LEBENSWEGE UND ABSCHIEDSGESTALTUNG - Schwerpunkt: Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - ALPHA NRW
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Ansprechstellen im Land NRW zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen Juli 2018 Ausgabe 76 Schwerpunkt: LEBENSWEGE UND ABSCHIEDSGESTALTUNG
2 Editorial Liebe Leserinnen und Leser, für unseren Lebensweg wird zuweilen das Bild der Reise genutzt. Auf dieser Reise befinden wir uns auf unterschied- liche Weise – manchmal auf unbekann- tem Terrain, auf dem wir uns, ob in der Kindheit oder im späteren Leben, heran- tasten und vieles lernen müssen. Manchmal erleben wir gewohnten Trott, der uns vielleicht Eintönigkeit, aber auch Sicher- heit und Routine beschert. Manchmal sind wir Unwägbarkeiten oder gar Traumata ausgesetzt. Alles, was uns begegnet oder auch nicht begegnet, wirkt sich auch auf unser Lebensende aus. In dieser Ausgabe des Hospiz-Dialogs werden einige dieser Facetten beschrieben bis hin zu den Auswirkungen auf die Gestaltung des Abschieds. Dies trägt nicht nur zur Enttabuisierung des The- mas bei, sondern eröffnet einen positiven Blick auf das Leben. Hospiz-Dialog NRW - Juli 2018/76 Ich wünsche Ihnen eine gute Lektüre! Ihre Dr. Gerlinde Dingerkus
Inhalt INFORMATION Gesundheitliche Versorgungsplanung – Wohin soll die Reise gehen? Gerlinde Dingerkus, Felix Grützner 4 Spezialbericht zur Hospizarbeit und Palliativversorgung in Nordrhein-Westfalen Nicole Rosenkötter 6 „Pausentaste – Wer anderen hilft, braucht manchmal selber Hilfe“ Ein Projekt des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 9 KOMMA – Kommunikation mit Angehörigen Sabine Pleschberger, Gerda Graf, Christiane Kreyer 10 IMPRESSUM Mensch ist mehr als Diagnose, Prognose und Koma Herausgeber ALPHA - Ansprechstellen im Land Nordrhein-Westfalen zur Eine Replik auf das Schwerpunktthema Demenz Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung Franco Rest 12 Redaktion Ansprechstelle im Land Nordrhein-Westfalen zur Palliativversorgung, SCHWERPUNKT Hospizarbeit und LEBENSWEGE UND ABSCHIEDSGESTALTUNG Angehörigenbegleitung im Landesteil Westfalen-Lippe Sigrid Kießling Traumatisierungen im Zweiten Weltkrieg Friedrich-Ebert-Straße 157-159, 48153 Münster Tel.: 02 51 - 23 08 48, Fax: 02 51 - 23 65 76 und ihre Folgen alpha@muenster.de, www.alpha-nrw.de Gereon Heuft 14 Layout Art Applied, Hafenweg 26, 48155Münster Aus ganzem Herzen leben Andrea Weilguni 17 Druck Buschmann, Münster Der Club der Särge Hospiz-Dialog NRW - Juli 2018/76 Auflage 2500 Barbara Barkhausen 19 Lebenswelt postmortem Die im Hospiz-Dialog-NRW veröffentlichten Artikel geben Von der Foto- zur Biografie nicht unbedingt die Auffassung der Redaktion und der Her- Thorsten Benkel, Matthias Meitzler 23 ausgeber wieder. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Gewähr übernommen. Fotos der Autoren mit Zu- stimmung der abgebildeten Personen. Veranstaltungen 27
4 GESUNDHEITLICHE VERSORGUNGS- PLANUNG – WOHIN SOLL DIE REISE GEHEN? GERLINDE DINGERKUS, FELIX GRÜTZNER 33 Seiten hat die Vereinbarung zur ge- sundheitlichen Versorgungspla- nung nach §132g SGB V (inkl. Anla- gen). Die Intention dieser Verein- barung wurde 2015 im Hospiz- und Palliativgesetz Die Rahmenbedingungen Die Rahmenbedingungen für diesen Prozess sind in der Vereinbarung festgeschrieben. Diese sind sehr differenziert und machen Aussagen über den Ablauf selbst, aber auch über die personellen und formuliert. Die Gesetzliche Krankenversicherung sachlichen Rahmenbedingungen. (GKV) hat gemeinsam mit den Trägervertretern zum Ende des Jahres 2017 den dahinterstehenden Zu dem gesamten Prozess gehören Gedanken konkretisiert. Was steht auf diesen vie- – die Beratungen len Seiten und welche Bedeutung haben sie für die – die Fallbesprechungen (unter Beteiligung mög- Hospiz- und Palliativversorgung in Einrichtungen lichst vieler Akteure) der Altenhilfe und der Eingliederungshilfe? – die Dokumentation (sowohl der Beratung als auch der Willensäußerungen) „Vereinbarung nach §132g Abs. 3 SGB V über Inhalte und Anforderungen der gesundheitlichen Zu den Beratungsgesprächen selbst gehört die Klä- Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase“ rung der Fragen So lautet der Titel des Papiers. Mit ihm ist das – Wer soll bei dem Gespräch dabei sein? Ziel verbunden, dass die Bewohnerinnen und – Wie häufig sollen Gespräche stattfinden? Bewohner von Einrichtungen der Alten- und der Ein- – Welche Aspekte sollen angesprochen werden: zu gliederungshilfe jene pflegerischen, medizinischen, erwartende körperliche Zustände, Umgang mit sozialen und spirituellen Angebote erhalten, die sie Notfallszenarien, Möglichkeiten der Versorgung? sich für ihr Lebens- – Welche rechtlichen Vorsorgeinstrumente gibt es? ende wünschen. – Wer assistiert bei starken kognitiven Einschrän- Um dies vorzube- kungen? reiten, können sie sich mit der Un - Der Beratungsprozess findet situations- und be- terstützung eines darfsorientiert statt. Die Bewohner/Bewohnerin- sogenannten Bera- nen müssen die Beratung nicht in Anspruch neh- ters/einer Berate- men. Wenn sie es tun, können sie sie aber auch je- rin gedanklich aus- derzeit beenden. Die sich ändernde Lebens- und einandersetzen: Versorgungssituation kann dazu führen, dass das mit möglichen Ver- Beratungsangebot mehrfach in Anspruch genom- änderungen ihres men wird. gesundheitlichen Zustandes, mit Vernetzung ist ein wesentliches Element Krankheitsverläu- Die Vereinbarung sieht außerdem die interne und fen und möglichen externe Vernetzung vor. Interne Vernetzung heißt, Hospiz-Dialog NRW - Juli 2018/76 Komplikationen dass alle Mitarbeitenden einer Einrichtung über das und mit den damit Konzept der gesundheitlichen Versorgungsplanung verbundenen mög- informiert sind und deren Umsetzung unterstützen. lichen medizinisch- Auch wenn der Beratende eine federführende Funk- pflegerischen Situ- tion hat, ist das Mitdenken und die damit verbun- ationen. dene Haltung aller im Haus Tätigen ein wesent- licher Bestandteil.
