HOSPIZ- UND PALLIATIVVERSORGUNG IN KRISENZEITEN - Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - ALPHA NRW

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HOSPIZ- UND PALLIATIVVERSORGUNG IN KRISENZEITEN - Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - ALPHA NRW
Ansprechstellen im
                        Land NRW zur
                        Palliativversorgung,
                        Hospizarbeit und
                        Angehörigenbegleitung

Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen
Juli 2020 Ausgabe 84

HOSPIZ- UND PALLIATIVVERSORGUNG
IN KRISENZEITEN
HOSPIZ- UND PALLIATIVVERSORGUNG IN KRISENZEITEN - Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - ALPHA NRW
Hospiz-Dialog NRW - Juli 2020/84
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HOSPIZ- UND PALLIATIVVERSORGUNG IN KRISENZEITEN - Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - ALPHA NRW
Liebe Leserinnen und Leser,
                                   Menschen, die mit Sterbenden und Trauernden arbeiten, haben Erfahrung mit Krisen. Die Corona
                                   Krise hat sie nun aber auf andere Weise berührt. Da war eine große Unsicherheit, die Angst
                                   vor dem Unbekannten, die veränderte Kommunikation oder die Sorge um die Vereinsamung
                                   besonders der alten Menschen. Und da gab es noch weitere Themen wie die Bedenken der
                                   ambulanten Hospizdienste wegen geringer Begleitungszahlen oder der stationären Hospize
                                   wegen der zunächst unklaren Rahmenbedingungen. In den Anfängen waren alle zutiefst verun-
                                   sichert. Vorsicht bleibt geboten, denn wir sehen, wohin Unbekümmertheit und Nachlässigkeit
                                   führen. In der Zwischenzeit haben wir bei aller Fragilität etwas mehr Routine im Umgang mit dem Virus
                                   bekommen. Wir gewöhnen uns an Abstände und finden alternative Formen zwischenmenschlichen
                                   Umgangs. Neben den kreativen und alltagspraktischen Fertigkeiten kann die Hospiz- und Palliativ-
                                   versorgung in dieser Krise Werte nutzen, die Grundlage ihrer Identität darstellen, wie Zuversicht, Geduld,
                                   Solidarität, Demut oder Vertrauen. Beide Qualitäten finden sich in den Beiträgen unserer Autorinnen
                                   und Autoren wieder.

                                   Eine gute Lektüre wünscht Ihnen
                                                                                                                      Ihre
                                                                                                                             Dr. Gerlinde Dingerkus

                                   INHALT
                                   4 Solidarität in der Krise                             15 Die ambulante
                                       Hans-Werner Bierhoff                                  palliativmedizinische Begleitung
                                                                                             unter Coronabedingungen
                                   6 Kreativ durch die Corona-Krise                            Interview mit Jan Everts und Dietmar
                                       Susanne Schübel                                         Schlewing

                                   8 „PandeMimik“-Tipps                                   17 Die Palliativ-Ampel
                                     Gute Kommunikation trotz                                  Thomas Sitte
                                     Maskenpflicht
                                       Mareike Neumayer                                   20 Bestattungen in Zeiten der Krise
                                                                                               Christian Jäger
                                   10 Wir sehen uns!
                                       Dieter Lange-Lagemann                              23 Hospiz- und Palliativversorgung
                                                                                             in Corona-Zeiten –
                                   13 Ganzheitlichkeit in der Krise                          ein Perspektivwechsel
Hospiz-Dialog NRW - Juli 2020/84

                                       Susanne Kiepke-Ziemes, Jürgen Goldmann                  Andrea von Schmude, Martina Kern

                                                                                          26 Veranstaltungen

                                                                                          27 Impressum
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    SOLIDARITÄT IN DER KRISE
    HANS-WERNER BIERHOFF

    S
               olidarität stellt eine wichtige gesell-       Die Grundlage dafür ist die Perspektivenübernah-
               schaftliche Grundlage dar. Das gilt gera-     me bezogen auf die Interessen anderer.
               de auch für moderne Gesellschaften.
               Eine Gesellschaft ohne Solidarität ist        Beide Formen der Solidarität beruhen auf unter-
    schwer vorstellbar. Trotzdem wird Solidarität immer      schiedlichen Werten. Während die erste auf Werten
    wieder in Frage gestellt und neu etabliert. Einerseits   der Selbst-Erhöhung beruht (es geht um die Ver-
    haben Hilfsorganisationen wie die Hospizbewegung         besserung der eigenen Situation in Kooperation
    es übernommen, Solidarität mit Menschen, die sich        mit anderen, die sich in einer ähnlichen Situation
    in einer Notlage befinden, zu organisieren. Ande-        befinden), beruht die zweite auf Werten der Selbst-
    rerseits wird die Solidarität durch gesellschaftliche    Überwindung (es geht darum, eigene Leistungen
    und kulturelle Veränderungen bedroht. Ein Beispiel       zugunsten anderer Menschen zu erbringen). Mit
    ist die Globalisierung, die in ihren Auswirkungen        Selbst-Erhöhung sind eigene Zielsetzungen verbun-
    auf die Solidarität noch nicht hinreichend erforscht     den, die möglicherweise besser erreicht werden
    ist.                                                     können, wenn sich die Betroffenen zusammen-
                                                             schließen, weil durch den Zusammenschluss das
    Der Begriff der Solidarität hat mehrere Bedeutun-        Gewicht erhöht wird, das dem gemeinsamen Anlie-
    gen. In diesem Zusammenhang sind vor allem zwei          gen verliehen wird. Mit Selbst-Überwindung rücken
    zu nennen. Die eine Bedeutung ist die der Koope-         Zielsetzungen anderer Menschen, die sich die Ak-
    ration auf der Grundlage gemeinsamer Interessen          teure gewissermaßen zu ihren eigenen Zielsetzun-
    der beteiligten Personen, die einer Binnengruppe         gen machen, in den Mittelpunkt.
    angehören. Ein Beispiel dafür ist die Gewerkschafts-
    bewegung.                                                Tatsächlich lässt sich zeigen, dass sich individuelle
    Die zweite Bedeutung ist die des Eintretens der          Werte nach Selbst-Erhöhung und Selbst-Überwin-
    Stärkeren für die Schwächeren, das durch eine            dung unterscheiden lassen. Das bestätigt indirekt,
    altruistische Orientierung gekennzeichnet ist. Ein       dass die Gegenüberstellung der zwei Formen der
    Beispiel ist die Solidarität mit der Dritten Welt, für   Solidarität sinnvoll ist, weil sie auf der allgemeinen
    die sich zahlreiche Hilfsorganisationen engagieren.      Wertestruktur beruht. Werte der Selbst-Überwin-
                                                                               dung sind Wohlwollen, Toleranz,
                                                                               Gerechtigkeit und Schutz der
                                                                               Menschen und der Natur. Werte
                                                                               der Selbst-Erhöhung sind Macht,
                                                                               sozialer Status, Dominanz und
                                                                               persönlicher Erfolg. Selbst-Erhö-
                                                                               hung und Selbst-Überwindung
                                                                               schließen sich gegenseitig aus.
                                                                               Wie schon erwähnt, stehen sie mit
     © Gerd Altmann auf Pixabay

                                                                                                                      Hospiz-Dialog NRW - Juli 2020/84

                                                                               unterschiedlichen Formen der So-
                                                                               lidarität im Zusammenhang.

