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Fragmentierung: warum eigentlich nicht? Seite 4 Integrierte Versorgung: Voraussetzungen und Hindernisse Seite 20 auf n l ine s.ch O .cs dialog log dia im Lückenlos Im Fokus: Integrierte Versorgung – wie weiter? Ausgabe 2/ 2020
Echo Expertengruppe Annamaria Müller Spielraum Anreiz schaffen ausschöpfen! «Bezahlt würde künftig nicht mehr «In den gut 20 Jahren seit Inkraftsetzung die einzelne Leistung, sondern des KVG wurde der vorhandene Spielraum für die gesamte Versorgung. So be- kostendämpfende Innovationen von den steht ein anderer Anreiz als heute: Akteuren nur unbefriedigend ausgeschöpft.» nämlich so wenig Leistungen so Bericht Kostendämpfungsmassnahmen zur Entlastung der günstig wie möglich zu erbringen.» obligatorischen Krankenpflegeversicherung, 24.8.2017 Verwaltungsratspräsidentin des freiburger spitals (HFR), NZZ, 20.1.2020 Barbara Züst Einseitige Sichtweise «Versicherte erkennen noch zu wenig, dass für sie MC nicht primär aus Prämienreduktionsgründen von Vorteil ist, sondern dass z.B. durch die Standar- disierung der Therapie-Abläufe erhebliche Qualitätsvorteile resultieren.» Ehem. Geschäftsführerin SPO, SGGP – Managed Care Swiss made, 2019 Felix Huber Es braucht Transparenz «Versicherungen sollen die unterschiedlichen Qualitäts-/Ratingergebnisse bei den Haus- Urs Zanoni arztnetzen öffentlich transparent machen.» Verwaltungsratspräsident mediX zürich, I-n-t-e-g-r-i-e-r-t SGGP-Tagung, 2.4.2019 «Eine integrierte Versorgung braucht auch eine integrierte Finanzierung und integrierte Vergütungen.» Geschäftsführer fmc, Netzwoche, Swiss eHealth Forum 2019, 8.3.2019
Editorial/Inhalt Folgen Sie uns auf Twitter: twitter.com/CSSPolitik Sanjay Singh ist Leiter Leistungen und Produkte der Ein weiter Weg CSS Versicherung. Inhaltsverzeichnis 4 I ntegrierte Versorgung – wie weiter? Stellen Sie sich vor, alle reden von integrierter Versorgung und finden sie Fragmentierung: warum eigentlich nicht? toll – doch nichts passiert. Etwa so kommt es mir vor, wenn das Thema zur Diskussion steht. Seit Jahren wird integrierte Versorgung nicht bloss 7 Standpunkt von uns Krankenversicherern als mögliche Strategie für ein qualitativ Vergütungsmechanismus: hochstehendes und gleichwohl bezahlbares Gesundheitswesen propa- Gesamtsicht nötig giert. Doch ebenso lange treten wir bereits an Ort. Statt dass alle Hintergrund 10 Leistungserbringer zur rechten Zeit den richtigen Beitrag leisten können Anreize für mehr Effizienz und wollen, herrscht noch immer Fragmentierung pur. Eine integrierte 11 Praxis Versorgung ist in den verschiedenen Tarifsystemen nicht vorgesehen. Aus einer Hand Und von einer gemeinsamen Datenbasis als zentrale Grundlage sind wir noch meilenweit entfernt. 12 Im Gespräch «2030 wird es nur noch Dass das Thema auch bei vielen Versicherten noch nicht wirklich koordinierte Modelle geben» angekommen ist und verstanden wird, zeigt auch der Umstand, dass 16 Persönlich zwar viele ein entsprechendes Versicherungsmodell gewählt haben, Nahtlos betreut? zum Beispiel ein HMO-Modell. Meist stehen jedoch eher monetäre Die andere Sicht 18 Anreize (HMO = günstig) denn gesundheitliche Überlegungen «Wir teilen die Vorteile mit unseren (HMO = gut, weil vernetzt und günstig) im Vordergrund. All dies zeigt: Partnern» Wollen wir dereinst über eine integrierte Versorgung verfügen, die diesen Namen auch verdient, müssen wir noch einen weiten Weg Santé! 19 gehen – auf allen Ebenen. Denn es geht um nichts weniger, als den Kollateralschaden? vermeintlichen Widerspruch zu lösen, dass etwas weniger kosten kann, 20 Wissenschaft die Qualität aber gleichwohl hoch ist und weniger teure Ressourcen Integrierte Versorgung: Voraussetzungen beansprucht werden. Vielleicht kann die vorliegende Ausgabe von und Hindernisse «im dialog» entsprechende Anstösse vermitteln. Die Beiträge finden Sie auch online unter dialog.css.ch Impressum Erscheint dreimal jährlich in deutscher und französischer Sprache. Herausgeber: CSS Versicherung, Tribschenstrasse 21, CH-6002 Luzern, E-Mail: dialog@css.ch, Internet: www.css.ch, Chefredaktion: Bettina Vogel, Roland Hügi; Redaktionelle Mitarbeit, Produktion und Grafik: Infel AG | Bildnachweise: Désirée Good, Mike Flam, Daniel Thalmann, iStock/ Jfanchin, Keystone/ Westend61 /Josep Suria | Lithos: n c ag, 8902 Urdorf | Druck: Kromer Print AG, 5600 Lenzburg. Diese Publikation wird vollständig aus Mitteln aus dem Zusatzversicherungsgeschäft (VVG) finanziert. im dialog 2/2020 3
Integrierte Versorgung – wie weiter? Trotz der wachsenden Bedeutung von Vernetzung und Koordination existiert weltweit keine allgemein akzeptierte Definition von integrierter Versorgung. Ist es möglich, dass Letztere einfach als funktionale und kommunikative Klammer für die unterschiedlichen Ansprüche an die Neugestaltung der Gesundheitsversorgung benutzt wird? Von Peter Berchtold Fragmentierung: warum eigentlich nicht? MODELL 1 GRUNDVERSORGUNGS- ZENTRUM D a sind wir uns alle einig: Die Vernet- zung und Integration innerhalb der und zwischen den verschiedenen Sektoren ist ebenso wesentlich für INTEGRIERTE eine qualitativ hochstehende und ef- fiziente Gesundheitsversorgung wie VERSORGUNG intensive Kooperationen zwischen den Gesundheits- berufen. Die wachsende Bedeutung von Vernetzung – und Kooperation liegt primär darin, dass sich die diagnostischen und therapeutischen Interventions- ZWEI IDEEN möglichkeiten immer stärker spezialisieren. Denn mehr Spezialisierung verteilt sich zwangsläufig auf DER CSS mehr Fachpersonen und Institutionen, was die Be- handlungswege der Patienten ebenso zwangsläufig in immer kleinere Abschnitte teilt. Das ist der Hintergrund der heute viel diskutierten MODELL 2 und ebenso häufig beklagten Fragmentierungen der DYNAMISCHES Gesundheitsversorgung – und zwar überall in Euro- NETZWERK pa, auch wenn sich die Fragmentierungen und Inte- grationsbemühungen von Land zu Land unterschei- au f 6 den können. Ebenso einhellig wie die Klagen über das SeiteDF Problem ist der Ansatz für dessen Lösung: integrierte im P Versorgung. Doch was meint der Begriff? Daher kommt die Fragmentierung Trotz der wachsenden Bedeutung von Vernetzung und Koordination existiert weltweit keine allgemein akzep- tierte Definition, vielmehr herrscht ein Wirrwarr. Dennis L. Kodner, einer der angesehensten Wissenschaftler in diesem Gebiet, hat dieses Gewirr einmal «the im- precise hodgepodge of integrated care» genannt, also ein «schwammiges Durcheinander der integ- rierten Versorgung». Ein solches Durcheinander kann auf den ersten Blick als Ärgernis erscheinen. Auf den zweiten Blick wirft es die Frage auf, ob integrierte Ver- sorgung überhaupt ein eigenständiger Ansatz ist oder einfach als funktionale und kommunikative Klammer für die unterschiedlichen Ansprüche an die Neugestal- tung der Gesundheitsversorgung benutzt wird. Dafür 4 im dialog 2/2020
