Indirekter Gegenentwurf zur Konzernverantwortungs-initiative - Haftungsnorm im Einklang mit der schweizerischen Tradition

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Indirekter Gegenentwurf zur Konzernverantwortungs-
initiative – Haftungsnorm im Einklang mit der
schweizerischen Tradition
Franz Werro *%

Die Konzernverantwortungsinitiative wie der Gegenentwurf bauen mit der Ge-
schäftsherrenhaftung auf einer allgegenwärtigen und in ihrer schweizerischen
Ausgestaltung im internationalen Vergleich zurückhaltenden Haftungsnorm auf.
Die Übertragung dieser Haftung auf Konzernverhältnisse folgt sodann einem kla-
ren in- wie ausländischen Trend. Beide Vorlagen erweitern hingegen den geltenden
Haftungsrahmen auch im vorliegend menschenrechtlichen Zusammenhang nicht,
sondern konkretisieren ihn lediglich. Die im Gegenentwurf verankerte Haftungsre-
gelung fällt zudem auffallend einschränkend aus. Zu nennen ist neben dem Ent-
scheid für den unternehmerischen Entlastungsbeweis auch jener für einen einge-
schränkten Kontrollbegriff. Die Haftungsnorm steht somit im Einklang mit der
schweizerischen Rechtstradition. Dabei wählt die Schweiz eine im internationalen
Vergleich zurückhaltende Lösung.

I. Einleitung.............................................................................................................429
II. Beurteilung in fünf Grundthesen ....................................................................... 430
   1. Geschäftsherrenhaftung als im internationalen Vergleich allgegenwärtiges
      Haftungskonzept ............................................................................................ 430
   2. Artikel 55 OR als im internationalen Vergleich unternehmensfreundliche
      Regelung........................................................................................................... 431
   3. Übertragbarkeit der Geschäftsherrenhaftung auf Konzernverhältnisse als
      in- und ausländischer Trend ............................................................................. 433
   4. Anwendung dieses Haftungskonzepts im menschenrechtlichen
      Zusammenhang – bescheiden bleibt bescheiden ........................................... 435
   5. Gedanken zur konkreten Regelung – Zurückhaltung nicht übertreiben .......438
III. Zusammenfassung .............................................................................................. 440
Zitiervorschlag: Franz Werro, Indirekter Gegenentwurf zur Konzernverantwortungs-
                 initiative – Haftungsnorm im Einklang mit der schweizerischen
                 Tradition, in: sui-generis 2018, S. 428

URL:                   sui-generis.ch/85

DOI:                   https://doi.org/10.21257/sg.85

   ____________________________
* Prof. Dr. iur. Franz Werro (Franz.Werro[at]unifr.ch), Professor für Obligationenrecht und Europä-
  isches Privatrecht, Universität Fribourg und Georgetown University Law Center (Washington,
  D.C.). Der Autor dieses Artikels war zur vorliegenden Thematik als Experte zur Anhörung der
  Rechtskommission des Ständerates vom 21. August 2018 eingeladen. Der vorliegende Beitrag gibt
  seine persönliche Auffassung wieder. Er dankt Frau Dipl. iur. Carola Göhlich, MLE, Assistentin an
  der Universität Fribourg, für ihre wertvolle Hilfe bei der sprachlichen Kontrolle des Manuskripts.

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   gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.
Franz Werro, Indirekter Gegenentwurf zur Konzernverantwortungsinitiative

I. Einleitung                                                 konzept wie die Initiative, enthält aber
1                                                             bedeutende Einschränkungen. So sind
    Im Jahr 2015 lancierten rund 70 Nicht-
                                                              grundsätzlich nur Unternehmen ab einer
    regierungsorganisationen eine eidgenös-
                                                              bestimmten Grösse erfasst, und auch die
    sische Volksinitiative «Für verantwor-
                                                              Haftungsregelung ist enger gefasst als je-
    tungsvolle Unternehmen – zum Schutz
                                                              ne der Initiative (dazu im Anschluss).5
    von Mensch und Umwelt» (kurz: Kon-
    zernverantwortungsinitiative)1. Im Jahr               3   Beide Vorlagen stützen ihre Haftungsre-
    2016 wurde diese mit rund 120'000 gül-
                                                              gelung auf die Geschäftsherrenhaftung.
    tigen Unterschriften eingereicht2. In
                                                              Art. 55 Abs. 1bis E-OR des Gegenentwurfs
    Nachachtung internationaler Leitlinien
                                                              sieht im Einzelnen vor, dass nach den
    verfolgt die Initiative das doppelte Ziel,
                                                              Grundsätzen der Geschäftsherrenhaftung
    den internationalen Menschenrechts-
                                                              ebenso Unternehmen haften, die nach
    und Umweltschutz bei wirtschaftlichen
                                                              Gesetz zur Einhaltung der Bestimmun-
    Aktivitäten mit Auslandsbezug zu stär-
                                                              gen zum Schutz der Menschenrechte und
    ken und dabei für mehr Rechtssicherheit
                                                              der Umwelt auch im Ausland verpflichtet
    zu sorgen. Der rechtliche Grundrahmen
                                                              sind. In Anlehnung an den bestehenden
    besteht darin, den Schweizer Unterneh-
                                                              Art. 55 Abs. 1 OR6 haften sie «für den
    men für ihre Auslandstätigkeiten eine
                                                              Schaden, den durch sie tatsächlich kon-
    Sorgfaltsprüfungspflicht     aufzuerlegen
                                                              trollierte Unternehmen in Ausübung ih-
    und sie bei einer Pflichtverletzung in be-
                                                              rer dienstlichen oder geschäftlichen Ver-
    schränktem Umfang auch haftbar zu ma-
                                                              richtungen durch Verletzung der Best-
    chen.3
                                                              immungen zum Schutz der Menschen-
                                                              rechte und der Umwelt an Leib und Le-
2   Im Juni 2018 stimmte der Nationalrat
                                                              ben oder Eigentum im Ausland verur-
    einem indirekten Gegenentwurf (in der
                                                              sacht haben.» Die Unternehmen haften
    Folge: Gegenentwurf) seiner Rechts-
    kommission mit 121 zu 73 Stimmen bei 2                    ____________________________
                                                          5   Für die einzelnen Bestimmungen des Gegenent-
    Enthaltungen zu4. Zurzeit (Herbst/                        wurfs vgl. zur Übersicht die Anträge der Kommis-
    Winter 2018) berät diesen die Rechts-                     sion für Rechtsfragen des Nationalrates [RK-N]
    kommission des Ständerates. Der Gegen-                    vom 4. Mai 2018 zur eidgenössischen Volksinitia-
                                                              tive «Für verantwortungsvolle Unternehmen –
    entwurf stützt sich auf dasselbe Grund-                   zum Schutz von Mensch und Umwelt»: indirekter
                                                              Gegenentwurf, die so unverändert vom National-
    ____________________________                              rat verabschiedet wurden; zudem Zusatzbericht
1   Vorprüfung der Eidgenössischen Volksinitiative            der Kommission für Rechtsfragen [RK-N] vom
    «Für verantwortungsvolle Unternehmen – zum                18. Mai 2018 zu den Anträgen der Kommission
    Schutz von Mensch und Umwelt» (BBl 2015                   für einen indirekten Gegenentwurf zur Volksini-
    3245).                                                    tiative «Für verantwortungsvolle Unternehmen –
2   Zustandekommen der Eidgenössischen Volksini-              zum Schutz von Mensch und Umwelt» im Rah-
    tiative «Für verantwortungsvolle Unternehmen –            men der Revision des Aktienrechts (in der Folge:
    zum Schutz von Mensch und Umwelt» (BBl 2016               Kommissionsbericht).
    8107).                                                6   Dieser lauter wie folgt: «Der Geschäftsherr haftet
3   Zum Ganzen vgl. Art. 101a E-BV; zu den Erläute-           für den Schaden, den sein Arbeitnehmer oder an-
    rungen der Initiative vgl. Verein Konzernverant-          dere Hilfspersonen in Ausübung ihrer dienstli-
    wortungsinitiative (Hrsg.), Erläuterungen zur             chen oder geschäftlichen Verrichtungen verur-
    Eidgenössischen Volksinitiative «Für verantwor-           sacht haben, wenn er nicht nachweist, dass er alle
    tungsvolle Unternehmen – zum Schutz von                   nach den Umständen gebotene Sorgfalt ange-
    Mensch und Umwelt», 2017, S. 10 ff.                       wendet hat, um einen Schaden dieser Art zu ver-
4   SDA-Meldung vom 14. Juni 2018: Nationalrat                hüten, oder dass der Schaden auch bei Anwen-
    will Konzerne in die Verantwortung nehmen.                dung dieser Sorgfalt eingetreten wäre.»