5 Externe Vernetzung heißt, dass auch die außenste- henden Partner, wie der Rettungsdienst oder das Hospizteam in das Konzept so eingebunden sind, dass auch von ihrer Seite den Wünschen des Be- wohners/der Bewohnerin Rechnung getragen wird. Wer führt die Beratungsgespräche durch? Die Vereinbarung sieht bestimmte qualifikatorische Voraussetzungen vor. Unter anderem wird davon ausgegangen, dass Personen aus pflegerischen, medizinischen und pädagogischen Berufen gute Voraussetzungen für diese Tätigkeit mitbringen. Dr. Gerlinde Dingerkus, Dr. Felix Grützner Diese müssen eine dreijährige Tätigkeit im Hospiz- und/oder Palliativbereich oder in Einrichtungen der arbeiter bis zum Rettungsdienst –, ist anzunehmen, Alten- oder der Eingliederungshilfe vorweisen. dass eine flächendeckende Umsetzung nicht „auf Darüber hinaus müssen sie sich theoretisch weiter- die Schnelle“ geschieht und auch nicht geschehen qualifizieren und einen praxisorientierten Anteil sollte. Wie Paula Modersohn-Becker sagt: Wer absolvieren. Die Rahmenvereinbarung benennt de- einen weiten Weg hat, läuft nicht. Es braucht viele tailliert die Lernfelder, zu erwerbende Kompetenzen Schritte, viel Kommunikation und Abstimmung. Die und die Anzahl der Unterrichtseinheiten dieser für Einbettung darf nicht die Entscheidung Einzelner die Beraterinnen und Berater erforderlichen Zusatz- sein. Viele gehören schon im Vorfeld mit „an Bord“. qualifikation. Und: Es macht Sinn, sich mit anderen Kolleginnen und Kollegen auch über den eigenen Tellerrand Die Umsetzung hinaus auszutauschen. Zu einer praktikablen Umsetzung gehört eine sach- Deswegen möchten wir, die ALPHA-Stellen, ge- dienliche Finanzierung, die ebenfalls in der Verein- meinsam mit dem Hospiz- und Palliativverband barung festgeschrieben ist. Ob diese dem Aufwand NRW (HPV NRW) und der Landesgruppe der Deut- entspricht, wird sich zeigen. Am wichtigsten ist je- schen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP NRW) doch, dass die Umsetzung in ein Gesamtkonzept ein Forum eröffnen und Sie über die Ziele und die eingebettet ist, das einhergeht mit einer gemein- Umsetzungsansätze dieser Vereinbarung miteinan- samen Identifizierung aller Beteiligten mit einer der ins Gespräch bringen: auf einer halbtätigen Ver- achtsamen hospizlichen und anstaltung am 24. Januar 2019 palliativen Haltung. Nur Rah- menbedingungen oder Ver- » Das Ziel ist klar formuliert, in Hagen. Der Diskurs soll dabei über die eigene Träger- fahrensweisen umzusetzen, die Umsetzungswege be- schaft, ja über die eigenen genügt nicht. nötigen einen behutsamen regionalen Bezüge hinaus ge- In diesem Jahr werden sich führt werden. Bitte merken Sie einige Einrichtungen auf den Transfer in die Praxis. sich diesen Termin schon jetzt Weg machen und darum be- vor, die Einladung ergeht zu mühen, ein Konzept gemäß dieser Vereinbarung einem späteren Zeitpunkt und wird sich an alle für ihre Bewohnerinnen und Bewohner auf den Weg Einrichtungen der Altenhilfe und der Eingliede- zu bringen. Es wird sich erst langfristig zeigen, ob rungshilfe, an die hospizlichen und palliativen und wie die Umsetzung gelingt und ob „das, was Dienste und Einrichtungen, an Ärztinnen und Ärzte, draufsteht, auch drin sein wird“. Auch wird sich erst an Betreuerinnen und Betreuer richten. Bis dahin im praktischen Tun zeigen, ob Aufwand und Ergeb- wird es die ersten Ideen, Ansätze, Umsetzungsver- nis in einem ausgeglichenen Verhältnis zueinander- suche geben, die eine gute Basis für den Austausch stehen. Hospiz-Dialog NRW - Juli 2018/76 bieten und gleichzeitig den Blick eröffnen für die weiteren Stationen dieser Reise. „Wer einen weiten Weg hat, läuft nicht.“ Da es aber nicht nur die Träger, die Leitung und die Dr. Gerlinde Dingerkus, Dr. Felix Grützner Mitarbeitenden der Einrichtungen, die Bewohner/ Ansprechstellen im Land NRW Bewohnerinnen oder die Angehörigen sind, die sich zur Palliativversorgung, Hospizarbeit auf das besondere Vorhaben einlassen, sondern und Angehörigenbegleitung am Ende alle Beteiligten – vom ehrenamtlichen Mit- www.alpha-nrw.de
6 SPEZIALBERICHT ZUR HOSPIZARBEIT UND PALLIATIVVERSORGUNG IN NORDRHEIN-WESTFALEN Nicole Rosenkötter I m Mai dieses Jahres ist der sorgung im eigenen Wohnraum, in ambulanten zweite Bericht zur „Hospizar- und stationären Einrichtungen der Eingliede- beit und Palliativversorgung rungshilfe, in Pflegeeinrichtungen, Krankenhäu- in Nordrhein-Westfalen“ sern und spezialisierten Einrichtungen vor und erschienen. In diesem Artikel • bezieht dabei auch die hospizliche und palliative möchten wir Ihnen einige Inhalte Versorgung von Kindern ein, des Berichts vorstellen und • beschreibt die an der Versorgung beteiligten Ak- einen Einblick geben, wie aus teurinnen und Akteure und deren Qualifizierungs- einer anfangs überschaubar möglichkeiten und scheinenden Aufgabe ein viel- • erläutert aktuelle Herausforderungen im Rahmen schichtiges Projekt wurde. der Hospizarbeit und Palliativversorgung. Der erste nordrhein-westfälische Dr. Nicole Rosenkötter Bericht zur Hospizarbeit und Pal- liativversorgung erschien Anfang » Rahmenbedingungen und 2007 (MAGS NRW, 2007). Etwa acht Jahre nach des- Strukturen der Hospiz- und sen Erscheinen entwickelte sich der Plan diesen Palliativversorgung in NRW Bericht neu aufzulegen und zu aktualisieren. Das für Gesundheit zuständige Ministerium des Landes haben sich in den vergangenen Nordrhein-Westfalen beauftragte das Landeszen- Jahren sehr verändert. trum Gesundheit NRW (www.lzg.nrw.de), dieser Auf- gabe in Zusammenarbeit mit ALPHA NRW (www.al- pha-nrw.de) nachzukommen und die dargestellten Beim Schreiben des Berichts traten jedoch einige Daten zur Versorgungssituation in NRW auf den Hürden auf, die es zu überwinden galt. Dies betraf neuesten Stand zu bringen. vor allem die stark eingeschränkte Datenverfüg- barkeit im Bereich der Hospizarbeit und Palliativ- Schnell zeigte sich jedoch, dass eine rein daten- versorgung, aber auch die Rechtslage, die sich basierte Aktualisierung der Versorgungslandschaft während der Berichterstellung durch die Verab- in NRW nicht mehr gerecht werden konnte. Die Rah- schiedung des Hospiz- und Palliativgesetzes im menbedingungen und die Strukturen der Hospiz- November 2015 verändert hatte. arbeit und Palliativversorgung hatten sich seit Erscheinen des ersten Berichts zu stark verändert Die Kunst des Zählens und weiterentwickelt. Deshalb war es notwendig, Die Herausforderung, aussagekräftige und valide den Bericht komplett neu zu konzipieren. Mit der Datenquellen zu identifizieren, begann bereits mit Festlegung relevanter Kapitel für den neuen Bericht der ersten Fragestellung: „Wo versterben die Men- wurde die Basis für die Neuauflage geschaffen. Der schen in NRW?“ Leider ist diese Information nicht Hospiz-Dialog NRW - Juli 2018/76 vorliegende Bericht Bestandteil der Statistik der Sterbefälle oder der • stellt die wichtigsten Entwicklungen der Hospiz- Todesursachenstatistik. Die Statistiken führen arbeit und Palliativversorgung dar, Informationen zu den Sterbefällen nach Wohnort, • erläutert die Rechtsgrundlagen für die Versor- Geschlecht und Alter (und Todesursache). Ob eine gung, Person jedoch im Krankenhaus (auf einer normalen • stellt die nordrhein-westfälischen Angebote und oder einer Palliativstation), im Hospiz, zu Hause Strukturen zur hospizlichen und palliativen Ver- oder in einer Pflegeeinrichtung verstorben ist, wird
