ImdialogOnline auf - Lückenlos Im Fokus: Integrierte Versorgung - wie weiter?

Die Seite wird erstellt Wolfger Böhme
 
WEITER LESEN
ImdialogOnline auf - Lückenlos Im Fokus: Integrierte Versorgung - wie weiter?
Fragmentierung: warum
eigentlich nicht? Seite 4

Integrierte Versorgung: Voraussetzungen
und Hindernisse Seite 20

                                                                             auf
                                                                     n l ine s.ch
                                                                   O       .cs

                                          dialog
                                                                       log
                                                                   dia
                                          im

                             Lückenlos
                  Im Fokus: Integrierte Versorgung – wie weiter?

                                                                              Ausgabe
                                                                                    2/ 2020
ImdialogOnline auf - Lückenlos Im Fokus: Integrierte Versorgung - wie weiter?
Echo

                                                                   Expertengruppe

Annamaria Müller
                                                                   Spielraum
Anreiz schaffen                                                    ausschöpfen!
«Bezahlt würde künftig nicht mehr                                  «In den gut 20 Jahren seit Inkraftsetzung
die einzelne Leistung, sondern                                     des KVG wurde der vorhandene Spielraum für
die gesamte Versorgung. So be-                                     kostendämpfende Innovationen von den
steht ein anderer Anreiz als heute:                                Akteuren nur unbefriedigend ausgeschöpft.»
nämlich so wenig Leistungen so                                               Bericht Kostendämpfungsmassnahmen zur Entlastung der
günstig wie möglich zu erbringen.»                                              obligatorischen Krankenpflegeversicherung, 24.8.2017

                             Verwaltungsratspräsidentin
                             des freiburger spitals (HFR),
                                         NZZ, 20.1.2020

              Barbara Züst

          Einseitige
          Sichtweise
              «Versicherte erkennen noch zu wenig, dass für sie MC nicht primär aus
              Prämien­reduktionsgründen von Vorteil ist, sondern dass z.B. durch die Standar-
              disierung der Therapie-Abläufe erhebliche Qualitätsvorteile resultieren.»
                                                                                              Ehem. Geschäftsführerin SPO,
                                                                                     SGGP – Managed Care Swiss made, 2019

Felix Huber

Es braucht
Transparenz
«Versicherungen sollen die unterschiedlichen
Qualitäts-/Ratingergebnisse bei den Haus-                                       Urs Zanoni

arztnetzen öffentlich transparent machen.»
                               Verwaltungsratspräsident mediX zürich,
                                                                                I-n-t-e-g-r-i-e-r-t
                                              SGGP-Tagung, 2.4.2019
                                                                                «Eine integrierte Versorgung braucht
                                                                                auch eine integrierte Finanzierung und
                                                                                integrierte Vergütungen.»
                                                                                                       Geschäftsführer fmc, Netzwoche,
                                                                                                     Swiss eHealth Forum 2019, 8.3.2019
ImdialogOnline auf - Lückenlos Im Fokus: Integrierte Versorgung - wie weiter?
Editorial/Inhalt

                                                                           Folgen Sie uns auf Twitter:
                                                                           twitter.com/CSSPolitik

                                                                                                                                  Sanjay Singh ist Leiter
                                                                                                                                  Leistungen und Produkte der

                                     Ein weiter Weg
                                                                                                                                  CSS Versicherung.

Inhaltsverzeichnis

 4         I ntegrierte Versorgung – wie weiter?                           Stellen Sie sich vor, alle reden von integrierter Versorgung und finden sie
            Fragmentierung: warum eigentlich nicht?                         toll – doch nichts passiert. Etwa so kommt es mir vor, wenn das Thema
                                                                            zur Diskussion steht. Seit Jahren wird integrierte Versorgung nicht bloss
 7         Standpunkt
                                                                            von uns Krankenversicherern als mögliche Strategie für ein qualitativ
            Vergütungsmechanismus:
                                                                            hochstehendes und gleichwohl bezahlbares Gesundheitswesen propa-
            Gesamtsicht nötig
                                                                            giert. Doch ebenso lange treten wir bereits an Ort. Statt dass alle
   Hintergrund
10	                                                                        Leistungserbringer zur rechten Zeit den richtigen Beitrag leisten können
    Anreize für mehr Effizienz                                              und wollen, herrscht noch immer Fragmentierung pur. Eine integrierte
11         Praxis                                                           Versorgung ist in den verschiedenen Tarifsystemen nicht vorgesehen.
           Aus einer Hand                                                   Und von einer gemeinsamen Datenbasis als zentrale Grundlage sind wir
                                                                            noch meilenweit entfernt.
12         Im Gespräch
           «2030 wird es nur noch                                           Dass das Thema auch bei vielen Versicherten noch nicht wirklich
           koordinierte Modelle geben»                                      angekommen ist und verstanden wird, zeigt auch der Umstand, dass
16         Persönlich                                                      zwar viele ein entsprechendes Versicherungsmodell gewählt haben,
            Nahtlos betreut?                                                zum Beispiel ein HMO-Modell. Meist stehen jedoch eher monetäre
   Die andere Sicht
18	                                                                        Anreize (HMO = günstig) denn gesundheitliche Überlegungen
   «Wir teilen die Vorteile mit unseren                                     (HMO = gut, weil vernetzt und günstig) im Vordergrund. All dies zeigt:
   Partnern»                                                                Wollen wir dereinst über eine integrierte Versorgung verfügen, die
                                                                            diesen Namen auch verdient, müssen wir noch einen weiten Weg
   Santé!
19	                                                                        gehen – auf allen Ebenen. Denn es geht um nichts weniger, als den
   Kollateralschaden?                                                       vermeintlichen Widerspruch zu lösen, dass etwas weniger kosten kann,
20         Wissenschaft                                                    die Qualität aber gleichwohl hoch ist und weniger teure Ressourcen
            Integrierte Versorgung: Voraussetzungen                         beansprucht werden. Vielleicht kann die vorliegende Ausgabe von
            und Hindernisse                                                 «im dialog» entsprechende Anstösse vermitteln.

        Die Beiträge finden
          Sie auch online
        unter dialog.css.ch

Impressum

Erscheint dreimal jährlich in deutscher und französischer Sprache. Herausgeber: CSS Versicherung, Tribschenstrasse 21, CH-6002 Luzern,
E-Mail: dialog@css.ch, Internet: www.css.ch, Chefredaktion: Bettina Vogel, Roland Hügi; Redaktionelle Mitarbeit, Produktion und Grafik:
Infel AG | Bildnachweise: Désirée Good, Mike Flam, Daniel Thalmann, iStock/ Jfanchin, Keystone/ Westend61 /Josep Suria | Lithos: n c ag,
8902 Urdorf | Druck: Kromer Print AG, 5600 Lenzburg. Diese Publikation wird vollständig aus Mitteln aus dem Zusatzversicherungsgeschäft
(VVG) finanziert.

                                                                                                                                             im dialog 2/2020   3
ImdialogOnline auf - Lückenlos Im Fokus: Integrierte Versorgung - wie weiter?
Integrierte Versorgung – wie weiter?

Trotz der wachsenden Bedeutung von Vernetzung und
Koordination existiert weltweit keine allgemein akzeptierte
Definition von integrierter Versorgung. Ist es möglich,
dass Letztere einfach als funktionale und kommunikative
Klammer für die unterschiedlichen Ansprüche an die
Neugestaltung der Gesundheitsversorgung benutzt wird?
Von Peter Berchtold

Fragmentierung:
warum eigentlich
nicht?                                                                                  MODELL 1
                                                                                   GRUNDVERSORGUNGS-
                                                                                        ZENTRUM

                       D
                                         a sind wir uns alle einig: Die Vernet-
                                         zung und Integration innerhalb der
                                         und zwischen den verschiedenen
                                         Sektoren ist ebenso wesentlich für
                                                                                   INTEGRIERTE
                                         eine qualitativ hochstehende und ef-
                                         fiziente Gesundheitsversorgung wie
                                                                                   VERSORGUNG
                       intensive Kooperationen zwischen den Gesundheits-
                       berufen. Die wachsende Bedeutung von Vernetzung
                                                                                        –
                       und Kooperation liegt primär darin, dass sich die
                       diagnostischen und therapeutischen Interventions-
                                                                                    ZWEI IDEEN
                       möglichkeiten immer stärker spezialisieren. Denn
                       mehr Spezialisierung verteilt sich zwangsläufig auf
                                                                                     DER CSS
                       mehr Fachpersonen und Institutionen, was die Be-
                       handlungswege der Patienten ebenso zwangsläufig in
                       immer kleinere Abschnitte teilt.
                           Das ist der Hintergrund der heute viel diskutierten          MODELL 2
                       und ebenso häufig beklagten Fragmentierungen der               DYNAMISCHES
                       Gesundheitsversorgung – und zwar überall in Euro-               NETZWERK
                       pa, auch wenn sich die Fragmentierungen und Inte-
                       grationsbemühungen von Land zu Land unterschei-                           au f 6
                       den können. Ebenso einhellig wie die Klagen über das                     SeiteDF
                       Problem ist der Ansatz für dessen Lösung: integrierte                    im P
                       Versorgung. Doch was meint der Begriff?

