vgl. Butzer/Jacob systems of agriculture and domestic cultivation” 2012). Bei der Analyse von Pflanzendarstellungen fokussiert sei und zudem hauptsächlich aus der in der Literatur ist, entsprechend den Verfahren Menschenperspektive erzählt werde (Stark 2015, der Literary Animal Studies, zwischen diegeti- S. 193). Von Allianzen hingegen spricht Donna schen und semiotischen Pflanzen sowie zwischen Haraway in ihrer Studie zu Companion Species realistischen und fantastischen Pflanzen zu (2003). Zu untersuchen wäre, welche Formen unterscheiden (vgl. Borgards 2016, S. 226-228). von Co-Evolution sich in Bezug auf Pflanzen und Diegetisch meint ‚in der erzählten Welt vorkom- Menschen beobachten lassen, denn auch wenn mend‘, also Pflanzen, die es in der erzählten Welt Pflanzen nicht im Fokus ihrer Studie stehen, sind gibt und auf die referiert wird; semiotisch meint diese bei der Begriffswahl eingeschlossen: ein ‚zeichenhaftes Vorkommen‘ z.B. im Bereich der Namensgebung oder der metaphorischen ‘Companion species‘ is a bigger and more heterogenous category than companion animal, not just because one Verwendung. In literarischen Texten können must include such organic beings like rice, bees, tulips, komplexe Verbindungen und Verweisstrukturen and intestinal flora, all of whom make life for humans zwischen beidem bestehen. Gesteigert wird die what it is – and vice versa (Haraway 2003, S. 15). Komplexität zumeist dadurch, dass bestimmte Figuren symbolisch mit einer Pflanze verbunden Das ist eine andere und vielversprechende Per- sein können bzw. sich auf eine Weise verhalten, spektive, die Differenzen voraussetzt und nicht die als pflanzenhaft erscheint. In Fantasy-Texten, einebnet. in Märchen und Mythen können Pflanzen auch als Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie Figuren auftreten. zufolge gelten auch Pflanzen als ein „Ding, das In der Erzähltheorie ist eine Figur ein „menta- eine gegebene Situation verändert, in dem es les Modell eines Menschen in einer erzählten Welt“ einen Unterschied macht“ (Latour 2014, S. 123). (Winko 2016, S. 66; vgl. auch Jannidis 2004): Die Latour schlägt an anderer Stelle vor, statt von im Text gegebenen Informationen werden im Akteuren besser von Aktanten im Sinne von Agie- Rezeptionsprozess so zusammenfügt, dass sie renden bzw. Interferierenden zu sprechen; dies aus Sicht des Rezipienten einen Sinn ergeben, sei die weniger anthropomorphisierende Bezeich- d.h. die fehlenden Informationen werden derart nung (vgl. Latour 2015, S. 226). Fragen von ergänzt, dass sich kohärente Figuren ergeben. Agency im Unterschied zu menschlich gedachtem Auch nicht-menschliche Lebewesen und Objekte intentionalem Handeln sind auch in den Animal
102 10.2478/kwg-2019-0009 | 4. Jahrgang 2019 Heft 1: 91–106 Studies zentral (vgl. Steinbrecher 2016, S. 7f.; Feststellung, dass Pflanzen wie Menschen und Wirth/Laue/Kurth u.a. 2016). Diskutiert wird die Tiere Lebewesen sind, die in ihrer ganzen Viel- Rede von tierlicher Handlungsträgerschaft oder falt und in ihrem So-Sein als wirksame Teile kom- auch ‚Embodied Agency‘, weil damit die Relevanz plexer Systeme anzuerkennen sind. Das schließt von Rationalität und Intentionalität von Hand- auch Respekt gegenüber Lebewesen ein, die zu lungen, verstanden als menschenbezogene Kate- ‚verstehen‘ uns trotz aller neueren Forschungen gorien, zurückgenommen wird zugunsten der in diesem Bereich schwerfällt, weil wir uns kaum Anerkennung performativer Verhaltensweisen, zu vorzustellen vermögen, wie sie ihre Welt wahr- denen auch ein widerständiges oder unberechen- nehmen. Dass es trotzdem den Versuch wert bares tierliches Handeln zählen kann (vgl. Stein- ist, es zumindest zu probieren, bleibt von dieser brecher 2016, S. 13). Skepsis unberührt (vgl. Vieira/Gagliano/Ryan Agency ist zudem ein Schlüsselbegriff im Mate- 2017, S. 12). rial Ecocriticism (Iovino/Oppermann 2014) sowie Notwendig ist eine Verständigung darü- im New Materialism (vgl. Bennett 2010; Sullivan ber, welche Konsequenzen die Feststellung der 2015). Der Material Ecocriticism definiert sich als Andersartigkeit von Pflanzen, ihre Eigenheiten in den Bereichen Sensorik, Kommunikation, Nah- […] the