IM ZEITGESPRÄCH: HEINZ-PETER MEIDINGER

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IM ZEITGESPRÄCH: HEINZ-PETER MEIDINGER
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                                 Quelle Autorenbild: Deutscher-Lehrerverband

                                                                               /// IM ZEITGESPRÄCH:
                                                                               HEINZ-PETER MEIDINGER
                                                                               ist Präsident des Deutschen
                                                                               Lehrerverbandes, Berlin.

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IM ZEITGESPRÄCH: HEINZ-PETER MEIDINGER
/// Was das Bildungssystem jetzt braucht

MACHT EURE HAUSAUFGABEN …
Die Corona-Pandemie traf die deutsche, ja die weltweite Bildungslandschaft
unvorbereitet. Selbständiges Lernen und Unterricht über Online-Plattformen
wurden von heute auf morgen Realität. Die zarten Pflänzchen der Digitalisierung
an deutschen Schulen mussten in Rekordzeit zu tragenden Säulen werden. Bis
heute klappt nicht alles reibungslos, wie Heinz-Peter Meidinger, Präsident des
Deutschen Lehrerverbandes, im Interview mit den Politischen Studien erklärt.
Gleichzeitig plädiert er dafür, Schüler, Lehrer und Bildungspolitiker durch
politisch motivierten Reformaktionismus nicht zu überfordern. Ein Gespräch
über Schulen in Zeiten der Corona-Pandemie, den Wert von Bildung und
die Rolle von Lehrkräften.
                                                        498/2021 // POLITISCHE STUDIEN   7
IM ZEITGESPRÄCH: HEINZ-PETER MEIDINGER
POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH

         Politische Studien: Herr Meidinger, es         der herauskommt. Dann hat man viel
         heißt immer wieder, durch die Corona-          zu spät die Impfpriorisierung von
         Krise träten Brennpunkte im Bildungsbe-        Lehrkräften und die Testpflicht ver-
         reich deutlicher und schneller zu Tage als     anlasst und jetzt warten wir darauf,
         zuvor. Was sind Ihre Rezepte, damit nicht      dass Bund und Länder die Organisa-
         von verlorenen Schuljahren die Rede sein       tion und Ausgestaltung eines großen
         kann?                                          Nachholförderprogramms auf den
                                                        Weg bringen, um die entstandenen
            Heinz-Peter Meidinger: Ja, in der Tat       Lerndefizite im nächsten Schuljahr
            hat die Pandemie im Bildungsbereich         wieder zu beheben. Aber obwohl wir
            viele Schwachstellen gnadenlos offen-       natürlich sehen, dass auch in diesem
            gelegt. Das fängt bei der endlos ver-       Schuljahr vielfach Präsenz- durch
            schleppten Digitalisierung der Schu-        Fernunterricht ersetzt werden musste,
            len an, geht weiter beim massiven           würde ich nicht pauschal von einem
            Lehrermangel, der uns jetzt ange-           verlorenen Schuljahr sprechen. Ein
            sichts der zusätzlichen Aufgaben dop-       großer Teil der Kinder und Jugendli-
            pelt schwer auf die Füße fällt, und         chen wird die Defizite aufholen kön-
            betrifft schließlich auch das subopti-      nen, wenn im nächsten Schuljahr
            male Krisenmanagement in und zwi-           eine entsprechende Zusatzförderung
            schen den Bundesländern. Vor allem          angeboten wird.
            die Kultusministerkonferenz hat es
            anfangs nicht und später auch nur an-
            satzweise geschafft, gemeinsame Ant-      Bringt eine solche Krise wie die Corona-
            worten auf die großen Herausforde-        Pandemie nicht auch ganz neue Aspekte
            rungen durch Covid-19 zu finden, wie      in einer ganzheitlich verstandenen Bil-
            etwa einen verbindlichen Hygienestu-      dung des Menschen mit sich? Selbständi-
            fenplan für Schulen. Da musste erst       ges Arbeiten und Flexibilität werden allen
            der Bund das Infektionsschutzgesetz       abverlangt, vom Schuldirektor bis zum
            ändern, bevor das möglich wurde.          Grundschüler.
               Im Grund genommen ist man der
            dynamischen Infektionslage immer            Normalerweise simuliert Unterricht
            hinterhergehinkt. Erst hatte man kei-       die Probleme und Herausforderun-

                „
            nen Plan, wie man aus dem ersten            gen der Welt. Durch die Pandemie
            Lockdown an unseren Schulen wie-            hat jetzt aber die harte Lebenswirk-

                               Die Pandemie hat im Bildungsbereich viele
                               SCHWACHSTELLEN gnadenlos offengelegt.