Standpunkt Integrierte Versorgung im eigentlichen Sinne ist im heutigen Setting nur bedingt erlebbar. Es braucht Vergütungsmechanismen mit einer Gesamtsicht und den Gegebenheiten angepasste Modelle. Vergütungsmechanismus: Luca Emmanuele ist Leiter Gesamtsicht nötig der Abteilung Einkaufsmanagement Leistungen der CSS Versicherung. Fehlende oder falsche Anreize, Informa- Deshalb sind sie in die entsprechende tionsasymmetrien und Unverbindlichkeit Langfristplanung miteinzubeziehen. in der Zusammenarbeit kennzeichnen die heutige Versorgungslandschaft. Aufgrund der Vielzahl verschiedener Krankenversicherer reagieren darauf mit Anknüpfungspunkte innerhalb der und alternativen Versicherungsmodellen – der wechselseitigen Abhängigkeiten die jedoch nur selten zu integrierten zwischen den Versorgungsstufen ist ein Versorgungsstrukturen führen. Neue einzelnes, übergeordnet gültiges Modell Rahmenbedingungen könnten vielver- wenig erfolgversprechend. Vielmehr sprechende Impulse für attraktive müssen regionale (urban vs. rural) Vergütungsmodelle, Zusammenarbeits- und inhaltliche (diagnosebezogen, z.B. formen, aber auch neuartige Versiche- als Diabetes-Behandlungspfad, oder rungsprodukte auslösen. Alldem stehen dringlichkeitsbezogen, z.B. Akut- und jedoch die heutigen Vergütungssysteme Chroniker-Behandlungspfade) Modelle gegenüber. Sie greifen in keiner Weise angestrebt werden. Künftig muss es ineinander und zementieren so Einzel- möglich sein, integriert auf den individu- kämpfertum und sektorielles Handeln. ellen Fall zu reagieren. Dazu braucht Den Leistungserbringern fehlt schlicht es transparent verfügbare, behandlungs- der monetäre Anreiz, eine vernetzte relevante Informationen sowie eine hohe Versorgung aufzubauen und aufrechtzu- Verbindlichkeit zwischen den Leistungs- erhalten. erbringern. Und hier schliesst sich der Kreis zu den Rahmenbedingungen: Nur Die CSS befürwortet daher wesentliche wenn diese in allen Belangen für alle Änderungen der Rahmenbedingungen: stimmen, können sie als Katalysatoren Ein Vergütungsmechanismus mit fungieren. Auch für die Patientinnen und einer Gesamtsicht und unter Einbezug Patienten. Denn sie entscheiden, welche von Outcome-Parametern (ob z.B. Leistungen sie nachfragen und welchen eine Behandlung wirksam war) kann Leistungserbringer sie wählen. genügend finanzielle Anreize setzen. Zudem sollen Praxisbewilligungen und Leistungsaufträge nur dann vergeben werden, wenn eine integrierte Versor- Als Diskussionsgrundlage stellt gung angestrebt wird. Solche einschnei- die CSS in der Infografik auf den Seiten 5 denden Änderungen werden Widerstand und 6 zwei Modelle vor, wie integrierte bei den Leistungserbringern hervorrufen. Versorgung in Zukunft aussehen könnte.
MODELL 1 GRUNDVERSORGUNGS- ZENTRUM LEGENDE Geldfluss Verträge Datenfluss Beispielhafter Weg des Patienten ndossier Leistungs- nte erbringer ie Zusatz- at Spital leistungen Datenruck- P sack: elek- es tronische Elektronisch Behandlungs- dokumenta- tion Spezial- Spitex arzt Zusatz- GVZ leistungen Grundversorgungszentrum (Ärztegruppenpraxis mit z.B. Spitex, Physiotherapie, CCM-Fachperson) Thera- peut ienten Apotheke Pat ür Patient f le st el l a uf An Erste erhält legt Qualitätsstandards fest Qualitätsdaten und vergütet GVZ Kranken- versicherung gibt Bedingungen für Verträge vor, hat keinen Zugriff auf elektronisches Patientendossier Alle Versicherten sind verpflichtet, ein Grundversorgungszentrum Das GVZ und die Versicherer verhandeln die jeweilige Baserate (GVZ) zu wählen. Das GVZ besteht aus Fachrichtungen der Grund- basierend auf einem Benchmarking bezüglich Qualität und Effizienz. versorgung und hat zusätzlich Verträge mit Partnern aus allen Die verhandelten Pauschalen ersetzen die einzelnen Tarifstrukturen relevanten medizinischen Fachbereichen. Chronic-Care-Fachperso- (TARMED, DRG usw.) und gelten für die gesamten medizinischen nen sind ein wichtiger Bestandteil des GVZ. Der Behandlungspfad und paramedizinischen Behandlungen. der Patienten führt nach Überweisung zu den Partner-Leistungs QUALITÄTS- UND EFFIZIENZSICHERUNG Das GVZ wählt seine erbringern sternförmig wieder zum GVZ zurück. Partner nach Qualitäts- und Effizienzkriterien aus. Der Versicherer DATEN Das elektronische Patientendossier ist für alle Beteiligten erstellt ein Benchmarking aufgrund der Qualitätsdaten. obligatorisch, die Krankenversicherer haben keinen Zugriff darauf. VERGÜTUNGSMECHANISMUS Das GVZ erhält im Voraus auf den Behandlungsbedarf seiner Mitglieder abgestimmte Leistungspau- schalen, basierend auf einer national einheitlichen Tarifstruktur.
MODELL 2 DYNAMISCHES NETZWERK Leistungserbringern, e hlten rhäl sg ew ä t Be ha , au nd te n lun ilig gs -u ete b nd d Spital un Q ua n te lit en ät sd ati ate tP mi n , le Zweit- Liga ge meinung gt Q rträ Hausarzt ualit versicherung hat Ve ätsstand ards fest, ver Spezial- Apotheke Patient Spitex arzt Tele mediziner nken en g üt e nt at ie a P t. r f ür K Erste A laufstelle n Thera- Reha peut Chronic Care Die Leistungserbringer bilden ein virtuelles, durch Verträge mit den VERGÜTUNGSMECHANISMUS Die Leistungserbringer übernehmen Krankenversicherern definiertes Netzwerk. Die Patienten bewegen finanzielle Verantwortung für ihre Behandlung sowie den nächsten sich sequenziell von einem Leistungserbringer zum anderen. Die Behandlungsschritt. Die Vergütung basiert auf Vertrags- und gerade Behandelnden übernehmen die Verantwortung für ihre und Erfolgskomponenten sowie einer Feedback-Kultur. Shared Benefits die nächstweitere Behandlung (Überweisung) und dokumentieren geben Anreize für Leistungserbringer und Patienten für kosten dies im «Datenrucksack» (elektronische Patientenakte). Die bewusstes Handeln. Leistungserbringer werden in ihrer Entscheidung für den nächsten QUALITÄTS- UND EFFIZIENZSICHERUNG Das Modell basiert Behandlungsschritt durch datenbasierte Empfehlungen (KI) auf einem 360°-Feedback-System an die jeweiligen Behandelnden unterstützt. durch nachfolgende Leistungserbringer, Patienten, Versicherer, DATEN Durchgängige, verpflichtende Datensammlung im «Daten- evtl. Angehörige. Zusätzlich zum 360°-Feedback werden Behand- rucksack» des Patienten. Die Krankenversicherer haben auch Zugriff lungs- und Qualitätsdaten sowie weitere Indikatoren erhoben, die, auf diesen Datenrucksack und können Daten ergänzen. wie auch die Ergebnisse der Feedbacks, transparent sind.
