IM ZEITGESPRÄCH: HEINZ-PETER MEIDINGER
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Quelle: iStock.com/Bet_Noire Quelle Autorenbild: Deutscher-Lehrerverband /// IM ZEITGESPRÄCH: HEINZ-PETER MEIDINGER ist Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Berlin. 6 POLITISCHE STUDIEN // 498/2021
/// Was das Bildungssystem jetzt braucht MACHT EURE HAUSAUFGABEN … Die Corona-Pandemie traf die deutsche, ja die weltweite Bildungslandschaft unvorbereitet. Selbständiges Lernen und Unterricht über Online-Plattformen wurden von heute auf morgen Realität. Die zarten Pflänzchen der Digitalisierung an deutschen Schulen mussten in Rekordzeit zu tragenden Säulen werden. Bis heute klappt nicht alles reibungslos, wie Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, im Interview mit den Politischen Studien erklärt. Gleichzeitig plädiert er dafür, Schüler, Lehrer und Bildungspolitiker durch politisch motivierten Reformaktionismus nicht zu überfordern. Ein Gespräch über Schulen in Zeiten der Corona-Pandemie, den Wert von Bildung und die Rolle von Lehrkräften. 498/2021 // POLITISCHE STUDIEN 7
POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH Politische Studien: Herr Meidinger, es der herauskommt. Dann hat man viel heißt immer wieder, durch die Corona- zu spät die Impfpriorisierung von Krise träten Brennpunkte im Bildungsbe- Lehrkräften und die Testpflicht ver- reich deutlicher und schneller zu Tage als anlasst und jetzt warten wir darauf, zuvor. Was sind Ihre Rezepte, damit nicht dass Bund und Länder die Organisa- von verlorenen Schuljahren die Rede sein tion und Ausgestaltung eines großen kann? Nachholförderprogramms auf den Weg bringen, um die entstandenen Heinz-Peter Meidinger: Ja, in der Tat Lerndefizite im nächsten Schuljahr hat die Pandemie im Bildungsbereich wieder zu beheben. Aber obwohl wir viele Schwachstellen gnadenlos offen- natürlich sehen, dass auch in diesem gelegt. Das fängt bei der endlos ver- Schuljahr vielfach Präsenz- durch schleppten Digitalisierung der Schu- Fernunterricht ersetzt werden musste, len an, geht weiter beim massiven würde ich nicht pauschal von einem Lehrermangel, der uns jetzt ange- verlorenen Schuljahr sprechen. Ein sichts der zusätzlichen Aufgaben dop- großer Teil der Kinder und Jugendli- pelt schwer auf die Füße fällt, und chen wird die Defizite aufholen kön- betrifft schließlich auch das subopti- nen, wenn im nächsten Schuljahr male Krisenmanagement in und zwi- eine entsprechende Zusatzförderung schen den Bundesländern. Vor allem angeboten wird. die Kultusministerkonferenz hat es anfangs nicht und später auch nur an- satzweise geschafft, gemeinsame Ant- Bringt eine solche Krise wie die Corona- worten auf die großen Herausforde- Pandemie nicht auch ganz neue Aspekte rungen durch Covid-19 zu finden, wie in einer ganzheitlich verstandenen Bil- etwa einen verbindlichen Hygienestu- dung des Menschen mit sich? Selbständi- fenplan für Schulen. Da musste erst ges Arbeiten und Flexibilität werden allen der Bund das Infektionsschutzgesetz abverlangt, vom Schuldirektor bis zum ändern, bevor das möglich wurde. Grundschüler. Im Grund genommen ist man der dynamischen Infektionslage immer Normalerweise simuliert Unterricht hinterhergehinkt. Erst hatte man kei- die Probleme und Herausforderun- „ nen Plan, wie man aus dem ersten gen der Welt. Durch die Pandemie Lockdown an unseren Schulen wie- hat jetzt aber die harte Lebenswirk- Die Pandemie hat im Bildungsbereich viele SCHWACHSTELLEN gnadenlos offengelegt. 8 POLITISCHE STUDIEN // 498/2021