8   POLITISCHE STUDIEN // 498/2021
„          Die BISHERIGEN Routinen haben nicht mehr funktioniert.

lichkeit, diese unvorhersehbare Na-      Sie kritisieren in Ihrem neuen Buch „Die
turgewalt eines Virus, direkt auf die    10 Todsünden der Schulpolitik“ unter
Schulen, auf jeden Einzelnen von uns     anderem „eine enorme moralische, idea-
durchgeschlagen. Wir alle, auch die      listische und visionäre Aufladung von
Kinder und Jugendlichen, haben ge-       Bildungsthemen“. Allerorten ist nun zu
merkt, dass es zur Bewältigung einer     lesen, die Corona-Krise solle der Anlass
solchen Pandemie keine fertigen          dafür sein, die Bildungssysteme grund-
Antworten, keine Patentrezepte gibt.     sätzlich zu reformieren. Wie lautet Ihre
Es war nicht nur Flexibilität gefragt,   Einschätzung dazu?
sondern auch ein verstärkter Zusam-
menhalt. Alle waren gefordert, nicht       Ich kritisiere in der besagten Streit-
nur an sich selbst, sondern auch an        schrift ja nicht nur die massive, oft
das Wohl der Gemeinschaft, die Ge-         auch parteipolitische Aufladung von
sundheit und das Infektionsrisiko          Schulpolitik, sondern auch den Re-
des Anderen zu denken.                     formaktionismus, der häufig in den
   Die bisherigen Routinen haben           vergangenen Jahrzehnten dort zu be-
nicht mehr funktioniert. Lehrkräfte        obachten war. Ich glaube, wir brau-
mussten ihren Unterricht radikal           chen nicht noch mehr Reformen, die
umorganisieren und neue Kommuni-           meist nur Unruhe und keine Pro­
kationswege erproben, den Schülern         blemlösungen bringen, sondern die
wiederum wurde bewusst, dass sie           Schulpolitik muss endlich ihre Haus-
in dieser Situation mehr Selbstver-        aufgaben machen. Dazu zählt vor-
antwortung für den eigenen Lern-           rangig wieder eine klare Orientierung
prozess übernehmen müssen. Gera-           am Kernauftrag von Schule und das
de die Abschlussjahrgänge merkten,         ist und bleibt guter Unterricht. Na-
dass sie sich nicht mehr darauf ver-       türlich gibt es auch Schwachstellen,
lassen konnten, quasi an der Hand          die zu beseitigen sind, wie die ver-
durch die Prüfungen geführt zu wer-        schleppte Digitalisierung, die fehlen-
den. Gut war es, wenn einen die El-        de Vergleichbarkeit der Schulab-
tern unterstützen konnten. Ja, so ko-      schlüsse zwischen den Bundeslän-
misch es klingt, die Pandemie hat zu       dern und auch das schlechte Krisen-
mehr Ernsthaftigkeit, mehr Reali-          management in der Kultusminister-
tätsbezug im Schulbetrieb und im           konferenz. Der Deutsche Lehrerver-
gesamten Bildungsprozess geführt.          band fordert seit Langem einen Bil-
                                                            498/2021 // POLITISCHE STUDIEN   9
POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH

             dungsstaatsvertrag, in dem sich die        Haltung, die geprägt ist von Offen-
             Bundesländer auf eine gemeinsame           heit, ständiger Fortbildungsbereit-
             Wettbewerbsgrundlage einigen und           schaft, Flexibilität und einer ganz ho-
             beispielsweise die Abiturprüfungen         hen Verantwortungsethik gegenüber
             besser normieren.                          den anvertrauten Kindern und Ju-
                                                        gendlichen. Allerdings darf man die
                                                        Einsatzbereitschaft und Leistungsfä-
          Die Corona-Krise hat gezeigt, dass auch       higkeit von Lehrkräften auch nicht
          Lehrer schnell auf Veränderungen reagie-      über die Belastungsgrenzen hinaus
          ren müssen. Sind die Lehramtsanwärter         ausreizen. Diese Grenzen sind in der
          von heute gut auf den Schulalltag vorbe-      Pandemie auch überschritten worden.
          reitet?