                       Daher kommt die Fragmentierung
                       Trotz der wachsenden Bedeutung von Vernetzung und
                       Koordination existiert weltweit keine allgemein akzep-
                       tierte Definition, vielmehr herrscht ein Wirrwarr. Dennis
                       L. Kodner, einer der angesehensten Wissenschaftler
                       in diesem Gebiet, hat dieses Gewirr einmal «the im-
                       precise hodgepodge of integrated care» genannt,
                       also ein «schwammiges Durcheinander der integ-
                       rierten Versorgung». Ein solches Durcheinander kann
                       auf den ersten Blick als Ärgernis erscheinen. Auf den
                       zweiten Blick wirft es die Frage auf, ob integrierte Ver-
                       sorgung überhaupt ein eigenständiger Ansatz ist oder
                       einfach als funktionale und kommunikative Klammer
                       für die unterschiedlichen Ansprüche an die Neugestal-
                       tung der Gesundheitsversorgung benutzt wird. Dafür

4   im dialog 2/2020
ImdialogOnline auf - Lückenlos Im Fokus: Integrierte Versorgung - wie weiter?
Standpunkt

                                     Integrierte Versorgung im eigentlichen Sinne ist im
                                     heutigen Setting nur bedingt erlebbar. Es braucht
                                     Vergütungsmechanismen mit einer Gesamtsicht und
                                     den Gegebenheiten angepasste Modelle.

                                     Vergütungsmechanismus:
         Luca Emmanuele ist Leiter
                                     Gesamtsicht nötig
der Abteilung Einkaufsmanagement
  Leistungen der CSS Versicherung.

                                     Fehlende oder falsche Anreize, Informa-    Deshalb sind sie in die entsprechende
                                     tionsasymmetrien und Unverbindlichkeit     Langfristplanung miteinzubeziehen.
                                     in der Zusammenarbeit kennzeichnen
                                     die heutige Versorgungslandschaft.         Aufgrund der Vielzahl verschiedener
                                     Krankenversicherer reagieren darauf mit    Anknüpfungspunkte innerhalb der und
                                     alternativen Versicherungsmodellen –       der wechselseitigen Abhängigkeiten
                                     die jedoch nur selten zu integrierten      zwischen den Versorgungsstufen ist ein
                                     Versorgungsstrukturen führen. Neue         einzelnes, übergeordnet gültiges Modell
                                     Rahmenbedingungen könnten vielver-         wenig erfolgversprechend. Vielmehr
                                     sprechende Impulse für attraktive          müssen regionale (urban vs. rural)
                                     Vergütungsmodelle, Zusammenarbeits-        und inhaltliche (diagnosebezogen, z.B.
                                     formen, aber auch neuartige Versiche-      als Diabetes-Behandlungspfad, oder
                                     rungsprodukte auslösen. Alldem stehen      dringlichkeitsbezogen, z.B. Akut- und
                                     jedoch die heutigen Vergütungssysteme      Chroniker-Behandlungspfade) Modelle
                                     gegenüber. Sie greifen in keiner Weise     angestrebt werden. Künftig muss es
                                     ineinander und zementieren so Einzel-      möglich sein, integriert auf den individu-
                                     kämpfertum und sektorielles Handeln.       ellen Fall zu reagieren. Dazu braucht
                                     Den Leistungserbringern fehlt schlicht     es transparent verfügbare, behandlungs-
                                     der monetäre Anreiz, eine vernetzte        relevante Informationen sowie eine hohe
                                     Versorgung aufzubauen und aufrechtzu-      Verbindlichkeit zwischen den Leistungs-
                                     erhalten.                                  erbringern. Und hier schliesst sich der
                                                                                Kreis zu den Rahmenbedingungen: Nur
                                     Die CSS befürwortet daher wesentliche      wenn diese in allen Belangen für alle
                                     Änderungen der Rahmenbedingungen:          stimmen, können sie als Katalysatoren
                                     Ein Vergütungsmechanismus mit              fungieren. Auch für die Patientinnen und
                                     einer Gesamtsicht und unter Einbezug       Patienten. Denn sie entscheiden, welche
                                     von Outcome-Parametern (ob z.B.            Leistungen sie nachfragen und welchen
                                     eine Behandlung wirksam war) kann          Leistungserbringer sie wählen.
                                     genügend finanzielle Anreize setzen.
                                     Zudem sollen Praxisbewilligungen und
                                     Leis­tungsaufträge nur dann vergeben
                                     werden, wenn eine integrierte Versor-          Als Diskussionsgrundlage stellt
                                     gung angestrebt wird. Solche einschnei-    die CSS in der Infografik auf den Seiten 5
                                     denden Änderungen werden Widerstand        und 6 zwei Modelle vor, wie integrierte
                                     bei den Leistungserbringern hervorrufen.   Versorgung in Zukunft aussehen könnte.
ImdialogOnline auf - Lückenlos Im Fokus: Integrierte Versorgung - wie weiter?
MODELL 1
                         GRUNDVERSORGUNGS-
                              ZENTRUM                                                                                      LEGENDE
                                                                                                                               Geldfluss
                                                                                                                               Verträge
                                                                                                                               Datenfluss
                                                                                                                               Beispielhafter
                                                                                                                               Weg des
                                                                                                                               Patienten

                                 ndossier
                                                                                                                               Leistungs-

                             nte
                                                                                                                               erbringer

                        ie                                                                                                     Zusatz-
                      at                                        Spital
                                                                                                                               leistungen
                                                                                                                               Datenruck-
              P

                                                                                                                               sack: elek-
           es

                                                                                                                               tronische
     Elektronisch

                                                                                                                               Behandlungs-
                                                                                                                               dokumenta-
                                                                                                                               tion

                                  Spezial-
                                                                                                          Spitex
                                    arzt

                                Zusatz-                         GVZ
                              leistungen
                                                      Grundversorgungszentrum
                                                  (Ärztegruppenpraxis mit z.B. Spitex,
                                                   Physiotherapie, CCM-Fachperson)

                    Thera-
                     peut
                                                                                                 ienten            Apotheke
                                                                                              Pat
                                                                                            ür

                                                               Patient
                                                                                              f
                                                                                           le

                                                                                       st
                                                                                         el

                                                                                 l a uf
                                                                               An
                                                                         Erste
                                  erhält                                                          legt Qualitätsstandards fest
                         Qualitäts­daten                                                          und vergütet GVZ

                                                         Kranken-
                                                       versicherung
                                                         gibt Bedingungen
                                                        für Verträge vor, hat
                                                         keinen Zugriff auf
                                                           elektronisches
                                                          Patientendossier

Alle Versicherten sind verpflichtet, ein Grundversorgungszentrum     Das GVZ und die Versicherer verhandeln die jeweilige Baserate
(GVZ) zu wählen. Das GVZ besteht aus Fachrichtungen der Grund-       basierend auf einem Benchmarking bezüglich Qualität und Effizienz.
versorgung und hat zusätzlich Verträge mit Partnern aus allen        Die verhandelten Pauschalen ersetzen die einzelnen Tarifstrukturen
relevanten medizinischen Fachbereichen. Chronic-Care-Fachperso-      (TARMED, DRG usw.) und gelten für die gesamten medizinischen
nen sind ein wichtiger Bestandteil des GVZ. Der Behandlungspfad      und paramedizinischen Behandlungen.
der Patienten führt nach Überweisung zu den Partner-Leistungs­       QUALITÄTS- UND EFFIZIENZSICHERUNG Das GVZ wählt seine
erbringern sternförmig wieder zum GVZ zurück.                        Partner nach Qualitäts- und Effizienzkriterien aus. Der Versicherer
DATEN Das elektronische Patientendossier ist für alle Beteiligten    erstellt ein Benchmarking aufgrund der Qualitätsdaten.
obligatorisch, die Krankenversicherer haben keinen Zugriff darauf.
VERGÜTUNGSMECHANISMUS Das GVZ erhält im Voraus auf den
Behandlungsbedarf seiner Mitglieder abgestimmte Leistungspau-
schalen, basierend auf einer national einheitlichen Tarifstruktur.
ImdialogOnline auf - Lückenlos Im Fokus: Integrierte Versorgung - wie weiter?
MODELL 2
                                                                 DYNAMISCHES
                                                                  NETZWERK
                                                                                           Leistungserbringern, e
                                                                                   hlten                         rhäl
                                                                          sg   ew ä                                  t Be
                                                                                                                                   ha
                                                                 ,   au                                                              nd
                                                            te n                                                                       lun
                                                     ilig                                                                                 gs
                                                                                                                                            -u
                                                 ete
                                                b                                                                                             nd
                                            d                                                     Spital
                                       un