                                            sui-generis 2018, S. 429
Franz Werro, Indirekter Gegenentwurf zur Konzernverantwortungsinitiative

    nicht, «wenn sie nachweisen, dass sie die                    dabei erweitert oder präzisiert.9 Meine
    durch das Gesetz von ihnen geforderten                       Beurteilung beinhaltet fünf Grundthesen.
    Massnahmen zum Schutz der Menschen-
    rechte und der Umwelt getroffen haben,
                                                          II. Beurteilung in fünf Grundthesen
    um einen Schaden dieser Art zu verhü-
                                                           5     Die Betrachtung folgt einem schrittwei-
    ten[.]» Sie haften auch dann nicht, wenn
    sie nachweisen, dass sie «nicht auf das                      sen Vorgehen: Sie beginnt mit der inter-
    Verhalten des kontrollierten Unterneh-                       nationalen Verbreitung der Geschäfts-
    mens, in dessen Zusammenhang die gel-                        herrenhaftung, führt über die Ausgestal-
    tend gemachten Rechtsverletzungen ste-                       tung von Art. 55 OR im Rechtsvergleich
    hen, Einfluss nehmen konnten.»7                              und behandelt schliesslich die Übertrag-
                                                                 barkeit dieses Haftungskonzepts auf
4   Soweit ersichtlich haben sich bislang nur                    Konzernverhältnisse. Gestützt darauf
    vereinzelt Autoren mit haftpflichtrechtli-                   folgt eine Beurteilung der Haftungsrege-
    cher Spezialisierung mit der vorstehen-                      lung im menschenrechtlichen Zusam-
    den Haftungsregelung auseinanderge-                          menhang – zunächst im Allgemeinen
    setzt.8 Das überrascht: Denn die Haftung                     und dann mit einem Ausblick auf den
    ist ein zentraler und gleichzeitig der poli-                 konkreten Gesetzesentwurf.
    tisch umstrittenste Teil der Vorlage. An-
    gesichts der grenzüberschreitenden Aus-                1. Geschäftsherrenhaftung als im
    strahlung dieser Regelung und vor dem                     internationalen Vergleich
    Erfahrungshintergrund als Inhaber eines                   allgegenwärtiges Haftungskonzept
    Lehrstuhls für Privatrecht mit betont                  6     Sämtliche der mir geläufigen Rechtsord-
    rechtsvergleichender Ausrichtung gehe                        nungen kennen eine Geschäftsherrenhaf-
    ich hier den Grundfragen nach, ob die                        tung oder funktional vergleichbare Insti-
    Haftungsregelung im internationalen                          tute.10 Diesen Haftungsnormen liegen
    Vergleich weit geht oder eingeschränkt                       primär die folgenden Rechtfertigungen
    ist und ob die Regelung den in der                           einer Schadensabwälzung zugrunde: Wer
    Schweiz bestehenden Haftungsrahmen
                                                                 ____________________________
                                                            9    Für eine Einordnung aus Sicht des Internationa-
                                                                 len Privatrechts und Zivilprozessrechts vgl. u.a.
                                                                 die Quellen bei Geisser (Fn. 8), S. 946 ff. und
    ____________________________                                 963 ff.
7   Art. 55 Abs. 1bis E-OR des Gesetzesentwurfs             10   Für einen Überblick Paula Giliker, Vicarious Lia-
    (Fn. 5).                                                     bility or Liability for the Acts of Others in Tort –
8   Vgl. für eine Einführung die Literaturhinweise bei           A comparative perspective, Journal of European
    Gregor Geisser, Die Konzernverantwortungsiniti-              Tort Law 2011, S. 31 ff.; Gerhard Wagner, Vicari-
    ative – Darstellung, rechtliche Würdigung und                ous Liability, in: Arthur Hartkamp u.a. (Hrsg.),
    mögliche Umsetzung, AJP 8/2017, S. 943 ff.                   Towards a European Civil Code, 4. Aufl., The
    (953); vgl. auch Lukas Handschin, Konzernver-                Hague u.a. 2011, S. 903 ff.; weiter auch Franz
    antwortungsinitiative – Gesellschaftsrechtliche              Werro/Vernon Palmer/Anne-Catherine Hahn, in:
    Aspekte, AJP 8/2017, S. 998 ff. (der trotz Titel             Franz Werro/Vernon Palmer (Hrsg.), The
    auch haftpflichtrechtliche Aspekte aufgreift, die            Boundaries of Strict Liability in European Tort
    sich allerdings auf die Initiative beschränken und           Law, The Common Core of European Private
    den damals noch nicht bestehenden Geset-                     Law, Bern u.a. 2004, S. 156 ff.; Franz Werro/
    zesentwurf nicht beinhalten). Auch nach jenen                Erdem Büyüksagis, The Bounds between Negli-
    Publikationen ist die haftpflichtrechtliche Ausei-           gence and Strict Liability, in: Mauro Bussani/
    nandersetzung mit dieser Thematik kaum reicher               Anthony J. Sebok (Hrsg.), Comparative Tort Law:
    geworden.                                                    Global Perspectives, Cheltenham 2015, S. 218.