Integrierte Versorgung – wie weiter? spricht, dass die Kluft zwischen den zahllosen Forde- rungen nach mehr Integration und den ebenso zahllo- sen Feststellungen, dass es an Umsetzungen mangelt, stetig grösser wird. Die Unklarheit des Begriffs «integrierte Versor- gung» weist auf eine weitere Frage hin – und mögli- cherweise liegt da der Hund begraben: Woher kommt die Fragmentierung der Versorgung, die wir so selbst- verständlich als eines der grössten Hindernisse zu mehr Effizienz und Qualität verstehen? Ein Grund – die Spezialisierung – wurde bereits genannt. Andere gängige Antworten sind der gesetzliche Rahmen, un- geklärte Zuständigkeiten, fragmentierte Vergütungs- systeme sowie die ebenso fragmentierenden Interes- sen der Leistungserbringer. Selbstverständlich treffen alle diese Gründe zu – und greifen gleichzeitig zu kurz. Wie könnte es sonst sein, dass wir in praktisch allen Versorgungssystemen die beiden gleichen Phänome- ne beobachten: zunehmende Fragmentierungen auf Ein Phänomen fast aller Versor- der einen Seite, fehlende Integration auf der anderen. gungssysteme: zunehmende Was also könnte eine alternative Erklärung sein, und auf welche Ideen würde uns diese bringen? Fragmentierungen auf der einen Seite, fehlende Im «Normalfall» reicht die Routine Integration auf der anderen. Aus Forschungen zur interprofessionellen Zusam- menarbeit wissen wir heute, dass Gesundheitssysteme und ihre Organisationen grundsätzlich professionell orientiert und aufgebaut sind – und eben nicht in- sionellen Routinen und Verständnisse reichen – was terprofessionell. Das Rationale dieser professionellen an Effizienz kaum zu überbieten ist. Das ändert sich Orientierung ist, und darin liegt ihre Stärke, dass die erst, wenn der «Normalfall» unter Druck kommt. Zum unterschiedlichen Professionen wissen, was zu tun Beispiel dann, wenn nicht mehr eine einzelne, akute ist. Weshalb im «Normalfall» keine besonderen Ab- Krankheit, sondern ein Patient mit mehreren chroni- stimmungen zwischen ihnen nötig sind. Nehmen wir schen Krankheiten zu behandeln und betreuen ist. als Beispiel einen Patienten, der in eine Notfallstation Die Stärke des Zusammenspiels der Professionen im eingeliefert und von unterschiedlichen Berufsgruppen «Normalfall» wird dann zur Schwäche: Weil jeder nur behandelt wird: Jede Berufsperson weiss, was zu tun das tut, wofür er professionell zuständig ist, können ist. Die Notfallärztin weiss es, der Anästhesist weiss es, wichtige Aspekte und Zeichen wie Nebenwirkungen die Notfallpflegenden wissen es – und anschliessend von Eingriffen oder Interaktionen von Medikamenten auch die Pflegende auf der Station. Alle sind geschult übersehen werden. Mit anderen Worten: Hier ist Ko- und können ihre Kompetenzen – ohne grosse expli- ordination zwischen den Professionen verlangt, wo- zite Absprache und im Wissen mit die Interprofessionalität ins Spiel um die Routine – an der richtigen kommt. Stelle einbringen. In Kürze Dieses Beispiel verweist auf Fragmentierung als «Normalfall» eine grundlegende Funktionalität • Gesundheitssysteme Eindrücklich wird der «Normalfall», des «Normalfalls»: Hier ist keine und ihre Organisatio- wenn wir diese Metapher als Gedan- besondere, keine weitergehende nen sind grundsätzlich kenexperiment auf das ganze Ver- Kooperation nötig, die profes- fragmentiert und nicht sorgungssystem anwenden: Dann ist interprofessionell die Fragmentierung der Versorgung aufgebaut. nicht zwangsläufig ein Ärgernis, son- dern steht auch für ein ziemlich ef- fizientes Versorgungssystem. Ein an • Sowohl Fragmentierung Grippe erkrankter Mensch braucht wie auch Koordination nur eine Grundversorgerpraxis, ein und Integration haben Blinddarmpatient nur ein kleines Spi- ihre Bedeutungen und tal mit Operationssaal. Auch hier darf ihren Nutzen. • Erfolgversprechend sind differenziertere und auf die jeweilige Population und das Setting ausgerichtete Integrationsbestre- bungen. 8 im dialog 2/2020
Integrierte Versorgung – wie weiter? eine grundlegende Funktionalität des «Normalfalls» angenommen werden. Denn auch hier braucht es kaum weitergehende Integration oder Koordination. Und wenn wir uns vor Augen halten, dass die überwie- gende Mehrheit der Patienten glücklicherweise nicht an komplexen Krankheitsbildern leidet, dann dürfen diesem «Normalfall» sowohl Stärke wie Effizienz zu- geschrieben werden. Gleichzeitig kommt dieser «Normalfall» ebenfalls in Bedrängnis, wenn die Behandlungs- und Betreu- ungssituationen komplexer werden. Wenn nicht nur eine Spitex, ein Spital, eine spezialisierte Einrichtung oder eine Grundversorgerpraxis involviert sind, son- Weltweit existiert keine allgemein dern mehrere und parallel. Analog zur Interprofessio- nalität wird dann die Stärke des «Normalfalls» zu ei- akzeptierte Definition, ner Schwäche: Hier braucht es mehr Integration und vielmehr herrscht ein Wirrwarr. Koordination zwischen den Institutionen, womit die integrierte Versorgung ins Spiel kommt. Klar ist: Der «Normalfall» gerät zunehmend unter Druck und wird immer weniger normal. Denn die ste- tig steigende Zahl an Spezialitäten und Spezialisierun- Zwei Fazite gen ist immer schwieriger zu koordinieren. Auch weil Gesundheitssysteme und ihre Organisationen sind die demografisch bedingte Zunahme an chronischen aufgrund ihrer Historie grundsätzlich fragmentiert. Krankheiten das System, das auf die Behandlung aku- Dieser «Normalfall» stellt die Default-Position dar, die ter Krisen (eben den «Normalfall») getrimmt ist, mehr für viele Behandlungs- und Betreuungssituationen und mehr herausfordert. ausreichend (und effizient) ist. Gleichzeitig gerät das heutige Versorgungssystem an verschiedenen Stellen immer mehr unter Druck; seine Stärke droht immer häufiger in eine Schwäche umzuschlagen – nämlich dann, wenn komplexe Patienten mehr Koordination und Integration benötigen. Zweitens folgt daraus, dass sowohl Fragmentie- rung (des «Normalfalls») wie Koordination und Inte- gration (in komplexen Situationen) ihre Bedeutungen und ihren Nutzen haben. Wer nur nach mehr Koor- dination und Integration ruft und die Fragmentierung als Grundübel verachtet, hat schon verloren. Das ist der springende Punkt: Integrierte Versorgung kann nur gelingen, wenn wir unsere Integrationsbestrebungen Die stetig steigende Zahl an viel stärker als bisher differenzieren und auf die Anfor- Spezialitäten und Spezialisie- derungen der jeweiligen (Patienten-)Population, Ver- rungen ist immer schwieriger sorgungssettings und involvierten Versorgungsinstitu- zu koordinieren. tionen ausrichten. — Peter Berchtold ist Facharzt Innere Medizin und Mitbegründer sowie seit 1999 Co-Leiter des College für Management im Gesundheitswesen (college M) in Bern. Er ist Präsident des fmc, des Schweizer Forums für Integrierte Versorgung, und Vizepräsident der Schweizer Patientenorganisation (SPO). im dialog 2/2020 9