                                                                               Im Folgenden wenden wir uns der
                                                                               Solidarität mit den Interessen an-
                                                                               derer zu, die eine Bereitschaft
                                                                               beinhaltet, unterprivilegierte und
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                                     Am meisten Sorge hat mir bereitet, dass Angehörige und
                                     Freunde der sich im Sterben befindlichen Bewohner falsch                  Zweck zu beteiligen und die Rückbesinnung
                                     informiert waren und glaubten, sie dürften die Einrichtung                auf freiwilliges soziales Engagement zuge-
                                     nicht betreten. Eine weitere Sorge war jedoch, dass wir auf-              nommen. Die Verwirklichung der Solidarität
                                     grund der Coronaschutzverordnung und dem körperlichen                     hat sich an unterschiedliche soziale Kon-
                                     Abstand, den wir alle einhalten müssen, den Trauernden die                texte angepasst. So lassen sich politische
                                     gebotene Fürsorge nicht zuteil werden lassen können.
                                                                                                               Verantwortung einschließlich der Verantwor-
                                     Einrichtungsleitung, Pflegeeinrichtung in privater Trägerschaft,          tung für die Dritte Welt, Familiensolidarität,
                                     80 Bewohnerinnen und Bewohner                                             gewerkschaftliche Solidarität, Solidarität in
                                                                                                               bestimmten Berufsgruppen und Solidarität
                                                                                                               mit den Kranken und Schwachen nennen. In
                                                                                                               diesem Zusammenhang ist auch darauf hin-
                                                                                                               zuweisen, dass viele Formen der Solidarität
                                   hilfsbedürftige Personen zu unterstützen. Das so-                    von der internetbasierten Vernetzung der Beteilig-
                                   ziale Lernen und die Entwicklung des Gewissens                       ten profitieren.
                                   stellen die Voraussetzung dafür dar, die Interessen
                                   des Selbst zu überwinden. Das Gewissen beinhal-                      Die Sorge wegen einer möglichen Krise der Solida-
                                   tet Verpflichtungsgefühle dafür Gutes zu tun, um                     rität ist berechtigt. Die Ergebnisse repräsentativer
                                   der sozialen Verantwortung zu entsprechen. Diese                     Umfragen, die im Deutschen Freiwilligensurvey des
                                   Verantwortung hängt mit dem Eintreten füreinan-                      Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen
                                   der in Zusammenhang, das durch die Fürsorge für                      und Jugend aus dem Jahre 2014 zusammengefasst
                                   Familienangehörige untereinander verdeutlicht                        sind, machen aber Hoffnung. Danach gehen 18.1 %
                                   wird. Aus diesem prosozialen Engagement in der                       der ehrenamtlichen Mitarbeitenden der freiwilligen
                                   Familie kann sich ein weiter gefasstes Engagement                    Tätigkeit mit einem Zeitaufwand von mehr als
                                   entwickeln, das dem gesellschaftlichen Zusammen-                     sechs Stunden nach und 58.1 % mit bis zu zwei
                                   halt dient. Familiensolidarität ist eine Vorstufe für                Stunden. Das spricht dafür, dass das Engagement
                                   eine weiter gefasste Überwindung des Eigeninte-                      der Freiwilligen sich auf einem hohen Niveau be-
                                   resses, die es ermöglicht, auf die Bedürfnisse an-                   findet. Der Schwerpunkt der Freiwilligentätigkeit
                                   derer Menschen einzugehen.                                           liegt auf den Bereichen „Sport und Bewegung“,
                                                                                                        „Kindergarten und Schule“, „Kultur und Musik“
                                   Solidarität begegnet aber immer neuen Herausfor-                     und im Sozialen. Bemerkenswert ist auch, dass der
                                   derungen. In diesem Zusammenhang ist die Indivi-                     relative Anteil der Befragten, die sich freiwillig en-
                                   dualisierung der Gesellschaft zu nennen, die eine                    gagieren, zwischen 1999 und 2014 kontinuierlich
                                   Ich-Orientierung fördert. Außerdem besteht ein                       angestiegen ist. Dieser Anteil liegt in der neuesten
                                   erheblicher Wettbewerbsdruck, der sich im ökono-                     Erhebung bei beachtlichen 43.6 %. Solidarität ist
                                   mischen Bereich verschärft hat, der auch den                         definitiv kein Auslaufmodell, auch wenn die Gesell-
                                   Gesundheitsbereich erfasst hat. Betriebswirt-                        schaft durch aktuelle Krisenerscheinungen gekenn-
                                   schaftliche Denkweise kann solidarisches Handeln                     zeichnet ist.
                                   erschweren, wie etwa der Wettbewerbsdruck im
                                   Gesundheitsbereich zeigt. Die Globalisierung kann
                                   ebenfalls eine Krise der Solidarität auslösen. Das
                                   ist vor allem dann der Fall, wenn die internationalen
                                   Kontrollmechanismen langsamer entstehen, als die
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                                   Globalisierung voranschreitet. Dann kann es zu                                               Prof. Dr. Hans-Werner Bierhoff
                                   einem internationalen Standortwettbewerb kom-                                                Fakultät für Psychologie
                                                                                                                                IB, Postfach 35
                                   men, der auf Kosten der Rechte der beteiligten                                               Ruhr-Universität Bochum
                                   Arbeitnehmer ausgetragen wird.                                                               Universitätsstr. 150
                                                                                                                                44801 Bochum
                                   Gleichzeitig hat aber auch die Bereitschaft der Men-
                                   schen sich an Freiwilligenarbeit zu einem guten
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                                      KREATIV DURCH DIE CORONA-KRISE
                                      SUSANNE SCHÜBEL

                                      D
                                                  er Terminkalender für 2020 war durch-      personen nicht ausreichend mit Schutzmaterialien
                                                  geplant, der Einführungskurs in die am-    versorgt werden konnten. Lange vor Einführung der
                                                  bulante Sterbebegleitung gut besetzt.      Maskenpflicht begann der Verein, gemeinsam mit
                                                  Tischgespräche, Trauerspaziergänge,        Näherinnen der Kreativgruppe des Fördervereins
                                      Beratungsgruppen, Supervision und als Höhepunkt        Stoffmasken herzustellen – aus hochwertigem
                                      eine Kunstausstellung mit Zeitschenker-Lesung          Material, bis zu 90 Grad waschbar. „Von Anfang an
                                      und ein Tag der offenen Tür standen an. Doch dann      war uns wichtig, die Masken kostenlos an jene zu
                                      kam Corona und machte allen Planungen des Am-          verteilen, die sie am dringendsten brauchen“, sagt
                                      bulanten Hospizdienstes Herne einen Strich durch       die Koordinatorin Annegret Müller. Bis Anfang Juni
                                      die Rechnung. Von einem auf den anderen Tag ging       konnten auf diese Weise mehr als 2.000 Community
                                      der Verein in den Lockdown. Dem Schock der ersten      Masken abgegeben werden. Müller: „Wir haben in
                                      Tage folgte rasch ein kreativer Aufbruch in Neuland.   den Medien aktiv auf unser Angebot aufmerksam
                                                                                             gemacht und zum Beispiel auf Facebook eine Rie-
                                      Ambulante Sterbebegleitung ohne menschliche            senresonanz erzielt. Das führte nicht nur zu Geld-
                                      Nähe ist eigentlich nicht möglich, sagt die Koordi-    und Materialspenden sowie einer Flut von Anrufen
                                      natorin Karin Leutbecher. Zudem gehörten viele der     und Mails, manche auch aus anderen Städten und
                                      Ehrenamtlichen selbst einer Risikogruppe an und        Bundesländern, wir konnten auch drei weitere
                                      mussten schweren Herzens ihre Begleitungen aus-        Näherinnen gewinnen, die uns bienenfleißig unter-
                                      setzen. „Am Anfang blieb uns nur das Telefon, um       stützt haben. Das hat uns besonders erfreut.“
                                      mit den Betroffenen und ihren Angehörigen, aber
                                      auch mit den Ehrenamtlichen in Kontakt zu bleiben“,    Über ambulante Hospizarbeit ins Gespräch kommen
                                      so Karin Leutbecher. Das neue Diensthandy stand        Gleichzeitig wirkte sich die Aktion positiv auf die
                                      selten still. Parallel sorgten die Koordinatorinnen    Wahrnehmung der ambulanten Hospizarbeit ins-
                                      dafür, dass die Hotline des Palliativ-Netzwerkes       gesamt aus. Annegret Müller: „Die Verteilung der
                                      Herne, Wanne-Eickel, Castrop-Rauxel immer              Masken gab uns Gelegenheit, mit Anrufern und Ab-
                                      besetzt und mindestens eine Ansprechpartnerin          holenden über ambulante Hospizarbeit ins Ge-
                                      vor Ort erreichbar war.                                spräch zu kommen. Jeder ausgehändigten Maske
                                                                                             legten wir nicht nur eine Pflege-Anleitung bei, son-
                                      2.000 Community Masken                                 dern auch unseren aktuellen Infobrief. Betroffene,
                                      Schon sehr früh in der Corona-Krise fiel den Herne-    aber auch Einrichtungs- und Teamleitungen von
                                      rinnen auf, dass beruflich Pflegende und Betreu-       Pflegeeinrichtungen und Pflegediensten schütteten
                                      ende, aber auch pflegende Angehörige und Risiko-       uns bei der kontaktlosen Übergabe ihr Herz aus.
                                                                                             Wir führten unzählige Gespräche über unsere Ar-
                                                                                             beit — draußen vor der Tür, im Hausflur, auf dem
                                                                                             Parkplatz oder auch direkt an der Nähmaschine.“
                                                                                                                                                    Hospiz-Dialog NRW - Juli 2020/84
© Ambulanter Hospizdienst Herne