                                                                                                                                                Q
                                                                                                                                                   ua
                                      n
                                     te

                                                                                                                                                    lit
                                   en

                                                                                                                                                       ät
                                                                                                                                                         sd
                               ati

                                                                                                                                                           ate
                             tP
                          mi

                                                                                                                                                               n
                                                                                                                                                             , le
                                                                                                                                 Zweit-
                                                                Liga
                                 ge

                                                                                                                                meinung

                                                                                                                                                               gt Q
                             rträ

                                                                                                 Hausarzt

                                                                                                                                                                   ualit
          versicherung hat Ve

                                                                                                                                                                        ätsstand
                                                                                                                                                                                 ards fest, ver
                                      Spezial-                                   Apotheke       Patient                                       Spitex
                                        arzt
                                                                                                              Tele­
                                                                                                            mediziner
     nken

                                                                                                                           en

                                                                                                                                                                                                g üt e
                                                                                                                         nt

                                                                                                                           at
                                                                                                                       ie
   a

                                                                                                                       P

                                                                                                                                                                                                      t.
  r

                                                                                                                  f ür
K

                                                                                             Erste A laufstelle
                                                                                                    n
                                                    Thera-                                                                             Reha
                                                     peut

                                                                                                 Chronic
                                                                                                  Care

     Die Leistungserbringer bilden ein virtuelles, durch Verträge mit den                             VERGÜTUNGSMECHANISMUS Die Leistungserbringer übernehmen
     Krankenversicherern definiertes Netzwerk. Die Patienten bewegen                                  finanzielle Verantwortung für ihre Behandlung sowie den nächsten
     sich sequenziell von einem Leistungserbringer zum anderen. Die                                   Behandlungsschritt. Die Vergütung basiert auf Vertrags- und
     gerade Behandelnden übernehmen die Verantwortung für ihre und                                    Erfolgskomponenten sowie einer Feedback-Kultur. Shared Benefits
     die nächstweitere Behandlung (Überweisung) und dokumentieren                                     geben Anreize für Leistungserbringer und Patienten für kosten­
     dies im «Datenrucksack» (elektronische Patientenakte). Die                                       bewusstes Handeln.
     Leistungserbringer werden in ihrer Entscheidung für den nächsten                                 QUALITÄTS- UND EFFIZIENZSICHERUNG Das Modell basiert
     Behandlungsschritt durch datenbasierte Empfehlungen (KI)                                         auf einem 360°-Feedback-System an die jeweiligen Behandelnden
     unterstützt.                                                                                     durch nachfolgende Leistungserbringer, Patienten, Versicherer,
     DATEN Durchgängige, verpflichtende Datensammlung im «Daten-                                      evtl. Angehörige. Zusätzlich zum 360°-Feedback werden Behand-
     rucksack» des Patienten. Die Krankenversicherer haben auch Zugriff                               lungs- und Qualitätsdaten sowie weitere Indikatoren erhoben, die,
     auf diesen Datenrucksack und können Daten ergänzen.                                              wie auch die Ergebnisse der Feedbacks, transparent sind.
ImdialogOnline auf - Lückenlos Im Fokus: Integrierte Versorgung - wie weiter?
Integrierte Versorgung – wie weiter?

           spricht, dass die Kluft zwischen den zahllosen Forde-
           rungen nach mehr Integration und den ebenso zahllo-
           sen Feststellungen, dass es an Umsetzungen mangelt,
           stetig grösser wird.
               Die Unklarheit des Begriffs «integrierte Versor-
           gung» weist auf eine weitere Frage hin – und mögli-
           cherweise liegt da der Hund begraben: Woher kommt
           die Fragmentierung der Versorgung, die wir so selbst-
           verständlich als eines der grössten Hindernisse zu
           mehr Effizienz und Qualität verstehen? Ein Grund –
           die Spezialisierung – wurde bereits genannt. Andere
           gängige Antworten sind der gesetzliche Rahmen, un-
           geklärte Zuständigkeiten, fragmentierte Vergütungs-
           systeme sowie die ebenso fragmentierenden Interes-
           sen der Leistungserbringer. Selbstverständlich treffen
           alle diese Gründe zu – und greifen gleichzeitig zu kurz.
           Wie könnte es sonst sein, dass wir in praktisch allen
           Versorgungssystemen die beiden gleichen Phänome-
           ne beobachten: zunehmende Fragmentierungen auf                      Ein Phänomen fast aller Versor-
           der einen Seite, fehlende Integration auf der anderen.            gungssysteme: zunehmende
           Was also könnte eine alternative Erklärung sein, und
           auf welche Ideen würde uns diese bringen?
                                                                               Fragmentierungen auf
                                                                                der einen Seite, fehlende
           Im «Normalfall» reicht die Routine                                 Integration auf der anderen.
           Aus Forschungen zur interprofessionellen Zusam-
           menarbeit wissen wir heute, dass Gesundheitssysteme
           und ihre Organisationen grundsätzlich professionell
           orientiert und aufgebaut sind – und eben nicht in- sionellen Routinen und Verständnisse reichen – was
           terprofessionell. Das Rationale dieser professionellen an Effizienz kaum zu überbieten ist. Das ändert sich
           Orientierung ist, und darin liegt ihre Stärke, dass die erst, wenn der «Normalfall» unter Druck kommt. Zum
           unterschiedlichen Professionen wissen, was zu tun Beispiel dann, wenn nicht mehr eine einzelne, akute
           ist. Weshalb im «Normalfall» keine besonderen Ab- Krankheit, sondern ein Patient mit mehreren chroni-
           stimmungen zwischen ihnen nötig sind. Nehmen wir schen Krankheiten zu behandeln und betreuen ist.
           als Beispiel einen Patienten, der in eine Notfallstation Die Stärke des Zusammenspiels der Professionen im
           eingeliefert und von unterschiedlichen Berufsgruppen «Normalfall» wird dann zur Schwäche: Weil jeder nur
           behandelt wird: Jede Berufsperson weiss, was zu tun das tut, wofür er professionell zuständig ist, können
           ist. Die Notfallärztin weiss es, der Anästhesist weiss es, wichtige Aspekte und Zeichen wie Nebenwirkungen
           die Notfallpflegenden wissen es – und anschliessend von Eingriffen oder Interaktionen von Medikamenten
           auch die Pflegende auf der Station. Alle sind geschult übersehen werden. Mit anderen Worten: Hier ist Ko-
           und können ihre Kompetenzen – ohne grosse expli- ordination zwischen den Professionen verlangt, wo-
           zite Absprache und im Wissen                                               mit die Interprofessionalität ins Spiel
           um die Routine – an der richtigen                                          kommt.
           Stelle einbringen.                        In Kürze
                Dieses Beispiel verweist auf                                          Fragmentierung als «Normalfall»
           eine grundlegende Funktionalität          • Gesundheitssysteme             Eindrücklich wird der «Normalfall»,
           des «Normalfalls»: Hier ist keine           und ihre Organisatio-          wenn wir diese Metapher als Gedan-
           besondere, keine weitergehende              nen sind grundsätzlich         kenexperiment auf das ganze Ver-
           Kooperation nötig, die profes-              fragmentiert und nicht         sorgungssystem anwenden: Dann ist
                                                       interprofessionell             die Fragmentierung der Versorgung
                                                       aufgebaut.                     nicht zwangsläufig ein Ärgernis, son-
                                                                                      dern steht auch für ein ziemlich ef-
                                                                                      fizientes Versorgungssystem. Ein an
                                                     • Sowohl Fragmentierung
                                                                                      Grippe erkrankter Mensch braucht
                                                       wie auch Koordination
                                                                                      nur eine Grundversorgerpraxis, ein
                                                       und Integration haben          Blinddarmpatient nur ein kleines Spi-
                                                       ihre Bedeutungen und           tal mit Operationssaal. Auch hier darf
                                                     ihren Nutzen.

                                                   • Erfolgversprechend
                                                     sind differenziertere
                                                     und auf die jeweilige
                                                     Population und das
                                                     Setting ausgerichtete
                                                     Integrationsbestre-
                                                     bungen.