                                              sui-generis 2018, S. 430
Franz Werro, Indirekter Gegenentwurf zur Konzernverantwortungsinitiative

     eine andere Person kontrolliert, soll die                      immer wieder Modell gestanden für rich-
     Kontrolle über diese Personen auch zur                         terliche Fortbildungen, bis hin zu neuen
     Verhinderung von Schädigungen Dritter                          gesetzlichen Regelungen im Zusammen-
     nutzen (sog. respondeat superior). Wer                         hang mit Unternehmensrisiken. Promi-
     aus der Tätigkeit eines Anderen wirt-                          nentestes Beispiel einer solchen Rechts-
     schaftlichen Nutzen zieht, soll auch die                       entwicklung ist das Produktehaftpflicht-
     damit verbundenen Risiken von Schädi-                          gesetz.13 In die Reihe solcher Entwick-
     gungen Dritter tragen.11                                       lungen wäre auch die hier interessieren-
                                                                    de Vorlage einzuordnen, sollte sie der-
7    Allen Haftungsnormen ist dabei gemein,                         einst in Kraft treten.
     dass sie (1) eine spezifische Beziehung,
     typischerweise ein Subordinations- bzw.                  2. Artikel 55 OR als im internationalen
     Kontrollverhältnis, zwischen der unmit-                     Vergleich unternehmensfreundliche
     telbar schädigenden Person und der                          Regelung
     haftpflichtrechtlich mitverantwortlichen                 9     Bei einem Vergleich der Geschäftsher-
     Person, (2) eine auf Sorgfaltsverletzung
                                                                    renhaftung mit analogen Haftungsnor-
     beruhende Schädigung durch die kon-
                                                                    men sind international drei Modelle vor-
     trollierte Person und (3) einen funktiona-
                                                                    herrschend: (a) das französische Modell,
     len Zusammenhang zwischen der Schä-
                                                                    das sich an der Internalisierung von Ge-
     digung und der geschäftlichen Verrich-
                                                                    schäftsrisiken ohne individualisierbarem
     tung für die kontrollierende Person vo-
                                                                    Fehlverhalten des Geschäftsherrn orien-
     raussetzen.12
                                                                    tiert und sich entsprechend als «respon-
                                                                    sabilité sans faute» versteht, (b), das Mo-
8    Auch der schweizerische Art. 55 OR folgt
                                                                    dell des anglo-amerikanischen Rechts-
     dieser Grundstruktur. Nicht zuletzt we-
                                                                    kreises, das unter dem breiten Dach einer
     gen ihrer bestechenden ratio legis und
                                                                    «vicarious liability» ebenfalls als eine
     den klaren Haftungsvoraussetzungen ist
                                                                    «strict liability» konzipiert ist, sowie (c)
     diese Norm, wie auch in anderen Staaten,
                                                                    das von der Schweiz übernommene deut-
     ____________________________                                   sche Modell, das sich als einfache Kau-
11   Für die Schweiz vgl. bereits BGE 50 II 469 E. 2                salhaftung nach wie vor am Grundsatz
     S. 470; weitere Hinweise bei Franz Werro, La
     responsabilité civile, 3. Aufl., Bern 2017, Rz. 497;           der mangelnden Sorgfalt des Geschäfts-
     Walter Fellmann/Andrea Kottmann, Schweizeri-                   herrn orientiert.14
     sches Haftpflichtrecht, Bd. I, Allgemeiner Teil
     sowie Haftung aus Verschulden und Persönlich-
     keitsverletzung, gewöhnliche Haftungen des OR,                 ____________________________
     ZGB und PrHG, Bern 2012, Rz. 730 ff.; Christoph           13   Vgl. BGE 110 II 456 («Schachtrahmen»-Fall) mit
     Müller, La responsabilité civile extracontractuel-             der Entwicklung bis hin zum Bundesgesetz vom
     le, Bâle 2013, Rz. 266; vertiefend vgl. Martin Pet-            18. Juni 1993 über die Produktehaftpflicht
     rin, Fortentwicklung der Geschäftsherrenhaftung                (PrHG; SR 221.112.944); dazu vgl. Heinz Rey/
     in der Schweiz, Zürich 2004, S. 21 ff.; rechtsver-             Isabelle Wildhaber, Ausservertragliches Haft-
     gleichend statt vieler Phillip Morgan, Vicarious               pflichtrecht, 5. Aufl., Zürich u.a. 2018, Rz. 1117 ff.;
     liability for Group Companies: the Final Frontier              Müller (Fn. 11), Rz. 426; zur verbleibenden Be-
     of Vicarious liability?, Journal of Professional               deutung von Art. 55 OR als Grundnorm etwa
     Negligence 4/2015, S. 289 f., m.w.H.; Siel                     auch Werro (Fn. 11), Rz. 499 f.
     Demeyere, Liability of a Mother Company for Its           14   Vgl. für eine Übersicht Wagner (Fn. 10),
     Subsidiary in French, Belgian, and English Law,                S. 903 ff.; Giliker (Fn. 10), S. 32 ff.; auch Jaap
     European Review of Private Law 3/2015, S. 394                  Spier (Hrsg.), Unification of Tort Law: Liability
     und 397, m.w.H.                                                for Damage caused by Others, The Hague u.a.
12   So u.a. besonders prägnant Giliker (Fn. 10), S. 33.            2003, S. 3 ff.