7 Schwerpunktmäßig sollten in dem Bericht die Be- sonderheiten der Versorgungsstrukturen in NRW aufbereitet und die Datenbasis aktualisiert werden. Leider gibt es keine offiziell verbindliche Statistik über die Anzahl der Anbieter in der Hospizarbeit und Palliativversorgung. Um dennoch ein möglichst valides Bild der Versorgungslandschaft zu zeich- nen, wurden Daten verschiedener Datenhalter zu- sammengetragen. Im Vergleich zu dem ersten Be- richt zur Hospizarbeit und Palliativversorgung konnte in allen Versorgungsbereichen ein struktu- reller Ausbau verzeichnet werden, der sich stetig in Richtung einer flächendeckenden Versorgung weiterentwickelt. Eine besondere Herausforderung stellte jedoch die Ermittlung des Versorgungsgrads durch Teams der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) dar, da die Palliativmedizinischen Konsili- ardienste in Westfalen-Lippe sowohl die allgemeine als auch die spezialisierte Versorgung vorhalten. Der Versorgungsgrad drückt in diesem Fall aus, wie viele SAPV-Teams auf eine Million Einwohnerinnen und Einwohner kommen. Werden die Palliativme- dizinischen Konsiliardienste bei dieser Berechnung auf der Todesbescheinigung zwar dokumentiert, mitberücksichtigt, dann rangiert der Versorgungs- aber nicht routinemäßig statistisch aufbereitet. Zur grad in NRW in etwa im Bundesdurchschnitt. Beantwortung der Frage musste deshalb eine wissenschaftliche Untersuchung herangezogen Auch zu den im Rahmen der hospizlichen und pal- werden, in der nachträglich die Sterbeorte für eine liativen Versorgung versorgten Grunderkrankungen Stichprobe von Verstorbenen in Westfalen-Lippe sowie den Bedürfnissen und Bedarfen unterschied- zusammengetragen wurden. Gut die Hälfte der licher Patientengruppen liegen routinemäßig nur Verstorbenen ist demnach in 2011 in einem Kran- wenige Daten vor. Die Anbieter der Hospizarbeit kenhaus verstorben (Dasch et al., 2015). Außerdem und Palliativversorgung führen zwar eine Doku- konnten Analysen der Kassenärztlichen Vereinigun- mentation, die Daten werden jedoch nicht evaluiert gen Nordrhein und Westfalen-Lippe zeigen, dass und in einer Statistik zusammengeführt. Der Be- der Anteil an im Krankenhaus verstorbenen Perso- richt fasst deshalb einige Ergebnisse aus wissen- nen etwa um ein Fünftel geringer ist, wenn die schaftlichen Untersuchungen zusammen, um ver- Verstorbenen aufgrund einer ärztlichen Verordnung schiedene Aspekte der Versorgung zu beschreiben eine palliative Versorgung in Anspruch nehmen und beispielsweise Zugangsunterschiede für an konnten (Lux et al., 2016; Zimmermann, Merling, Krebs und nicht an Krebs erkrankte Menschen dar- 2015). zustellen. Deutlich wurde auch, dass der Anteil der Verstor- Zeiten der Veränderung und der Weiterentwicklung benen in Hospizen und Palliativstationen sowie in Während der Berichterstellung wurde das Hospiz- Alten- oder Pflegeeinrichtungen zwischen 2001 und und Palliativgesetz verabschiedet (BMJV, 2015) und 2011 zugenommen hat (Dasch et al., 2015). Dieses es wurden Ziele im Rahmen der „Nationale Strate- Hospiz-Dialog NRW - Juli 2018/76 Ergebnis unterstreicht die Relevanz der Weiterent- gie für die Versorgung von schwerstkranken und wicklung der hospizlichen und palliativen Versor- sterbenden Menschen“ definiert (DGP, DHPV, BÄK, gung in Wohn- und Pflegeeinrichtungen – ein 2016). Neben einer Stärkung des Versorgungsbe- Prozess, der in den vergangenen Jahren in NRW reichs und Impulsen zur Weiterentwicklung, kam verstärkt angestoßen wurde und in dem Bericht es dadurch auch zu Veränderungen, die bis zum näher erläutert wird. Abschluss der Berichterstellung noch nicht voll- ständig abgeschlossen waren. In der Schlussbe-
8 und Palliativversorgung von Frau Dr. Dinger- kus, Frau Mertens-Bürger und Herrn Dr. Grützner (ALPHA NRW) profitiert hat. Sie können den Bericht über den Broschü- renservice des Ministeriums für Arbeit, Ge- sundheit und Soziales herunterladen oder als Printversion beziehen (www.mags.nrw/ broschuerenservice). Dr. Nicole Rosenkötter Landeszentrum Gesundheit Nordrhein-Westfalen Fachgruppe Gesundheitsberichterstattung Gesundheitscampus 10 44801 Bochum Spezialbericht S. 19 Tel.: 02 34 - 9 15 35-31 05 Nicole.Rosenkoetter@lzg.nrw.de trachtung des Berichts werden deshalb die Beglei- http://www.lzg.nrw.de tung der Veränderungsprozesse (teilweise durch http://www.lzg.nrw.de/gbe ALPHA NRW) und die Implementierung der neuen gesetzlichen Möglichkeiten als primäres zukünfti- ges Aufgabenfeld benannt. Arbeitsfelder von be- Literatur sonderem Interesse sind hierbei die Entwicklungen in der ambulanten Palliativversorgung, die Etablie- Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) (2015). Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und rung von Beratungsstrukturen zur Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland (Hospiz- und Palliativ- Palliativversorgung, die Umsetzung der gesund- gesetz – HPG). Bundegesetzblatt, Teil I, 48. heitlichen Versorgungsplanung für die letzte Dasch, B., Blum, K., Gude, P., Bausewein, C. (2015). Sterbeorte: Lebensphase, die zunächst für Versicherte in Veränderung im Verlauf eines Jahrzehnts. Eine populations- basierte Studie anhand von Totenscheinen der Jahre 2001 Pflegeeinrichtungen und Einrichtungen der Einglie- und 2011. Deutsches Ärzteblatt, 112 (29-30). derungshilfe vorgesehen ist, sowie die weitere Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin, Deutscher Hospiz- Etablierung der Trauerbegleitung in NRW. und PalliativVerband e.V., Bundesärztekammer (DGP, DHPV, BÄK) (2016). Handlungsempfehlungen im Rahmen Außerdem kann der Bericht nun als Grundlage die- einer Nationalen Strategie. Verfügbar unter: http:// www.charta-zur-betreuung-sterbender.de/nationale-stra- nen, um einige Jahre nach der Umsetzung der neu- tegie_handlungsempfehlungen.html (Abruf Juni 2018). en Gesetzgebung die Auswirkungen auf die Versor- Lux, E.A., Hofmeister, U., Bornemann, R. (2016). Ambulante gungslandschaft in NRW erneut prüfen zu können. Palliativversorgung in Westfalen-Lippe. Eine Follow-up-Er- hebung fünf Jahre nach Einführung einer strukturierten Ver- sorgung im häuslichen Umfeld. Deutsche Medizinische Wo- chenschrift, 141. Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes » Neben der Beschreibung Nordrhein-Westfalen (Hrsg.) (2007). Hospizarbeit und Pal- der aktuellen Situation liativmedizin: Stand der Entwicklung. Gesundheitsberichte NRW Spezial. Band 2. Düsseldorf: MAGS NRW. finden in dem Bericht Zimmermann, H., Merling, A. (2015). Fakten, Daten, Trends zur auch die Zukunftsaufgaben ambulanten Palliativversorgung in Nordrhein. Kongress Zehn Jahre ambulante Palliativversorgung in Nordrhein, Erwähnung. 12.9.2015, Düsseldorf. Verfügbar unter: https://www. Hospiz-Dialog NRW - Juli 2018/76 kvno.de/downloads/termine/palliativkongress/03_ vortrag_zimmermann_merling.pdf (Abruf Dezember 2015). Vielleicht haben wir mit diesem kurzen Artikel Ihr Interesse an dem Bericht wecken können, dessen Erstellung in besonderem Maße von den Fachkennt- nissen und vielfältigen Bezügen zur Hospizarbeit