Hintergrund Die USA haben das teuerste Gesundheitssystem der Welt. Trotzdem ist eine effektive und effiziente Versorgung möglich. Kaiser Permanente hat die Lösung. Von Karin Cooke Anreize für mehr Effizienz I n vielen Ländern der Welt befasst man sich mit der Frage, wie die steigenden Gesundheitskos- ten bewältigt werden können – auch in den USA, wo das System besonders teuer ist. Mit ih- rem integrierten Modell zeigt Kaiser Permanente, wel- ches Potenzial für eine erfolgreiche und erschwingli- Integrierte Versorgung und Versicherungsdeckung Der Kaiser-Permanente-Ansatz organisiert Spitäler, Ärzte und Versicherungsmodelle, damit die Versorgung über alle Einrichtungen und Anbieter besser koordiniert und eine höhere Leistungsqualität che Versorgung in Gesundheitssystemen schlummert. für die Patienten sichergestellt ist. Im Kern schafft das Modell Anreize, die zu einer Kon- zentration auf eine effektive und effiziente Gesund- heitsversorgung führen. Kaiser 1. Die Mitglieder (Patienten) zahlen für ihre Gesund- Foundation heitsversorgung eine Versicherungsprämie. Die Vor- Versicherung auszahlung sorgt für finanzielle Stabilität und schafft (KFHP) Kaiser Permanente und ihren Mitgliedern Anreize für präventive Massnahmen, damit die Mitglieder gesund bleiben und Spitalaufenthalte vermieden werden. 2. Ärzte sind angestellt und erhalten ein fixes Ge- halt. Sie bestimmen, welche Behandlung erforderlich Leistungsverträge Medizinische ist, und legen die Standards für klinische Protokolle mit Spitälern Leistungsverträge fest. Es gibt keinen finanziellen Anreiz, mehr als das Notwendige zu tun. KP-Mitglieder 3. Spitäler erzeugen hohe Kosten. Behandlungs- teams und operative Leiter von Kaiser Permanente stellen sicher, dass Patienten nur wenn nötig im Spital sind und für die Nachsorge auch in andere Pflegeein- Kaiser Permanente Foundation Ärztenetz- richtungen verlegt werden. Dank solcher Bemühungen Spitäler (KFH) werke (PMG) waren die Anzahl Spitaltage und der Bedarf an neuen Spitälern rückgängig – trotz Patientenwachstum. 4. Integration durch Technologie. Das elektroni- organisieren organisieren sche Patientendossier vernetzt alle Behandlungsteams und stellen und stellen von Kaiser Permanente entlang des Patientenpfades. Spital- und medizinische Facility-Dienst- Leistungen bereit Dadurch kennt das gesamte Behandlungsteam die Pa- leistungen bereit tienten und kann ihnen genau die Prävention und die Behandlungen anbieten, die sie zur vollständigen Ge- nesung benötigen. Die Technologie ermöglicht auch Gemeinsamer Gesundheits- Vergütung einen engeren Kontakt zu den Mitgliedern durch virtu- Verwaltungsrat leistungen elle Interaktionen, und mit automatisierten Arbeitsab- läufen wird eine nahtlose Zusammenarbeit bei wichti- gen Präventionsmassnahmen geschaffen. So ist Kaiser Permanente in den USA führend bei der Gebärmutter- halskrebs-Vorsorge und Bluthochdruck-Kontrolle. Durch diese vier Aspekte wird die Gesundheits- — Karin Cooke ist Direktorin von Kaiser Permanente versorgung für die Mitglieder komfortabler, qualitativ International. Sie entwirft Bildungsprogramme und hochwertiger und kostet weniger. Ärzte nutzen ihre Präsentationen für internationale Führungskräfte im Gesundheitswesen. Kaiser Permanente ist mit Zeit für die Betreuung von Patienten und nicht für die 12,2 Millionen Mitgliedern eines der grössten gemein Bearbeitung von Versicherungsgutsprachen und An- nützigen Versicherungsmodelle der USA. Ärzte, trägen. Spitäler konzentrieren sich darauf, die richtige Spitäler und Krankenversicherung arbeiten als inte- Behandlung zur richtigen Zeit zu ermöglichen. griertes Gesundheitssystem zusammen. 10 im dialog 2/2020
Praxis Medbase verfolgt seit ihren Anfängen das Konzept der integrierten Versorgung. Seit jeher arbeiten interprofessionelle Teams eng zusammen, und seit 2019 gehören über vierzig Apotheken zur Unternehmensgruppe. Wie funktioniert das in der Praxis? Von Marcel Napierala Aus einer Hand Diabetes-Pass dient zudem als Dokumentation für den Patienten und die betreuenden Fachkräfte. Dank dem innovativen Betreuungskonzept wird sichergestellt, dass der Patient zum richtigen Zeitpunkt die richtige Betreuungsperson und die richtige medizinische Leis- tung erhält – und dies zu möglichst vernünftigen Kosten. Marcel Napierala ist CEO der Eine lückenlose Betreuung als Ziel Medbase Gruppe. Als grosser ambulanter Anbieter in der Grundversor- gung arbeitet Medbase eng mit stationären Partnern zusammen. Ähnlich wie bei einer vertikalen Integration D werden so teure Leerläufe für kranke Menschen, die medizinische Infrastruktur und die Versicherer mini- iabetes Typ 2, also die erworbene Form, miert. Mit der Integration der Apothekenkette Topwell ist in der Bevölkerung auf dem Vor- hat sich für die Gruppe ein neues Geschäftsfeld er- marsch. Auch bei Medbase werden Per- schlossen, zusätzlich zu den Bereichen Medizin, The- sonen mit erhöhtem Blutzucker häufig rapie, ambulante Chirurgie und betriebliches Gesund- behandelt. Ihr Risiko, an Herz-Kreislauf- heitsmanagement. Damit wurde ein weiterer wichtiger Leiden zu erkranken, ist im Vergleich zur übrigen Be- Bestandteil in die Behandlungskette eingebaut. Bei völkerung höher, und wenn die Patienten nicht opti- unkomplizierten Behandlungen wie einer Zeckenimp- mal betreut werden, sind Folgeerkrankungen wahr- fung oder bei der Mitbetreuung von chronisch kranken scheinlich. Nebst dem individuellen Leid schlägt dies Menschen erhalten Kunden in den Apotheken einen mit hohen Gesundheitskosten zu Buche. schnellen und einfachen Zugang zu medizinischen Leistungen und entlasten die Arztpraxen. Seit Jahres- Interdisziplinäre Teams erreichen mehr beginn ist es zudem möglich, eine ärztliche telemedi- Einige Medical Center der Medbase Gruppe wenden zinische Konsultation direkt in der Medbase-Apotheke daher bei Diabetes-Patienten ein ganzheitliches und in Anspruch zu nehmen. Bei Bedarf kann sich auch der damit interdisziplinäres Betreuungskonzept an. Dabei Apotheker von einer medizinischen Fachperson bera- steht der Betroffene im Mittelpunkt und wird von ver- ten