                                                                                             Während Besuchsverbot Da-Sein und Zeit-
                                                                                             Schenken am Krankenbett
                                                                                             Als Angehörige und Ehrenamtliche ab 20. März kei-
                                                                                             nen Zugang mehr zu den evangelischen Kranken-
                                                                                             häusern erhielten, ließ sich die Koordinatorin und
                                                                                             Krankenhausseelsorgerin Karola Rehrmann häufi-
                                                                                             ger auf Stationen entsenden, um dort vermehrt
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                                   Besuche zu machen. Die dortigen Pflegekräfte zeig-             schenker haben wir gefilmt und hochgeladen.“ Da-
                                   ten sich dankbar für Unterstützung, waren sehr                 bei erhielt der Hospizdienst viel Zuspruch und
                                   hilfsbereit und aufgeschlossen. Patientinnen und               Unterstützung. Die bekannte Bochumer Schauspie-
                                   Patienten reagierten freudig überrascht auf Rehr-              lerin Maria Wolf stellte honorarfrei Texte für Online-
                                   manns Anwesenheit. Bereitwillig erzählten sie von              Lesungen zur Verfügung. Wolfgang Flunkert,
                                   ihren persönlichen Sorgen, Ängsten und Unsicher-               Kreiskantor des Kirchenkreises Herne, zeichnete
                                   heiten in Bezug auf die eigene Erkrankung und die              ausgewählte Orgel-Stücke auf, die er sogar mit
                                   Pandemie. Der fehlende Besuch, insbesondere von                einer kleinen Erläuterung versah. Karin Leutbecher:
                                   nahen Angehörigen, stimmte sie traurig und ver-                „Das hat uns wirklich viel bedeutet.“ Die Zahlen
                                   stärkte ihr Gefühl des Allein- und Ausgeliefertseins.          können sich sehen lassen: Seit dem Kickoff Ende
                                   Ihr wichtigstes Kontaktmittel nach draußen war das             April schauten sich dort mehr als 2.000 Nutzer die
                                   Telefon. Karola Rehrmann: „Mein persönliches Fazit             Videos an, 85 feste Abonnenten möchten informiert
                                   aus diesen Begegnungen ist: Begleitung und Unter-              werden, wenn es beim Hospizdienst etwas Neues
                                   stützung mit Nase-Mund-Schutz, ohne körperliche                gibt. Die Community auf Facebook stieg während
                                   Berührung und mit weitem Abstand sind gewöh-                   der Lockdown-Zeit auf fast 1.000 Freudinnen und
                                   nungsbedürftig. Überraschenderweise kann trotzdem              Freunde an.
                                   ganz viel Nähe im Gespräch entstehen. Das Da-Sein
                                   und das Zeit-Schenken werden dankbar angenom-                    Kontakt halten mit modernsten technischen Mitteln
                                   men und als hilfreich erlebt.“                                   Im Rückblick zählen die Koordinatorinnen das
                                                                                                    Gefühl des Abgeschnittenseins von allem zu den
                                   Kunstausstellung und Lesungen im eigenen You-                    größten Herausforderungen während der Pande-
                                   Tube-Kanal                                                       mie-Hochphase. „Dabei war es uns so wichtig, in
                                   Zu den Höhepunkten des Hospizdienst-Jahres 2020                  Kontakt zu kommen und zu bleiben. Das hat uns
                                   sollte die lange geplante Kunstausstellung „Ren-                 alle viel Kraft gekostet: Wo muss ich mich melden?
                                   dezvous mit dem Leben“ der Malerin Inge Weber                    Wen muss ich erinnern? Wie kann ich den Austausch
                                   gehören, kombiniert mit der Lesung „Zeitschenker                 im Fluss halten?“, sagen Leutbecher, Rehrmann und
                                   lesen Lieblingstexte“ und einem Tag der offenen                  Müller übereinstimmend. Um den Informations-
                                   Tür als Finissage im Juni. Die Vernissage im Februar             fluss zu erhalten, mussten sie sich auf für den Ver-
                                   konnte der Verein noch wie geplant durchführen,                  ein bis dato ungewohnte Technikformen einlassen.
                                   doch bereits wenige Tage später wurden die Räum-                 Sie machten sich mit den Videokonferenz-Program-
                                   lichkeiten für Gäste geschlossen. Die Koordinato-                men „Zoom“ und „Teams“ vertraut und übten viel
                                   rinnen machten aus der Not eine Tugend und wag-                  privat zuhause. Damit verbunden war die Nachrüs-
                                   ten mit professionel-                                                                               tung der Büro-IT mit
                                   ler Unterstützung                                                                                   Webcams, eine neue
                                   den Aufbau eines ei-                                                                                Telefonanlage tat ihr
                                   genen Videokanals                                                                                   übriges. Auch wenn
                                   auf YouTube. Karin                                                                                  seit Anfang Juni
                                   Leutbecher: „Wir ha-                                                                                durch die Lockerung
                                   ben alle Bilder der                                                                                 der Corona-Regeln
                                   Ausstellung abfoto-                                                                                 die Arbeit ganz lang-
                                                             © Ambulanter Hospizdienst Herne

                                   grafiert, ein Video                                                                                 sam wieder beginnen
                                   aus den Bildern zu-                                                                                 kann, so ist die Zeit
Hospiz-Dialog NRW - Juli 2020/84

                                   sammengestellt und                                                                                  der Anpassung und
                                   unseren Freundin-                                                                                   des Lernens noch
                                   nen und Freunden so                                                                                 lange nicht vorüber,
                                   ein Online-„Rendez-                                                                                 sagen die Koordina-
                                   vous mit dem Leben“                                                                                 torinnen: „Wir richten
                                   ermöglicht. Auch die          Gruß vom Balkon: Viele Mieterinnen und Mieter von Seniorenwohnanlagen uns darauf ein, dass
                                   Lesungen der Zeit-                                    in Herne wurden mit Community-Masken versorgt wir noch über länge-
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    re Zeit „Kontakt auf Abstand“ halten müssen. Wir                        Ambulanter Hospizdienst Herne
    haben aber gelernt, dass wir gemeinsam gute                        Karin Leutbecher, Karola Rehrmann,
    und kreative Wege finden können, um diese „neue                                         Annegret Müller
    Normalität“ gelingen zu lassen.“                                        Bahnhofstraße 137, 44623 Herne
                                                                                     Tel.: 0 23 23 - 98 82 90
                                                                                info@hospizdienst-herne.de
                                                                                www.hospizdienst-herne.de
                                                                    www.facebook.com/DIEZEITSCHENKER
                                                              https://bit.ly/ambulanter-hospizdienst-herne
     © Bettina Engel-Albustin

                                Susanne Schübel

    „PANDEMIMIK“-TIPPS
    GUTE KOMMUNIKATION TROTZ
    MASKENPFLICHT
    MAREIKE NEUMAYER

    I
          st da ein Lächeln hinter der Maske? Meint je-   ne Corona-Pandemie – vor, dass die von uns sonst
          mand, was er sagt? Wie reagiert mein Gegen-     als üblich empfundenen Kommunikationswege nicht
          über auf mich? Im Kontakt mit anderen Men-      mehr so gut funktionieren. Begleitung findet manch-
          schen wünschen wir uns eine Rückmeldung         mal auch ohne Worte statt. Wir üben uns darin, durch
    und ein Vergewissern. Auch über Worte hinaus ver-     Dasein, Haltung und aufmerksames Beobachten ei-
    suchen wir unbewusst im Gesicht des anderen zu        nen Zugang zueinander zu finden. Bereits im Hospiz-
    lesen, was er fühlt. Doch nun ist oft als Corona-     kurs nimmt das Thema Kommunikation einen großen
    Schutzmaßnahme ein großer Teil der Gesichter mit      Stellenwert im Lehrplan ein. Zum Beispiel lernen die
    einem Mund-Nasen-Schutz verdeckt. Viele Men-          Teilnehmenden, dass 93 Prozent der Kommunikation
    schen fühlen sich dadurch im Miteinander verunsi-     sowieso ohne Worte stattfindet.
    chert. Was passiert hinter der Maske?
    Auch im Hospiz tragen wir Masken. Macht es etwas      „Man kann nicht nicht kommunizieren“
    mit den Begegnungen hier, wenn Gesichter nicht        Mit diesem Grundsatz hat der Kommunikationswis-
                                                                                                                 Hospiz-Dialog NRW - Juli 2020/84