9 „PAUSENTASTE – WER ANDEREN HILFT, BRAUCHT MANCHMAL SELBER HILFE“ Ein Projekt des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend N ach einer repräsentativen Befragung im Das Angebot umfasst „Report Junge Pflegende des Zentrums • die Website www.pausentaste.de für Qualität in der Pflege (ZQP)“ pflegen • eine telefonische Beratung und versorgen ca. 5% (= 230.000) der • eine E-Mail-Beratung sowie perspektivisch Kinder und Jugendlichen im Alter von 12-17 Jahren • ein Chat oder ein Forum (in Planung). regelmäßig Angehörige. 90% von ihnen helfen mehrmals in der Woche, 33% helfen täglich. Pfle- Die Website www.pausentaste.de beantwortet seit gende Kinder und Jugendliche machen sich oft viele 01.01.2018 grundlegende Fragen rund um die Pfle- ge und präsentiert Erfahrungsberichte, Interviews und Videos. Darüber hinaus weist sie auf Bera- tungsangebote vor Ort hin. Auch Informationen zu Erkrankungen und Leseempfehlungen werden zur Verfügung gestellt, alles optimiert für mo- bile Endgeräte. Ein » Pflegende Kinder und Chat oder Forum ist Jugendliche haben oft geplant. niemanden, mit dem sie Die Betreuung der über ihre Situation Telefon- und E-Mail- sprechen können. Beratung übernimmt der Verein „Nummer gegen Kummer“. Unter der Nummer 116 111 errei- Screenshot „Rike“ Quelle: www.pausentaste.de chen ratsuchende Kinder und Jugendliche die Hot- line von Montag bis Samstag jeweils von 14 bis 20 Sorgen um ihre hilfe- und pflegebedürftigen Ange- Uhr. Das Beratungsangebot ist kostenlos und auf hörigen, sie haben häufig zu wenig Freizeit, sind Wunsch auch anonym. An Samstagen gibt es zu- körperlich angestrengt und haben oft niemanden, dem eine „Peer-to-Peer“-Beratung durch ehrenamt- um über ihre Situation zu reden. Sie kümmern sich liche Beraterinnen und Berater im Alter von 16 bis wie selbstverständlich um Familienmitglieder und nehmen sich selbst oft nicht als pflegende Ange- hörige wahr. Von allen durch ZQP Befragten wün- schen sich 30% einen Chat oder ein Forum im Inter- net; 24 % der pflegenden Jugendlichen haben sich für ein Sorgentelefon ausgesprochen. Das Projekt „Pausentaste – Wer anderen hilft, braucht manchmal selber Hilfe“ des BMFSFJ will Hospiz-Dialog NRW - Juli 2018/76 junge Pflegende bundesweit durch ein niedrig- schwelliges Beratungsangebot unterstützen. Die „Pausentaste“ soll jungen Pflegenden helfen, Pau- sen einzulegen, zu reflektieren und Hilfsangebote wahrzunehmen oder über die eigene Situation zu sprechen – auch anonym. Screenshot „Hannah“ Quelle: www.pausentaste.de
10 21 Jahren. Per E-Mail gibt es über die Website Ergänzend hat das BMFSFJ im Juli 2017 ein Netz- www.nummergegenkummer.de rund um die Uhr In- werk zur Unterstützung von Kindern und Jugend- formationen und Beratung. lichen mit Pflegeverantwortung ins Leben gerufen. Das Angebot richtet sich in erster Linie an pflegen- Bisher nehmen 20 Initiativen teil. Dem Netzwerk de Kinder und Jugendliche. Aber auch Lehrkräfte, gehören zum Beispiel verschiedene Hilfetelefone ambulante Pflegedienste, Sozialdienste an Schulen und Interessenvertretungen pflegender Angehöri- und Kliniken sowie Jugendorganisationen und die ger an. Zukünftig wird sich das Netzwerk jährlich Öffentlichkeit sollen auf das Thema aufmerksam zu Fachfragen austauschen. gemacht und für Fragen in diesem Zusammenhang sensibilisiert werden. KOMMA – KOMMUNIKATION MIT ANGEHÖRIGEN Ein Projekt zur Entwicklung der Angehörigenarbeit in der häuslichen Hospiz- und Palliativversorgung SABINE PLESCHBERGER, GERDA GRAF, CHRISTIANE KREYER F ür die Versorgung Vor diesem Hintergrund wird seit März 2016 das Pro- schwerkranker und ster- jekt KOMMA durchgeführt. Es wird durch die Stiftung bender Menschen zu Wohlfahrtspflege NRW, Initiative „Pflege inklusiv“ Hause sind An- und Zuge- gefördert. Das transdisziplinäre Forschungsprojekt hörige wichtige Partner im alltäg- ist eine Kooperation der Hospizbewegung Düren – lichen Leben. Ihre physischen, Jülich e. V. mit den Wissenschaftspartnern GÖ FP – emotionalen und sozialen Belas- Gesundheit Österreich Forschungs- und Planungs tungen sind durch viele Studien GmbH Wien (PD Dr. Sabine Pleschberger) und der belegt. Unterschiedliche Maßnah- Privaten Universität für Gesundheitswissenschaften, men der Unterstützung von Ange- medizinische Informatik und Technik, Hall in Tirol hörigen werden von Hospiz- und (UMIT, Dr. Christiane Kreyer). Palliativdiensten angeboten. Die- se „Angehörigenarbeit“ erfolgt Als Praxispart- noch wenig systematisch und ist » Angehörige sind ner aus der Hos- Dr. Sabine Pleschberger stark von den individuellen Fähig- wichtige Partner in piz- und Pallia- keiten und Kompetenzen der der Versorgung tivversorgung jeweiligen Mitarbeiter und Mitar- NRW sind das beiterinnen abhängig, ebenso wie Schwerkranker und Ambulante Hos- von den Rahmenbedingungen Sterbender. piz- und Pallia- innerhalb der Hospiz- und Pallia- tivzentrum Kreis tivdienste. Im Projekt KOMMA wird Düren, das SAPV- und das Hospizteam Malteser Hospiz-Dialog NRW - Juli 2018/76 die Angehörigenarbeit in der Krankenhaus Seliger Gerhard Rhein/Sieg sowie das häuslichen Hospiz- und Palliativ- Hospiz- und Palliativzentrum Dormagen mit dabei. versorgung weiterentwickelt. Die Bedürfnisse von Angehörigen Ziele des Projektes sind besser zu erfassen, ist ein erster – Systematische Erfassung der Bedürfnisse von wichtiger Schritt, um adäquate Angehörigen mittels Einsatz eines standardisier- Gerda Graf Unterstützung anbieten zu können. ten Assessmentinstrumentes (KOMMA)