„ Die BISHERIGEN Routinen haben nicht mehr funktioniert. lichkeit, diese unvorhersehbare Na- Sie kritisieren in Ihrem neuen Buch „Die turgewalt eines Virus, direkt auf die 10 Todsünden der Schulpolitik“ unter Schulen, auf jeden Einzelnen von uns anderem „eine enorme moralische, idea- durchgeschlagen. Wir alle, auch die listische und visionäre Aufladung von Kinder und Jugendlichen, haben ge- Bildungsthemen“. Allerorten ist nun zu merkt, dass es zur Bewältigung einer lesen, die Corona-Krise solle der Anlass solchen Pandemie keine fertigen dafür sein, die Bildungssysteme grund- Antworten, keine Patentrezepte gibt. sätzlich zu reformieren. Wie lautet Ihre Es war nicht nur Flexibilität gefragt, Einschätzung dazu? sondern auch ein verstärkter Zusam- menhalt. Alle waren gefordert, nicht Ich kritisiere in der besagten Streit- nur an sich selbst, sondern auch an schrift ja nicht nur die massive, oft das Wohl der Gemeinschaft, die Ge- auch parteipolitische Aufladung von sundheit und das Infektionsrisiko Schulpolitik, sondern auch den Re- des Anderen zu denken. formaktionismus, der häufig in den Die bisherigen Routinen haben vergangenen Jahrzehnten dort zu be- nicht mehr funktioniert. Lehrkräfte obachten war. Ich glaube, wir brau- mussten ihren Unterricht radikal chen nicht noch mehr Reformen, die umorganisieren und neue Kommuni- meist nur Unruhe und keine Pro kationswege erproben, den Schülern blemlösungen bringen, sondern die wiederum wurde bewusst, dass sie Schulpolitik muss endlich ihre Haus- in dieser Situation mehr Selbstver- aufgaben machen. Dazu zählt vor- antwortung für den eigenen Lern- rangig wieder eine klare Orientierung prozess übernehmen müssen. Gera- am Kernauftrag von Schule und das de die Abschlussjahrgänge merkten, ist und bleibt guter Unterricht. Na- dass sie sich nicht mehr darauf ver- türlich gibt es auch Schwachstellen, lassen konnten, quasi an der Hand die zu beseitigen sind, wie die ver- durch die Prüfungen geführt zu wer- schleppte Digitalisierung, die fehlen- den. Gut war es, wenn einen die El- de Vergleichbarkeit der Schulab- tern unterstützen konnten. Ja, so ko- schlüsse zwischen den Bundeslän- misch es klingt, die Pandemie hat zu dern und auch das schlechte Krisen- mehr Ernsthaftigkeit, mehr Reali- management in der Kultusminister- tätsbezug im Schulbetrieb und im konferenz. Der Deutsche Lehrerver- gesamten Bildungsprozess geführt. band fordert seit Langem einen Bil- 498/2021 // POLITISCHE STUDIEN 9
POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH dungsstaatsvertrag, in dem sich die Haltung, die geprägt ist von Offen- Bundesländer auf eine gemeinsame heit, ständiger Fortbildungsbereit- Wettbewerbsgrundlage einigen und schaft, Flexibilität und einer ganz ho- beispielsweise die Abiturprüfungen hen Verantwortungsethik gegenüber besser normieren. den anvertrauten Kindern und Ju- gendlichen. Allerdings darf man die Einsatzbereitschaft und Leistungsfä- Die Corona-Krise hat gezeigt, dass auch higkeit von Lehrkräften auch nicht Lehrer schnell auf Veränderungen reagie- über die Belastungsgrenzen hinaus ren müssen. Sind die Lehramtsanwärter ausreizen. Diese Grenzen sind in der von heute gut auf den Schulalltag vorbe- Pandemie auch überschritten worden. reitet? Die Reform der Lehrerbildung ist eine Was halten Sie von dem Vorschlag, dass