    wie sonst aussehen? Darüber haben wir nachge-         senschaftler Paul Watzlawick verdeutlicht, dass
    dacht. Und vielleicht können wir allen ein bisschen   Kommunikation nicht immer sprachlich ausgedrückt
    Mut machen, dass es viele Möglichkeiten gibt,         wird. Auch nichts zu sagen, kann eine Antwort sein.
    trotzdem gut miteinander zu kommunizieren.            Oder unser Verhalten, unser Ausdruck über Körper-
                                                          sprache, Gestik und Mimik.
    Aufmerksamkeit und Haltung                            Letzteres wird in der Tat durch den Mund-Nasen-
    In der Sterbebegleitung kommt es häufig – ganz oh-    Schutz eingeschränkt. Aber so wie sich ein Fluss
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                                   bei Hindernissen neue Wege für das Wasser zum               an. Das ist in Zeiten eingeschränkter Mimik
                                   Fließen sucht, können wir auch mit Maske weiter-            wichtiger denn je.
                                   hin Wege zu einer funktionierenden Kommunika-           4. Nehmen Sie das Gesamtbild wahr: Auch wenn
                                   tion finden.                                                ein kleiner Teil der Mimik hinter einer Maske
                                                                                               verschwindet, so bleibt noch sehr viel erkenn-
                                   Fünf praktische Tipps für gute Verständigung                bare Körpersprache übrig. Lässt jemand die
                                   trotz Maske                                                 Schultern hängen oder sitzt sehr starr? Was sa-
                                   1. Mit Worten fehlende Mimik ersetzen: Denken               gen die Gesten der Hände? Der Kopf ist geneigt?
                                      Sie im Gespräch manchmal daran, dass der an-             Unbewusst senden und empfangen wir über die
                                      dere Ihren Gesichtsausdruck vielleicht schlech-          Körpersprache unzählige Signale.
                                      ter deuten kann. Sagen Sie konkret und zusätz-       5. Ton und Stimme: 38 Prozent der Signale, die wir
                                      lich zur Information, die Sie überbringen, was           aussenden, werden über den Tonfall und die
                                      eigentlich Ihr Gesicht dabei ausgedrückt hätte:          Stimme transportiert (und nur 7 Prozent über
                                      Ich freue mich darüber. Das macht mich traurig.          den Inhalt!). Dessen können wir uns bewusst
                                      Ich bin etwas ratlos.                                    sein, wenn wir durch die Maske zu jemandem
                                      Fragen Sie ganz direkt nach, wenn Sie umge-              sprechen.
                                      kehrt unsicher sind, welche Gefühle bei Ihrem        Schärfen wir unsere Sinne für die vielen Möglich-
                                      Gegenüber mit dem Gesagten einhergehen.              keiten und Ebenen, auf denen Kommunikation statt-
                                   2. Achten Sie auf die Augen: Oft kann man im Blick      findet, dann kann zumindest die Botschaft, die wir
                                      des anderen viel ablesen. Ein echtes Lächeln         senden oder empfangen, unmaskiert ankommen.
                                      lässt meist auch die Augen strahlen. Auch ob
                                      jemand Augenkontakt hält oder wegschaut, uns
                                                                                                                 Mareike Neumayer
                                      mit seinem Blick fixiert oder mit den Augen rollt,
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                                                                                                                 Fort- und Weiterbildung & Social Media
                                      kann ein wichtiges Signal sein. Probieren Sie                              Leitung Hospiz- und Palliativ-Akademie
                                      vielleicht einmal bei sich selbst vor dem Spiegel                          Gütersloh im Hospiz- und Palliativ-Verein
                                      aus, ob und wie Ihre Augen Ihre Emotionen sig-                             Gütersloh e.V.
                                      nalisieren.                                                                Hochstr. 19
                                   3. Fragen Sie nach: Wenn Sie sich unsicher sind,                              33332 Gütersloh
                                                                                                                 Tel.: 0 52 41 - 7 08 90 44
                                      wie Ihr Gegenüber etwas gemeint hat oder ob                                Mobil: 01 79 - 9 10 51 04
                                      Sie richtig verstanden wurden, sprechen Sie es
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                                            Ich bin schon lange in diesem Bereich tätig, aber ich muss sagen, das war bisher
                                            das schrecklichste Jahr, das ich erlebt habe. Es gibt viele verschiedene Gründe,
                                            aber Corona hat zu einem großen Teil dazu beigetragen. Die große Unsicherheit
                                            und die große Angst sind schlimm. Und ich muss sagen, dass die verschlossenen
                                            Türen für viele eine seelische Qual waren.

                                            Auf der anderen Seite nutze ich jetzt die Zeit viel mehr für die Kontakte mit den
                                            Bewohnerinnen und Bewohnern. Ich gehe zu ihnen und biete Gespräche, Gebete
                                            oder auch einmal ein Spiel an. Dafür habe ich ein altes Köfferchen dabei, in dem
                                            z. B. Malstifte, Mandalas, eine Miniharfe, Liedertexte, ein Holzkreuz und ein Buch
                                            zum Vorlesen liegen, die ich dafür verwende. Und was wir für eine Vielfalt an Mu-
                                            sikern im Haus hatten, die sich z. T. freiwillig gemeldet haben, das war schon toll:
                                            Posaunenchor, Gitarrist, Posaunistin, Akkordeonspielerin … sogar eine bekannte
                                            Cellistin hat sich Zeit genommen. Ein Angehöriger hat zum 90. Geburtstag seiner
                                            Mutter einen Zirkus eingeladen, der draußen gastierte und ein Lächeln auf alle
                      © RitaE auf Pixabay

                                            Gesichter zauberte.

                                            Dipl.-Sozialarbeiterin und Altenseelsorgerin, 53 Jahre, Pflegeeinrichtung in privater Trägerschaft
                                            mit 148 Bewohnern und Bewohnerinnen

     WIR SEHEN UNS!
     Internetgestützte Kommunikation der Hospizvereine in Corona-Zeiten
     DIETER LANGE-LAGEMANN

     D
                  ie Digitalisierung der Dienstleistungsge-                                 Verfügung: Messenger Dienste (z. B. WhatsApp, Te-
                 sellschaft schreitet auch in der Hospizar-                                 legram), Videotelefon-Dienste (Skype, facetime),
                 beit fort. Die Mehrzahl der Hospizdienste                                  Videokonferenz-Programme (z. B. Zoom), Webinare
                 betreibt eine Homepage. Eine Minderheit                                    (z. B. edudip, GoToWebinar), gemeinsame Doku-
     nutzt Facebook, Instagram und YouTube-Channels.                                        mentenbearbeitung (z. B. Nextcloud, Dropbox),
     Der ambulante Hospizdienst Oberhausen stellt seit                                      Teamarbeit und Projektmanagement-Programme
     einem halben Jahr auf Facebook unter dem Titel                                         (Trello, Slack) sowie Learning Management Syste-
     „Gib dem Hospiz (D)ein Gesicht“ wöchentlich einen                                      me (BigBlueButton, Senf ).
     Ehrenamtlichen in einem Videofilm vor. Der ambu-
     lante Hospizdienst in Herne verknüpft auf seinem                                       In der hospizlichen Praxis finden sich aktuell zahl-
     Facebook-Account die regelmäßigen Videofilm-                                           reiche Beispiele für deren Einsatz: Die Kursleiterin-
     Reihen „Zeitschenker lesen online“, die wiederum                                       nenschulung für das Konzept der „Letzte Hilfe Kur-
     auf einem eigenen YouTube-Kanal hinterlegt sind.                                       se“ wurde erstmalig auf „Zoom“ durchgeführt. Der
     Auf YouTube-Kanälen finden sich auch Beiträge der                                      Hospizverein Landshut plant „Letzte Hilfe Kurse“
     Palliativstiftung sowie die „Sarggeschichten“.                                         für Interessierte ebenfalls via „Zoom“. Die ambu-
                                                                                            lante Hospizarbeit Bochum nutzt „Zoom“ für die
                                                                                                                                                    Hospiz-Dialog NRW - Juli 2020/84

     Das konkrete hospizliche Handeln in Begleitung,                                        Supervision kleiner Gruppen mit 4-6 ehrenamt-
     Beratung, Befähigungskursen, Bildung und Bespre-                                       lichen Begleitungskräften. In Erftstadt verwendet
     chungen findet überwiegend analog zur gleichen                                         der ambulante Hospizverein dieses Tool in der Fort-
     Zeit am selben Ort statt. Um aktuell Corona beding-                                    bildung von Trauerbegleitern im Ehrenamt und für
     te Kontaktsperren im „Home-Office“ und „social                                         eine neue Trauergruppe Jugendlicher. Hierbei zeigte
     distance“ zu überwinden, stehen unterschiedliche                                       sich, dass nicht alle Jugendlichen über die notwen-
     internetgestützte Kommunikationswerkzeuge zur                                          dige Hard- und Software verfügen, bzw. dass sie
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                                   von der Möglichkeit Gebrauch machen, „anonym“
                                   unter Ausschalten der Kamera teilzunehmen. Der          Exkurs: Alter stellt kein Ausschlusskriterium für die digitale
                                   ambulante Hospizverein Gießen setzt ebenfalls           Teilhabe dar. Der kommende achte Altenbericht der Bundes-
                                   „Zoom“ ein für den Kursabschnitt Trauer innerhalb       regierung wird sich schwerpunktmäßig mit diesem Thema
                                   dessen Befähigungskurses. Zur Implementierung           befassen. Im Kursabschnitt wurde ein Methodenmix aus
                                   gehörte eine erfolgreich verlaufene Pilotphase.         Selbstlernphase durch vorab versandte Texte, die eigentli-
                                                                                           che Video-Konferenz, gefolgt von Partner-Arbeit in Zweier-
                                   ALPHA NRW setzte Ende Mai erstmalig Zoom für            Telefonaten eingesetzt.
                                   die Supervision von Koordinatorenkräften in Grup-
                                   pen von 6 bis 10 Personen ein. Die Hospizakade-
                                   mien in Bamberg und Nürnberg bieten zahlreiche
                                   kostenpflichtige Webinare zu hospizlichen Themen
                                   an. Die Vorträge der ausgefallenen Messe „Leben       freundlichkeit. Das große Manko des mangelhaften
                                   und Tod“ in Bremen wurden per Livestream ausge-       Datenschutzes kann über die kostenpflichtige Ver-
                                   strahlt und sind auf der Internetseite des Veran-     sion mit wählbarem Serverstandort ausgeglichen
                                   stalters weiterhin zugänglich. Auf verschiedenen      werden.
                                   Ebenen finden Überlegungen zu Online-Befähi-
                                   gungskursen statt.                                    Videokonferenzprogramme bieten unterschiedli-
                                                                                         che Funktionen an: die eigentliche Videokonferenz
                                   Werkzeuge für Videokonferenzen gibt es in großer      in Bild und Ton, eine Menüleiste zur Steuerung,
                                   Zahl (Zoom, Microsoft Teams, Slack, Clickmeeting,     Chatraum für Textnachrichten, „Break out Räume“
                                   Jitsi Meet, Nextcloud, Skype, OpenMeetings, Go-       für Untergruppen oder Kaffeepause, virtuelles
                                   ToMeetings) und sie lassen sich vielfältig einset-    Whiteboard zum Schreiben und Zeichnen, die Mög-
                                   zen: für Besprechungen, Bildungsmaßnahmen, Be-        lichkeit, Präsentationen, Texte und Bilder hochzu-
                                   ratungen oder Supervision. Für „Zoom“ spricht,        laden, die Möglichkeit, den Bildschirm zu teilen, um
                                   dass es bereits in der kostenlosen Version zahlrei-   gemeinsam Texte online in Echtzeit zu bearbeiten
                                   che Features bereitstellt sowie seine Benutzer-       oder Umfragen zu erstellen. Zusatzfunktionen
                                   © Dieter Lange-Lagermann
Hospiz-Dialog NRW - Juli 2020/84