11 – Erkenntnisse über den Unterstützungsbedarf von Im kommenden Herbst, am Mitt- Angehörigen woch, den 07.11.2018 in Leverkusen – Weiterentwicklung von Hospizkultur und pallia- (siehe Veranstaltungshinweise), ist tiver Versorgung durch Implementierung von eine Fachtagung geplant, bei der Maßnahmen zur Verbesserung von Angehörigen- der KOMMA-Ansatz vorgestellt arbeit in unterschiedlichen Kontexten wie ambu- wird. Berichte über die Erfahrun- lanten Hospizdiensten und Palliativteams gen beim Einsatz in der Praxis und die Forschungsergebnisse Der in England entwickelte Ansatz CSNAT („Carer werden einen guten Einblick in Support Needs Assessment Tool“) wurde auf wis- ein strukturiertes Vorgehen zur senschaftlicher Basis übersetzt – er wird hierzulan- Unterstützung von Angehörigen de KOMMA (Kommunikation mit Angehörigen) be- bieten. Neben dem Forschungs- Dr. Christiane Kreyer zeichnet – und für den Einsatz im deutschsprachi- team und den Praxispartnern wird gen Raum angepasst. Prof. Dr. Andreas Kruse vortragen zum Thema „Angehörige und ihre Sorgen als Auftrag für Hos- Kernanliegen des KOMMA- Ansatzes ist es, mit An- pizarbeit und Palliative Care“. gehörigen in einem strukturierten Vorgehen über ihre Bedürfnisse zu sprechen und darauf basierend zielgerichtet Unterstützung anzubieten. Die Idee Gerda Graf dabei ist, dass Angehörige mit einem Reflexions- Hospizbewegung Düren-Jülich e. V. bogen ihre vordringlichen Anliegen selbst benen- Roonstraße 30 nen, und so auch mögliche Unterstützungen oder 52351 Düren Entlastungen selbst entwickelt bzw. besser ange- info@hospizbewegung-dueren.de nommen werden. PD Dr. Sabine Pleschberger Die Heterogenität der Praxispartner in NRW stellt, Gesundheit Österreich GmbH den unterschiedlich strukturierten Palliativ- und Stubenring 6 Hospizdiensten entsprechend, für die Übertragbar- A-1010 Wien keit eine besondere Herausforderung dar. Dank des sabine.pleschberger@goeg.at kontinuierlichen Dialogverfahrens zwischen Wis- senschaft, Projektträger und Praxis konnte bisher Dr. Christiane Kreyer der Ansatz so adaptiert werden, dass die Anwen- UMIT dung handlungsorientiert für alle Akteure Wege Eduard Wallhöfer-Zentrum aufzeigt. Für Angehörige ist der KOMMA-Ansatz ein A-6060 Hall in Tirol stabilisierender Faktor. Hospiz-Dialog NRW - Juli 2018/76 © Christoph Gummert
12 MENSCH IST MEHR ALS DIAGNOSE, PROGNOSE UND KOMA Eine Replik auf das Schwerpunktthema Demenz FRANCO REST V or mir liegt das Heft Glücklicherweise hatte man zu spät damit begon- einer Zeitschrift, das nen, meiner Frau durch eine detaillierte Patienten- sich mit „Demenz am verfügung die angeblich bevorstehenden Dilemma- Ende des Lebens“ ta einzureden, mit denen sich dann ihre poetische befasst, mit dem Abschied vor Seele bis zur „erwünschten Verzweiflung“ belastet dem Sterben, wobei der Ab- hätte (ich denke an die Patientenverfügung von schied im Sterben unterschla- „Parkinson Schweiz und Stiftung Dialog Ethik“, Zü- gen wird, oder mit der Unter- rich, von 2017). Und glücklicherweise wollte auch stützung für die Angehörigen, niemand mir als dem pflegenden Ehemann „hand- wobei die Wirkung unterschla- feste Unterstützungen“ zukommen lassen; dass gen wird, welche in der sich vertraute Menschen von uns zurückzogen, Prof. Dr. Franco Rest „Schweigezeit“ vom Sterben- steht auf einem anderen Blatt. den ausgeht. Stattdessen haben wir zahlreiche Reisen gemacht „Bis dass der Tod...“ nach Athen, Prag, Dresden, Sylt, Rügen usw., jedes War Illusion Jahr mindestens eine, weil wir immer gerne gereist Ganz Andres wird uns scheiden sind; nie habe ich meine kranke Frau dabei versteckt. Es ist schon Abschied nur Oftmals habe ich für sie geweint (wohlgemerkt Dein unentwegtes Schweigen nicht mit ihr), habe meinen Tränen einen Dialog mit ihren Tränen erlaubt, von dem sie mir dann berich- Dieses Gedicht schrieb ich nach drei Jahren, die ich teten, habe ihr, die ihre letzten verbalisierten Jahre mit meiner an fortschreitendem Parkinson erkrank- mit Poesie gefüllt hatte, meine neuesten Gedichte ten, inzwischen kommunikationslosen Ehefrau ver- vorgelesen, habe ihr Leben – diesmal ausdrücklich bringen durfte, also in 24-stündigem, siebentäg- mit ihr – fortgesetzt. lich-wöchentlichem Schweigen in dem gemeinsa- men Zuhause, bevor weitere vier stille und doch Unsere Ehe war nie eine „Beziehung zweier Gehir- unendlich intensive Jahre folgten. ne“, sondern zweier Menschen. Wie hätte sich das aufgrund der Erkrankung eines Organs ändern sol- Ja, man hatte „Demenz“ diagnostiziert; aber: Wie len? Zugegeben, zweimal landete sie ohne mich in diagnostiziert man Demenz bei einem Menschen, einem Krankenhaus, und ich bekam sie desolater der weder schreibt noch spricht? Man hatte die zurück, als ich sie hatte gehen lassen müssen. „Probleme“ wie Ostereier im Gehirn versteckt und fand sie dort mit Hilfe von MRT und CT wieder. Man Die Diagnosen, Prognosen und endlich sogar das schlich einem „Dopaminmangel“ nach, vermutete Koma hatten sicher etwas mit Realität, mit Wirk- zerstörtes Hirngewebe, folgte den „Fallbewegun- lichkeit zu tun; aber unsere „Wahrheit“ hat sie ei- gen“, Stürzen, behauptete Gedächtnislücken, ver- gentlich nie interessiert. Ja, auch wir hatten Ängste, Hospiz-Dialog NRW - Juli 2018/76 dächtigte die verschriebenen Medikamente der die sicher auch Ursachen hatten; und es war gut, Auslösung von Halluzinationen, experimentierte dass man diese Ursachen zu erkennen oder auch nach den Methoden von „Trial and Error“, wobei ihnen vorzubeugen suchte; meine Frau bekam der Error zur Triebfeder des Handelns wurde, weil schließlich Tavor und Midazolam, da sie ja mögliche man das Gehirn schuldig gesprochen hatte, obwohl Ängste nicht äußern konnte. Aber die Triebfeder es doch um den Menschen ging. Angst, welche unser Leben politisch, sozial, gedanklich und in der Liebe begleitet hatte, blieb
13 erhalten, auch als sie aus meinen Armen in ein ses von Liebe, Akzeptanz, Begegnung, Mit-Sein, anderes Zuhause hinüberwechselte. – Ja, die Poesie und Musik geprägt ist, sind sie „beiläufig“, Bedarfsmedikation sah auch Schmerzmittel vor, jetzt-gebunden. Demut (Dien-Mut) gegenüber den obwohl sie – selbst bei einem Oberschenkelbruch großgeredeten Ereignissen verschafft uns Bereit- – kein Schmerzempfinden äußerte. Aber wir trans- schaft für den „Mutwillen“ zum Leben. Die Bereit- ferierten unsere Energie „Leid“ in unsere Wahrheit schaft der Begleiterinnen und Begleiter während hinüber, gerade als die „Leiden“ unwichtig gewor- der Krankheit und dem Sterben meiner Frau, sich den waren. – Und obwohl die Prognosen vielerlei zurückzunehmen auf die kleinen, zweifellos trotz- Erwartungen weckten, die nur teilweise eintraten, dem wichtigen Kompetenzen, die ich nicht hatte, aber vielfach unnötig dramatisch und tragisch ihre Nichteinmischung in die Wahrhaftigkeit unse- geklungen hatten, gelang uns, an jener Hoffnung res Lebens und Liebens, erfüllen mich mit mehr festzuhalten, die niemals enttäuscht und eben Dankbarkeit, als die Rezepte, Verordnung, Anwen- nichts „Schlimmes“ enthält. dungen, deren Zettel meine gesuchte Zukunft im- mer noch verunstalten. Indem ich dies hier in aller Kürze aufschreibe, möchte ich bemutigen, Diagnosen und Prognosen zwar ihre Berechtigung zu lassen, sie jedoch auf Prof. Dr. Franco Rest Hospiz-Dialog NRW - Juli 2018/76 das Minimum zu reduzieren, das ihnen gerade am Giselanum Lebensende, selbst wenn sich dieses über sieben Zentrum für angewandte Poetik oder noch mehr Jahre hinzieht, zusteht. Es mag dra- Stortsweg 41 a matische und traurige Episoden mit unserem Ge- 44227 Dortmund hirn, aber auch mit dem Herzen, der Lunge, dem Tel.: 02 31 - 75 27 09 Nervensystem usw. geben; aber verglichen mit den rest@fh-dortmund.de spannenden Episoden des Lebens, zumal wenn die- www.francorest.de