                                                 sui-generis 2018, S. 431
Franz Werro, Indirekter Gegenentwurf zur Konzernverantwortungsinitiative

10    Im Kern dieser Unterscheidung geht es                           lung – ohne klar individualisierbarem
      um die Frage, ob der ins Recht gefassten                        Fehlverhalten – auszeichnen.17 Zumin-
      Person (hier dem inländischen Unter-                            dest Ansätze einer etwas sorgfaltsunab-
      nehmen) eine Haftungsbefreiung durch                            hängigeren Organisationshaftung tragen
      Sorgfaltsbeweis offen steht oder nicht.                         das Projekt «OR 2020»18 und der Vor-
      Bei der schweizerischen Lösung ist ein                          entwurf eines Bundesgesetzes zur Revisi-
      solcher Befreiungsbeweis vorgesehen.                            on und Vereinheitlichung des Haft-
      Bei den schärferen Haftungen, die neben                         pflichtrechts   («Widmer/Wessner»)19.
      dem anglo-amerikanischen Rechtskreis                            Zweimal hat der Bundesrat diese Ver-
      gerade auch in vielen kontinentaleuropä-                        schärfung allerdings nicht weiterver-
      ischen Ländern wie z.B. Frankreich, Bel-                        folgt.20
      gien, Luxembourg oder Italien vorkom-
      men, fällt ein solcher hingegen weg. Sind                 12    Indem die Konzernverantwortungsinitia-
      die vorstehenden drei Haftungsvoraus-                           tive wie der Gegenentwurf dem beklagten
      setzungen erfüllt, haftet die beklagte Per-                     Unternehmen nach wie vor einen Sorg-
      son ohne weiteres; eine Sorgfaltsverlet-                        faltsbeweis belassen, bauen beide Vorla-
      zung durch den Geschäftsherrn ist im                            gen folglich auf einer herkömmlichen
      Grundsatz nicht vorausgesetzt.15                                und wirtschaftsfreundlichen Ausgestal-
                                                                      tung der Geschäftsherrenhaftung auf. Sie
11    In dieser Einordnung befindet sich die                          stützen sich zudem auf eine Regelung,
      Schweiz betreffend Schärfegrad somit                            die im internationalen Vergleich äusserst
      überspitzt gesagt im letzten Drittel der                        milde und bescheiden ausfällt.
      Staatengemeinschaft. Angesichts der von
      einer Sorgfaltsverletzung zunehmend
      unabhängiger verstandenen Geschäfts-
      herrenhaftung in Deutschland bewegt                             ____________________________
                                                                 17   So grundlegend schon Peter Jäggi ZSR 86/1967
      sich die Schweiz europäisch gar in Rich-                        II, Diskussionsvotum am Schweizer Juristentag,
      tung Schlusslicht.16 So hat sich auch hier-                     S. 754 ff.
      zulande die Meinung durchgesetzt, dass
                                                                 18   Als     informativen      Einstieg    dazu     vgl.
                                                                      www.or2020.ch; Walter Fellman/Christoph Mül-
      der Sorgfaltsbeweis ein Relikt einer stark                      ler/Franz Werro, Kommentierung zu Art. 46-63,
      am persönlichen Verhalten der Ge-                               in: Claire Huguenin/Reto M. Hilty (Hrsg.),
                                                                      Schweizer Obligationenrecht 2020 – Entwurf für
      schäftsherrin bzw. des Geschäftsherrn                           einen neuen allgemeinen Teil, Zürich 2013.
      angelehnten Konzeption ist. Diese passt                    19   Im Vergleich mit den europäischen Entwicklun-
      schlecht zur heutigen Gliederung der Un-                        gen vgl. Franz Werro, The Swiss Tort Reform: a
                                                                      Possible Model for Europe?, in: Mauro Bussani
      ternehmungen, die sich durch eine starke                        (Hrsg.), European Tort Law, Bern 2007, S. 81 ff.;
      Konzentration der Entscheidungsbefug-                           zur Kritik am Sorgfaltsbeweis mit etwas anderer
      nisse und eine spezialisierte Arbeitstei-                       Begründung Roberto (Fn. 15), Rz. 08.60 ff.; ver-
                                                                      tiefend Oliver Waespi, Organisationshaftung,
                                                                      Bern 2005, passim.
      ____________________________                               20   Dass die Zeit für einen solchen Schritt hierzulan-
 15   Vgl. prägnant Vito Roberto, Haftpflichtrecht,                   de offenbar noch nicht reif ist, hat der Bundesrat
      2. Aufl., Bern 2018, Rz. 08.59; eingehender u.a.                unlängst bekräftigt (vgl. Bericht des Bundesrates
      Giliker (Fn. 10), S. 31 ff., 37 f.; Demeyere (Fn. 11),          vom 31. Januar 2018 – Modernisierung des All-
      S. 407; Morgan (Fn. 11), S. 276; Spier (Fn. 14),                gemeinen Teils des Schweizer Obligationenrechts
      S. 63 ff.                                                       in Erfüllung der Postulate [13.3217] Bischof und
 16   Vgl. zur zusehends strengeren Praxis in Deutsch-                [13.3226] Caroni). Bereits den erwähnten Vor-
      land z.B. Nachweise bei Giliker (Fn. 10), S. 36 f.;             entwurf «Widmer/Wessner» hatte der Bundesrat
      Wagner (Fn. 10), S. 911.                                        nicht weiterverfolgt.

                                                   sui-generis 2018, S. 432
Franz Werro, Indirekter Gegenentwurf zur Konzernverantwortungsinitiative