             Die Reform der Lehrerbildung ist eine   Was halten Sie von dem Vorschlag, dass
             Daueraufgabe. Allerdings warne ich      Lehrer künftig mehr als „Bildungscoa-
             vor dem Glauben, mit immer neuen        ches“ fungieren sollen?
             Modulen in der Lehrerausbildung zu
             Inklusion, Demokratieerziehung, di-        Diese Vorstellung vom Lehrer als
             gitalen Unterrichtsmedien und inter-       Lernbegleiter oder als Bildungscoach
             kultureller Kompetenz die Lehrerbil-       suggeriert, dass Kinder und Jugend-
             dung qualitativ deutlich verbessern        liche sich am besten und schnellsten
             zu können. Ginge man rein nach den         Unterrichtsinhalte selbst aneignen.
             digitalen Lerninhalten in der Lehrer-      Lehrkräfte sollten sich demzufolge
             ausbildung, müsste man 80 % der            auf eine moderierende und beraten-
             Lehrer diese Kompetenz absprechen.         de Funktion zurückziehen. Dies ist
             Gerade deswegen gehört zu einer gu-        ein grobes Missverständnis der
             ten Lehrerausbildung, dass man dort        Lehrerrolle und widerspricht übri-
             möglichst viel Rüstzeug im fachli-         gens auch den zentralen Ergebnissen
             chen, fachdidaktischen, pädagogi-          der empirischen Unterrichtsfor-
             schen und methodischen Kompetenz-          schung, wie sie etwa John Hattie in
             bereich mitbekommt. Ganz wichtig           seinen Metastudien zusammenge-

                 „
             ist aber vor allem die Haltung, die        fasst hat. Man kann die zentrale Rol-
             Lehrkräfte zeigen, nämlich eine            le der Lehrkraft als Motivator, als

                                Man darf die Einsatzbereitschaft und
                                Leistungsfähigkeit von Lehrkräften nicht über
                                die BELASTUNGSGRENZEN hinaus ausreizen.

10   POLITISCHE STUDIEN // 498/2021
„          BILDUNG macht sich nicht isoliert an Latein- oder
           Programmierkenntnissen fest.

zentrales Medium des Bildungspro-           keit oder kurz gesagt: kritische Ur-
zesses gar nicht überschätzen. „Great       teilskraft. Wer gelernt hat, Texte und
teachers“, erfolgreiche Lehrkräfte,         Gedichte zu analysieren, der kann
das sind in den Augen Hatties Perso-        auch später, wenn es nötig ist, das
nen, die Kinder und Jugendliche für         Kleingedruckte in Versicherungsver-
ihre Unterrichtsgegenstände begeis-         trägen verstehen und die richtigen
tern können, eine enge Feedbackkul-         Schlüsse daraus ziehen.
tur praktizieren und letztendlich
Lernprozesse klar strukturieren und
organisieren. Wenn die Lernenden          Es stellt sich offenbar generell die Frage
selber über ihr Lernpensum ent-           danach, was Bildung heute bedeutet. Ist
scheiden, dann würde nicht nur die        man ungebildet, wenn man Ovid nicht auf
Leistungsschere noch weiter aufge-        Latein wiedergeben, aber in Java Compu-
hen und sich die Bildungsungerech-        terprogramme erstellen kann?
tigkeit verschärfen, sondern wir
würden auch das gemeinsame Bil-             Bildung macht sich nicht isoliert an
dungsfundament und damit noch               Latein- oder Programmierkenntnis-
mehr an Zusammenhalt in unserer             sen fest. Über eine gute Bildung zu
Gesellschaft verlieren.                     verfügen, heißt, dass ich eine breite,
   Vor einigen Jahren hat ja eine Abi-      intelligent vernetzte Wissensbasis
turientin in einem sozialen Netzwerk        habe, die es mir ermöglicht, auch un-
darüber geklagt, dass sie zwar Ge-          bekannte Phänomene und Wissens-
dichte in mehreren Sprachen analy-          gebiete zu erschließen und einzuord-
sieren könne, aber keine Ahnung von         nen. Es geht um die grundlegende
Mietverträgen habe. Da offenbart            Fähigkeit, sich in dieser Welt zu ori-
sich ein grundlegendes Missver-             entieren und einen eigenen Lebens-
ständnis von schulischer Allgemein-         entwurf zu verfolgen. Das geht nicht
bildung. Das Miet- und Versiche-            ohne eine Basis an Grundwissen be-
rungsrecht ändert sich ständig, ganz        ziehungsweise einen fachspezifischen
abgesehen davon, ob man dann das            Wissenskanon. In der heutigen Welt
Gelernte später parat hat, wenn man         gehört zu dieser für ein Weltver-
es braucht. Was man aber in der             ständnis notwendigen Grund- und
Schule gelernt haben sollte, ist Lese-,     Allgemeinbildung mit Sicherheit
Analyse- und Interpretationsfähig-          auch der Einblick in ökonomische
                                                              498/2021 // POLITISCHE STUDIEN   11
POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH

             Gesetzmäßigkeiten, aber auch eine          könnte, wenn man sich das exponen-
             Vorstellung davon, wie etwa Algo-          zielle Wachstum der 1,0-Abiture in
             rithmen funktionieren. Und selbst-         einigen Bundesländern anschaut.
             verständlich ist auch musische Bil-        Allein in Berlin ist die Anzahl inner-
             dung wichtig für uns als Menschen,         halb eines Zehnjahreszeitraums um
             um unsere Ausdrucks-, Teilhabe-            das Vierzehnfache gestiegen.
             und Gestaltungsmöglichkeiten in               Wir beobachten eindeutig eine
             dieser Welt wahrnehmen zu können.          Noteninflation. Davon spricht man,
                                                        wenn man für die gleiche Leistung in
                                                        einem späteren Zeitraum bessere
          Es gibt immer mehr junge Leute mit allge-     Noten erhält. Also wenn tatsächlich
          meiner Hochschulreife, immer mehr Stu-        die echten Bestleistungen so stark
          dierende. Sind Menschen heute einfach         gestiegen wären, wie die immer bes-
          klüger als früher oder wurde das Niveau       seren Noten suggerieren, dann müss-
          der Abschlüsse abgesenkt?                     ten wir bei PISA bei den Schüler­
                                                        leistungen in den höchsten Kompe-
             Immer weiter steigende Abiturienten-       tenzstufen eine ähnliche Steigerung
             quoten sind nicht unbedingt gleich-        haben. Da sind aber in den letzten
             bedeutend mit einem immer höheren          20 Jahren die Quoten stagniert be-
             Bildungsniveau. In Deutschland ist         ziehungsweise sind sie in einigen
             die Quote der Hochschulzugangs­            Teilbereichen sogar zurückgegangen.
             berechtigten innerhalb von 20 Jahren
             von etwas über 30 auf 50 % gestiegen.
             Es gibt sehr viele Anzeichen dafür,      Vor allem im linken politischen Spektrum
             dass Studienberechtigung und Studi-      ist man der Ansicht, dass ein „Abitur für
             enbefähigung angesichts dieser enor-     alle“, euphemistisch als „Demokratisie-
             men Expansion stärker denn je aus­       rung der Bildung“ tituliert, mehr Bildungs-
             einanderfallen, etwa wenn man die        gerechtigkeit in der Gesellschaft mit sich
             gleichzeitig gestiegenen Studien­        brächte. Sind alle Probleme im Bildungsbe-
             abbruchs- und Studienwechslerquo-        reich gelöst, wenn jeder Abitur machen
             ten berücksichtigt. Mit einem „muta-     kann?
             tionsbedingten Intelligenzsprung“
             hat die starke Zunahme von Studien-        Das ist der große, leider weitverbrei-

                 „
             berechtigten wohl nichts zu tun, auch      tete Irrtum sozialistischer Bildungs-
             wenn man auf diese Idee kommen             ideologie, dass eine inflationäre Ver-

                                Wir beobachten eindeutig eine NOTENINFLATION.