14 SCHWERPUNKT TRAUMATISIERUNGEN IM ZWEITEN WELTKRIEG UND IHRE FOLGEN GEREON HEUFT Ä ltere Menschen können – In der folgenden Fallgeschichte wird eine Verluster- angestoßen auch durch fahrung zum Motor der Trauma-Reaktivierung, die politische Krisen – frühere zunächst unbewusst bleibt und sich in einer Kör- Traumatisierungen, also persymptomatik äußert. lebensbedrohliche Erfahrungen, un- ter akuter Symptombildung reakti- Beispiel: Psychosomatische Symbolisierung bei vieren (Heuft, 1993). Klinisch impo- Trauma-Reaktivierung nieren diese Trauma-Reaktivierun- Der 63-jährige Patient litt seit drei Monaten unter gen entweder als Wiederbelebung einer schweren Dyspnoe, indem er stets wie gegen von traumatisch empfundenen Sin- einen Widerstand mit lautem Seufzen ausatmete: neseindrücken (Bilder, Geräusche: „Ich muss so schnaufen.“ In zwei stationären inter- „Als wäre es gestern gewesen!“) nistischen Durchuntersuchungen war die Diagnose oder als psychische (Ängste) bzw. eines erstmals im Alter aufgetretenen Asthmas Prof. Dr. Gereon Heuft psychosomatische Symptombildun- bronchiale gestellt und eine hochdosierte Asthma- gen. Diese Körpersymptome können Medikation für notwendig erachtet worden. in ihrer Ausgestaltung auch symbolhaft an den ur- sprünglichen Ablauf der traumatischen Erlebnisse Auf Empfehlung seines Hausarztes kam der Patient erinnern (siehe das nachfolgende Fallbeispiel). in die Ambulanz. – Zunächst berichtete er von Neben solchen äußeren Anlässen können auch einem Beinahe-Unfall auf der Autobahn: Ein plötz- eigene (lebens-)bedrohlich erlebte körperliche lich ausscherender LKW hatte ihn auf der Überhol- Krankheiten oder der real bevorstehende eigene spur geschnitten. Er hatte das Gefühl, nur seine Tod die Trauma-Erfahrung wiederbeleben. schnelle Reaktion hatte Schlimmeres verhindert. Nach diesem Schrecken fuhr er auf den Standstrei- Es gibt drei Faktoren, die eine Reaktivierung von fen und rang „nach Luft“. Nach einigen Minuten Traumatisierungen im Alter fördern. Diese drei Fak- bekam er ganz langsam noch das Auto nach Hause toren stehen untereinander in einem sich gegen- gesteuert. Von da an fuhr er selber nicht mehr und seitig begünstigenden Bezug: entwickelte die genannte Atemsymptomatik. Da er 1. Ältere Menschen sind befreit vom Druck direkter von Beruf Autoverkäufer war und am Stadtrand Lebensanforderungen durch Existenzaufbau, wohnte, war er von dieser Zeit an auch arbeitsun- Beruf und Familie; sie ha- fähig. – Im zweiten Untersu- ben „mehr Zeit“, bisher chungsgespräch erwähnte er Unbewältigtes bei sich » Eine Reaktivierung eher zufällig den plötzlichen wahrzunehmen; traumatischer Ereignisse Herztod seines besten Freun- 2. sie spüren zudem nicht des 14 Tage vor dem Beinahe- selten auch den vorbe- kann durch verschiedene Unfall auf der Autobahn. Beide wussten Druck, noch eine Faktoren begünstigt Männer waren verheiratet, unerledigte Aufgabe zu werden. hatten aber auch viele haben, der sie sich stellen gemeinsame Pläne, was sie Hospiz-Dialog NRW - Juli 2018/76 wollen und stellen müs- nach der absehbaren Beren- sen; tung gemeinsam machen wollten. Dieser plötzliche 3. darüber hinaus kann der körperliche Alterns- Verlust sei für ihn so schlimm gewesen, dass er prozess selbst (in seiner „lebensbedrohlichen“ nicht einmal habe zur Beerdigung gehen können. somatischen Dimension) traumatische Inhalte Warum konnte dieser Mann, der sich in seinem reaktivieren. Leben mit vielen belastenden Situationen konfron- tiert und Schwellensituationen gemeistert hatte,
LEBENSWEGE UND ABSCHIEDSGESTALTUNG 15 jetzt mit diesem Todesfall nicht adäquat trauernd Junge damals vermutlich erdrückt wurde, die Phan- umgehen? – Vor dem dritten diagnostischen Ge- tasie, er sei erstickt. Er selber sei mit dem Leben spräch war dem Untersucher aufgefallen, dass davongekommen, weil er ganz hinten postiert innerhalb der biographischen Anamnese über die gewesen sei. – Danach war der Krieg zu Ende und Jugendzeit noch kaum etwas bekannt war. Die keiner interessierte sich für diese Erlebnisse. Es Nachfrage zu diesem Lebensabschnitt brachte die galt, das tägliche Überleben durch Beschaffung von folgende, vom Patienten zunächst fast rein Nahrungsmitteln zu sichern. Bald darauf begannen berichtsmäßig geschilderte Geschichte zu Tage: die Berufsausbildung und seine erfolgreiche Tätig- Ausgangs des Zweiten Weltkrieges war der Patient keit als Autoverkäufer, die Gründung der eigenen als Jugendlicher zum sogenannten „letzten Aufge- Familie, Bau eines Eigenheimes etc. bot“ eingezogen worden. Er selber und seine Familie hatten glaubhaft wenig Identifikation mit Durch den Tod seines jetzigen Freundes wurde der nationalsozialistischen Ideologie besessen. Für plötzlich die eigene Endlichkeit und ein damit ihn als Jugendlichen sei es mehr ein „Räuber und verbundenes, noch undeutliches Gefühl von Bedro- Gendarm-Spiel“ gewesen, als sie aus einem Wald- hung bewusst. Der Beinahe-Unfall auf der Auto- stück heraus heranrückende amerikanische Panzer bahn hatte dieses Bedrohungserleben zeitnah beschossen hätten. Dabei sei ein Jeep in Brand erneut aktualisiert und in Identifikation mit dem geschossen worden. Daraufhin hätten die Panzer als Ersticken phantasierten Tod des Jugendfreundes Hospiz-Dialog NRW - Juli 2018/76 die Richtung geändert und seien in das Waldstück zu der Dyspnoe-Symptomatik geführt. hineingefahren, in dem die Jugendlichen in Schüt- zengräben lagen. Diese Gräben seien von den Ket- Die Behandlung wurde als trauma-fokalisierende tenfahrzeugen dann „eingeebnet“ worden, wobei ambulante Psychotherapie mit einer Frequenz von in einem der vorderen Schützengräben sein dama- einer Therapiesitzung pro Woche über ein halbes liger Schulfreund ums Leben kam. Der Patient Jahr durchgeführt. Im Laufe der Behandlung konn- äußerte unabhängig von der Realität, dass dieser ten alle „Asthma“-Medikamente in Kooperation mit