3. Übertragbarkeit der Geschäftsherren-                       14    In der Schweiz steht die Diskussion an
   haftung auf Konzernverhältnisse als                              einem ähnlichen Punkt. Nach breit abge-
   in- und ausländischer Trend                                      stützter und ganz vorherrschender
13   Zur punktuellen Relativierung von Haf-                         Lehrmeinung soll Art. 55 OR auch dann
     tungsschranken im Konzern gegenüber                            anwendbar sein, wenn nicht natürliche
     geschädigten Dritten – sei es allgemein                        Personen, sondern Unternehmen als ju-
     oder gerade auch im vorliegenden Zu-                           ristische Personen Geschäftsherr und
     sammenhang – richtet die neuere Lehre                          Hilfsperson sind (vgl. dazu den eindrück-
     ihren Blick zusehends auf die Geschäfts-                       lichen Fussnotenkatalog).23 Eine Über-
     herrenhaftung oder vergleichbare Insti-                        tragung folgt der Art. 55 OR zugrundelie-
     tute.21 In der internationalen Literatur                       genden Rechtfertigung, dass soweit herr-
     gewinnt diese Diskussion v.a. unter den                        schende Gesellschaften ihren Hand-
     Titeln «vicarious liability» bzw. «liability                   lungsspielraum durch den Einsatz von
     for the acts of others» an Schärfe. So be-                     abhängigen Gesellschaften ausweiten, sie
     fürwortet etwa die Doktrin in England,
                                                                    tional Litigation Against Multinational Corpora-
     Frankreich oder den Niederlanden aber                          tions: Prospects and Problems in the Courts of
     auch in anderen Staaten mit zunehmen-                          Netherlands, in: Kamminga Menno T./Zia-Zarifi
                                                                    Sman (Hrsg.), Liability of Multinational Corpora-
     der Deutlichkeit eine Übertragbarkeit der                      tions under International Law, The Hague 2000,
     Geschäftsherrenhaftung oder vergleich-                         S. 265 ff.; Cees van Dam, Tort Law and Human
     barer Institute auf Konzernverhältnisse.                       Rights: Brothers in Arms – On the Role of Tort
                                                                    Law in the Area of Business and Human Rights,
     Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass                       Journal of European Tort Law 2011, S. 221 ff.,
     Klagen zur Anwendung dieser Ansätze                            247 ff.
                                                               23   Vgl. Roland von Büren, Schweizerisches Privat-
     bislang noch die Ausnahme bleiben.22
                                                                    recht Bd. VIII/6, Der Konzern, 2. Aufl., Basel u.a.
     ____________________________                                   2005, S. 202 ff.; Hofstetter (Fn. 22), S. 239 ff.;
21   Dies in Abgrenzung zur Durchgriffshaftung, die                 Lukas Handschin, Der Konzern im geltenden
     als zu radikale Lösung zu Recht je länger je weni-             schweizerischen Privatrecht, Zürich 1994,
     ger von Bedeutung ist: dazu treffend Geisser                   S. 344 ff.; Karin Beyeler, Konzernleitung im
     (Fn. 8), S. 953 f.; Rolf H. Weber/Rainer Baisch,               schweizerischen Privatrecht, Zürich 2004,
     Liability of Parent Companies for Human Rights                 S. 272 ff.; Nina Sauerwein, La responsabilité de la
     Violations of Subsidiaries, 2015, S. 688 ff.; und              société mère, Bern 2006, S. 89 ff.; Max Albers-
     im anglo-amerikanischen Rechtskreis in letzter                 Schönberg, Haftungsverhältnisse im Konzern,
     Differenzierung zu Recht auch vermehrt mit Ab-                 Zürich 1980, S. 174 ff.; Jean Nicolas
     stand vom sog. «Duty-of-Care-Konzept» hin zur                  Druey/Alexander Vogel, Das Schweizer Konzern-
     «vicarious liability» u.a. Morgan (Fn. 11),                    recht in der Praxis der Gerichte, Zürich 1999,
     S. 276 ff.                                                     S. 101; Gregor Geisser, Ausservertragliche Haf-
22   Zu dieser Diskussion vgl. aus der reichen Litera-              tung privat tätiger Unternehmen für Menschen-
     tur allgemein statt vieler Demeyere (Fn. 11),                  rechtsverletzungen bei internationalen Sachver-
     S. 385 ff.; Morgan (Fn. 11), S. 276 ff. und                    halten – Möglichkeiten und Grenzen der schwei-
     S. 289 ff. (v.a. in der Ausgestaltung als «enterpri-           zerischen Zivilgerichtsbarkeit im Verhältnis von
     se liability»); Karl Hofstetter, Sachgerechte Haf-             Völkerrecht und Internationalem Privatrecht, Zü-
     tungsregeln für multinationale Konzerne – Zur                  rich u.a. 2013, S. 494 ff. Im Grundsatz so auch
     zivilrechtlichen Verantwortlichkeit von Mutterge-              von der Praxis bejaht: vgl. Urteil des Bundesge-
     sellschaften im Kontext internationaler Märkte,                richts (R. Inc. c. S. SA) vom 11. Juni 1992, in:
     Tübingen 1995, S. 119 ff. (S. 225 f.: Nachweise zu             SZW 1993, S. 308. Als soweit ersichtlich einzig
     Deutschland mit Blick auf die Geschäftsherren-                 kritische Stimmen im vorliegenden Zusammen-
     haftung); und mit zusätzlich menschenrechtli-                  hang, allerdings ohne Bezug zur vorstehenden Li-
     chem Bezug: Weber/Baisch (Fn. 21), S. 685 ff.;                 teratur, Peter Böckli/Christoph B. Bühler, Zur
     Geisser (Fn. 8), S. 952 ff.; Liesbeth Enneking,                «Konzernverantwortungsinitiative» – Rechtliche
     Corporate liability for violations of human rights             Überlegungen zu den vier Forderungen der Eid-
     and the environment abroad: a comparative per-                 genössischen Volksinitiative «Für verantwor-
     spective, AJP 8/2017, S. 988 ff.; André Nol-                   tungsvolle Unternehmen von Mensch und Um-
     lkaemper, Public International Law in Transna-                 welt», Zürich u.a. 2018, S. 56 f.

                                                 sui-generis 2018, S. 433
Franz Werro, Indirekter Gegenentwurf zur Konzernverantwortungsinitiative