12   POLITISCHE STUDIEN // 498/2021
„           Sozialer Aufstieg gelingt am besten durch LEISTUNG.

teilung von bisher als hochwertig an-        sucht hat beziehungsweise welche Zu-
gesehenen Bildungszertifikaten zu            satzqualifikationen, etwa Auslands-
mehr Bildungsgerechtigkeit führen            praktika, man absolviert hat. Wer, wie
wird. Insbesondere dann, wenn da-            ich, ein absoluter Befürworter von so-
bei eine Entkoppelung von Leistung           zialem Aufstieg durch Bildung ist,
und Bewertung erfolgt, ist genau das         kann an einer Zertifikats- und Noten-
Gegenteil der Fall. Der einflussreiche       inflation kein Interesse haben. Sozia-
französische Soziologe und Sozial-           ler Aufstieg gelingt am besten durch
philosoph Pierre Bourdieu hat dies           Leistung. Natürlich müssen wir mehr
übrigens genau beschrieben, wie eine         für bessere Chancengerechtigkeit un-
Inflation von Bildungszertifikaten zu        ternehmen und die Startchancen be-
ihrer Entwertung führt und keinen            nachteiligter Kinder verbessern. Da
Beitrag zu einer gerechteren Gesell-         gibt es immer noch großen Hand-
schaft liefern kann. Wenn jeder Abi-         lungsbedarf. Ich bin der Auffassung,
tur hat, hat niemand Abitur. Das be-         dass wir bei der Frühförderung von
deutet, dass sich dann außerhalb des         Kindern viel zu wenig tun. Da muss
Bereichs der Bildungszertifikate Me-         man ansetzen, nicht bei der leis-
chanismen etablieren werden, die bei         tungsunabhängigen Verschleuderung
der Vergabe von begehrten Studien-           von Bildungszertifikaten.
plätzen oder auch beruflichen Positi-
onen eine entscheidende Rolle spie-
len. Das Abitur ist dann nur mehr          Gerade auch die aktuelle Pandemie hat
eine notwendige, aber keine hinrei-        gezeigt, dass Handwerk tatsächlich den
chende Bedingung für den weiteren          sprichwörtlichen goldenen Boden hat.
Lebens- und Berufsweg.                     Warum fokussieren sich Politik – über
   Es ist kein Zufall, dass in Ländern,    Parteigrenzen hinweg – und Gesellschaft
die bei der Zielvorstellung „Abi für       dennoch derart auf eine gesamtgesell-
alle“ schon weiter fortgeschritten sind,   schaftliche Akademisierung?
teurere Privatschulen oder harte
Hochschulzugangsprüfungen           eine     Das ist eine gute Frage, warum die Po-
weit größere Rolle spielen als bei uns.      litik so stark auf die Ausweitung der
Bei Bewerbungen schaut da kaum               Abiturientenquoten gesetzt hat. Bei
mehr jemand auf das schulische Ab-           linken Parteien beruhte das wohl auf
schlusszeugnis, sondern eher darauf,         dem Missverständnis, dass das zu
welche renommierte Schule man be-            mehr Bildungsgerechtigkeit führen
                                                             498/2021 // POLITISCHE STUDIEN   13
POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH

             würde. Bei den Unionsparteien und           heit die gute Passung mit dem Be-
             der FDP hat seinerzeit wohl der             schäftigungssystem. Die ganze Welt
             Alarmruf der OECD in Folge des              hat uns beneidet um unsere geringe
             PISA-Schocks durchgeschlagen, ohne          Jugendarbeitslosigkeit. Diesen Vorteil
             höhere Akademikerquoten würde               drohen wir gerade zu verspielen. Un-
             Deutschland im internationalen              ser künftiges Hauptproblem wird
             Wettbewerb der Volkswirtschaften            nicht der Akademikermangel sein,
             abgehängt werden. Da gerieten dann          sondern der Facharbeitermangel und
             auch innerhalb Deutschlands die             der Mangel an Bewerbern für Ausbil-
             Bundesländer unter Druck, die wie           dungsstellen. Gleichzeitig müssen
             Bayern noch eine ausgeglichene Ver-         auch bei uns viele Hochschulabsol-
             teilung der Schüler auf die verschiede-     venten auf Beschäftigungsbereiche
             nen Schularten und Abschlüsse hat-          ausweichen, für die sie gar kein Studi-
             ten. Inzwischen sehen wir aber die          um gebraucht hätten. Ein Drittel der
             großen Schwächen der Humankapi-             von der Uni kommenden Jungarchi-
             taltheorie, auf der ja diese Forderun-      tekten nimmt derzeit Stellen an, für
             gen nach immer mehr Hochschulab-            die auch eine Ausbildung als Bau-
             solventen beruhen. Wenn es nach der         zeichner gereicht hätte.
             Höhe der Abiturquoten ginge, müss-
             ten Länder wie Spanien und Italien
             wirtschaftlich weit vor Deutschland       Der privatwirtschaftliche Bildungsbe-
             stehen, tun sie aber nicht. Und auch      reich in Deutschland wächst stetig. Rund
             in den USA hat die Akademisierung         9 % aller Schüler in Deutschland besu-
             längst einen kritischen Wert über-        chen eine der knapp 6.000 Privatschulen,
             schritten. Von den 70 % eines Jahr-       das sind etwa doppelt so viele wie vor gut
             gangs, die ein Studium am College         20 Jahren. Gibt es eine Vertrauenskrise
             beginnen, hat im Alter von 25 Jahren      gegenüber den öffentlichen Schulen?
             nur etwa die Hälfte tatsächlich einen
             Abschluss erreicht. Und von diesen          Insgesamt sehe ich keine Abstim-
             Absolventen sind wiederum fast 50 %         mung mit den Füßen weg vom öffent-
             arbeitslos oder arbeiten in Jobs, für       lichen Schulwesen hin zu Privatschu-
             die sie formal überqualifiziert sind.       len in Deutschland. Es gab zwar ei-