lassen. Dies sind nur einige Beispiele, wie Medbase schiedenen Fachleuten engmaschig begleitet. Denn die integrierte Versorgung versteht und in Zukunft ge- die alleinige ärztliche Betreuung ist oft nicht aus- meinsam mit Partnern weiterentwickeln möchte. Es ist reichend, weil die Patienten häufig auch im Bereich jedoch Fakt, dass auf diesem Gebiet noch viel mehr Bewegung und Ernährung Unterstützung benötigen. getan werden muss, um die lückenlose Betreuung von Nebst einem jährlichen Gespräch mit dem Arzt hat die Patientinnen und Patienten weiter zu verbessern und erkrankte Person mindestens dreimal pro Jahr eines entsprechend Kosten zu optimieren. mit der medizinischen Praxisassistentin. Darüber hin- aus werden je nach Wunsch regelmässige Treffen mit Fazit Fachpersonen aus der Physiotherapie und der Ernäh- Im Kleinen werden heute in der Schweiz bereits vie- rungsberatung vereinbart. So merken denn auch Phy- le Aktivitäten im Rahmen der integrierten Versorgung siotherapeuten, dass Patienten beispielsweise wegen umgesetzt. Um die Durchschlagskraft zu erhöhen, sind Hemmungen Fitnesszentren meiden. Im Trainings- grosse Organisationen gefordert, den Prozess zu för- raum der Physiotherapie können sie Fitnessgeräte in dern und sich zu engagieren – und dies intersektoriell. einer geschützten Umgebung ausprobieren und Vor- behalte oder Ängste abbauen. Die Medbase Medical — Center sind prädestiniert für diesen interdisziplinären Ansatz, weil Hausärzte, Physiotherapeuten, Fachärzte Marcel Napierala ist CEO der Medbase Gruppe. Seit der und andere Therapeuten in einer Praxis zusammenar- Gründung von Medbase im Jahr 2001 ist der ausge- beiten. Der Austausch der Fachpersonen fällt dank der bildete Physiotherapeut als Geschäftsführer tätig. Parallel räumlichen Nähe leicht, sei es in Sitzungen oder bei zu seiner Tätigkeit im Unternehmen studierte er Betriebs- informellen Updates auf dem Gang. Ein sogenannter wirtschaft an der Fachhochschule Nordwestschweiz. im dialog 2/2020 11
Im Gespräch 12 im dialog 2/2020
Im Gespräch Kann die integrierte Versorgung in einem System mit Wahlfreiheit und Vertragszwang funktionieren? BAG-Vizedirektor Stefan Spycher und Antoine Hubert, VR-Delegierter der Privatklinikgruppe Swiss Medical Network, debattieren – über Skype, wie im Rahmen der Covid-19-Massnahmen üblich. Interview: Patrick Rohr «2030 wird es nur noch koordinierte Modelle geben» Patrick Rohr (PR): Zum Begriff der Wahlfreiheit beschränken möchten. integrierten Versorgung gibt es ja Wenn Sie unzufrieden sind, haben Sie die verschiedene Vorstellungen. Klären wir Möglichkeit, am Ende des Jahres wieder doch zu Beginn gleich, wer was ins normale Prämiensystem zu wechseln. darunter versteht. Herr Spycher, was ist für Sie integrierte Versorgung? PR: Sich als Mitglied in ein geschlossenes Stefan Spycher (SS): Beim Bund reden wir System einzukaufen – wäre das ein inzwischen von koordinierter Versorgung. Modell, das auch in der Schweiz funktio- Es geht darum, die Sicht des Patienten nieren könnte, Herr Spycher? einzunehmen, der verschiedene Leis- SS: Die Schweiz war ein Vorläufer bei der tungserbringer braucht. Diese müssen Managed Care. Wir hatten Anfang der aufeinander abgestimmt sein, im besten 1990er-Jahre die ersten HMO-Zentren Interesse des Patienten. in Europa, man schaute auf uns. Und bei der Einführung des KVG im Jahre 1996 PR: Und wer koordiniert die verankerten wir die Möglichkeit verschie- verschiedenen Leistungserbringer? dener Versicherungsmodelle sogar im SS: Für viele Patienten ist der Grundver- Gesetz. Aber leider ist seither nicht mehr sorger, also der Hausarzt oder die Haus- viel passiert. Wir denken darum, dass ärztin, die logische Stelle. Es kann aber wir den Prozess beschleunigen sollten, auch ein Spezialist sein oder die Spitex. denn die Vorteile der integrierten Versor- «Wir müssen heute junge, gung sind unbestritten. PR: Herr Hubert, wie sieht Ihre Vorstel- lung von integrierter Versorgung aus? gesunde Leute für solche PR: Also wäre es in der Schweiz durchaus Antoine Hubert (AH): Meine ideale Vorstel- Netzwerke begeistern möglich, solche geschlossenen Systeme lung ist das Modell von Kaiser Permanente zu etablieren? in den USA (siehe S. 10; Red.). Man ist und schauen, dass wir sie SS: Wir stellen uns das so vor: Etwa dort nicht mehr Patient oder Versicherter, behalten können.» 90 Prozent der Patientinnen und Patien- sondern Mitglied. Man zahlt anstelle einer Antoine Hubert ten erleben Episoden; sie kommen also Prämie einen festen Jahresbeitrag, und ins System rein und gehen wieder raus, entsprechend hat die Organisation ein nach einem Unfall zum Beispiel oder weil Interesse, das Mitglied möglichst gesund sie die Gallenblase entfernen müssen. zu erhalten. Wir sind am Hôpital du Jura Diese Leute sollen neu ein Eingangstor ins Bernois beteiligt; dort beabsichtigen wir, Gesundheitssystem haben, ähnlich wie ein Modell, das in diese Richtung geht, zu beim Hausarztmodell: Dort bekommen testen. Bald werden wir imstande sein, sie eine «Erstberatung Gesundheit», wie die gesamte Versorgungskette abzudecken. wir das nennen, und dann werden sie ins System geführt. Für die andere Gruppe, PR: Widerspricht ein solch geschlossenes die 5 bis 10 Prozent der multimorbiden System nicht der Wahlfreiheit? Patienten, wollen wir koordinierte Versor- AH: Als Versicherter können Sie wählen, gungsnetzwerke etablieren, ähnlich wie sie ob Sie die totale Wahlfreiheit möchten Herr Hubert skizziert hat: mit Psychiatern, oder ob Sie, für eine tiefere Prämie, Ihre Gynäkologen, Hausärzten, Pflegenden im dialog 2/2020 13