Daueraufgabe. Allerdings warne ich Lehrer künftig mehr als „Bildungscoa- vor dem Glauben, mit immer neuen ches“ fungieren sollen? Modulen in der Lehrerausbildung zu Inklusion, Demokratieerziehung, di- Diese Vorstellung vom Lehrer als gitalen Unterrichtsmedien und inter- Lernbegleiter oder als Bildungscoach kultureller Kompetenz die Lehrerbil- suggeriert, dass Kinder und Jugend- dung qualitativ deutlich verbessern liche sich am besten und schnellsten zu können. Ginge man rein nach den Unterrichtsinhalte selbst aneignen. digitalen Lerninhalten in der Lehrer- Lehrkräfte sollten sich demzufolge ausbildung, müsste man 80 % der auf eine moderierende und beraten- Lehrer diese Kompetenz absprechen. de Funktion zurückziehen. Dies ist Gerade deswegen gehört zu einer gu- ein grobes Missverständnis der ten Lehrerausbildung, dass man dort Lehrerrolle und widerspricht übri- möglichst viel Rüstzeug im fachli- gens auch den zentralen Ergebnissen chen, fachdidaktischen, pädagogi- der empirischen Unterrichtsfor- schen und methodischen Kompetenz- schung, wie sie etwa John Hattie in bereich mitbekommt. Ganz wichtig seinen Metastudien zusammenge- „ ist aber vor allem die Haltung, die fasst hat. Man kann die zentrale Rol- Lehrkräfte zeigen, nämlich eine le der Lehrkraft als Motivator, als Man darf die Einsatzbereitschaft und Leistungsfähigkeit von Lehrkräften nicht über die BELASTUNGSGRENZEN hinaus ausreizen. 10 POLITISCHE STUDIEN // 498/2021
„ BILDUNG macht sich nicht isoliert an Latein- oder Programmierkenntnissen fest. zentrales Medium des Bildungspro- keit oder kurz gesagt: kritische Ur- zesses gar nicht überschätzen. „Great teilskraft. Wer gelernt hat, Texte und teachers“, erfolgreiche Lehrkräfte, Gedichte zu analysieren, der kann das sind in den Augen Hatties Perso- auch später, wenn es nötig ist, das nen, die Kinder und Jugendliche für Kleingedruckte in Versicherungsver- ihre Unterrichtsgegenstände begeis- trägen verstehen und die richtigen tern können, eine enge Feedbackkul- Schlüsse daraus ziehen. tur praktizieren und letztendlich Lernprozesse klar strukturieren und organisieren. Wenn die Lernenden Es stellt sich offenbar generell die Frage selber über ihr Lernpensum ent- danach, was Bildung heute bedeutet. Ist scheiden, dann würde nicht nur die man ungebildet, wenn man Ovid nicht auf Leistungsschere noch weiter aufge- Latein wiedergeben, aber in Java Compu- hen und sich die Bildungsungerech- terprogramme erstellen kann? tigkeit verschärfen, sondern wir würden auch das gemeinsame Bil- Bildung macht sich nicht isoliert an dungsfundament und damit noch Latein- oder Programmierkenntnis- mehr an Zusammenhalt in unserer sen fest. Über eine gute Bildung zu Gesellschaft verlieren. verfügen, heißt, dass ich eine breite, Vor einigen Jahren hat ja eine Abi- intelligent vernetzte Wissensbasis turientin in einem sozialen Netzwerk habe, die es mir ermöglicht, auch un- darüber geklagt, dass sie zwar Ge- bekannte Phänomene und Wissens- dichte in mehreren Sprachen analy- gebiete zu erschließen und einzuord- sieren könne, aber keine Ahnung von nen. Es geht um die grundlegende Mietverträgen habe. Da offenbart Fähigkeit, sich in dieser Welt zu ori- sich ein grundlegendes Missver- entieren und einen eigenen Lebens- ständnis von schulischer Allgemein- entwurf zu verfolgen. Das geht nicht bildung. Das Miet- und Versiche- ohne eine Basis an Grundwissen be- rungsrecht ändert sich ständig, ganz ziehungsweise einen fachspezifischen abgesehen davon, ob man dann das Wissenskanon. In der heutigen Welt Gelernte später parat hat, wenn man gehört zu dieser für ein Weltver- es braucht. Was man aber in der ständnis notwendigen Grund- und Schule gelernt haben sollte, ist Lese-, Allgemeinbildung mit Sicherheit Analyse- und Interpretationsfähig- auch der Einblick in ökonomische 498/2021 // POLITISCHE STUDIEN 11
POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH Gesetzmäßigkeiten, aber auch eine könnte, wenn man sich das exponen- Vorstellung davon, wie etwa Algo- zielle Wachstum der 1,0-Abiture in rithmen funktionieren. Und selbst- einigen Bundesländern anschaut. verständlich ist auch musische Bil- Allein in Berlin ist die Anzahl inner- dung wichtig für uns als Menschen, halb eines Zehnjahreszeitraums um um unsere Ausdrucks-, Teilhabe- das Vierzehnfache gestiegen. und Gestaltungsmöglichkeiten in Wir beobachten eindeutig eine dieser Welt wahrnehmen zu können. Noteninflation. Davon spricht man, wenn man für die gleiche Leistung in einem späteren Zeitraum bessere Es gibt immer mehr junge Leute mit allge- Noten erhält. Also wenn tatsächlich meiner Hochschulreife, immer mehr Stu- die echten Bestleistungen so stark dierende. Sind Menschen heute einfach gestiegen wären, wie die immer bes- klüger als früher oder wurde das Niveau seren Noten suggerieren, dann müss- der Abschlüsse abgesenkt? ten wir bei PISA bei den Schüler leistungen in den höchsten Kompe- Immer weiter steigende Abiturienten- tenzstufen eine ähnliche Steigerung quoten sind nicht unbedingt gleich- haben. Da sind aber in den letzten bedeutend mit einem immer höheren 20 Jahren die Quoten stagniert be- Bildungsniveau. In Deutschland ist ziehungsweise sind sie in einigen die Quote der Hochschulzugangs Teilbereichen sogar zurückgegangen. berechtigten innerhalb von 20 Jahren von etwas über 30 auf 50 % gestiegen. Es gibt sehr viele Anzeichen dafür, Vor allem im linken politischen Spektrum dass Studienberechtigung und Studi- ist man der Ansicht, dass ein „Abitur für enbefähigung angesichts dieser enor- alle“, euphemistisch als „Demokratisie- men Expansion stärker denn je aus rung der Bildung“ tituliert, mehr Bildungs- einanderfallen, etwa wenn man die gerechtigkeit in der Gesellschaft mit sich gleichzeitig gestiegenen Studien brächte. Sind alle Probleme im Bildungsbe- abbruchs- und Studienwechslerquo- reich gelöst, wenn jeder Abitur machen ten berücksichtigt. Mit einem „muta- kann? tionsbedingten Intelligenzsprung“ hat die starke Zunahme von Studien- Das ist der große, leider weitverbrei- „ berechtigten wohl nichts zu tun, auch tete Irrtum sozialistischer Bildungs- wenn man auf diese Idee kommen ideologie, dass eine inflationäre Ver- Wir beobachten eindeutig eine NOTENINFLATION. 12 POLITISCHE STUDIEN // 498/2021
„ Sozialer Aufstieg gelingt am besten durch LEISTUNG. teilung von bisher als hochwertig an- sucht hat beziehungsweise welche Zu- gesehenen Bildungszertifikaten zu satzqualifikationen, etwa Auslands- mehr Bildungsgerechtigkeit führen praktika, man absolviert hat. Wer, wie wird. Insbesondere dann, wenn da- ich, ein absoluter Befürworter von so- bei eine Entkoppelung von Leistung zialem Aufstieg durch Bildung ist, und Bewertung erfolgt, ist genau das kann an einer Zertifikats- und Noten- Gegenteil der Fall. Der einflussreiche inflation kein Interesse haben. Sozia- französische Soziologe und