16 SCHWERPUNKT » Traumatische Erlebnisse sollten nicht bedingungslos aufgedeckt, aber in der Menschen mit einer traumatischen Erfahrung als therapeutischen oder pflegerischen Lebensthema, die „nie über diese Zeit sprechen“ Begleitung berücksichtigt werden. können oder sich immer wieder über diese Zeit z. B. „als Soldat in Russland“ mitteilen wollen. Manche dieser Mitteilsamen verkehren ihre Erfah- den Internisten abgesetzt werden und der Patient rungen ins Gegenteil, indem sie z. B. vor allem die begann, selber wieder Auto zu fahren und zu ar- Kameradschaft unter den Soldaten idealisierend beiten. betonen, verstehbar als inneres Gegengewicht zu den anbrandenden bedrohlichen Erinnerungen und Das „Miterleben“ berichteter traumatischer Erfah- Affekten. Dort, wo in der biographischen Anamnese rungen kann auch für Ärzte und Pflegekräfte belas- Alternder „Lücken“ bemerkt werden, könnten tend sein. So berichtete Ernst Federn, der in seiner bewusst oder unbewusst traumatische Erfahrun- Jugend Gefangener in einem Konzentrationslager gen zurückgehalten werden. Derartige „Lücken“ der Nationalsozialisten war, als Psychoanalytiker können z. B. bei einer heute 84-Jährigen (bei Krieg- im fortgeschrittenen Alter: „Was mich angeht, so sende 1945 also 10 Jahre alt!) Flucht aus den ehe- hätte ich sehr gerne von meinen Erlebnissen erzäh- maligen deutschen Ostgebieten im Winter len wollen, aber es waren die Analytiker, die aus- 1944/45, an der Hand einer vergewaltigten Mutter, nahmslos einem Gespräch über meine Lagererleb- in Verantwortung für jüngere Geschwister und nisse aus dem Wege gegangen sind [...]. Unter dem Erfahrungen von Tieffliegerbeschuss beinhalten. – Vorwand, meine Gefühle schonen zu wollen, ver- Im Umgang mit über 60-Jährigen besteht immer barg sich die Angst vor eigenen Konflikten, die auch die Notwendigkeit, zeitgeschichtlich zu durch die Berichte über die Schrecken des Lager- denken (Radebold, 2004; 2005), d. h. solche Erfah- lebens ausgelöst werden konnten“ (1986, S. 465f; rungen weder bei einem anamnestischen Gespräch zit. n. Ehlers-Balzer, 1996, S. 292). auszusparen noch ihre Offenbarung zu forcieren. Selbstverständlich sind die Behandler und Pflegen- den auch verpflichtet, den Patienten vor über- Univ.-Prof. Dr. med. Dr. theol. Gereon Heuft schwemmenden, die Ich-Funktionen potentiell Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie überfordernden traumatischen Erinnerungen und Universitätsklinikum Münster Affekten nach Möglichkeit zu schützen. Menschen Domagkstr. 22 in einer palliativen Situation haben oft nicht mehr 48149 Münster die Kraft und die Zeit, ihre traumatischen Erfahrun- Tel.: 02 51 - 8 35 29 01 gen so durchzuarbeiten, wie es das obige Fallbei- Fax: 02 51 - 8 35 29 03 spiel zeigt. Aber für alle Seiten kann es schon heuftge@ukmuenster.de hilfreich sein, wenn beispielsweise „gewusst“ wird, dass jemand aufgrund schwerwiegender Erfahrun- Literatur gen in manchen (Pflege-)Situationen emotional Ehlert-Balzer, M. (1996). Das Trauma als Objektbeziehung. Fo- „schwierig“ reagiert. Zu denken ist dabei etwa an rum der Psychoanalyse, 12, 21-324. Fooken, I., Heuft, G., (Hrsg.) (2014). Das späte Echo von Kriegs- eine 78-Jährige, die erst dann auf das Pflegeperso- kindheiten. Die Folgen des Zweiten Weltkrieges in Lebens- nal aggressiv reagierte, als sie voll gepflegt werden verläufen und Zeitgeschichte. Göttingen: Vandenhoeck & musste. Da bekannt war, dass sie ausgangs des Ruprecht. Zweiten Weltkrieges ein Vergewaltigungstrauma Franz, M., Hardt, J., Brähler, E. (2007). Vaterlos: Langzeitfolgen des Aufwachsens ohne Vater im zweiten Weltkrieg. Zeit- erlitten hatte und seither nie wieder jemanden „so schrift Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 53, nahe“ an sich herangelassen hatte, ermöglichte 216-227. dieses Wissen einen besonders reflektierten Pfle- Heuft, G. (1993). Psychoanalytische Gerontopsychosomatik – geablauf. So konnte die Patientin viel „stressfreier“ Zur Genese und differentiellen Therapieintegration akuter funktioneller Somatisierungen im Alter. Psychotherapie gewaschen werden. Hospiz-Dialog NRW - Juli 2018/76 Psychosomatik medizinische Psychologie, 43, 46–54. Heuft, G. (2018). Psychodynamische Gerontopsychosomatik. Neben der Pathogenese direkt „traumatisch“ wirk- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. samer Situationen können auch Belastungen im Radebold, H. (2004). Kindheit im II. Weltkrieg und ihre Folgen (2. Aufl.). psychosozial, Gießen. weiteren Sinne noch im Alter bedeutsam sein. So Radebold, H. (2005). Die langen Schatten unserer Vergangen- ist das Risiko einer Depression bei Älteren, die als heit. Zeitgeschichtlich denken in Beratung/Psychotherapie, Kinder im Zweiten Weltkrieg „Vater-los“ aufge- allgemeiner ärztlicher und psychiatrischer Versorgung. Pfle- wachsen sind, erhöht (Franz et al., 2007). – Es gibt ge und Seelsorge. Stuttgart: Klett-Cotta.
LEBENSWEGE UND ABSCHIEDSGESTALTUNG 17 AUS GANZEM HERZEN LEBEN ANDREA WEILGUNI W er schaut schon gerne auf das, was über ausreichend Courage und man im Leben selber versäumt, nicht den nötigen Glauben an sich. Mög- gewagt, letztlich nicht gelebt hat, licherweise hörte man zu sehr auf sind damit doch oft Gefühle etwa von andere und nicht auf sich selbst. Reue, Bedauern, auch Schuld und Scham verbun- Vielleicht hatten wir aber auch den. Dieses Ungelebte ist aber Teil unseres Lebens. schlichtweg einfach die zur Lösung Es kann sich gerade in Zeiten des Wandels und nötigen Ressourcen (noch) nicht Übergangs mit Vehemenz zu Wort melden. parat. Selbstvorwürfe, Schuldge- fühle, auch Verbitterung mögen In der Vorbereitung auf diesen Artikel spürte ich ein Resultat sein. zuallererst und bis zuletzt Widerstand, denn Unge- lebtes haben wir alle und es holt uns immer wieder Darauf zu blicken, braucht Mut, ein. Der Blick darauf kann zuweilen ganz schön denn es führt uns unsere eigene Andrea Weilguni mühsam sein, denn das Ungelebte will Beachtung. Fehlbarkeit, Begrenztheit vor Au- Und dann ganz unerwartet stürzte ich schwer und gen. Wir sehen, dass wir in man- fand mich mit einer betagten Dame gemeinsam in chem scheiterten, an unsere Grenzen kamen. Wir einer Rettung auf dem Weg ins Krankenhaus wie- enttäuschten vielleicht andere und wir enttäusch- der. Sie war voller Altersweis- ten uns vielleicht selber. Es heit, war fröhlich und gab mir rührt oft schmerzhaft an Kum- ganz bodenständiges Wissen » Wir alle tragen Ungeleb- mer, Stolz, Trauer, Kränkung, mit: „Ich habe mein Leben ge- tes in uns; nun kommt es Scham, Reue und Schuld. Wo- nossen und habe das ge- darauf an, wie wir damit zu hat man es im Leben ge- macht, was möglich war. Nur bracht? Was hat man erreicht? nicht nach etwas anderem umgehen. Stimmt die Bilanz, die man Ausschau halten, das macht zieht? Ein Resümé im Leben unglücklich. Zufrieden sein mit dem, was man hat, ziehen wir besonders dann, wenn sich Dinge im das ist wichtig“. Es schien fast so, dass sie mit ihren Leben wenden. Veränderung, Wandlung und Über- 94 Jahren nichts zu bedauern hat und dass sie auf gang, Abschiede werden davon gerne begleitet. ein erfülltes Leben blickt. Aha, dachte ich, das The- Und je näher unser eigener Tod rückt, desto dring- ma holt mich ein. licher wird diese Auseinandersetzung mit dem Ungelebten. Dabei gibt es eine Verknüpfung Grundsätzlich wird es jeder von uns kennen, dass zwischen dem Ungelebten und dem Tod. manchmal im Leben etwas offenbleibt und es muss sich dabei nicht immer gleich um etwas Großes Irvin D. Yalom schreibt in seinen Memoiren: „... je handeln. Ein unausgesprochener Dank. Eine Sym- größer das Gefühl von ungelebtem Leben, desto pathiebekundung, die man aus Scheu nicht mitteil- größer die Angst vor dem Tod.