                 „
                 Die große Stärke des deutschen Bil-     nen gewissen Nachholbedarf bei der
             dungssystems war in der Vergangen-          Gründung von Privatschulen in den

                                Ich sehe Privatschulen als ein ZUSÄTZLICHES Angebot
                                und damit eine Bereicherung der Schullandschaft.

14   POLITISCHE STUDIEN // 498/2021
neuen Bundesländern seit 1990, aber        •	Die Erfahrung, wie unvorbereitet
  größere Verschiebungen sind ausge-            insbesondere die Bildungspolitik
  blieben. Man darf das Privatschul­            und auch die Schulverwaltung von
  wesen bei uns auch nicht mit den oft          dieser Herausforderung getroffen
  doch sehr exklusiven und auch kos-            wurde und wie schwer sich bis
  tenintensiven Privatschulen in ande-          heute die Politik damit tut, ein an-
  ren Ländern wie etwa den USA oder             gemessenes Krisenmanagement zu
  Großbritannien vergleichen. Privat-           praktizieren.
  schulen in Deutschland sind sehr he-       •	Die Erkenntnis, welch große Flexi-
  terogen, da gibt es kirchliche, kom-          bilität, starke Innovationskraft
  merzielle, reformpädagogische und             und wieviel Engagement in einer
  elitäre Einrichtungen. Diese Hetero-          Schule und einem Lehrerkollegium
  genität zeigt sich übrigens auch bei          stecken worauf man in einer Krise
  den Schülerleistungen, die je nach            zurückgreifen kann.
  Privatschule deutlich unter, aber          •	Niemals ist aber auch klarer ge-
  auch deutlich über dem Landes-                worden, was Kindern, Eltern und
  schnitt liegen können. Insgesamt              Lehrkräften fehlt, wenn Schule als
  sehe ich Privatschulen als ein zusätz-        Präsenzveranstaltung nicht mög-
  liches Angebot und damit eine Berei-          lich ist, und das ist viel mehr als die
  cherung der Schullandschaft. Man              Klage über zusätzliche Lerndefizite.
  muss die Entwicklung aber im Auge             Noch nie habe ich als Schulleiter in
  behalten. Eine größere Vertrau-               so viele glückliche Gesichter ge-
  enskrise könnte dann entstehen,               blickt, als damals, nach dem ersten
  wenn sich die chronische Unterfinan-          Lockdown, Kinder und Lehrkräfte
  zierung der staatlichen Schulen in            wieder in die Klassenzimmer zu-
  Zukunft noch weiter verschärfen               rückgekehrt sind.
  würde.

                                           Die Fragen stellte Thomas M. Klotz,
Was sind Ihre persönlichen Erfahrungen     Leiter des Referats „Bildung, Hochschu-
und Lehren, die Sie aus dieser Pandemie    len, Kultur“ der Akademie für Politik und
mitnehmen?                                 Zeitgeschehen, Hanns-Seidel-Stiftung,
                                           München. ///
  Ich habe den ersten Lockdown im
  März 2020 noch als amtierender
  Schulleiter an einem niederbayeri-
  schen Gymnasium hautnah miter-
  lebt und bin dort zusammen mit der
  gesamten Schulfamilie mit den enor-
  men Herausforderungen dieser Pan-
  demie konfrontiert worden. Es sind
  mehrere Erfahrungen, die ich per-
  sönlich aus dieser Pandemie im
  Hinblick auf den Schulbereich mit-
  nehmen werde:
                                                               498/2021 // POLITISCHE STUDIEN   15
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