                                     Supervisionsrunde bei ALPHA
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                                                                                         die Corona Zeit hinaus stellen sich: Wie verändert
                                                                                         die Nutzung Anwender, Nutzer und Inhalte? Wie
                                                                                         wird der Datenschutz gewährleistet? Wie wird die
                                                                                         Zugangsgerechtigkeit für sozial benachteiligte
                                                                                         Gruppen und nicht internet-affine Einzelne herge-
                                                                                         stellt? Wie wird Medienkompetenz zu einem Teil
                                                                                         hospizlicher Kommunikationskompetenz?
© Gerd Altmann auf Pixabay

                                                                                         Mein persönliches Zwischenfazit ist positiv: In mei-
                                                                                         ner Familie machen meine Frau, meine Tochter, mei-
                                                                                         ne Söhne und ich medienmäßig neue Erfahrungen,
                                                                                         z. B. mit Videoandachten, Onlinecoaching, Strea-
                                                                                         ming-TV und Zoom-Konferenzen.

                                                                                         Beruflich freue ich mich und bin erleichtert, die an-
                                  einiger Tools: Verschriftlichung und Archivierung      deren Koordinationskräfte und Supervisionsteil-
                                  der Konferenz.                                         nehmenden, die ich coronabedingt nicht treffen
                                                                                         kann, in Videokonferenzen wiederzusehen. Insge-
                                  Die Programme können auf dem PC auch häufig            samt erlebe ich in der Hospizbewegung zwar noch
                                  ohne Download der Software direkt online genutzt       viele Vorbehalte gegen neue Medien, aber ich
                                  werden. Bei der Nutzung über Smartphones ist in        schätze, dass uns einiges an Online-Konferenzen,
                                  jedem Fall eine APP zu installieren. Als Technische    Fortbildungen und Beratungsangeboten auch in
                                  Voraussetzungen müssen bei dem Endgerät Kame-          dieser Arbeit zukünftig erhalten bleibt.
                                  ra-, Kopfhörer- und Mikrophon-Funktion vorhanden
                                  sein. Optimal wäre ein Headset. Des Weiteren sind
                                  eine stabile Internetverbindung und ein ruhiger, un-   Literatur
                                  gestörter Raum erforderlich.                           Baacke, D. (1997, 2007). Medienpädagogik. Grundlagen der
                                                                                             Medienkommunikation 1, Tübingen: Max Niemeyer Verlag.
                                                                                         Best, L. (2020). Nähe und Distanz in der Beratung, Wiesbaden:
                                  Video-Konferenzen laufen folgendermaßen ab: Vor-           VS Verlag für Sozialwissenschaften.
                                  ab erhalten die angemeldeten Teilnehmenden vom         Dufft, N. et al. (2017). Digitalisierung in Non-Profit-Organisa-
                                  Veranstalter bzw. Moderator/Moderatorin eine               tionen. Berlin/Vallendar.
                                                                                         Edinger-Schons, L.M. et. al. (2020). DIGITAL-REPORT 2020
                                  E-Mail mit einem Link für den Zugang, einem Pass-
                                                                                             München: Haus des Stiftens.
                                  wort und einem kurzen Einführungstext. Zum             https://zoom.us/de-de/meetings.html (Zugriff: 26.05.2020).
                                  angegebenen Zeitpunkt wählen die Teilnehmenden         Kaiser, H. (2016). Hospizarbeit und Social Media – geht das zu-
                                  sich über den Link in die konkrete Videokonferenz          sammen? Hospiz-Dialog NRW, 67 (6).
                                  ein. Moderator oder Moderatorin empfangen die          Müller, M. (2005). Handreichung für Multiplikatoren, Bonn:
                                                                                             Pallia Med Verlag.
                                  Teilnehmenden in einem virtuellen Vorraum und
                                  lassen diese dann in den Konferenzraum. Dort
                                  können sich Moderatoren und Teilnehmende per
                                  Bildschirm in sogenannten Kacheln sehen. Ablauf,
                                  Gesprächsbeiträge, Arbeitsformen steuert die                                       Dieter Lange-Lagemann
                                                                                                                     Hospizkoordinator Hospizverein
                                  Moderation. Video-Konferenzen erfordern wie
                                                                                                                                                            Hospiz-Dialog NRW - Juli 2020/84

                                                                                                                     Ochtrup-Metelen
                                  Besprechungen eine eigene „Netiquette“ als                                         kontakt@hospizverein-
                                  Umgangsform. Beispielhaft sei genannt: virtuelles                                  ochtrup.de
                                  Melden für einen Wort Beitrag, Ausschalten des
                                  Mikrofons in Redepausen.

                                  Folgende offene Fragen zum Einsatz internetge-
                                  stützter Kommunikation in der Hospizarbeit über
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                                   GANZHEITLICHKEIT IN DER KRISE
                                   Stellungnahme des Landesarbeitskreises Soziale Arbeit im Hospiz- und
                                   Palliativbereich in NRW zur Corona-Pandemie
                                   SUSANNE KIEPKE-ZIEMES, JÜRGEN GOLDMANN

                                   D
                                               ie Erfahrungen der Mitglieder des Lan-        essiert. Er ist ein geselliger Mensch. Er genießt gu-
                                               desarbeitskreises mit den Herausforde-        tes Essen, guten Wein, klassische Musik und liebt
                                               rungen der Corona-Krise werfen viele          Konzert- und Kirchenbesuche. Er ist seit 46 Jahren
                                               Fragen auf, insbesondere mit Blick auf        verheiratet, seine Frau lebt in dem ehemals gemein-
                                   die psychosoziale Ebene, auf der auch die Soziale         samen Haus im gleichen Ort. Zusammen haben sie
                                   Arbeit agiert. Gerade die Bereiche Hospiz und             zwei verheiratete Söhne und fünf erwachsene En-
                                   Palliative Care mit ihrem ganzheitlichen Ansatz, in       kelkinder, zu denen ein intensiver Kontakt besteht,
                                   denen Unterstützung für die psychischen, sozialen         obschon diese berufsbedingt mit ihren Familien in
                                   und spirituellen Bedarfe von Patientinnen und             weiter entfernten Städten leben. Seine Frau ist in
                                   Patienten und An-/Zugehörigen zum Begleitungs-            den letzten Jahren aufgrund von Arthritis und de-
                                   standard gehört, sind von den Maßnahmen des               pressiven Phasen oft sehr eingeschränkt und ver-
                                   „Social Distancing“ stark und negativ betroffen.          lässt ungern das Haus.
                                   Wie wichtig menschliche Nähe in existenziellen
                                   Krisen für die Betroffenen ist, bedarf grundsätzlich      Vor ca. acht Jahren wurde bei Herrn S. eine Parkin-
                                   keiner weiteren Erklärung. Dazu gehören auch              sonerkrankung diagnostiziert. Die Erkrankung mit
                                   Beratung, Begleitung und Krisenintervention, die          diversen Symptomen wurde gut eingestellt und
                                   in diesen Arbeitsfeldern eine zentrale und wesent-        schritt nur langsam voran. Doch vor vier Monaten
                                   liche Rolle spielen. Dies bezieht sich neben der          wurde er aufgrund psychischer Ausnahmezustän-
                                   medizinisch-pflegerischen in gleichem Maße auch           de, Halluzinationen, Angst und aggressiven Verhal-
                                   auf die psychosoziale Ebene, welche Lebensqua-            tens in die Psychiatrische Abteilung des örtlichen
                                   lität von Menschen kurz vor ihrem Tod bestimmt.           Krankenhauses verlegt.
                                                                                             Nach dem Abklingen der Symptome und einem Kurz-
                                   Der notwendige Schutz vor Infektionen von Patien-         zeitpflegeaufenthalt in einem Altenstift hat Herr S.
                                   tinnen und Patienten, An-/Zugehörigen sowie von           sich entschlossen, ganz in die Einrichtung zu ziehen,
                                   haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitenden steht au-          um hier eine zuverlässige medizinisch-pflegerische
                                   ßer Frage. Allerdings wirkt es im Sinne des Prinzips      Versorgung in Anspruch zu nehmen. Er hat sich gut
                                   von Ganzheitlichkeit befremdlich, wenn Qualität in        eingelebt und fährt täglich mit dem Bus zu seiner
                                   der Versorgung von Patienten, gerade auch der von         Ehefrau, um diese zu besuchen. An den Wochenen-
                                   Sterbenden, über geringe Infektionszahlen und             den trifft sich dort die ganze Familie, soweit es mög-
                                   Sterberaten aufgrund entsprechend durchgeführter          lich ist. Musik, Essen, Austausch und gemeinsame
                                   Hygienemaßnahmen, zu der letztendlich auch Be-            Fürsorge bestimmen hier das Familienleben.
                                   suchs- und Kontakteinschränkungen gehören, de-
                                   finiert wird. Wünsche zum Lebensende, wie sie in          Herr S. hatte eine Vorsorgevollmacht erstellt und
                                   Patientenverfügungen und Notfallplänen häufig vor-        wünscht sich keinerlei lebensverlängernden Maß-
Hospiz-Dialog NRW - Juli 2020/84