Sozial- ler Aufstieg gelingt am besten durch philosoph Pierre Bourdieu hat dies Leistung. Natürlich müssen wir mehr übrigens genau beschrieben, wie eine für bessere Chancengerechtigkeit un- Inflation von Bildungszertifikaten zu ternehmen und die Startchancen be- ihrer Entwertung führt und keinen nachteiligter Kinder verbessern. Da Beitrag zu einer gerechteren Gesell- gibt es immer noch großen Hand- schaft liefern kann. Wenn jeder Abi- lungsbedarf. Ich bin der Auffassung, tur hat, hat niemand Abitur. Das be- dass wir bei der Frühförderung von deutet, dass sich dann außerhalb des Kindern viel zu wenig tun. Da muss Bereichs der Bildungszertifikate Me- man ansetzen, nicht bei der leis- chanismen etablieren werden, die bei tungsunabhängigen Verschleuderung der Vergabe von begehrten Studien- von Bildungszertifikaten. plätzen oder auch beruflichen Positi- onen eine entscheidende Rolle spie- len. Das Abitur ist dann nur mehr Gerade auch die aktuelle Pandemie hat eine notwendige, aber keine hinrei- gezeigt, dass Handwerk tatsächlich den chende Bedingung für den weiteren sprichwörtlichen goldenen Boden hat. Lebens- und Berufsweg. Warum fokussieren sich Politik – über Es ist kein Zufall, dass in Ländern, Parteigrenzen hinweg – und Gesellschaft die bei der Zielvorstellung „Abi für dennoch derart auf eine gesamtgesell- alle“ schon weiter fortgeschritten sind, schaftliche Akademisierung? teurere Privatschulen oder harte Hochschulzugangsprüfungen eine Das ist eine gute Frage, warum die Po- weit größere Rolle spielen als bei uns. litik so stark auf die Ausweitung der Bei Bewerbungen schaut da kaum Abiturientenquoten gesetzt hat. Bei mehr jemand auf das schulische Ab- linken Parteien beruhte das wohl auf schlusszeugnis, sondern eher darauf, dem Missverständnis, dass das zu welche renommierte Schule man be- mehr Bildungsgerechtigkeit führen 498/2021 // POLITISCHE STUDIEN 13
POLITISCHE-STUDIEN-ZEITGESPRÄCH würde. Bei den Unionsparteien und heit die gute Passung mit dem Be- der FDP hat seinerzeit wohl der schäftigungssystem. Die ganze Welt Alarmruf der OECD in Folge des hat uns beneidet um unsere geringe PISA-Schocks durchgeschlagen, ohne Jugendarbeitslosigkeit. Diesen Vorteil höhere Akademikerquoten würde drohen wir gerade zu verspielen. Un- Deutschland im internationalen ser künftiges Hauptproblem wird Wettbewerb der Volkswirtschaften nicht der Akademikermangel sein, abgehängt werden. Da gerieten dann sondern der Facharbeitermangel und auch innerhalb Deutschlands die der Mangel an Bewerbern für Ausbil- Bundesländer unter Druck, die wie dungsstellen. Gleichzeitig müssen Bayern noch eine ausgeglichene Ver- auch bei uns viele Hochschulabsol- teilung der Schüler auf die verschiede- venten auf Beschäftigungsbereiche nen Schularten und Abschlüsse hat- ausweichen, für die sie gar kein Studi- ten. Inzwischen sehen wir aber die um gebraucht hätten. Ein Drittel der großen Schwächen der Humankapi- von der Uni kommenden Jungarchi- taltheorie, auf der ja diese Forderun- tekten nimmt derzeit Stellen an, für gen nach immer mehr Hochschulab- die auch eine Ausbildung als Bau- solventen beruhen. Wenn es nach der zeichner gereicht hätte. Höhe der Abiturquoten ginge, müss- ten Länder wie Spanien und Italien wirtschaftlich weit vor Deutschland Der privatwirtschaftliche Bildungsbe- stehen, tun sie aber nicht. Und auch reich in Deutschland wächst stetig. Rund in den USA hat die Akademisierung 9 % aller