8   im dialog 2/2020
ImdialogOnline auf - Lückenlos Im Fokus: Integrierte Versorgung - wie weiter?
Integrierte Versorgung – wie weiter?

eine grundlegende Funktionalität des «Normalfalls»
angenommen werden. Denn auch hier braucht es
kaum weitergehende Integration oder Koordination.
Und wenn wir uns vor Augen halten, dass die überwie-
gende Mehrheit der Patienten glücklicherweise nicht
an komplexen Krankheitsbildern leidet, dann dürfen
diesem «Normalfall» sowohl Stärke wie Effizienz zu-
geschrieben werden.
    Gleichzeitig kommt dieser «Normalfall» ebenfalls
in Bedrängnis, wenn die Behandlungs- und Betreu-
ungssituationen komplexer werden. Wenn nicht nur
eine Spitex, ein Spital, eine spezialisierte Einrichtung
oder eine Grundversorgerpraxis involviert sind, son-
                                                                 Weltweit existiert keine  allgemein
dern mehrere und parallel. Analog zur Interprofessio-
nalität wird dann die Stärke des «Normalfalls» zu ei-                akzeptierte Definition,
ner Schwäche: Hier braucht es mehr Integration und                  vielmehr herrscht ein Wirrwarr.
Koordination zwischen den Institutionen, womit die
integrierte Versorgung ins Spiel kommt.
    Klar ist: Der «Normalfall» gerät zunehmend unter
Druck und wird immer weniger normal. Denn die ste-
tig steigende Zahl an Spezialitäten und Spezialisierun-    Zwei Fazite
gen ist immer schwieriger zu koordinieren. Auch weil       Gesundheitssysteme und ihre Organisationen sind
die demografisch bedingte Zunahme an chronischen           aufgrund ihrer Historie grundsätzlich fragmentiert.
Krankheiten das System, das auf die Behandlung aku-        Dieser «Normalfall» stellt die Default-Position dar, die
ter Krisen (eben den «Normalfall») getrimmt ist, mehr      für viele Behandlungs- und Betreuungssituationen
und mehr herausfordert.                                    ausreichend (und effizient) ist. Gleichzeitig gerät das
                                                           heutige Versorgungssystem an verschiedenen Stellen
                                                           immer mehr unter Druck; seine Stärke droht immer
                                                           häufiger in eine Schwäche umzuschlagen – nämlich
                                                           dann, wenn komplexe Patienten mehr Koordination
                                                           und Integration benötigen.
                                                                Zweitens folgt daraus, dass sowohl Fragmentie-
                                                           rung (des «Normalfalls») wie Koordination und Inte-
                                                           gration (in komplexen Situationen) ihre Bedeutungen
                                                           und ihren Nutzen haben. Wer nur nach mehr Koor-
                                                           dination und Integration ruft und die Fragmentierung
                                                           als Grundübel verachtet, hat schon verloren. Das ist
                                                           der springende Punkt: Integrierte Versorgung kann nur
                                                           gelingen, wenn wir unsere Integrationsbestrebungen
      Die stetig steigende Zahl an
                                                           viel stärker als bisher differenzieren und auf die Anfor-
   Spezialitäten und Spezialisie­­-                        derungen der jeweiligen (Patienten-)Population, Ver-
   r­ungen ist immer schwieriger                           sorgungssettings und involvierten Versorgungsinstitu-
                 zu koordinieren.                          tionen ausrichten.

                                                           —
                                                           Peter Berchtold ist Facharzt Innere Medizin und
                                                           Mitbegründer sowie seit 1999 Co-Leiter des College
                                                           für Management im Gesundheitswesen (college M)
                                                           in Bern. Er ist Präsident des fmc, des Schweizer
                                                           Forums für Integrierte Versorgung, und Vizepräsident
                                                           der Schweizer Patientenorganisation (SPO).

                                                                                                           im dialog 2/2020   9
ImdialogOnline auf - Lückenlos Im Fokus: Integrierte Versorgung - wie weiter?
Hintergrund

Die USA haben das teuerste Gesundheitssystem der Welt.
Trotzdem ist eine effektive und effiziente Versorgung möglich.
Kaiser Permanente hat die Lösung.
Von Karin Cooke

Anreize für mehr Effizienz

         I          n vielen Ländern der Welt befasst man sich mit
                    der Frage, wie die steigenden Gesundheitskos-
                    ten bewältigt werden können – auch in den
                    USA, wo das System besonders teuer ist. Mit ih-
           rem integrierten Modell zeigt Kaiser Permanente, wel-
           ches Potenzial für eine erfolgreiche und erschwingli-
                                                                           Integrierte Versorgung und
                                                                           Versicherungsdeckung
                                                                           Der Kaiser-Permanente-Ansatz organisiert Spitäler, Ärzte und
                                                                           Versicherungsmodelle, damit die Versorgung über alle Einrichtungen
                                                                           und Anbieter besser koordiniert und eine höhere Leistungsqualität
           che Versorgung in Gesundheitssystemen schlummert.               für die Patienten sichergestellt ist.
           Im Kern schafft das Modell Anreize, die zu einer Kon-
           zentration auf eine effektive und effiziente Gesund-
           heitsversorgung führen.
                                                                                                         Kaiser
                1. Die Mitglieder (Patienten) zahlen für ihre Gesund-
                                                                                                      Foundation
           heitsversorgung eine Versicherungsprämie. Die Vor-                                        Versicherung
           auszahlung sorgt für finanzielle Stabilität und schafft                                      (KFHP)
           Kaiser Permanente und ihren Mitgliedern Anreize für
           präventive Massnahmen, damit die Mitglieder gesund
           bleiben und Spitalaufenthalte vermieden werden.
                2. Ärzte sind angestellt und erhalten ein fixes Ge-
           halt. Sie bestimmen, welche Behandlung erforderlich            Leistungsverträge                                   Medizinische
           ist, und legen die Standards für klinische Protokolle               mit Spitälern                                  Leistungsverträge
           fest. Es gibt keinen finanziellen Anreiz, mehr als das
           Notwendige zu tun.                                                                        KP-Mitglieder
                3. Spitäler erzeugen hohe Kosten. Behandlungs-
           teams und operative Leiter von Kaiser Permanente
           stellen sicher, dass Patienten nur wenn nötig im Spital
           sind und für die Nachsorge auch in andere Pflegeein-                 Kaiser                                       Permanente
                                                                             Foundation                                       Ärztenetz-
           richtungen verlegt werden. Dank solcher Bemühungen
                                                                            Spitäler (KFH)                                   werke (PMG)
           waren die Anzahl Spitaltage und der Bedarf an neuen
           Spitälern rückgängig – trotz Patientenwachstum.
                4. Integration durch Technologie. Das elektroni-              organisieren                                     organisieren
           sche Patientendossier vernetzt alle Behandlungsteams                und stellen                                      und stellen
           von Kaiser Permanente entlang des Patientenpfades.                  Spital- und                                     medizinische
                                                                            Facility-Dienst-                                 Leistungen bereit
           Dadurch kennt das gesamte Behandlungsteam die Pa-               leistungen bereit
           tienten und kann ihnen genau die Prävention und die
           Behandlungen anbieten, die sie zur vollständigen Ge-
           nesung benötigen. Die Technologie ermöglicht auch                    Gemeinsamer          Gesundheits-
                                                                                                                          Vergütung
           einen engeren Kontakt zu den Mitgliedern durch virtu-                Verwaltungsrat       leistungen
           elle Interaktionen, und mit automatisierten Arbeitsab-
           läufen wird eine nahtlose Zusammenarbeit bei wichti-
           gen Präventionsmassnahmen geschaffen. So ist Kaiser
           Permanente in den USA führend bei der Gebärmutter-
           halskrebs-Vorsorge und Bluthochdruck-Kontrolle.
                Durch diese vier Aspekte wird die Gesundheits-
                                                                        —
                                                                        Karin Cooke ist Direktorin von Kaiser Permanente
           versorgung für die Mitglieder komfortabler, qualitativ       International. Sie entwirft Bildungsprogramme und
           hochwertiger und kostet weniger. Ärzte nutzen ihre           Präsentationen für internationale Führungskräfte
                                                                        im Gesundheitswesen. Kaiser Permanente ist mit
           Zeit für die Betreuung von Patienten und nicht für die
                                                                        12,2 Millionen Mitgliedern eines der grössten gemein­
           Bearbeitung von Versicherungsgutsprachen und An-             nützigen Versicherungsmodelle der USA. Ärzte,
           trägen. Spitäler konzentrieren sich darauf, die richtige     Spitäler und Krankenversicherung arbeiten als inte­­-
           Behandlung zur richtigen Zeit zu ermöglichen.                gr­iertes Gesundheitssystem zusammen.

10   im dialog 2/2020
Praxis

Medbase verfolgt seit ihren Anfängen das Konzept der integrierten Versorgung.
Seit jeher arbeiten interprofessionelle Teams eng zusammen, und seit 2019 gehören
über vierzig Apotheken zur Unternehmensgruppe. Wie funktioniert das in der Praxis?
Von Marcel Napierala

Aus einer Hand
                                                                     Diabetes-Pass dient zudem als Dokumentation für den
                                                                     Patienten und die betreuenden Fachkräfte. Dank dem
                                                                     innovativen Betreuungskonzept wird sichergestellt,
                                                                     dass der Patient zum richtigen Zeitpunkt die richtige
                                                                     Betreuungsperson und die richtige medizinische Leis-
                                                                     tung erhält – und dies zu möglichst vernünftigen Kosten.