Im Gespräch und so weiter. Diese Zentren können auch virtuell miteinander verbunden sein. Sie müssen einfach die ganze Kette im ambu- lanten Bereich abdecken. PR: Innerhalb dieser Zentren wäre die Wahlfreiheit der Patientinnen und Patienten aber beschränkt? SS: Genau. Aber so weit sind wir noch nicht. Jetzt wollen wir zuerst einmal die Idee etablieren, also auf der einen Seite eine Anlaufstelle für die Erstberatung Gesundheit anbieten und auf der anderen Seite ein koordiniertes Versorgungsnetz. Dort gäbe es übrigens eine Pauschalzah- lung, nicht mehr eine Fee-for-Service wie heute. PR: Das ist ja einer der Kernpunkte Ihres Modells, Herr Hubert: keine Fee-for- Service, sondern eine Pauschalzahlung. Ihre Wünsche scheinen bald alle erfüllt, wenn ich Herrn Spycher zuhöre? AH: Der Bund war auch nie unser Prob- lem. Ich komme aus dem Wallis. Wollten wir da die Orthopädie zum Beispiel in Martigny zentralisieren, dürften wir auf keinen Fall sagen: «Ab dem 1. Januar ist die Orthopädie für das ganze Wallis in Martigny.» Das gäbe einen Aufstand! Nein, wir müssten einfach die besten Ortho- «Die Erstversion des EPD ist noch nicht päden nach Martigny bringen, das beste Equipment – und schon würden alle die Luxusversion, klar, es ist eine Startversion, Walliser von sich aus dorthin gehen. Nach und die muss man jetzt weiterentwickeln.» fünf Jahren könnten Sie alle anderen Stefan Spycher Orthopädiepraxen schliessen, ohne Pro- blem. Wir müssen einfach die richtigen Anreize finden. PR: Sie glauben, die Leute würden dann automatisch mitziehen? Es ist nicht lange her, acht Jahre, dass die Managed- Care-Vorlage mit wuchtigen 75 Prozent der Stimmen abgelehnt wurde. Denken Sie, die Bereitschaft für einen System- wechsel ist heute schon da? AH: Es wird eine Generation brauchen, um diese Änderung zu vollziehen. Wir müssen heute junge, gesunde Leute für solche Netzwerke begeistern und schau- en, dass wir sie behalten können. Auch bei den Ärzten braucht es eine Generati- on für den Wandel, viele junge sind sehr — Stefan Spycher ist seit 2008 Vizedirektor des Bundesamts für Gesundheit (BAG) interessiert an neuen Modellen. und verantwortlich für den Direktionsbereich Gesundheitspolitik. Zuvor war er Leiter des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums sowie Mitinhaber und PR: Sehen Sie das auch so, Herr Spycher? Geschäftsleiter des Büros für arbeits- und sozialpolitische Studien, BASS. SS: Zwei Drittel der Bevölkerung haben Im Oktober 2020 wird er CEO von Careum. ja heute schon ein spezielles Versiche- rungsmodell. PR: Also ein Hausarzt- oder — Antoine Hubert ist Delegierter des Verwaltungsrats der Klinik- und Hotelgruppe HMO-Modell, zum Beispiel? Aevis Victoria. Innerhalb der Gruppe leitet er die Swiss Medical Network SA SS: Genau. Und deshalb glauben wir, mit 23 Spezialkliniken in der ganzen Schweiz. Bevor Antoine Hubert 2002 einen dass die Anlaufstelle «Erstberatung Anteil an der Clinique de Genolier erwarb und 2004 das Swiss Medical Gesundheit» mehrheitsfähig ist. Bei den Network gründete, war er hauptsächlich in den Bereichen Liegenschaften und koordinierten Versorgungsnetzwerken Immobilien tätig. 14 im dialog 2/2020
Im Gespräch denken wir, dass sie auch für junge Ärzte viel mehr Möglichkeiten. All die Informa- Hürden abbauen, den Kontrahierungs- attraktiv sind. Viele wollen nicht mehr tionen beispielsweise, die man mit den zwang zum Beispiel? selbstständig sein, sie lassen sich lieber Gesundheits-Apps auf seinem Mobilte SS: Ich bin Ökonom. Strenggenommen anstellen, weil sie im Netzwerk alles ha- lefon sammelt, können ins EPD fliessen. gibt es in dem Konzept, das wir in der ben, auch eine technisch hervorragende AH: Und wenn das Coronavirus einen Schweiz haben, im regulierten Wettbe- Infrastruktur. Und das ist der Hebel zu Vorteil hat, dann den, dass es die Digitali- werb, keinen Kontrahierungszwang. Aus den Patienten: Wenn die merken, dass die sierung im Gesundheitswesen beschleu- ökonomischer Sicht ist der Kontrahie- Qualität bei den Netzwerken stimmt, dass nigen wird. rungszwang ein Systemfehler. Die Frage ist die angeschlossenen Stellen gut aufein- aber schon sehr lange politisch umstritten, ander abgestimmt und jederzeit hervorra- PR: Ich bin nicht sicher, ob alle Versi- und ich denke, man muss hier pragmatisch gend dokumentiert sind, dann schliessen cherten ihre Gesundheitsinformationen sein und akzeptieren, dass man das jetzt sie sich freiwillig diesen Netzen an. Aber an einem Ort versammelt haben möch- nicht ändern kann. Aber rein systemlogisch ich bin mit Herrn Hubert einig, dass es ten – ohne zu wissen, wer in der langen müssten wir die Vertragsfreiheit haben. eine Generation braucht. Es wäre nur mit Versorgungskette alles darauf zugreifen Zwang schneller umzusetzen, aber Zwang kann … PR: Das integrierte Modell, wie Sie entspricht nicht unseren Werten. SS: Sie können bei jedem Befund, bei es ganz am Anfang vorgeschlagen haben, jedem Dokument entscheiden, wer von Herr Hubert, funktioniert nur mit PR: Ihr Optimismus in Ehren, Herr den 30 000 angeschlossenen Gesund- Vertragsfreiheit richtig? Spycher, aber wenn ich sehe, wie lange heitsfachpersonen Zugriff haben soll und AH: Ja, ein integriertes Modell kann mit es gedauert hat, bis das elektronische wer nicht. Die Frage ist natürlich: Wer- Vertragszwang nicht funktionieren. Aber Patientendossier (EPD) dieses Jahr den Sie diesen Aufwand betreiben? Aber der Patient hat ja zum Glück die Wahl, endlich eingeführt wurde – auf freiwilliger grundsätzlich haben Sie als Patient eine in ein beschränktes System zu gehen oder Basis und mit PDF statt einer richtigen hohe Selbstbestimmung. Und ja, wie jedes in ein nicht beschränktes. Und das System Datenbank … IT-System ist auch dieses nicht zu hundert ohne Beschränkungen wird dann halt SS: Die Erstversion des EPD ist noch Prozent sicher. Wir werden es so sicher teurer sein. nicht die Luxusversion, klar, es ist eine wie möglich entwickeln und aus Fehlern Startversion, und die muss man jetzt wei- lernen. Aus lauter Angst nichts zu tun, PR: Und dafür brauchen wir auch terentwickeln. Das EPD ist das Rückgrat wäre falsch. Wir müssen das Risiko mini- keine Gesetzesänderung? der koordinierten Versorgung. Im Ausland mieren, aber wir müssen dieses minimier- SS: Die einzige Frage ist, wie schnell wir ist es zum Teil schon längst eine Selbst- te Risiko auch in Kauf nehmen. vorwärtsgehen wollen. Ich behaupte, verständlichkeit, bei uns hat die Einfüh- im Jahr 2030 werden wir in der Schweiz rung zehn Jahre gedauert, das muss PR: Über einen Player haben wir bisher ausschliesslich koordinierte Versorgungs- man respektieren. Aber jetzt können wir nicht geredet: den Versicherer. Herr modelle haben. Wollten wir sie jetzt, im vorwärtsschauen und dieses Instrument Hubert, rennen Sie mit Ihrem Modell im Jahr 2020, einführen, gäbe es viele Wider- einsetzen. Berner Jura bei den Krankenversicherern stände. Es muss als zarte Pflanze anfangen, offene Türen ein? und in ein paar Jahren sagen wir dann, PR: Herr Hubert, reicht Ihren Kliniken AH: Was ist der Zweck einer Versiche- wir möchten das wachsen lassen, bis es eine PDF-Sammlung, um Ihre Vorstellung rung? Ihre Hauptaufgabe ist es, den immer stärker wird. Und in zehn Jahren von integrierter Versorgung umzusetzen? Risikoausgleich zu machen. Das kann werden wir unser Ziel erreicht haben. AH: Man muss mit etwas