     auch für die Handlungen in diesem er-                        schenden Gesellschaft eine mit der Stel-
     weiterten Handlungsbereich haftpflicht-                      lung einer Geschäftsherrin vergleichbare
     rechtlich mitverantwortlich sind (res-                       Möglichkeit zukommt, durch Beeinflus-
     pondeat superior).24 Als Haftpflicht-                        sung der abhängigen Gesellschaft eine
     rechtler lasse ich mich in diesem rechts-                    Schädigung Dritter zu vermeiden, ist die
     gebietsübergreifenden Thema von der zi-                      für eine Haftung nach Art. 55 OR erfor-
     tierten Konzernrechtslehre mit Nach-                         derliche faktische Weisungsmacht gege-
     druck davon überzeugen, dass die von                         ben. Das herrschende Unternehmen ist
     Art. 55 OR verlangte «ökonomisch-                            demnach dort, wo es eine einheitliche
     organisatorische»25 Subordination und                        Leitung durchsetzt (oder eben «tatsächli-
     die damit verbundene faktische Wei-                          che Kontrolle» ausübt), als Geschäftsherr
     sungsmacht zwischen Geschäftsherr und                        zu qualifizieren. In Bereichen hingegen,
     Hilfsperson in der Realität zunehmend                        welche nicht von der einheitlichen Lei-
     straff geführter Konzerne zwischen Mut-                      tung betroffen sind und wo das abhängi-
     ter- und Tochtergesellschaft typischer-                      ge Unternehmen autonom handelt, kann
     weise gegeben ist.26 In dieser Wirklich-                     diese Haftung nur ausnahmsweise und
     keit kann es etwa zu den Konzernlei-                         unter strengen Voraussetzungen, z.B. bei
     tungsaufgaben gehören, den abhängigen                        einer konkreten Weisungsvereinbarung,
     Tochtergesellschaften operationelle Vor-                     in Frage kommen. So in etwa dürfte das
     gaben zu Umsatz- und Ertragszielen oder                      enge Verständnis des Gesetzesentwurfs
     zur Produktion zu machen.27                                  auszulegen sein. Denkbar wäre es mit
                                                                  Lukas Handschin aber auch gewesen, auf
15   Mit der Formulierung «tatsächlich kon-                       das im Gesellschaftsrecht mittlerweile
     trollierte Unternehmen» in Art. 55                           etablierte Kontrollprinzip abzustellen,
     Abs. 1bis E-OR entscheidet sich der indi-                    wonach zwar die Leitungsmechanismen
     rekte Gegenentwurf – in Anlehnung an                         eingerichtet sein müssen, die Leitung
     das im Konzernrecht an sich überkom-                         aber nicht unbedingt effektiv wahrge-
     mene Leitungsprinzip – für ein enges                         nommen worden sein muss.29 Der Ge-
     Verständnis einer haftungsrelevanten                         genentwurf enthält an dieser Stelle denn
     Kontrolle.28 Ein solches vertritt etwa Ro-                   auch eine deutliche Einschränkung zur
     land von Büren: Nur wenn der herr-                           Initiative, welche eine Kontrolle «fak-
     ____________________________                                 tisch auch durch wirtschaftliche Macht-
24   Vgl. treffend Handschin (Fn. 23), S. 347.                    ausübung» genügen lässt.30 Soweit mei-
25   Vgl. u.a. Rey/Wildhaber (Fn. 13), Rz. 1066,                  ne Ausführungen zur Kontrollvorausset-
     m.w.H.; Fellmann/Kottmann (Fn. 11), Rz. 739;
     Petrin (Fn. 11), S. 67 ff.                                   zung. Damit komme ich zum Sorgfalts-
26   Beispielhaft für die vorstehende Literatur vgl.              beweis.
     Handschin (Fn. 23), S. 349.
27   Vgl. etwa von Büren (Fn. 23), S. 57. Mischt sich
     die Konzernmutter (mittels ihrer Organe) dar-
     über hinaus in die konkret schädigende Hand-                 ____________________________
     lung ein, indem sie z.B. spezifische, die absolut       29   Handschin (Fn. 23), S. 349 und 353; im vorlie-
     geschützten Rechtsgüter Dritter verletzende Wei-             genden Verhältnis Ders. (Fn. 8), S. 1000 ff. (mit
     sungen erteilt, wird sie gar zur Geschäftsführerin           dem Hinweis auf das Kontrollprinzip bzw. die
     und wäre unter Umständen direkt aus Art. 41 OR               Konsolidierungspflicht nach Art. 963 OR als ob-
     haftbar; vgl. dazu Nachweise bei Geisser (Fn. 23),           jektives und rechtssicheres Kriterium).
     S. 493 f.                                               30   Vgl. Art. 101a Abs. 2 Bst. a E-BV; zum Verständ-
28   Dazu auch Kommissionsbericht (Fn. 5),                        nis dieser Formulierung vgl. auch Erläuterungen
     Kap. 2.3.1.                                                  (Fn. 3), S. 43 f.

                                               sui-generis 2018, S. 434
Franz Werro, Indirekter Gegenentwurf zur Konzernverantwortungsinitiative

16   Zur Weiterentwicklung der Geschäftsher-                     ckelte curae, nämlich jene einer zweck-
     renhaftung unter dem Titel «sachgerech-                     mässigen Organisation. Eine dahinge-
     te[r] Haftungsregeln für multinationale                     hende Organisationshaftung hat sich et-
     Konzerne» ist die Stimme von Karl Hof-                      wa in der Produktehaftpflicht verfes-
     stetter am einschlägigsten. In seiner                       tigt.32
     gleichnamigen Habilitation hat er die
     haftungsrelevanten     Sorgfaltskriterien             18    Dementsprechend rege ich dazu an, die
     bei Konzernverhältnissen wie folgt um-                      vorliegende Haftungsregelung in einer
     rissen: «Der Sorgfaltsbeweis der Kon-                       eigenen Bestimmung unterzubringen
     zernmutter sollte sich auch im Zusam-                       und nicht, wie im Gegenentwurf, im be-
     menhang mit der Geschäftsherrenhaf-                         stehenden Art. 55 OR zu integrieren. Ei-
     tung am Begriff der ordnungsgemässen                        ne neue und separate Bestimmung soll
     Konzerngeschäftsführung       orientieren.                  zwar weiterhin den Geist der Geschäfts-
     Diesen gilt es spezifisch auf die […]                       herrenhaftung atmen, in funktionaler
     Schutzinteressen      ausservertraglicher                   Umsetzung aber ihre konzernspezifische
     Tochtergläubiger auszurichten. Dabei ist                    Ausgestaltung erhalten.
     der konkreten Ausgestaltung der Mutter-
     kontrolle über die Tochtertätigkeiten und             19    Als Zwischenfazit stelle ich fest, dass die
     der Voraussehbarkeit eingetretener Risi-                    Übertragung der Geschäftsherrenhaftung
     ken Rechnung zu tragen. Der Nachweis                        auf Konzernverhältnisse in adäquater
     der drei klassischen curae […] vermag                       Umsetzung sowohl in der Schweiz als
     aber grundsätzlich nicht zu genügen. Ge-                    auch im Ausland einem bereits im gel-
     fordert ist vielmehr Beweis dafür, dass                     tenden Recht angelegten, mehrheitsfähi-
     alle konzernorganisatorischen Möglich-                      gen Trend entspricht. Die zu beurteilen-
     keiten ausgeschöpft wurden, um eine op-                     de Vorlage baut somit auf einer sachge-
     timale Sicherheit der Tochtertätigkeiten                    rechten und bestehenden Rechtsgrund-
     zu gewährleisten (Konzernorganisati-                        lage auf.
     onshaftung).»31
                                                           4. Anwendung dieses Haftungs-
17   Bereits dem geltenden Recht von Art. 55                  konzepts im menschenrechtlichen
     OR liegen demnach Konturen einer Kon-                    Zusammenhang – bescheiden
     zernorganisationshaftung zugrunde. Eine                  bleibt bescheiden
     Verantwortlichkeit des Mutterunterneh-                20    Die Konzernverantwortungsinitiative wie
     mens für die schädigenden Handlungen
                                                                 der Gegenentwurf stützen sich nach den
     ihrer Töchter nimmt dabei Abstand vom
                                                                 Gesagten auf eine adäquate Haftungs-
     klassischen Verständnis einer natürli-
                                                                 norm. In der Ausgestaltung bleibt Art. 55
     chen Person als Hilfsperson und den da-
                                                                 OR dabei wegen dem Entlastungsbeweis
     rauf zugeschnittenen drei curae der
                                                                 als herkömmlich-zurückhaltend zu be-
     Sorgfalt in deren Auswahl, Instruktion
                                                                 zeichnen. Im menschenrechtlichen Zu-
     und Überwachung. Die Verantwortlich-
                                                                 sammenhang kann der Aufbau auf eine
     keit bezieht sich dagegen vornehmlich
                                                                 Geschäftsherrenhaftung, die dem beklag-
     auf die vierte vom Bundesgericht entwi-
     ____________________________                                ____________________________
31   Hofstetter (Fn. 22), S. 243 f., m.w.H. (Hervorhe-      32   So bereits seit BGE 110 II 456 («Schachtrah-
     bung hinzugefügt).                                          men»-Fall).