Marcel Napierala ist CEO der                                         Eine lückenlose Betreuung als Ziel
Medbase Gruppe.                                                      Als grosser ambulanter Anbieter in der Grundversor-
                                                                     gung arbeitet Medbase eng mit stationären Partnern
                                                                     zusammen. Ähnlich wie bei einer vertikalen Integration

         D
                                                                     werden so teure Leerläufe für kranke Menschen, die
                                                                     medizinische Infrastruktur und die Versicherer mini-
                         iabetes Typ 2, also die erworbene Form,     miert. Mit der Integration der Apothekenkette Topwell
                         ist in der Bevölkerung auf dem Vor-         hat sich für die Gruppe ein neues Geschäftsfeld er-
                         marsch. Auch bei Medbase werden Per-        schlossen, zusätzlich zu den Bereichen Medizin, The-
                         sonen mit erhöhtem Blutzucker häufig        rapie, ambulante Chirurgie und betriebliches Gesund-
                         behandelt. Ihr Risiko, an Herz-Kreislauf-   heitsmanagement. Damit wurde ein weiterer wichtiger
           Leiden zu erkranken, ist im Vergleich zur übrigen Be-     Bestandteil in die Behandlungskette eingebaut. Bei
           völkerung höher, und wenn die Patienten nicht opti-       unkomplizierten Behandlungen wie einer Zeckenimp-
           mal betreut werden, sind Folgeerkrankungen wahr-          fung oder bei der Mitbetreuung von chronisch kranken
           scheinlich. Nebst dem individuellen Leid schlägt dies     Menschen erhalten Kunden in den Apotheken einen
           mit hohen Gesundheitskosten zu Buche.                     schnellen und einfachen Zugang zu medizinischen
                                                                     Leistungen und entlasten die Arztpraxen. Seit Jahres-
           Interdisziplinäre Teams erreichen mehr                    beginn ist es zudem möglich, eine ärztliche telemedi-
           Einige Medical Center der Medbase Gruppe wenden           zinische Konsultation direkt in der Medbase-Apotheke
           daher bei Diabetes-Patienten ein ganzheitliches und       in Anspruch zu nehmen. Bei Bedarf kann sich auch der
           damit interdisziplinäres Betreuungskonzept an. Dabei      Apotheker von einer medizinischen Fachperson bera-
           steht der Betroffene im Mittelpunkt und wird von ver-     ten lassen. Dies sind nur einige Beispiele, wie Medbase
           schiedenen Fachleuten engmaschig begleitet. Denn          die integrierte Versorgung versteht und in Zukunft ge-
           die alleinige ärztliche Betreuung ist oft nicht aus-      meinsam mit Partnern weiterentwickeln möchte. Es ist
           reichend, weil die Patienten häufig auch im Bereich       jedoch Fakt, dass auf diesem Gebiet noch viel mehr
           Bewegung und Ernährung Unterstützung benötigen.           getan werden muss, um die lückenlose Betreuung von
           Nebst einem jährlichen Gespräch mit dem Arzt hat die      Patientinnen und Patienten weiter zu verbessern und
           erkrankte Person mindestens dreimal pro Jahr eines        entsprechend Kosten zu optimieren.
           mit der medizinischen Praxisassistentin. Darüber hin-
           aus werden je nach Wunsch regelmässige Treffen mit        Fazit
           Fachpersonen aus der Physiotherapie und der Ernäh-        Im Kleinen werden heute in der Schweiz bereits vie-
           rungsberatung vereinbart. So merken denn auch Phy-        le Aktivitäten im Rahmen der integrierten Versorgung
           siotherapeuten, dass Patienten beispielsweise wegen       umgesetzt. Um die Durchschlagskraft zu erhöhen, sind
           Hemmungen Fitnesszentren meiden. Im Trainings-            grosse Organisationen gefordert, den Prozess zu för-
           raum der Physiotherapie können sie Fitnessgeräte in       dern und sich zu engagieren – und dies intersektoriell.
           einer geschützten Umgebung ausprobieren und Vor-
           behalte oder Ängste abbauen. Die Medbase Medical

                                                                     —
           Center sind prädestiniert für diesen interdisziplinären
           Ansatz, weil Hausärzte, Physiotherapeuten, Fachärzte
                                                                     Marcel Napierala ist CEO der Medbase Gruppe. Seit der
           und andere Therapeuten in einer Praxis zusammenar-        Gründung von Medbase im Jahr 2001 ist der ausge-
           beiten. Der Austausch der Fachpersonen fällt dank der     bildete Physiotherapeut als Geschäftsführer tätig. Parallel
           räumlichen Nähe leicht, sei es in Sitzungen oder bei      zu seiner Tätigkeit im Unternehmen studierte er Betriebs-
           informellen Updates auf dem Gang. Ein sogenannter         wirtschaft an der Fachhochschule Nordwestschweiz.

                                                                                                                       im dialog 2/2020   11
Im Gespräch

   12   im dialog 2/2020
Im Gespräch

Kann die integrierte Versorgung in einem System mit Wahlfreiheit und Vertragszwang
funktionieren? BAG-Vizedirektor Stefan Spycher und Antoine Hubert, VR-Delegierter der
Privatklinikgruppe Swiss Medical Network, debattieren – über Skype, wie im Rahmen
der Covid-19-Massnahmen üblich.
Interview: Patrick Rohr

«2030 wird es nur noch
koordinierte Modelle geben»

Patrick Rohr (PR): Zum Begriff der                                       Wahlfreiheit beschränken möchten.
integrierten Versorgung gibt es ja                                       Wenn Sie unzufrieden sind, haben Sie die
verschiedene Vorstellungen. Klären wir                                   Möglichkeit, am Ende des Jahres wieder
doch zu Beginn gleich, wer was                                           ins normale Prämiensystem zu wechseln.
darunter versteht. Herr Spycher, was
ist für Sie integrierte Versorgung?                                      PR: Sich als Mitglied in ein geschlossenes
Stefan Spycher (SS): Beim Bund reden wir                                 System einzukaufen – wäre das ein
inzwischen von koordinierter Versorgung.                                 Modell, das auch in der Schweiz funktio-
Es geht darum, die Sicht des Patienten                                   nieren könnte, Herr Spycher?
einzunehmen, der verschiedene Leis-                                      SS: Die Schweiz war ein Vorläufer bei der
tungserbringer braucht. Diese müssen                                     Managed Care. Wir hatten Anfang der
aufeinander abgestimmt sein, im besten                                   1990er-Jahre die ersten HMO-Zentren
Interesse des Patienten.                                                 in Europa, man schaute auf uns. Und bei
                                                                         der Einführung des KVG im Jahre 1996
PR: Und wer koordiniert die                                              verankerten wir die Möglichkeit verschie-
verschiedenen Leistungserbringer?                                        dener Versicherungsmodelle sogar im
SS: Für viele Patienten ist der Grundver-                                Gesetz. Aber leider ist seither nicht mehr
sorger, also der Hausarzt oder die Haus-                                 viel passiert. Wir denken darum, dass
ärztin, die logische Stelle. Es kann aber                                wir den Prozess beschleunigen sollten,
auch ein Spezialist sein oder die Spitex.                                denn die Vorteile der integrierten Versor-
                                             «Wir müssen heute junge,    gung sind unbestritten.
PR: Herr Hubert, wie sieht Ihre Vorstel-
lung von integrierter Versorgung aus?
                                             gesunde Leute für solche    PR: Also wäre es in der Schweiz durchaus
Antoine Hubert (AH): Meine ideale Vorstel-   Netzwerke begeistern        möglich, solche geschlossenen Systeme
lung ist das Modell von Kaiser Permanente                                zu etablieren?
in den USA (siehe S. 10; Red.). Man ist
                                             und schauen, dass wir sie   SS: Wir stellen uns das so vor: Etwa
dort nicht mehr Patient oder Versicherter,   behalten können.»           90 Prozent der Patientinnen und Patien­­-
sondern Mitglied. Man zahlt anstelle einer   Antoine Hubert              ten erleben Episoden; sie kommen also
Prämie einen festen Jahresbeitrag, und                                   ins System rein und gehen wieder raus,
entsprechend hat die Organisation ein                                    nach einem Unfall zum Beispiel oder weil
Interesse, das Mitglied möglichst gesund                                 sie die Gallenblase entfernen müssen.
zu erhalten. Wir sind am Hôpital du Jura                                 Diese Leute sollen neu ein Eingangstor ins
Bernois beteiligt; dort beabsichtigen wir,                               Gesundheitssystem haben, ähnlich wie
ein Modell, das in diese Richtung geht, zu                               beim Hausarztmodell: Dort bekommen
testen. Bald werden wir imstande sein,                                   sie eine «Erstberatung Gesundheit», wie
die gesamte Versorgungskette abzudecken.                                 wir das nennen, und dann werden sie ins
                                                                         System geführt. Für die andere Gruppe,
PR: Widerspricht ein solch geschlossenes                                 die 5 bis 10 Prozent der multimorbiden
System nicht der Wahlfreiheit?                                           Patienten, wollen wir koordinierte Versor-
AH: Als Versicherter können Sie wählen,                                  gungsnetzwerke etablieren, ähnlich wie sie
ob Sie die totale Wahlfreiheit möchten                                   Herr Hubert skizziert hat: mit Psychiatern,
oder ob Sie, für eine tiefere Prämie, Ihre                               Gynäkologen, Hausärzten, Pflegenden

                                                                                               im dialog 2/2020   13
Im Gespräch

und so weiter. Diese Zentren können auch
virtuell miteinander verbunden sein. Sie
müssen einfach die ganze Kette im ambu-
lanten Bereich abdecken.