study of the way material forms – bodies, rungsaufnahme, Fortpflanzung, Zeitrhythmik things, elements, toxic substances, chemical, organic – bedingt durch ein zyklisches Werden und Ver- and inorganic matter, landscapes, and biological ent- ities – intra-act with each other and with the human gehen – sowie ihre Fortbewegung bei prinzipiel- dimension, producing configurations of meanings and ler Ortsgebundenheit im Vergleich zu anderen discourses that we can interpret as stories (Iovino/ Lebensformen haben. Denn diese Unterschiede Oppermann 2014, S. 7). gibt es, wenngleich sie in ihrer Bewertung his- torisch wandelbaren kulturellen Regulierungen In Erweiterung des Material Ecocriticism wird im unterliegen und die unterschiedlich gedachten New Materialism besonders herausgestellt, Nähe-Distanz-Verhältnisse zwischen Mensch, Tier und Pflanze als Konstruktionen gelten können. Es […] wie die menschlichen Kulturen Teil vieler anderer wird künftig verstärkt über die Frage zu disku- materieller ‚Kulturen’ in der Welt sind, z.B. der Elekt- tieren sein, was das jeweils für die Plant Studies ronen, der Bakterien, der Pflanzen und anderer Lebe- wesen. Außerdem werden die Wirkungen von Wasser, bedeutet, insbesondere a) für die Imagination Kohlenstoff oder Wetter und die Einflüsse von ‚aktiven und Darstellung von Pflanzen in der Literatur, b) Stoffen‘ als maßgeblich für die Deutung von Materie für die Analyse- und Interpretationspraxis von einbezogen, seien diese nun radioaktiv, toxisch oder Pflanzen in den Literatur- und Kulturwissenschaf- einfach ein Teil der Nahrungskette (Sullivan 2015, S. 59). ten ebenso wie c) für die Interaktionen zwischen Mensch und Pflanze in der Alltagskultur. Was ist nun aber mit der Frage nach einer mög- lichen Handlungsträgerschaft und Wirkmacht Fazit und Ausblick von Pflanzen gewonnen? Aus der Perspektive Ein zentraler Fokus der kulturwissenschaftlichen der menschlichen Wahrnehmungs- und Erkennt- Pflanzenforschung liegt auf den Imaginations- nisfähigkeit stellt die offenkundige Bewegungs-, formen des Vegetabilen vor dem Hintergrund der Gesichts- und Stimmlosigkeit sowie die schein- sich wandelnden ethischen, philosophischen und bare Passivität von Pflanzen alle Lesarten, die biologischen Vorstellungen von Pflanzen und den Pflanzen als irgendwie handelnde Entitäten in verschiedenen Formen der Mensch-Pflanze-Inter- den Mittelpunkt rücken, vor ernstzunehmende aktion. Plant Studies haben das Potenzial, eine Herausforderungen. Auch dass es nicht immer Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Kultur- möglich ist, beispielsweise einzelne Zitterpappel- wissenschaften und eine Modifikation der theoreti- individuen in einem Zitterpappelwald zu unter- schen, methodischen und begrifflichen Prämissen scheiden, macht es nicht leichter, sind doch die der eigenen Disziplin, in diesem Fall der Germa- bisherigen Denkkategorien in der Regel auf klar nistik, anzuregen. So sind z.B. die Kategorien zur voneinander abgrenzbare Größen ausgerichtet. Bestimmung von Figuren hinsichtlich des Aspekts Worüber noch am ehesten eine intersubjektive der Menschenähnlichkeit ebenso neu zu diskutie- Verständigung hergestellt werden kann, ist die ren, wie auch der Gattungsbegriff ‚Dinggedicht‘
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2019 103 Bauks, Michaela (2013): Zur Kulturgeschichte der Botanik. für Gedichte über Pflanzen durch einen Terminus Trier: Wissenschaftlicher Verlag. abzulösen ist, der den jüngeren Diskussionen Bennett, Jane (2010): Vibrant Matter. A Politicial Ecology zur Handlungsträgerschaft bzw. Agency gewahr of Things. Durham et al.: Duke University Press. ist. Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen Borgards, Roland (2015): Cultural Animal Studies. In: Fiktionen – und nichts anderes ist Literatur –, in Dürbeck, Gabriele/Stobbe, Urte (Hrsg.): Ecocriticism. denen Pflanzen auf unterschiedliche Weise Agency Eine Einführung. Köln et al.: Böhlau, S. 68-80. Borgards, Roland (2016): Tiere und Literatur. In: Ders. entfalten bzw. in denen pflanzliche Handlungsträ- (Hrsg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. gerschaft erkennbar ist, und wissenschaftlichen Stuttgart: Metzler, S. 225-244. Beiträgen, die Pflanzen als selbständig handelnde Borgards, Roland/Neumeyer, Harald/Pethes, Nicolas et al. Entitäten betrachten. Man kann fragen, ob nicht (Hrsg.) (2013): Literatur und Wissen. Ein interdiszi- beides letztlich verschiedene Interpretationen der plinäres Handbuch. Stuttgart et al.: Metzler. Bühler, Benjamin (2016): Ecocriticism. Grundlagen vegetabilen Welt sind. Zudem sind die unterschied- – Theorien – Interpretationen. Eine Einführung. lichen Modi zu reflektieren, mit denen Wissen über Stuttgart: Metzler. Pflanzen in literarischen Texten generiert und Bühler, Benjamin/Rieger, Stefan (2013): Das Wuchern modifiziert wird. Gleiches gilt für die, aus der Per- der Pflanzen. Ein Florilegium des Wissens. 2. Aufl. spektive des New Materialism gedachte Tatsache, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. dass Pflanzen an der Produktion von Literatur auf Butenschön, Sylvia (Hg.) (2012): Frühe Baumschulen in Deutschland. Zum Nutzen, zur Zierde und zum verschiedene Weise beteiligt sein können, sei es Besten des Landes. Berlin: Universitäts-Verlag der als Schreibmedium, -anlass, -gegenstand und als Technischen Universität. Inspirationsquelle. Butzer, Günter/Jacob, Joachim (Hrsg.) (2012): Metzler Indem sie die kulturellen Zuschreibungen, Lexikon literarischer Symbole. 2., erw. Aufl. Stuttgart Agencies, Formen der Involviertheit von Pflanzen et al.: Metzler. Chamovitz, Danial (2012): What a Plant Knows. A Field in Texten analysieren, zeigen kulturwissenschaft- Guide to the Senses. New York: Scientific American/ liche Plant Studies im Idealfall, welchen Erkennt- Farrar, Straus and Giroux. nisgewinn literarische Texte in Bezug auf und im Coccia, Emanuele (2018): Die Wurzeln der Welt. Eine Zusammenwirken mit Pflanzen generieren. Bei Philosophie der Pflanzen. Aus dem Französischen von alldem ist im Blick zu behalten, dass die Macht- Elsbeth Ranke, 2. Aufl. München: Hanser. verhältnisse im Umgang des Menschen mit Pflan- Culler, Jonathan D. (2018): Literaturtheorie. Eine kurze Einführung. Aus dem Englischen von Andreas Mahler. zen derzeit und ‚in real life‘ ganz anders zu bewer- Stuttgart: Reclam. ten und angesichts der zentralen Bedeutung von Detering, Heinrich (2015): Lyrische Dichtung im Horizont Pflanzen auf der Erde deutlich zu kritisieren sind. des Ecocriticism. In: Dürbeck, Gabriele/Stobbe, Urte Wie im Ecocriticism und den Animal Studies geht (Hrsg.): Ecocriticism. Eine Einführung. Köln et al.: es auch in den Plant Studies darum, die Möglich- Böhlau, S. 205-218. Detering, Heinrich (2020): Menschen im Weltgarten. Die keiten ethischen Handelns innerhalb eines Gefü- Entdeckung der Ökologie in der Literatur von Haller ges aus „Macht, Wissen und Unterdrückung“ her- bis Humboldt. Göttingen: Wallstein. auszustellen. Hier wie dort gibt Literatur „Anlass Dietz, Bettina (2017): Das System der Natur. Die zum Überdenken moralischer Positionen und zur kollaborative Wissenskultur der Botanik im 18. Erkundung der Perspektiven des anderen“ (Culler Jahrhundert. Köln et al.: Böhlau. 2018, S. 179). Die Pflanzen selbst können, soweit Dücker, Burckhard (2016): Blühende Kirschbäume. Zur Kulturgeschichte der Kirsche. In: Ders. (Hrsg.): wir wissen, keine Auskunft über ihre Sicht der Machen Erhalten Verwalten. Aspekte einer perfor- Dinge geben. mativen Literaturgeschichte. Göttingen: Wallstein, S. 172-185. Dürbeck, Gabriele/Stobbe, Urte (Hrsg.) (2015): Literaturverzeichnis Ecocriticism. Eine Einführung. Köln et al.: Böhlau. Dürbeck, Gabriele/Stobbe, Urte/Zapf, Hubert et al. (Hrsg.) (2018): Ecological Thought in German Balick, Michael J. (1997): Drogen, Kräuter und Kulturen. Literature and Culture. Lanham et al.: Lexington Pflanzen und die Geschichte des Menschen. Books. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Dutli, Ralph (2016): Liebe Olive. Eine kleine Kulturge- Baluška, František/Gagliano, Monica/Witzany, Günther schichte. 3. Aufl. Göttingen: Wallstein. (Hrsg.) (2018): Memory and Learning in Plants. Duve, Karen/Völker, Thies (2002): Lexikon berühmter Hannover: Springer. Pflanzen. Frankfurt a.M.: Eichborn.
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