“ (Yalom, 2017, S. te. Jemandem sagen, wie sehr man ihn oder sie 382). Wer also Ungelebtes in sich trägt, und das liebt. Ein nicht geschlossener Friede. Ein unerfüllter tun wir schließlich alle, und sich damit aber nicht Wunsch. Eine verpasste Chance. Eine zurückbehal- auseinandersetzt, befeuert diese Angst und tut sich tene Bitte um Vergebung. Etwas, das man vorent- letztlich schwer, es gut sein zu lassen. Aber zuwei- halten hat. Oder blieb man sich selber gar etwas len beharren wir regelrecht darauf und lassen Un- Hospiz-Dialog NRW - Juli 2018/76 schuldig? Manches mag davon schwer wiegen. gelebtes nicht gehen (vgl. Bahr u. Kast, 1990, S.66f) Letztlich sind es vielleicht auch Dinge, die wir nicht und das kann es schwer machen. mehr erledigen können, weil es die Möglichkeit da- zu nicht mehr gibt. Wenn man sich mit Ungelebtem auseinandersetzt, wird sprachlich gerne der Konjunktiv herange- Die Gründe, warum manches im Leben offenbleibt zogen. Kennen Sie das? Hätte ich doch mehr auf sind vielfältig. Vielleicht verfügte man damals nicht meine innere Stimme gehört. Wäre ich doch damals
18 SCHWERPUNKT mutiger gewesen. Könnte ich das doch rückgängig Um sich selbst und dem Anderen verzeihen, sich machen. Es gibt vor allem darüber Auskunft, dass aussöhnen zu können, braucht es die Kompetenz man hadert, dass da noch etwas im Vergangenen des Ein- und Mitfühlens in sich und andere. Ebenso hält und offen ist. Dieses Grübeln oder Ruminieren braucht es die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Es er- ist mühsam und quälend. Es hält uns und schwächt möglicht eine Neubewertung. Empathie und Per- unserer Resilienz. Um eine konstruktive Ausein- spektivenwechsel stellen den Schlüssel dar und er- andersetzung zu vermeiden, wird dieser innere öffnen den Weg zur Aussöhnung. Konflikt gerne nach außen verschoben oder er kann wiederum, von Schuldgefühlen und Verbitterung Sich zu versöhnen und zu verzeihen, löst Belasten- begleitet, ver- des und Negatives auf und trennt uns von Missli- drängt zu einer de- chem. Es hilft, Gefühle wie Verbitterung, Enttäu- » Ein Leben lässt sich selten pressiven Grund- schung, den Wunsch nach Rache, empfundenen stimmung führen. Hass etc. loszulassen. Es hilft, mit Unveränderba- nach Plan leben, es tun Ruminieren hört rem, Unwiederbringlichem abschiedlich zu leben. sich aber immer wieder erst dann auf: „... neue Chancen auf. wenn Menschen Der Blick auf das Ganze birgt dabei etwas Tröstli- Hospiz-Dialog NRW - Juli 2018/76 sich von einem un- ches in sich. Das erreichte, gelungene, geglückte erreichbaren Ziel Leben stärkt. Es kann Traurigkeit, Wut, Reue etc. verabschiedet haben ...“ (Filipp u. Aymanns, 2010, über das Ungelebte etwas abmildern helfen, mag S. 161). Weiterschreiten und Dinge lassen, die man Verbitterung abwenden. In keinem Leben gelingt nicht leben konnte, die einem versagt blieben, ist alles. So manche Wünsche und Sehnsüchte müs- wichtig, weil es andernfalls Entwicklung behindert. sen vielleicht auch unerfüllt bleiben. „Mensch sein heißt, sich einzuüben in seiner Begrenztheit“ (Fun-
LEBENSWEGE UND ABSCHIEDSGESTALTUNG 19 ke, 2015) und der Umgang damit bedeutet wiede- diesem Lebensmoment zu erkennen vermögen. So rum persönliche Reifung. Aber auch das bedarf ei- erweitert sich der Blick vom ungelebten Leben auf ner Trauer. Dann wird Konjunktiv zur Vergangen- das noch zu lebende Leben. heit. Ich handelte so und nicht anders und damals mit den Möglichkeiten, die mir zu Verfügung stan- Dazu müssen wir Milde, Güte, Dankbarkeit und den. Das klingt doch anders als: „Hätte ich doch auch Vertrauen entwickeln. Sie helfen uns zu ver- ...“. Dieser Abschied befreit, bringt Entlastung und zeihen und zu vergeben. Letztlich geht es darum, eine Neuausrichtung kann beginnen. Und die eige- sich mit sich und dem eigenen Leben, so wie es ne Endlichkeit hilft uns dabei zu spüren, was wich- war, auszusöhnen, um es aktiv zu gestalten, damit tig ist und wonach es uns sehnt. wir unserer Vorstellung von einem erfüllten Leben möglichst nahekommen, um das heraus zu leben, Diese Lebensbilanz wartet auf uns alle und jeder um das zu werden, was wir in uns tragen. hat dabei seinen eigenen Weg. So wie wir uns von Ungelebtem nicht nur verabschieden müssen, son- dern auch dürfen, können wir diese Erfahrungen Andrea Weilguni weitergeben und natürlich auch jene des gelunge- Klin.-, Gesundheits-, Arbeits-, Notfallpsychologin, nen Lebens – das gibt Hoffnung. Zumal mit dem Diplompsychogerontologin Vergeben und Verzeihen das eigene Wohlbefinden anwemago@gmx.at steigt und die Hoffnung, die daraus erwächst, ein wesentlicher Sinnstifter im Hier und Jetzt ist. Hoff- Literatur nung entsteht auch dann, wenn wir das wahrneh- Bahr, H.-E., Kast, V. (1990). Lieben – Loslassen und sich ver- men und annehmen, was ist, was war, und offen binden. Kreuz Verlag, Stuttgart. Filipp, S.-H., Aymanns, P. (2010). Kritische Lebensereignisse sind für das, was sein wird. uns Lebenskrisen. Vom Umgang mit den Schattenseiten des Lebens. Kohlhammer, Stuttgart. Tröstlich mag auch sein, dass sich ein Leben selten Funke, G. (2015). „Lass mal gut sein“ befreit vom ständigen Er- ganz nach Plan leben lässt und dass sich aber im- folgsdruck; Salzburger Nachrichten vom 12.05.2015, https://www.pressreader.com/austria/salzburger-nach- mer wieder neue Chancen und Optionen auftun, richten/20150512/282071980473918. für die es gilt, offen zu sein, für die es gilt, sich wie- Yalom, Irvin D. (2017). Wie man wird, was man ist. Memoiren der mutig aufzumachen. Und vermutlich gibt es so- eines Psychotherapeuten. Verlagsgruppe Random House gar mehr Chancen und Optionen, als die, die wir in GmbH, München. DER CLUB DER SÄRGE BARBARA BARKHAUSEN J edes Land hat seine eigene Bestattungskultur und seine eigene Art, mit dem Thema Tod um- zugehen. In der westlichen Welt kann eine Be- erdigung leicht in die Tausende Euro gehen. Eine Gruppe älterer Leute in Neuseeland bietet dem thronen eine Etage tiefer, Weinflaschen zieren das oberste Regalbrett. Ma- kaber? Nein, sagt Katie Williams, die 2010 den „Geschäft mit dem Tod“ die Stirn. In sogenannten ersten „Club der Särge“ „Coffin Clubs“ bauen und dekorieren die Senioren in Neuseeland gegründet ihre Särge selbst. Viele ältere Leute finden dabei hat. Für sie gehört der Hospiz-Dialog NRW - Juli 2018/76 nicht nur Anschluss, sondern setzen sich auch zum Tod zum Leben dazu. Und ersten Mal auf positive Weise mit dem Ende ihres irgendwo müssen die Lebens auseinander. älteren Leute ja ihre Särge aufheben, sagt sie. „Man- Zwei Särge lehnen senkrecht an der Wand des che nutzen sie eben als Barbara Barkhausen Wohnzimmers. Sie stützen ein Regal – in der Mitte Buchregale, andere als steht eine große Musikanlage, die Lautsprecher Kaffeetische und manche sogar als eine Art Sofa.“
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