PR: Innerhalb dieser Zentren wäre
die Wahlfreiheit der Patientinnen und
Patienten aber beschränkt?
SS: Genau. Aber so weit sind wir noch
nicht. Jetzt wollen wir zuerst einmal die
Idee etablieren, also auf der einen Seite
eine Anlaufstelle für die Erstberatung
Gesundheit anbieten und auf der anderen
Seite ein koordiniertes Versorgungsnetz.
Dort gäbe es übrigens eine Pauschalzah-
lung, nicht mehr eine Fee-for-Service
wie heute.

PR: Das ist ja einer der Kernpunkte Ihres
Modells, Herr Hubert: keine Fee-for-
Service, sondern eine Pauschalzahlung.
Ihre Wünsche scheinen bald alle erfüllt,
wenn ich Herrn Spycher zuhöre?
AH: Der Bund war auch nie unser Prob-
lem. Ich komme aus dem Wallis. Wollten
wir da die Orthopädie zum Beispiel in
Martigny zentralisieren, dürften wir auf
keinen Fall sagen: «Ab dem 1. Januar ist
die Orthopädie für das ganze Wallis in
Martigny.» Das gäbe einen Aufstand! Nein,
wir müssten einfach die besten Ortho-       «Die Erstversion des EPD ist noch nicht
päden nach Martigny bringen, das beste
Equipment – und schon würden alle
                                            die Luxusversion, klar, es ist eine Startversion,
Walliser von sich aus dorthin gehen. Nach   und die muss man jetzt weiterentwickeln.»
fünf Jahren könnten Sie alle anderen        Stefan Spycher
Orthopädiepraxen schliessen, ohne Pro-
blem. Wir müssen einfach die richtigen
Anreize finden.

PR: Sie glauben, die Leute würden dann
automatisch mitziehen? Es ist nicht
lange her, acht Jahre, dass die Managed-
Care-Vorlage mit wuchtigen 75 Prozent
der Stimmen abgelehnt wurde. Den­ken
Sie, die Bereitschaft für einen System-
wechsel ist heute schon da?
AH: Es wird eine Generation brauchen,
um diese Änderung zu vollziehen. Wir
müssen heute junge, gesunde Leute für
solche Netzwerke begeistern und schau-
en, dass wir sie behalten können. Auch
bei den Ärzten braucht es eine Generati-
on für den Wandel, viele junge sind sehr    —
                                            Stefan Spycher ist seit 2008 Vizedirektor des Bundesamts für Gesundheit (BAG)
interessiert an neuen Modellen.
                                            und verantwortlich für den Direktionsbereich Gesundheitspolitik. Zuvor war
                                            er Leiter des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums sowie Mitinhaber und
PR: Sehen Sie das auch so, Herr Spycher?    Geschäftsleiter des Büros für arbeits- und sozialpolitische Studien, BASS.
SS: Zwei Drittel der Bevölkerung haben      Im Oktober 2020 wird er CEO von Careum.
ja heute schon ein spezielles Versiche-
rungsmodell.

PR: Also ein Hausarzt- oder                 —
                                            Antoine Hubert ist Delegierter des Verwaltungsrats der Klinik- und Hotelgruppe
HMO-Modell, zum Beispiel?
                                            Aevis Victoria. Innerhalb der Gruppe leitet er die Swiss Medical Network SA
SS: Genau. Und deshalb glauben wir,
                                            mit 23 Spezialkliniken in der ganzen Schweiz. Bevor Antoine Hubert 2002 einen
dass die Anlaufstelle «Erstberatung         Anteil an der Clinique de Genolier erwarb und 2004 das Swiss Medical
Gesundheit» mehrheitsfähig ist. Bei den     Network gründete, war er hauptsächlich in den Bereichen Liegenschaften und
koordinierten Versorgungsnetzwerken         Immobilien tätig.

14   im dialog 2/2020
Im Gespräch

denken wir, dass sie auch für junge Ärzte     viel mehr Möglichkeiten. All die Informa-      Hürden abbauen, den Kontrahierungs-
attraktiv sind. Viele wollen nicht mehr       tionen beispielsweise, die man mit den         zwang zum Beispiel?
selbstständig sein, sie lassen sich lieber    Gesundheits-Apps auf seinem Mobilte­           SS: Ich bin Ökonom. Strenggenommen
anstellen, weil sie im Netzwerk alles ha-     lefon sammelt, können ins EPD fliessen.        gibt es in dem Konzept, das wir in der
ben, auch eine technisch hervorragende        AH: Und wenn das Coronavirus einen             Schweiz haben, im regulierten Wettbe-
Infrastruktur. Und das ist der Hebel zu       Vorteil hat, dann den, dass es die Digitali-   werb, keinen Kontrahierungszwang. Aus
den Patienten: Wenn die merken, dass die      sierung im Gesundheitswesen beschleu-          ökonomischer Sicht ist der Kontrahie-
Qualität bei den Netzwerken stimmt, dass      nigen wird.                                    rungszwang ein Systemfehler. Die Frage ist
die angeschlossenen Stellen gut aufein-                                                      aber schon sehr lange politisch umstritten,
ander abgestimmt und jederzeit hervorra-      PR: Ich bin nicht sicher, ob alle Versi-       und ich denke, man muss hier pragmatisch
gend dokumentiert sind, dann schliessen       cherten ihre Gesundheitsinformationen          sein und akzeptieren, dass man das jetzt
sie sich freiwillig diesen Netzen an. Aber    an einem Ort versammelt haben möch-            nicht ändern kann. Aber rein systemlogisch
ich bin mit Herrn Hubert einig, dass es       ten – ohne zu wissen, wer in der langen        müssten wir die Vertragsfreiheit haben.
eine Generation braucht. Es wäre nur mit      Versorgungskette alles darauf zugreifen
Zwang schneller umzusetzen, aber Zwang        kann …                                         PR: Das integrierte Modell, wie Sie
entspricht nicht unseren Werten.              SS: Sie können bei jedem Befund, bei           es ganz am Anfang vorgeschlagen haben,
                                              jedem Dokument entscheiden, wer von            Herr Hubert, funktioniert nur mit
PR: Ihr Optimismus in Ehren, Herr             den 30 000 angeschlossenen Gesund-             Vertragsfreiheit richtig?
Spycher, aber wenn ich sehe, wie lange        heitsfachpersonen Zugriff haben soll und       AH: Ja, ein integriertes Modell kann mit
es gedauert hat, bis das elektronische        wer nicht. Die Frage ist natürlich: Wer-       Vertragszwang nicht funktionieren. Aber
Patientendossier (EPD) dieses Jahr            den Sie diesen Aufwand betreiben? Aber         der Patient hat ja zum Glück die Wahl,
endlich eingeführt wurde – auf freiwilliger   grundsätzlich haben Sie als Patient eine       in ein beschränktes System zu gehen oder
Basis und mit PDF statt einer richtigen       hohe Selbstbestimmung. Und ja, wie jedes       in ein nicht beschränktes. Und das System
Datenbank …                                   IT-System ist auch dieses nicht zu hundert     ohne Beschränkungen wird dann halt
SS: Die Erstversion des EPD ist noch          Prozent sicher. Wir werden es so sicher        teurer sein.
nicht die Luxusversion, klar, es ist eine     wie möglich entwickeln und aus Fehlern
Startversion, und die muss man jetzt wei-     lernen. Aus lauter Angst nichts zu tun,        PR: Und dafür brauchen wir auch
terentwickeln. Das EPD ist das Rückgrat       wäre falsch. Wir müssen das Risiko mini-       keine Gesetzesänderung?
der koordinierten Versorgung. Im Ausland      mieren, aber wir müssen dieses minimier-       SS: Die einzige Frage ist, wie schnell wir
ist es zum Teil schon längst eine Selbst-     te Risiko auch in Kauf nehmen.                 vorwärtsgehen wollen. Ich behaupte,
verständlichkeit, bei uns hat die Einfüh-                                                    im Jahr 2030 werden wir in der Schweiz
rung zehn Jahre gedauert, das muss            PR: Über einen Player haben wir bisher         ausschliesslich koordinierte Versorgungs-
man respektieren. Aber jetzt können wir       nicht geredet: den Versicherer. Herr           modelle haben. Wollten wir sie jetzt, im
vorwärtsschauen und dieses Instrument         Hubert, rennen Sie mit Ihrem Modell im         Jahr 2020, einführen, gäbe es viele Wider-
einsetzen.                                    Berner Jura bei den Krankenversicherern        stände. Es muss als zarte Pflanze anfangen,
                                              offene Türen ein?                              und in ein paar Jahren sagen wir dann,
PR: Herr Hubert, reicht Ihren Kliniken        AH: Was ist der Zweck einer Versiche-          wir möchten das wachsen lassen, bis es
eine PDF-Sammlung, um Ihre Vorstellung        rung? Ihre Hauptaufgabe ist es, den            immer stärker wird. Und in zehn Jahren
von integrierter Versorgung umzusetzen?       Risikoausgleich zu machen. Das kann            werden wir unser Ziel erreicht haben.
AH: Man muss mit etwas beginnen.              aber auch ein Algorithmus. Vor 20 Jahren,
Das EPD ist ein erster Schritt, ein Anreiz    als alles noch manuell erledigt werden
für die verschiedenen Player, Daten           musste, da brauchte es Versicherungen.
zu sammeln. Jetzt muss man noch das           Aber heute nicht mehr, sie sind eigentlich
richtige System finden, um es automa-         überflüssig. Das ist auch der Grund,
tisch mit den Daten zu füllen.                warum die Versicherungen bei diesem
                                              Thema nicht wirklich mitmachen. Die
PR: Aber davon sind wir noch                  integrierte Versorgung kannibalisiert ihren
weit entfernt.                                eigentlichen Zweck.
AH: Es ist eine riesengrosse Arbeit.
Wir haben in der Schweiz 37 000 Ärzte,        PR: Herr Spycher, teilen Sie diese
die sich zuerst einmal mit dem System         Ansicht? Werden die Versicherungen
vernetzen müssen. Und dann muss das           überflüssig?
System noch einfacher werden, inter-          AH: Sie dürfen bei dieser Frage den Joker
aktiver, benutzerfreundlicher. Aber das       einsetzen!
kommt schon.                                  SS: Wir haben in der Schweiz schon
SS: Ich bin froh, dass Herr Hubert so         mehrfach über die Einführung einer Ein-
argumentiert. Ich sehe das genau gleich.      heitskasse abgestimmt. Die Ergebnisse
Wir haben jetzt eine Startkonfiguration       waren immer eindeutig. Ich glaube, man
mit PDF, und klar werden Leute sagen, das     muss akzeptieren, dass die Bevölkerung
sei «letztes Jahrhundert». Aber es geht       mehrere Versicherer möchte. Das gibt
ja weiter. Schon nächstes Jahr wollen         Wettbewerb, und der Wettbewerb soll            —
                                                                                             Patrick Rohr ist Journalist, Fotograf und
wir schweizweit strukturierte Information     etwas Positives bewirken, auch zwischen
                                                                                             Moderator. Er leitet eine eigene Firma für
im System haben: Medikamente mit              Leistungserbringern.
                                                                                             Kommunikationsberatung in Zürich. Bis 2007
Dosierungen, Impfungen, Notfallausweise                                                      arbeitete er als Redaktor, Redaktionsleiter
und so weiter. Und durch die Digitalisie-     PR: Aber müsste man dann konsequen-            und Moderator für das Schweizer Fernsehen
rung im Gesundheitswesen gibt es noch         terweise nicht gewisse gesetzliche             (u.a. «Schweiz aktuell», «Arena» und «Quer»).