                                              sui-generis 2018, S. 435
Franz Werro, Indirekter Gegenentwurf zur Konzernverantwortungsinitiative

     ten Unternehmen nach wie vor solchen                         pflicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit zu
     Entlastungsbeweis belässt, gleichwohl                        begegnen. Das geschickte Zusammen-
     seine Berechtigung haben. So steht der                       spiel von Gesellschafts- und Haftpflicht-
     entworfene Gesetzesrahmen inspiriert                         recht kann insoweit betont präventiv
     von den international anerkannten UNO-                       wirken.36 Diese Korrelation bringt das
     Leitprinzipien für Wirtschaft und Men-                       UNO-Hochkommissariat für Menschen-
     schenrechte (2011) auf zwei Beinen:33                        rechte im aktuellen Bericht «The rele-
                                                                  vance of human rights due diligence to
     1.   Zunächst sieht er eine unternehmeri-                    determinations of corporate liability» wie
          sche Sorgfaltsprüfungspflicht vor, die                  folgt auf den Punkt: «Permitting a de-
          in voller Reichweite vorab in einer                     fense to liability based upon human
          gesellschaftsrechtlichen    Berichter-                  rights due diligence activities could in-
          stattungspflicht mündet. 34
                                                                  centivize companies to meaningfully en-
     2. Bei Verletzung dieser Sorgfaltsprü-                       gage in such activities and have im-
        fungspflicht kennt die Vorlage zur                        portant preventative effect […].»37
        staatlichen Durchsetzung und effek-
                                                            22    Gleichwohl vermag eine Bestimmung wie
        tiven Wiedergutmachung sodann ei-
        ne beschränkte Haftpflicht.35                             die vorgeschlagene, die dem Entlas-
                                                                  tungsbeweis verhaftet bleibt, das vorste-
21   Die Verbindung dieser Sorgfaltsprü-                          hend skizzierte Gewand einer altherge-
     fungspflicht und Haftung erfolgt durch                       brachten und vergleichsweise harmlosen
     den erwähnten Entlastungsbeweis. Um                          Regelung nicht abzustreifen.38 Beschei-
     sich von Haftungsrisiken freizuhalten,                       den bleibt eben bescheiden. Ob die
     hat das Unternehmen die gesetzlich ge-                       Schweiz dieser sehr unternehmens-
     forderte Sorgfalt walten zu lassen. Hat es                   freundlichen Zurückhaltung auch im vor-
     diese Sorgfalt angewendet, kann es sich                      liegenden Zusammenhang treu bleiben
     von der Haftung entlasten. Diese haft-                       will, ist letztlich eine politische Frage.
     pflichtrechtliche Wirkung schafft für Un-
                                                            23    Meine weiteren Überlegungen gehen so-
     ternehmen den Anreiz, der gesellschafts-
     rechtlich verankerten Sorgfaltsprüfungs-                     dann der Frage nach, wie der Sorgfalts-
                                                                  massstab     ausgestaltet  sein   soll:
     ____________________________
33   Vgl. die vom UNO-Menschenrechtsrat am 21.
                                                                  Art. 716a E-OR (in Verbindung mit Art.
                                                                           bis

     März 2011 (UN Doc. A/HRC/17/31) verabschie-                  ____________________________
     deten UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und             36   Statt vieler vgl. Van Dam (Fn. 22), S. 221 ff.; Eu-
     Menschenreche, 2011. Für diesen Leitlinien mit               roparat, Recommendation CM/Rec(2016)3 of the
     Blick auf die Schweiz mitunter zugrunde liegende             Committee of Ministers to member States on
     Schutzpflichten bei Handlungen von Schweizer                 human rights and business, 2. März 2016,
     Unternehmen (auch bei Auslandsaktivitäten) vgl.              Ziff. 32 ff.
     Evelyne Schmid, Exigences internationales de            37   Report of the United Nations High Commissioner
     prendre des mesures législatives – La Suisse doit-           for Human Rights (OHCHR), Improving ac-
     elle légiférer dans le domaine des «entreprises et           countability and access to remedy for victims of
     droits humains»?, AJP 8/2017, S. 930 ff.; bezüg-             business-related human rights abuse: The rele-
     lich Haftpflichtrecht vgl. Geisser (Fn. 23),                 vance of human rights due diligence to determi-
     Rz. 115 ff. und 203 ff.                                      nations of corporate liability, 1. Juni 2018, UN
34   Vgl. UNO-Leitprinzipien (Fn. 33) 17 ff. mit                  Doc. A/HRC/38/20/add.2, Ziff. 29.
     Art. 716abis und Art. 961e E-OR des Gesetzesent-        38   Dessen ist sich bei rechtsvergleichender Betrach-
     wurfs (Fn. 5).                                               tung offenbar auch das UNO-Hochkommissariat
35   Vgl. UNO-Leitprinzipien (Fn. 33) 26 mit Art. 55              für Menschenrechte bewusst: vgl. OHCHR
     Abs. 1bis + ter E-OR des Gesetzesentwurfs (Fn. 5).           (Fn. 37), Ziff. 26 und 29 (ganzer Absatz).

                                               sui-generis 2018, S. 436
Franz Werro, Indirekter Gegenentwurf zur Konzernverantwortungsinitiative