beginnen. aber auch ein Algorithmus. Vor 20 Jahren, Das EPD ist ein erster Schritt, ein Anreiz als alles noch manuell erledigt werden für die verschiedenen Player, Daten musste, da brauchte es Versicherungen. zu sammeln. Jetzt muss man noch das Aber heute nicht mehr, sie sind eigentlich richtige System finden, um es automa- überflüssig. Das ist auch der Grund, tisch mit den Daten zu füllen. warum die Versicherungen bei diesem Thema nicht wirklich mitmachen. Die PR: Aber davon sind wir noch integrierte Versorgung kannibalisiert ihren weit entfernt. eigentlichen Zweck. AH: Es ist eine riesengrosse Arbeit. Wir haben in der Schweiz 37 000 Ärzte, PR: Herr Spycher, teilen Sie diese die sich zuerst einmal mit dem System Ansicht? Werden die Versicherungen vernetzen müssen. Und dann muss das überflüssig? System noch einfacher werden, inter- AH: Sie dürfen bei dieser Frage den Joker aktiver, benutzerfreundlicher. Aber das einsetzen! kommt schon. SS: Wir haben in der Schweiz schon SS: Ich bin froh, dass Herr Hubert so mehrfach über die Einführung einer Ein- argumentiert. Ich sehe das genau gleich. heitskasse abgestimmt. Die Ergebnisse Wir haben jetzt eine Startkonfiguration waren immer eindeutig. Ich glaube, man mit PDF, und klar werden Leute sagen, das muss akzeptieren, dass die Bevölkerung sei «letztes Jahrhundert». Aber es geht mehrere Versicherer möchte. Das gibt ja weiter. Schon nächstes Jahr wollen Wettbewerb, und der Wettbewerb soll — Patrick Rohr ist Journalist, Fotograf und wir schweizweit strukturierte Information etwas Positives bewirken, auch zwischen Moderator. Er leitet eine eigene Firma für im System haben: Medikamente mit Leistungserbringern. Kommunikationsberatung in Zürich. Bis 2007 Dosierungen, Impfungen, Notfallausweise arbeitete er als Redaktor, Redaktionsleiter und so weiter. Und durch die Digitalisie- PR: Aber müsste man dann konsequen- und Moderator für das Schweizer Fernsehen rung im Gesundheitswesen gibt es noch terweise nicht gewisse gesetzliche (u.a. «Schweiz aktuell», «Arena» und «Quer»). im dialog 2/2020 15
Persönlich Für eine optimale Betreuung ist die Spitex auf eine verbindliche Zusammenarbeit mit den Versorgungspartnern angewiesen. In welchen Bereichen dies bereits gut funktioniert – und wo noch Verbesserungspotenzial besteht. Von Christina Brunnschweiler Nahtlos betreut? I ntegrierte Versorgung ist in aller Munde. Für die Spitex ist die verbindliche und geplante Zusam- menarbeit aller Versorgungspartner zentral. Je stringenter diese erfolgt, umso effektiver, effizi- enter und nachhaltiger kann ambulant gepflegt werden. Aber: Ohne den Einbezug und die aktive Ko- operation von Patienten und ihren Vertrauensperso- tionsbedarf im Bereich der medizinisch-pflegerischen Abstimmung, konkret: • Medikation resp. Polymedikation, Medikamenten- Compliance • Therapeutische Absprachen, besonders Mobilisation • Schmerztherapien, Advanced Care Planning bei kom- plexen, insbesondere palliativen Situationen nen ist insbesondere im ambulanten Sektor die Ver- In diesen Situationen und mit den entsprechenden sorgung weder erfolgreich noch nachhaltig wirksam. Versorgungspartnern erleben wir die Zusammenar- Die Spitex verfügt in diesem Bereich über eine lang- beit zunehmend besser, wenn auch vielfach noch jährige Erfahrung; das Vereinbaren und Nutzen er- nicht übergeordnet geplant. Das auf allen Ebenen folgreicher Verbindungen und «Andockstellen» in der vorhandene Engagement für den einzelnen Patienten Versorgungskette gehört zu ihren Kernkompetenzen. erlaubt meistens eine reibungslose Zusammenarbeit. Förderlich für die Kooperation ist ausserdem, dass die Wen und wie die Spitex betreut Ärzte und Versorgungspartner die Kompetenzen des Im Jahr 2018 pflegte und betreute die Spitex in der Schweiz fast 370 000 Personen. Dies entspricht knapp 4 Prozent der Gesamtbevölkerung. Bei rund zwei von drei Personen handelte es sich um Frauen und bei 44 Prozent um Personen ab 80 Jahren. Interessant ist der beträchtliche Anteil an Kundinnen und Kunden unter 65 Jahren, wobei die Mehrheit chro- nisch – somatisch oder psychisch – erkrankt ist (siehe Abbildung). Rund 47 Prozent aller betreuten Personen Von Spitex-Diensten betreute Fälle, 2018 brauchen nur eine zeitlich beschränkte Unterstützung, Anzahl nach Art der Leistung und Alter sei es aufgrund einer palliativen Situation oder weil sie infolge einer Hospitalisation auf eine Intervention an- gewiesen sind (siehe Tabelle). Bei knapp der Hälfte al- Pflegeleistungen Männer Frauen ler Fälle ist also eine optimal aufeinander abgestimmte 0 20 000 40 000 60 000 80 000 Zusammenarbeit der Versorgungspartner besonders wichtig. Bei psychiatrischen und palliativen Kunden 0–64 Jahre funktioniert die enge interprofessionelle Zusammen- arbeit bereits gut. Verbesserungspotenzial besteht 65–79 Jahre insbesondere bei chronischen Erkrankungen wie z.B. Amyotropher Lateralsklerose (ALS) oder Multipler Skle- 80+ Jahre rose (MS). Bei diesen müssen Ärzte, Sozialstellen und Versicherungen besonders eng zusammenarbeiten. Auch die Compliance der Betroffenen ist zentral, also die Bereitschaft der Kundinnen und Kunden, sich helfen Hauswirtschaftliche Leistungen Männer Frauen zu lassen und den Informationsfluss zwischen den in- volvierten Stellen aktiv und positiv zu unterstützen. 0 20 000 40 000 60 000 80 000 0–64 Jahre Der Koordinationsbedarf variiert Die verbindliche, geplante Zusammenarbeit aller Ver- sorgungspartner ist – neben den palliativen Situatio- 65–79 Jahre nen – auch für all jene Kundinnen und Kunden von grosser Bedeutung, die mit chronischen Krankheiten 80+ Jahre zu Hause leben möchten. Die grosse Mehrheit von ihnen leidet zudem unter Mehrfacherkrankungen. Bei solchen Fällen besteht ein besonders hoher Koordina- Quelle: Halbjahresbericht 2019, Spitex Zürich Limmat AG 16 im dialog 2/2020