Schüler in Deutschland besu- längst einen kritischen Wert über- chen eine der knapp 6.000 Privatschulen, schritten. Von den 70 % eines Jahr- das sind etwa doppelt so viele wie vor gut gangs, die ein Studium am College 20 Jahren. Gibt es eine Vertrauenskrise beginnen, hat im Alter von 25 Jahren gegenüber den öffentlichen Schulen? nur etwa die Hälfte tatsächlich einen Abschluss erreicht. Und von diesen Insgesamt sehe ich keine Abstim- Absolventen sind wiederum fast 50 % mung mit den Füßen weg vom öffent- arbeitslos oder arbeiten in Jobs, für lichen Schulwesen hin zu Privatschu- die sie formal überqualifiziert sind. len in Deutschland. Es gab zwar ei- „ Die große Stärke des deutschen Bil- nen gewissen Nachholbedarf bei der dungssystems war in der Vergangen- Gründung von Privatschulen in den Ich sehe Privatschulen als ein ZUSÄTZLICHES Angebot und damit eine Bereicherung der Schullandschaft. 14 POLITISCHE STUDIEN // 498/2021
neuen Bundesländern seit 1990, aber • Die Erfahrung, wie unvorbereitet größere Verschiebungen sind ausge- insbesondere die Bildungspolitik blieben. Man darf das Privatschul und auch die Schulverwaltung von wesen bei uns auch nicht mit den oft dieser Herausforderung getroffen doch sehr exklusiven und auch kos- wurde und wie schwer sich bis tenintensiven Privatschulen in ande- heute die Politik damit tut, ein an- ren Ländern wie etwa den USA oder gemessenes Krisenmanagement zu Großbritannien vergleichen. Privat- praktizieren. schulen in Deutschland sind sehr he- • Die Erkenntnis, welch große Flexi- terogen, da gibt es kirchliche, kom- bilität, starke Innovationskraft merzielle, reformpädagogische und und wieviel Engagement in einer elitäre Einrichtungen. Diese Hetero- Schule und einem Lehrerkollegium genität zeigt sich übrigens auch bei stecken worauf man in einer Krise den Schülerleistungen, die je nach zurückgreifen kann. Privatschule deutlich unter, aber • Niemals ist aber auch klarer ge- auch deutlich über dem Landes- worden, was Kindern, Eltern und schnitt liegen können. Insgesamt Lehrkräften fehlt, wenn Schule als sehe ich Privatschulen als ein zusätz- Präsenzveranstaltung nicht mög- liches Angebot und damit eine Berei- lich ist, und das ist viel mehr als die cherung der Schullandschaft. Man Klage über zusätzliche Lerndefizite. muss die Entwicklung aber im Auge Noch nie habe ich als Schulleiter in behalten. Eine größere Vertrau- so viele glückliche Gesichter ge- enskrise könnte dann entstehen, blickt, als damals, nach dem ersten wenn sich die chronische Unterfinan- Lockdown, Kinder und Lehrkräfte zierung der staatlichen Schulen in wieder in die Klassenzimmer zu- Zukunft noch weiter verschärfen rückgekehrt sind. würde. Die Fragen stellte Thomas M. Klotz, Was sind Ihre persönlichen Erfahrungen Leiter des Referats „Bildung, Hochschu- und Lehren, die Sie aus dieser Pandemie len, Kultur“ der Akademie für Politik und mitnehmen? Zeitgeschehen, Hanns-Seidel-Stiftung, München. /// Ich habe den ersten Lockdown im März 2020 noch als amtierender Schulleiter an einem niederbayeri- schen Gymnasium hautnah miter- lebt und bin dort zusammen mit der gesamten Schulfamilie mit den enor- men Herausforderungen dieser Pan- demie konfrontiert worden. Es sind mehrere Erfahrungen, die ich per- sönlich aus dieser Pandemie im Hinblick auf den Schulbereich mit- nehmen werde: 498/2021 // POLITISCHE STUDIEN 15
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