                                                                                                                    im dialog 2/2020   15
Persönlich

Für eine optimale Betreuung ist die Spitex auf eine verbindliche Zusammenarbeit
mit den Versorgungspartnern angewiesen. In welchen Bereichen dies bereits gut
funktioniert – und wo noch Verbesserungspotenzial besteht.
Von Christina Brunnschweiler

Nahtlos betreut?

          I         ntegrierte Versorgung ist in aller Munde. Für die
                    Spitex ist die verbindliche und geplante Zusam-
                    menarbeit aller Versorgungspartner zentral. Je
                    stringenter diese erfolgt, umso effektiver, effizi-
                    enter und nachhaltiger kann ambulant gepflegt
             werden. Aber: Ohne den Einbezug und die aktive Ko-
             operation von Patienten und ihren Vertrauensperso-
                                                                          tionsbedarf im Bereich der medizinisch-pflegerischen
                                                                          Abstimmung, konkret:
                                                                          • Medikation resp. Polymedikation, Medikamenten-
                                                                            Compliance
                                                                          • Therapeutische Absprachen, besonders Mobilisation
                                                                          • Schmerztherapien, Advanced Care Planning bei kom-
                                                                            plexen, insbesondere palliativen Situationen
             nen ist insbesondere im ambulanten Sektor die Ver-           In diesen Situationen und mit den entsprechenden
             sorgung weder erfolgreich noch nachhaltig wirksam.           Versorgungspartnern erleben wir die Zusammenar-
             Die Spitex verfügt in diesem Bereich über eine lang-         beit zunehmend besser, wenn auch vielfach noch
             jährige Erfahrung; das Vereinbaren und Nutzen er-            nicht übergeordnet geplant. Das auf allen Ebenen
             folgreicher Verbindungen und «Andockstellen» in der          vorhandene Engagement für den einzelnen Patienten
             Versorgungskette gehört zu ihren Kernkompetenzen.            erlaubt meistens eine reibungslose Zusammenarbeit.
                                                                          Förderlich für die Kooperation ist ausserdem, dass die
             Wen und wie die Spitex betreut                               Ärzte und Versorgungspartner die Kompetenzen des
             Im Jahr 2018 pflegte und betreute die Spitex in der
             Schweiz fast 370 000 Personen. Dies entspricht knapp
             4 Prozent der Gesamtbevölkerung. Bei rund zwei von
             drei Personen handelte es sich um Frauen und bei
             44 Prozent um Personen ab 80 Jahren.
                 Interessant ist der beträchtliche Anteil an Kundinnen
             und Kunden unter 65 Jahren, wobei die Mehrheit chro-
             nisch – somatisch oder psychisch – erkrankt ist (siehe
             Abbildung). Rund 47 Prozent aller betreuten Personen              Von Spitex-Diensten betreute Fälle, 2018
             brauchen nur eine zeitlich beschränkte Unterstützung,             Anzahl nach Art der Leistung und Alter
             sei es aufgrund einer palliativen Situation oder weil sie
             infolge einer Hospitalisation auf eine Intervention an-
             gewiesen sind (siehe Tabelle). Bei knapp der Hälfte al-           Pflegeleistungen                                  Männer    Frauen
             ler Fälle ist also eine optimal aufeinander abgestimmte                          0            20 000       40 000    60 000   80 000
             Zusammenarbeit der Versorgungspartner besonders
             wichtig. Bei psychiatrischen und palliativen Kunden                0–64 Jahre
             funktioniert die enge interprofessionelle Zusammen-
             arbeit bereits gut. Verbesserungspotenzial besteht                65–79 Jahre
             insbesondere bei chronischen Erkrankungen wie z.B.
             Amyotropher Lateralsklerose (ALS) oder Multipler Skle-
                                                                                 80+ Jahre
             rose (MS). Bei diesen müssen Ärzte, Sozialstellen und
             Versicherungen besonders eng zusammenarbeiten.
             Auch die Compliance der Betroffenen ist zentral, also
             die Bereitschaft der Kundinnen und Kunden, sich helfen            Hauswirtschaftliche Leistungen                     Männer   Frauen
             zu lassen und den Informationsfluss zwischen den in-
             volvierten Stellen aktiv und positiv zu unterstützen.                            0            20 000       40 000    60 000   80 000

                                                                                0–64 Jahre
             Der Koordinationsbedarf variiert
             Die verbindliche, geplante Zusammenarbeit aller Ver-
             sorgungspartner ist – neben den palliativen Situatio-             65–79 Jahre
             nen – auch für all jene Kundinnen und Kunden von
             grosser Bedeutung, die mit chronischen Krankheiten                  80+ Jahre
             zu Hause leben möchten. Die grosse Mehrheit von
             ihnen leidet zudem unter Mehrfacherkrankungen. Bei
             solchen Fällen besteht ein besonders hoher Koordina-              Quelle: Halbjahresbericht 2019, Spitex Zürich Limmat AG

16   im dialog 2/2020
Persönlich

                                         Unterstützungsleistungen der Spitex Zürich Limmat AG
                                         Zeitraum: 1.7.2017–31.12.2019. N=89 591