Persönlich Unterstützungsleistungen der Spitex Zürich Limmat AG Zeitraum: 1.7.2017–31.12.2019. N=89 591 Art der Intervention Fälle in % Reguläre Hilfe- und Pflegesituation 51% Isolierte, zeitlich begrenzte, therapeutische Leistung 26% (wie z.B. Heparin, Augentropfen, Stützstrümpfe) Zeitlich begrenzte Hilfe im Haushalt 14% Klientin mit psychiatrischen Problemen 5% Klientin in einer Palliativsituation 3% Klientin lehnt die Bedarfsabklärung mit dem MDS-HC ab 1% 100% Quelle: Halbjahresbericht 2019, Spitex Zürich Limmat AG Pflegefachpersonals heute verstärkt wahrnehmen und eines solchen Systems. Dessen Aufbau kostet zunächst dass das Personal hinsichtlich integrierter Versorgung Zeit und Geld, wird von niemandem bezahlt, und die zunehmend besser ausgebildet ist. Hinderlich hinge- positiven Effekte zeichnen sich oft erst später ab. gen sind häufig finanzielle Hürden, wenn es um nicht Zusammenfassend stehen für die Spitex im Be- verrechenbare Leistungen wie Material, Medikamente reich der integrierten Versorgung also gut funktio- oder ähnliche Aspekte geht. Darüber hinaus braucht nierende Nahtstellen zwischen den «formellen» Ver- die Koordination über die einzelnen Stellen hinweg sorgungspartnern im Fokus. Hier hoffen wir, mit dem Zeit, die oft nicht vergütet wird. elektronischen Patientendossier (EPD), Swiss Health Integrierte Versorgung bei chronisch mehrfach er- Information Processing (SHIP) und anderen digitalen krankten Menschen umfasst aber noch sehr viel mehr. Kommunikationssystemen weitere wichtige Schritte So müssen zusätzlich mit den entsprechenden Part- zu machen. Koordinierte Versorgung im ambulanten nern aus Versicherungen, Sozialbehörden usw. sowie Setting bei mehrfach chronisch erkrankten Menschen Kundinnen und Kunden und deren Vertrauensperso- gelingt aber in aller Regel nur, wenn auch das infor- nen Fragen angegangen werden wie: melle «Helfernetz» in die Koordination eingebunden • Hat der Kunde ein soziales Umfeld, oder ist er ein- ist und die finanziellen Aspekte so geregelt werden, sam? Wie viel soziale Integration möchte er? dass die Betroffenen die von ihnen bestimmte Lebens- • Wie ist die Wohnsituation, braucht es eine Anpassung? qualität zu Hause in Würde leben können. • Braucht es ein Case Management? • Wie ist die Finanzierung sichergestellt, wenn kein Arbeitseinkommen mehr erzielt werden kann? • Ist eine ergänzende Finanzierung notwendig, z.B. — Christina Brunnschweiler ist CEO der operativen Ergänzungsleistungen (EL)? Betriebsgesellschaft Spitex Zürich Limmat AG. • Überfordern ihn die vielen Rechnungen, ist hier pro- Diese erbringt Spitex-Leistungen für die Stadtzürcher fessionelle Entlastung nötig? Bevölkerung auf zwei Dritteln des Stadtgebiets. Vielfach verunsichern die unterschiedlichen Haltun- Ca. 1050 Mitarbeitende kümmern sich um das Wohl gen und Ratschläge der involvierten Fach- und Ver- von jährlich rund 6500 Kundinnen und Kunden. trauenspersonen zusätzlich, und auf kommunikativer Ebene wäre eine Abstimmung oft hilfreich. Das «informelle» Helfernetz ist wichtig Nicht vergessen darf man im Rahmen der integrier- ten Versorgung auch, dass sehr viele Kundinnen und Kunden unter kognitiven Einschränkungen oder (vor übergehenden) psychischen Störungen wie z.B. De- pressionen aufgrund chronischer Krankheiten leiden. Entsprechend schwierig ist es, ein funktionierendes Helfersystem aus An- und Zugehörigen, Nachbarn oder Menschen aus sozialen Netzwerken vor Ort für diese Menschen aufzubauen. Tatsächlich scheitert eine gute Versorgung häufig am mangelnden Einbezug im dialog 2/2020 17
Die andere Sicht Der Aufzughersteller Schindler behandelt die verschiedenen Stakeholder in der Lieferkette als gleichberechtigte Partner. Ralph Koch* über die innovative Kraft dieser integrativen Zusammenarbeit. Von Manuela Specker «Wir teilen die Vorteile mit unseren Partnern» hen und wie wir mit Problemen umgehen. Genauso wichtig wie der Materialfluss sind also auch der Infor- mations- und der Wertefluss. Relevante Infos müssen in der ganzen Lieferkette zeitnah verfügbar gemacht werden. Überhaupt ist es zentral, alle Akteure in der Liefer- kette als Partner zu sehen: Wenn wir gemeinsam die Prozesskosten senken oder die Performance verbes- sern, teilen wir auch die Vorteile mit allen Beteiligten in der Lieferkette. Indem auch sie konkret davon pro- fitieren, ist es genauso in ihrem Interesse, in eine part- nerschaftliche Zusammenarbeit zu investieren und ein gemeinsames Ziel vor Augen zu haben. Die Digitalisie- rung hat ganz neue Möglichkeiten geschaffen, Abläufe zu optimieren und Stakeholder miteinander zu vernet- zen. Unsere Servicetechniker bestellen die Ersatzteile heute per App auf dem Smartphone. Tun sie das bis 17 Uhr, erhalten sie vom Nachtexpresskurier Post Innight das benötigte Material bis am Morgen um «Wir entwickeln nicht nur 6 Uhr direkt ins Auto geliefert, statt dass sie im Morgen- verkehr zuerst das Materiallager aufsuchen müssen. gemeinsam, wir investieren Wir treiben bei Schindler zudem den Anschluss auch gemeinsam und unserer Aufzüge und Fahrtreppen ans Internet der Dinge mit Hochdruck voran. So können unsere Anla- sitzen im selben Boot.» gen teilweise heute schon Störungen selbst melden: Ralph Koch Noch bevor der Kunde überhaupt etwas merkt, wird der Servicetechniker aufgeboten oder der Aufzug per Fernzugriff neu gestartet. Dieser Bereich hat grosses U Potenzial: Schon heute sind viele unserer Anlagen vernetzt und können von unserem Standort in Ebikon m Wertschöpfungsketten zu optimie- aus überwacht werden. Um die künstliche Intelligenz ren, muss man zuerst die Logistik oder voranzutreiben, sind wir eine strategische Zusammen- die vernetzten Prozesse innerhalb der arbeit mit General Electrics eingegangen. eigenen Firma im Griff haben. Für uns Damit unternehmensübergreifende Wertschöp- ist die Verfügbarkeit der Ersatzteile fungsketten funktionieren, braucht es einen langfristi- entscheidend. Können wir alle Materiallieferungen si- gen Horizont. Entsprechend sind wir nie auf der Suche cherstellen? Funktioniert ein Lift nicht mehr, müssen nach dem billigsten Anbieter, sondern wir sind interes- wir den Fehler rasch beheben können. siert an einer langfristigen, verlässlichen Zusammenar- Die Komplexität ist hoch: Wir haben mit vielen beit und somit an strategischen Partnerschaften. Wir Stakeholdern zu tun, seien es Lieferanten, Service- entwickeln nicht nur gemeinsam, wir investieren auch dienstleister oder Logistikpartner. Die Integration in gemeinsam und sitzen im selben Boot.» die Wertschöpfungskette fängt bereits bei unserer Ent- wicklungsabteilung an, die Produkte gemeinsam mit Partnern entwirft und so auch von deren Innovations- kraft profitiert. Im konkreten Einsatz ist es entschei- — Ralph Koch* ist Head of Supply Chain dend, dass alle Komponenten zeit- und kostengerecht bei der Schindler Aufzüge AG (Switzerland). auf der Baustelle eintreffen. Dafür braucht es ein ge- Der Wirtschaftsingenieur hat einen MBA meinsames Verständnis, was wir unter Qualität verste- in Supply Chain Management der ETH Zürich. 18 im dialog 2/2020
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