                                   lagen, wurden im Rahmen des dynamischen Pan-              nahmen bei einer körperlichen Verschlechterung
                                   demiegeschehens vielerorts nicht berücksichtigt.          oder Krise.

                                   Ein authentisches Fallbeispiel (anonymisiert):            Durch die COVID-19-Maßnahmen hat sich im Se-
                                   Herr S. ist 74 Jahre alt und lebt seit vier Monaten in    niorenstift jedoch einiges verändert. Es herrscht
                                   einer Senioreneinrichtung. Herr S. ist pensioniert,       Besuchsverbot und Herr S. darf somit nicht mehr
                                   war von Beruf Jurist, ist religiös und kulturell inter-   seine Familie besuchen. Nach einem Kliniktermin
14

                                                                 © Sabine van Erp auf Pixabay
     muss er zusätzlich 14 Tage in seinem Zimmer den
     Kontakt zu anderen Bewohnern vermeiden und ei-
     ne Schutzmaske tragen. Seine Physiotherapie fällt
     aus, seine körperlichen Beschwerden nehmen zu
     und er wird unbeweglicher.

     Die Telefonate mit seiner Familie erlebt er nicht als
     Besuchersatz. Er hat große Angst vor einem neuen
     Anfall. Bezüglich seiner Vorsorgebestimmungen
                                                                                                es ermöglichen, psychosoziale Beratung und
     müsste er bei einer akuten Erkrankung von Covid-19
                                                                                                Begleitung anzubieten
     eine Änderung seiner Verfügung veranlassen, da er
                                                             -                                  adäquate Ausstattung mit technischen Kommu-
     in einem solchen Notfall durch evtl. Intensivbehand-
                                                                                                nikationsmitteln
     lung gute Überlebenschancen vermutet. Er denkt,
                                                             -                                  adäquate Schutzkleidung wie FFP-Schutzmasken
     dass er das in diesem Fall tun sollte, empfindet an-
                                                                                                auch für psychosoziale Berufsgruppen, die auf
     dererseits sein Leben aber auch als immer sinnloser.
                                                                                                Wunsch physische Kontakte ermöglichen können
     Die Sozialarbeiterin, mit der er an der Gesundheit-
                                                             -                                  Aktualisierung von Patientenverfügungen
     lichen Versorgungsplanung gearbeitet hat, ist durch
                                                                                                bezüglich Klärung der Frage nach Beatmung
     die Vorsichtsmaßnahmen um Corona einer anderen
                                                                                                oder Intensivmedizin, die in Zusammenhang mit
     Abteilung zugeordnet worden und kommt nicht mehr
                                                                                                Corona verstärkt auftreten
     in seinen Wohnbereich. Auch die Seelsorge darf nicht
                                                             -                                  stärkere Berücksichtigung der Bedarfe von Be-
     mehr ins Haus. Er ist appetitlos und antriebs-
                                                                                                wohnerinnen und Bewohnern und Mitarbeiten-
     schwach. Er verlässt immer seltener das Bett.
                                                                                                den von Einrichtungen der Eingliederungshilfe
     Die Reaktionen vieler Betroffener auf die einschrän-
                                                             Dies alles kann nur gelingen, wenn sich Gesell-
     kenden Corona-Maßnahmen zeigen, wie wichtig
                                                             schaft, Politik und Träger von Organisationen und
     direkte Kommunikation, Beratung oder Nähe ge-
                                                             Einrichtungen dem ganzheitlichen Menschenbild
     wesen sind bzw. gewesen wären. Diese Aussagen
                                                             (wieder) mehr öffnen. Dazu gehört auch die multi-
     erfolgen von schwerstkranken, sterbenden und
                                                             professionelle Zusammenarbeit diverser Berufs-
     trauernden Menschen ebenso wie von An- und
                                                             gruppen, in denen die Soziale Arbeit eine zentrale
     Zugehörigen. Sei es in ambulanten oder stationären
                                                             Disziplin darstellt.
     Hospizen, in der Kinderhospizarbeit, auf Palliativ-
     stationen, im Bereich der Spezialisierten Ambulanten
     Palliativversorgung oder der Trauerbegleitung. In
     nahezu allen Fällen wurde der Kontakt am Fenster,
     per Video oder Telefon im Sinne von „besser als                                                            Susanne Kiepke-Ziemes
                                                                                                                Dipl.-Sozialpädagogin
     nichts“ als hilfreiche Unterstützung gegen Verein-                                                         Caritasverband für die Region
     samung, Todesangst, familiäre Belastungen, mate-                                                           Kempen-Viersen e. V.
     rielle Existenzsorgen oder für Selbstbestimmung                                                            Projekt: „Würdige Sterbebegleitung“
     beschrieben. Dies alles sind Themen, in denen die
     Soziale Arbeit u. a. mit ihrer systemischen Ausrich-
     tung und Lebensweltorientierung sowie der Kenntnis
     von Methoden von Empowerment, Kriseninterven-
                                                                                                                                                      Hospiz-Dialog NRW - Juli 2020/84

     tion als auch sensibler und lösungsorientierter                                                            Jürgen Goldmann
     Beratung Kernkompetenzen besitzt.                                                                          Dipl.-Sozialpädagoge
                                                                                                                Bonn Lighthouse-Verein für
     Zentrale Forderungen auf Grundlage der geschil-                                                            Hospizarbeit e.V.
     derten Erfahrungen für den Umgang mit ähnlichen                                                            Koordination ambulanter
                                                                                                                Hospizdienst/Trauerbegleiter
     Pandemie-Situationen in der Zukunft sind:
     - politische und institutionelle Notfallpläne, die
15
                                                                      Wer hätte Anfang des Jahres gedacht, dass sich weltweit eine Pandemie mit dem
                                                                      Corona Virus entwickelt und wir dadurch massive Einschnitte in unserem Alltag
                                                                      erleben.
                                                                      Als ,,hochsensibel“ gelten nach wie vor die älteren und kranken Mitmenschen.
                                                                      Die Maßnahme des Betretungsverbotes betraf uns im Altenheim rund 7 Wochen,
                                                                      das heißt, die Besuche der Liebsten konnten nicht mehr stattfinden. Wir haben
                                                                      dieses Thema täglich in unsere Gespräche mit den Bewohnern aufgenommen, um
                                                                      die Situation zu erklären. Häufig äußerten die Bewohner: ,,Damals im Krieg war
                                                                      es schlimmer, uns geht es doch gut hier!“ Dennoch haben wir trotz allem ver-
                                                                      sucht, eine größtmögliche Normalität im Ablauf beizubehalten! Das ist uns gut
                                                                      gelungen: Unser Rezept war und ist Ruhe und Humor! Allerdings hatten wir auch
                                                                      immer Grund dazu, da wir bis heute keinen positiven Fall haben! Jetzt schauen wir
                                                                      etwas beunruhigt in die Zukunft und warten ab, was die Lockerungen mit sich
                                                                      bringen. Wir freuen uns darüber, dass unsere Bewohner wieder Besuche bekom-
                                                © RitaE auf Pixabay

                                                                      men dürfen, allerdings werden die Hygiene-/Abstandsregeln teilweise nicht ernst
                                                                      genommen und das birgt ein Risiko für unsere Bewohner und unsere Einrichtung!