                                         Art der Intervention                                                 Fälle in %

                                         Reguläre Hilfe- und Pflegesituation                                         51%
                                         Isolierte, zeitlich begrenzte, therapeutische Leistung                      26%
                                         (wie z.B. Heparin, Augentropfen, Stützstrümpfe)
                                         Zeitlich begrenzte Hilfe im Haushalt                                        14%
                                         Klientin mit psychiatrischen Problemen                                       5%
                                         Klientin in einer Palliativsituation                                         3%
                                         Klientin lehnt die Bedarfsabklärung mit dem MDS-HC ab                        1%
                                                                                                                    100%

                                         Quelle: Halbjahresbericht 2019, Spitex Zürich Limmat AG

Pflegefachpersonals heute verstärkt wahrnehmen und          eines solchen Systems. Dessen Aufbau kostet zunächst
dass das Personal hinsichtlich integrierter Versorgung      Zeit und Geld, wird von niemandem bezahlt, und die
zunehmend besser ausgebildet ist. Hinderlich hinge-         positiven Effekte zeichnen sich oft erst später ab.
gen sind häufig finanzielle Hürden, wenn es um nicht            Zusammenfassend stehen für die Spitex im Be-
verrechenbare Leistungen wie Material, Medikamente          reich der integrierten Versorgung also gut funktio-
oder ähnliche Aspekte geht. Darüber hinaus braucht          nierende Nahtstellen zwischen den «formellen» Ver-
die Koordination über die einzelnen Stellen hinweg          sorgungspartnern im Fokus. Hier hoffen wir, mit dem
Zeit, die oft nicht vergütet wird.                          elektronischen Patientendossier (EPD), Swiss Health
    Integrierte Versorgung bei chronisch mehrfach er-       Information Processing (SHIP) und anderen digitalen
krankten Menschen umfasst aber noch sehr viel mehr.         Kommunikationssystemen weitere wichtige Schritte
So müssen zusätzlich mit den entsprechenden Part-           zu machen. Koordinierte Versorgung im ambulanten
nern aus Versicherungen, Sozialbehörden usw. sowie          Setting bei mehrfach chronisch erkrankten Menschen
Kundinnen und Kunden und deren Vertrauensperso-             gelingt aber in aller Regel nur, wenn auch das infor-
nen Fragen angegangen werden wie:                           melle «Helfernetz» in die Koordination eingebunden
• Hat der Kunde ein soziales Umfeld, oder ist er ein-       ist und die finanziellen Aspekte so geregelt werden,
  sam? Wie viel soziale Integration möchte er?              dass die Betroffenen die von ihnen bestimmte Lebens-
• Wie ist die Wohnsituation, braucht es eine Anpassung?     qualität zu Hause in Würde leben können.
• Braucht es ein Case Management?
• Wie ist die Finanzierung sichergestellt, wenn kein
  Arbeitseinkommen mehr erzielt werden kann?
• Ist eine ergänzende Finanzierung notwendig, z.B.          —
                                                            Christina Brunnschweiler ist CEO der operativen
  Ergänzungsleistungen (EL)?
                                                            Betriebsgesellschaft Spitex Zürich Limmat AG.
• Überfordern ihn die vielen Rechnungen, ist hier pro-      Diese erbringt Spitex-Leistungen für die Stadtzürcher
  fessionelle Entlastung nötig?                             Bevölkerung auf zwei Dritteln des Stadtgebiets.
Vielfach verunsichern die unterschiedlichen Haltun-         Ca. 1050 Mitarbeitende kümmern sich um das Wohl
gen und Ratschläge der involvierten Fach- und Ver-          von jährlich rund 6500 Kundinnen und Kunden.
trauenspersonen zusätzlich, und auf kommunikativer
Ebene wäre eine Abstimmung oft hilfreich.

Das «informelle» Helfernetz ist wichtig
Nicht vergessen darf man im Rahmen der integrier-
ten Versorgung auch, dass sehr viele Kundinnen und
Kunden unter kognitiven Einschränkungen oder (vor­
übergehenden) psychischen Störungen wie z.B. De-
pressionen aufgrund chronischer Krankheiten leiden.
Entsprechend schwierig ist es, ein funktionierendes
Helfersystem aus An- und Zugehörigen, Nachbarn
oder Menschen aus sozialen Netzwerken vor Ort für
diese Menschen aufzubauen. Tatsächlich scheitert
eine gute Versorgung häufig am mangelnden Einbezug

                                                                                                             im dialog 2/2020   17
Die andere Sicht

Der Aufzughersteller Schindler behandelt die verschiedenen
Stakeholder in der Lieferkette als gleichberechtigte Partner. Ralph Koch*
über die innovative Kraft dieser integrativen Zusammenarbeit.
Von Manuela Specker

«Wir teilen die Vorteile
mit unseren Partnern»

                                                                       hen und wie wir mit Problemen umgehen. Genauso
                                                                       wichtig wie der Materialfluss sind also auch der Infor-
                                                                       mations- und der Wertefluss. Relevante Infos müssen
                                                                       in der ganzen Lieferkette zeitnah verfügbar gemacht
                                                                       werden.
                                                                            Überhaupt ist es zentral, alle Akteure in der Liefer-
                                                                       kette als Partner zu sehen: Wenn wir gemeinsam die
                                                                       Prozesskosten senken oder die Performance verbes-
                                                                       sern, teilen wir auch die Vorteile mit allen Beteiligten
                                                                       in der Lieferkette. Indem auch sie konkret davon pro-
                                                                       fitieren, ist es genauso in ihrem Interesse, in eine part-
                                                                       nerschaftliche Zusammenarbeit zu investieren und ein
                                                                       gemeinsames Ziel vor Augen zu haben. Die Digitalisie-
                                                                       rung hat ganz neue Möglichkeiten geschaffen, Abläufe
                                                                       zu optimieren und Stakeholder miteinander zu vernet-
                                                                       zen. Unsere Servicetechniker bestellen die Ersatzteile
                                                                       heute per App auf dem Smartphone. Tun sie das bis
                                                                       17 Uhr, erhalten sie vom Nachtexpresskurier Post
                                                                       Innight das benötigte Material bis am Morgen um
 «Wir entwickeln nicht nur                                             6 Uhr direkt ins Auto geliefert, statt dass sie im Morgen-
                                                                       verkehr zuerst das Materiallager aufsuchen müssen.
gemeinsam, wir investieren                                                  Wir treiben bei Schindler zudem den Anschluss
     auch gemeinsam und                                                unserer Aufzüge und Fahrtreppen ans Internet der
                                                                       Dinge mit Hochdruck voran. So können unsere Anla-
   sitzen im selben Boot.»                                             gen teilweise heute schon Störungen selbst melden:
                                   Ralph Koch                          Noch bevor der Kunde überhaupt etwas merkt, wird
                                                                       der Servicetechniker aufgeboten oder der Aufzug per
                                                                       Fernzugriff neu gestartet. Dieser Bereich hat grosses

           U
                                                                       Potenzial: Schon heute sind viele unserer Anlagen
                                                                       vernetzt und können von unserem Standort in Ebikon
                              m Wertschöpfungsketten zu optimie-       aus überwacht werden. Um die künstliche Intelligenz
                              ren, muss man zuerst die Logistik oder   voranzutreiben, sind wir eine strategische Zusammen-
                              die vernetzten Prozesse innerhalb der    arbeit mit General Electrics eingegangen.
                              eigenen Firma im Griff haben. Für uns         Damit unternehmensübergreifende Wertschöp-
                              ist die Verfügbarkeit der Ersatzteile    fungsketten funktionieren, braucht es einen langfristi-
           entscheidend. Können wir alle Materiallieferungen si-       gen Horizont. Entsprechend sind wir nie auf der Suche
           cherstellen? Funktioniert ein Lift nicht mehr, müssen       nach dem billigsten Anbieter, sondern wir sind interes-
           wir den Fehler rasch beheben können.                        siert an einer langfristigen, verlässlichen Zusammenar-
               Die Komplexität ist hoch: Wir haben mit vielen          beit und somit an strategischen Partnerschaften. Wir
           Stakeholdern zu tun, seien es Lieferanten, Service-         entwickeln nicht nur gemeinsam, wir investieren auch
           dienstleister oder Logistikpartner. Die Integration in      gemeinsam und sitzen im selben Boot.»
           die Wertschöpfungskette fängt bereits bei unserer Ent-
           wicklungsabteilung an, die Produkte gemeinsam mit
           Partnern entwirft und so auch von deren Innovations-
           kraft profitiert. Im konkreten Einsatz ist es entschei-
                                                                       —
                                                                       Ralph Koch* ist Head of Supply Chain
           dend, dass alle Komponenten zeit- und kostengerecht         bei der Schindler Aufzüge AG (Switzerland).
           auf der Baustelle eintreffen. Dafür braucht es ein ge-      Der Wirtschaftsingenieur hat einen MBA
           meinsames Verständnis, was wir unter Qualität verste-       in Supply Chain Management der ETH Zürich.

18   im dialog 2/2020
Sie können auch lesen