                                                                      Pflegedienstleitung, vollstationäre Pflegeeinrichtung in christlicher Trägerschaft, 52 Bewohnerinnen
                                                                      und Bewohner

                                   DIE AMBULANTE PALLIATIVMEDIZINISCHE
                                   BEGLEITUNG UNTER CORONABEDINGUNGEN
                                   Interview mit Jan Everts und Dietmar Schlewing

                                   D
                                               r. Dietmar Schlewing, Internist, Palliativ-                                  an eine Pandemie bewegte mich schon sehr. Aus
                                               arzt, ist 1962 geboren, lebt mit seiner                                      persönlichen Gründen betraf meine Sorge auch Afri-
                                               Familie in Verl und arbeitet seit 1996 als                                   ka: Mein Sohn studiert in Südafrika; er ist bis heute
                                               hausärztlicher Internist. 2009 gründete                                      im Lockdown und kommt vorerst nicht aus dem Land
                                   er das Palliativnetz Gütersloh mit aktuell fünf                                          heraus. Ich sehe dort die deutlich schlechtere medi-
                                   Palliativärzten, fünf Krankenschwestern als Koor-                                        zinische Versorgung für große Bevölkerungsteile,
                                   dinatorinnen und einer MFA als Sekretärin, alle mit                                      dazu zu befürchtende soziale Unruhen.
                                   Palliativ-Care-Zusatzausbildung.
                                                                                                                            Jan Everts: Ja, ziemlich genau. Ein Freund von mir,
                                   Jan Everts, Internist, Palliativarzt, ist 1977 geboren,                                  welcher als leitender Notarzt arbeitet, schickte mir
                                   lebt mit seiner Familie in Lohmar bei Köln. 2013 hat                                     Ende März einen Bericht vom Deutschen Institut
                                   er beim Aufbau des SAPV-Teams am Vinzenz-                                                für Katastrophenmedizin. Dort wurde sehr detail-
                                   Pallotti-Hospital in Bergisch Gladbach-Bensberg                                          liert die aktuelle Lage im benachbarten Straßburg
                                   mitgewirkt, arbeitete zuletzt als Oberarzt in der                                        beschrieben. Es war zu einer völligen Überlastung
                                   Internistischen Abteilung der GFO-Kliniken Troisdorf-                                    der Krankenhäuser gekommen, so dass der Ret-
                                   Sieglar. Seit 2019 ist er Ärztlicher Leiter des Pallia-                                  tungsdienst gezwungen war, erkrankte Patienten
                                   tive-Care Teams an den GFO Kliniken Troisdorf.                                           zuhause und in Pflegeheimen zu triagieren. Bei
                                                                                                                            Multimorbidität und schlechter Prognose erfolgte
                                   Erinnern Sie sich noch an den Moment, als Sie                                            eine Symptomkontrolle und Sterbebegleitung vor
                                   zum ersten Mal den Eindruck hatten, dass das                                             Ort durch das Rettungsdienstpersonal. Als ich das
                                   Corona-Virus eine Bedeutung für Sie als Pallia-                                          las, wurde mir schlagartig bewusst, dass wir bei ei-
                                   tivmediziner haben könnte?                                                               nem Ausbruch, beispielsweise in einem Pflege-
Hospiz-Dialog NRW - Juli 2020/84

                                   Dietmar Schlewing: Ja, ich weiß das noch sehr ge-                                        heim, gefordert sein könnten.
                                   nau. Es war Anfang März, mein Geburtstag, und meine
                                   Frau und ich sind noch „ganz normal“ Essen gegangen.                                     Welche Bedeutung hatte die Krise auf Ihre prak-
                                   Bereits zu diesem Zeitpunkt fragte ich mich, was                                         tische Arbeit?
                                   wohl geschehen wird. Am 13.März habe ich dann die                                        Jan Everts: Zunächst bestand viel Verunsicherung,
                                   erste Dienstanweisung sowohl für meine Praxis als                                        sowohl bei mir selbst als auch im Team. Es hat sich
                                   auch für das Palliativteam geschrieben. Der Gedanke                                      aber gezeigt, dass gerade in der Krise vieles möglich
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                      © Gerd Altmann auf Pixabay

     ist. Wir mussten neue Wege suchen, um unsere Pa-         vatfahrzeug zu dienstlichen Zwecken einsetzen
     tienten weiterhin engmaschig versorgen zu können,        kann. So konnten viele Touren so geplant werden,
     ohne sie zu gefährden. Viele Besuche wurden durch        dass der Mitarbeitende überhaupt nicht im Büro
     Telefonate ersetzt, Rezepte wurden verschickt.           erscheinen musste.
     Gleichzeitig sind wir Anfang April trotz der ange-
     spannten Situation auf ein neues Dokumentations-         Hat sich Ihrer Meinung nach in der gesellschaft-
     system umgestiegen. Dies ermöglichte uns gerade          lichen Haltung zu sterbenden alten Menschen
     in der Krise, einen besseren Informationsaustausch       etwas verändert?
     auch ohne große Besprechungen abzuhalten.                Jan Everts: Ich glaube schon. Bei Covid-19 hat sich
                                                              gezeigt, wie verletzlich gerade diese Gruppe der
     Dietmar Schlewing: Ich befinde mich in der Doppel-       Menschen ist. Zu Beginn der Krise wurde auch in
     rolle als Hausarzt und als Leiter des PKD Gütersloh.     den Medien viel über ethische Aspekte diskutiert.
     In beiden Institutionen gab es seit Mitte März ständig   Insbesondere kam zur Sprache, dass wir in Deutsch-
     aktualisierte Dienstanweisungen in Abhängigkeit          land im Gegensatz zu anderen Ländern keine Alters-
     von den Vorgaben des Robert-Koch-Institutes. Die-        grenze als Entscheidungskriterium für oder gegen
     se betrafen vor allen Dingen Verhaltensregeln im         eine Krankenhaus- bzw. Intensivbehandlung haben.
     Umgang mit Patienten, Angehörigen und potenziell         Die Palliativversorgung wurde immer wieder als ein
     Infizierten, Hygiene- und Schutzmaßnahmen und            fester Bestandteil der Gesamtstrategie genannt.
     weitere Umstrukturierungen/Anpassungen von Ar-           Dennoch sind wahrscheinlich gerade in Pflegehei-
     beitsabläufen. Zunächst wurden Hausbesuche               men viele Menschen einsam gestorben, weil es
     durch Koordinatorinnen und MFAs eingestellt und          strenge Besuchsauflagen gab. Dies hat wiederum
     von Ärzten übernommen, auch wegen des Fehlens            eine sehr wertvolle Diskussion über das Selbstbe-
     ausreichender Schutzkleidung. Die Koordinatorinnen       stimmungsrecht alter Menschen ausgelöst.
     haben ihre Aufgaben aus dem Netzbüro, räumlich
     getrennt und in 2 separaten Schichten umgesetzt.         Wie empfanden alle Beteiligten die Kontaktsperre?
     Der direkte Patientenkontakt durch die Koordinato-       Dietmar Schlewing: In der Palliativversorgung ist
     rinnen hat in dieser Phase sehr gefehlt.                 Nähe und direkter Kontakt ein wesentlicher Bestand-
     Die Frage des Umgangs mit COVID-19-assoziierten          teil unserer Arbeit. Dementsprechend wurde die
     Todesfällen war zunächst ungeklärt, sodass wir ei-       Kontaktsperre von allen Beteiligten – Patienten, An-
     gene Standards entwickelt haben, die sich in den         gehörigen und Palliativteam – als besonders belastend
     späteren Regelungen des Robert-Koch-Instituts            empfunden. Das Leid der Vereinsamung angesichts
     wiederfanden. Wir haben mit allen Heimen im Kreis        des nahen Todes war oft größer als die Angst vor An-
     Kontakt aufgenommen und die Zuständigkeit von            steckung. Die aktuelle Entwicklung hat uns die Mög-
     Ärzten für Pflegeheime organisiert.                      lichkeit gegeben, unter Einhaltung der Hygiene- und
                                                              Abstandsregeln schrittweise unsere Hausbesuchs-
     Wie haben Sie sich und Ihre Mitarbeitenden               tätigkeit durch die Koordinatorinnen wieder aufzu-
     geschützt?                                               nehmen – zur großen Erleichterung aller Beteiligten.
     Jan Everts: Wir haben zunächst damit angefangen,
                                                                                                                      Hospiz-Dialog NRW - Juli 2020/84

     dass alle einen Mundschutz tragen. Büroräume so-         Jan Everts: Die Wirkung der Kontaktsperre war
     wie Fahrzeuge wurden regelmäßig desinfiziert.            deutlich spürbar. Bei vielen hat das eine ohnehin
     Gleichzeitig versuchten wir, so viel wie möglich von     traurige Grundstimmung noch deutlich verstärkt.
     zuhause zu arbeiten, so dass sich nicht unnötig vie-     Insbesondere wenn Enkelkinder nicht mehr zu Be-
     le Mitarbeitende gleichzeitig in den Büroräumen          such kamen. Eine Patientin formulierte das so, dass
     treffen. Es wurden auch die rechtlichen Rahmen-          man ihr die letzte Freude genommen habe.
     bedingungen geschaffen, dass man auch sein Pri-
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                                   Waren Sie mit der Frage konfrontiert, ob ein          der Betroffenen teilhaben zu dürfen und sie auf
                                   Patient nun schneller sterben muss, weil seine        ihrem letzten Weg zu begleiten.
                                   Behandlung nicht mehr gewährleistet ist?
                                   Jan Everts: Genau davor hatte ich Angst. Zusätzlich   Jan Everts: Ich bilde mir ein, dass ich meine Prio-
                                   hatte ich Sorge, dass ich im Katastrophenfall ge-     ritäten im Leben richtig setze. Aber das ist eher eine
                                   zwungen sein werde, selbst zu triagieren, wer ins     Einbildung, nicht selten muss ich mich leider selbst
                                   Krankenhaus kommt und wer nicht, beispielsweise       vom Gegenteil überzeugen. Diese Situation hat in
                                   in einem Pflegeheim. Zum Glück ist nichts davon       mir den Drang verstärkt, Wichtiges vom Unwichti-
                                   eingetreten, wir konnten unsere Patienten bislang     gen zu unterscheiden.
                                   weitgehend unverändert versorgen.

                                   Was wünschen Sie sich, wenn Sie an das Ende
                                   der Krise denken?                                                                 Jan Everts
                                   Dietmar Schlewing: Wir wünschen uns sehr, wieder                                  Ärztlicher Leiter Palliative-
                                                                                                                     Care Team
                                   zurückzugehen zu dem, wie wir es vorher hatten,                                   GFO Kliniken Troisdorf
                                   zu dieser wirklich persönlichen, engen Patientenbe-                               Viktoriastr. 5
                                   ziehung zurückzukehren und diese noch auszubauen.                                 53840 Troisdorf
                                   Der Bedarf an Koordination wächst, die Präsenz der                                Tel.: 0 22 41 - 2 66 - 33 40
                                   Koordinatorinnen gibt Sicherheit, und die steht für                               janmilan.everts@gfo-klini-
                                   unsere Patienten ganz oben. Dabei steht nicht                                     ken-troisdorf.de
                                   immer das Fachlich-Medizinische im Vordergrund.
                                   Es ist wichtig, dass jemand da ist – jemand, der
                                                                                                                     Dr. Dietmar Schlewing
                                   sich kümmert – jemand, der kommt, wenn Bedarf                                     Leiter des Palliativmedi-
                                   ist – das allein gibt schon Sicherheit.                                           zinischen Konsiliardienstes
                                                                                                                     für den Kreis Gütersloh
                                   Gibt es für Sie persönlich eine Lehre, die Sie aus                                Facharzt für Innere Medizin,
                                   dieser Zeit ziehen?                                                               Palliativmedizin
                                   Dietmar Schlewing: Für mich hat sich bestätigt,                                   Marktstr.10
                                                                                                                     33415 Verl
                                   dass ich als Palliativmediziner im direkten Kontakt                               Tel.: 0 52 46 - 93 09 09
                                   mit den Patienten und Angehörigen meinen Platz                                    dr.schlewing@t-online.de
                                   habe. Es erfüllt mich mit Dankbarkeit, am Schicksal

                                   DIE PALLIATIV-AMPEL
                                   THOMAS SITTE

                                   D
                                              er Gedanke für Pflegeheimbewohner ei-      Ziel mehrerer Projekte der Deutschen PalliativStif-
                                              nen bestmöglich erfassbaren Hinweis        tung war die Optimierung der palliativen Versor-
Hospiz-Dialog NRW - Juli 2020/84

                                              für den Rettungsdienst zu erarbeiten,      gung in Pflegeheimen und zugleich die Vermeidung
                                              damit im Notfall der Behandlungswille      unerwünschter bzw. unnötiger Krankenhausaufent-
                                   sofort erfassbar ist, entstand in hunderten von       halte. Wichtigster Baustein war es dabei, dass jeder
                                   Gesprächen von Praktikerinnen und Praktikern aus      Beteiligte für sich einen Mehrwert daraus ziehen
                                   Altenpflege, Rettungsdienst, Palliativversorgung      kann. Ein Mehrwert
                                   und Allgemeinmedizin.                                 … für die Bewohner durch das Wissen, dass ihre
                                                                                            Behandlungswünsche umgesetzt werden, auch
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       wenn sie sich dazu nicht mehr äußern können,            Aus den Erfahrungen der täglichen Arbeit in Pflege-
       die größere Zufriedenheit mit der eigenen Arbeit.       einrichtungen wurde dieses Ampelsystem mit den
     … für die Angehörigen durch die Gewissheit, dass          beteiligten Einrichtungen entwickelt. Es erlaubt in
       ihre Verwandten bis zum Lebensende in dieser Ein-       Notsituationen, Bewohnerinnen und Bewohnern
       richtung angemessen versorgt werden können.             angemessen schnell und effektiv die Hilfe und die
     … für die Verwaltung, dass die Arbeitsabläufe rei-        Maßnahmen zukommen zu lassen, die sie wünschen,
       bungsärmer gelingen.                                    selbst wenn die Beteiligten den Betroffenen kaum
     … für die versorgenden Hausärzte, dass ihre Pa-           kennen. Es ist nicht für den Gebrauch zuhause ge-
       tientinnen und Patienten mit größerer Kompe-            dacht oder gar als Ersatz einer Patientenverfügung,
       tenz gepflegt und die Symptome angemessen               sondern speziell für bettlägerige oder wenig mobile
       gelindert werden.                                       Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrich-
                                                               tungen geeignet.
     Das Ziel: - Optimierung der palliativen Versorgung
                 in Pflegeheimen                               Ampeln haben einen eindeutigen Symbolcharakter.
               - Vermeidung unerwünschter bzw. unnö-           Rot bedeutet „Halt“, grün „Freie Fahrt“. Wobei je-
                 tiger Krankenhausaufenthalte                  dem Führerscheininhaber klar sein sollte, dass man
               - (jetzt unter SARS-CoV-2 zusätzlich):          auch bei grün darauf achten muss, dass kein an-
                 Vermeidung von Triage                         derer widerrechtlich die Vorfahrt nimmt und es zu
                                                               einem Unfall kommen kann.
     Immer wieder zeigte es sich, dass darin ein enormes
     Potential zur verbesserten Versorgung in Pflegeein-                rot für „bitte innehalten,
     richtungen besteht. Ein Teil der Mitarbeitenden muss               primäres Ziel ist die reine Linderung“.
     in den Grundlagen der Palliativversorgung geschult
     und parallel die bestehenden Strukturen der palli-                 gelb für „erst handeln, dann schnell
     ativen Versorgung besser in die Heimversorgung                     orientieren“, was gewünscht ist.
     eingebunden werden.
     Gerade jetzt unter der SARS-CoV-2-Pandemie steht                   grün für „Freie Fahrt“ oder
     die Beratung von hochbetagten Menschen unter                       „Volles Programm“.
     einem besonderen Vorzeichen, denn es erscheint
     als relativ unstrittig, dass eine Intensivtherapie bei    In einem Notfall kann man bei jedem/jeder auch
     einem respiratorischen Versagen bei über 80jährigen       unbekannten Patienten/Patientin auf einen Blick
     Patientinnen und Patienten in den Ergebnissen noch        die notwendigen bzw. erwünschten Erstmaßnah-
     schlechter ist als bei „normalen“ Pneumonien.             men erfassen. Von grün für Freie Fahrt oder „Volles
     Auch wenn in Pflegeeinrichtungen ohnehin immer            Programm“ über gelb, „erst handeln, dann schnell
     eine gute Dokumentation mit einer einfachen Er-           orientieren“, was gewünscht ist, bis rot „bitte
     kennbarkeit des Patientenwillens wichtig wäre, so         innehalten, primäres Ziel ist die reine Linderung“.
     wird unter Quarantänebedingungen diese Erkenn-
     barkeit doch ganz entscheidend. Insbesondere hilft        Im Notfall ist es nicht sinnvoll, erst nach einem
     die schnelle Identifizierung des Behandlungswil-          orientierenden Aktenstudium zu entscheiden, was
     lens der Patientinnen und Patienten mit, dass es          getan werden soll, ohne einen Schaden für den Pa-
     erst gar nicht zu den jetzt breit diskutierten, ethisch   tienten/die Patientin in Kauf zu nehmen. Lebens-
     hoch problematischen und kaum erträglichen Be-            rettende oder lebenserhaltende Erstmaßnahmen
                                                                                                                     Hospiz-Dialog NRW - Juli 2020/84

     lastungen einer möglichen Triage kommen muss.             müssen sofort erfolgen können.
                                                               Mit der Palliativ-Ampel kann im Notfall die belas-
     Die Palliativ-Ampel                                       tende Suche in der Dokumentation entfallen und
     Als ein Teilergebnis aus der Projektarbeit wird hier      eine letztlich lebensgefährliche Behandlungsver-
     ein so einfaches wie effizientes Ampel-System vor-        zögerung wie auch eine vielleicht unerwünschte
     gestellt. Dieses wurde kontinuierlich in der Praxis       Über- und Fehltherapie wirkungsvoll vermieden
     angepasst.                                                werden.
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