      55 Abs. 1bis E-OR) leitet die Unterneh-                      Anders liegen die Dinge in zentralistisch
      men zunächst zum Dreischritt an, (1)                         organisierten Bereichen des Konzerns, in
      Auswirkungen der Geschäftstätigkeit auf                      welchen die Mutter die Tochter im Detail
      Menschenrechte und Umwelt zu ermit-                          kontrolliert und daher auch in der Lage
      teln und einzuschätzen, (2) die nötigen                      ist, die weisungsmässige Abwicklung der
      Massnahmen umzusetzen und zu über-                           Geschäfte zu überprüfen.42
      wachen sowie (3) darüber zu berichten.
      Diese Trilogie stützt sich auf die interna-            25    Diese Ausführungen sind vielverspre-
      tional anerkannten, sehr gut strukturier-                    chend und lohnen einer näheren Be-
      ten und praxisnahen UNO-Leitprinzipien                       trachtung. Im vorliegenden Beitrag bleibt
      für Wirtschaft und Menschenrechte.39                         kein Raum für eine solche Vertiefung.
      Konzernspezifisch haben gewichtige                           Für meine Grundthese genügt die Fest-
      Stimmen in der Lehre gestützt auf ein-                       stellung, dass eine Konkretisierung der
      schlägiges Rechtsmaterial (darunter die                      gebotenen Sorgfalt in die vorskizzierte
      OECD-Leitsätze für multinationale Un-                        Richtung gehen kann und muss, um der
      ternehmen)40 dabei die folgende Sorg-                        in Art. 55 OR angelegten Konzernorgani-
      falts-Formel entworfen: Die unter den                        sationshaftung weitere Konturen zu ver-
      gegebenen Umständen gebotene Sorgfalt                        leihen. So gesehen bildet die diskutierte
      im Konzern ergibt sich letztlich aus einer                   Vorlage einen gesetzlichen Grundrah-
      zweckmässigen, dem Verhältnis von                            men, der die spezifisch menschenrechtli-
      Kontrolle, Risiken und Mitteln entspre-                      chen Aufgaben der Leitungsorgane im
      chende Kompetenzaufteilung innerhalb                         Konzern weiter klärt, aber auch deren
      der Unternehmensgruppe, die organisa-                        Grenzen aufzeigt. Eine solche Gesetzge-
      torisch darauf abzielt, menschenrechtli-                     bung wäre somit der Rechtssicherheit
      che Beaufsichtigungslücken zu vermei-                        dienlich.43
      den.41
                                                                   ____________________________
                                                              42   Vgl. aus dem Kreis dieser gewichtigen Stimmen
24    In dezentralen Konzernbereichen geht es                      u.a. Handschin (Fn. 23), S. 111 und S. 352 f. (all-
      demnach seitens der Konzernleitung um                        gemein); OECD-Leitsätze (Fn. 40), Erläuterun-
                                                                   gen zu den allgemeinen Grundsätzen, Ziff. 9 (zum
      ein sorgfältiges Monitoring der konzern-                     Gesamtmonitoring); Peter Forstmoser, Schutz
      weiten Gesamtstruktur verbunden mit                          der Menschenrechte – eine Pflicht für multinati-
                                                                   onale Unternehmen?, in: Angela Cavallo u.a.
      einer hinreichenden finanziellen, perso-                     (Hrsg.), Liber amicorum für Andreas Donatsch,
      nellen und technischen Ausstattung der                       Zürich u.a., 2012, S. 715 (zur Organisations-
      kontrollierten Gesellschaft und weniger                      pflicht) und S. 720; Ders., Corporate Social
                                                                   Responsibility, eine (neue) Rechtspflicht für Pub-
      um die Überwachung jedes Einzelrisikos.                      likumsgesellschaften?, in: Robert Waldburger
                                                                   u.a. (Hrsg.), Festschrift für Peter Nobel zum 70.
      ____________________________                                 Geburtstag, Bern 2015, S. 157 ff. und S. 175; von
 39   Vgl. Fn. 30. Dazu Kommissionsbericht (Fn. 5),                Büren (Fn. 23), S. 203 (zur haftungsrelevanten
      S. 5.                                                        Aufsichtspflicht der Konzernmutter); Hofstetter
 40   Vgl. die OECD-Leitsätze für multinationale Un-               (Fn. 22), S. 243 (Sorgfalts-Formel); Rey/
      ternehmen, 2011. Dazu aktuell auch die de-                   Wildhaber (Fn. 13), Rz. 1103 (zur Vermeidung
      tailliertere OECD Due Diligence Guidance for Re-             von Beaufsichtigungslücken); in gesamthaftem
      sponsible Business Conduct, 2018. Für mögliche               Zusammenzug vgl. Geisser (Fn. 8), S. 957 f. (mit
      rechtliche Wirkungen dieser Leitsätze vgl. bereits           Anwendungsbeispielen).
      Hans W. Baade, The Legal Effect of Codes of             43   Als Potenzial und Empfehlung in diese Richtung
      Conduct for Multinational Enterprises, German                namentlich für civil-law-Staaten [wie der
      Yearbook of International Law 1979, S. 11 ff.                Schweiz] vgl. auch OHCHR (Fn. 37), Ziff. 24 und
 41   Vgl. die Verweise in der nachstehenden Fn.                   Annex I, Policy objective 14.2-3; aus der Lehre

                                                sui-generis 2018, S. 437
Franz Werro, Indirekter Gegenentwurf zur Konzernverantwortungsinitiative

26   Nach diesen Erkenntnissen muss ich als                  27    Ausfransende Tendenzen dieser Haf-
     Haftpflichtrechtslehrer den mitunter                          tungsregelung sind entgegen gegenteili-
     schrillen und politisch anmutenden                            ger Bedenken45 auch insoweit keine aus-
     Stimmen entschieden widersprechen, die                        zumachen, als die Bestimmung nicht
     ins Feld führen, die Konzernverantwor-                        über den Konzern hinausgeht und als
     tungsinitiative wie der indirekte Gegen-                      solche keine Haftungswirkung in die Zu-
     entwurf schafften eine vollkommen neue                        lieferkette hat. In Art. 55 Abs. 1ter E-OR
     Haftungsgrundlage, was zu Rechtsunsi-                         ist dazu ausdrücklich vermerkt, dass «ein
     cherheit und einem massiv höheren Haf-                        Unternehmen […] ein anderes Unter-
     tungsrisiko führe.44 Die vorgesehene                          nehmen nicht allein deswegen [kontrol-
     Haftungsregelung erweitert nach dem                           liert], weil dieses von jenem wirtschaft-
     Gesagten den Haftungsrahmen nicht,                            lich abhängt». Eine haftungsrelevante
     sondern präzisiert ihn lediglich. Und wer                     Kontrolle ist damit ausserhalb rechtli-
     die Haftungsregelung mit Blick auf die                        cher und im Konzern auch tatsächlich
     angesprochenen Menschenrechts- und                            ausgeübter Kontrolle ausgeschlossen.
     Umweltgüter als ausufernd erachtet,                           Überschiessende Tendenzen einer Haf-
     überliest in Art. 55 Abs. 1bis E-OR das ge-                   tung hin zu Schädigungen durch Liefe-
     setzliche Erfordernis eines Schadens an                       ranten, wie sie etwa in der französischen
     «Leib und Leben oder Eigentum». Mit                           «Loi relative au devoir de vigilance des
     diesem rechtstechnisch wohl besser zu                         sociétés mères» im menschenrechtlichen
     bezeichnenden Personen- und Sachscha-                         Zusammenhang im Begriff der «relation
     den bleibt die eng verstandene Thematik                       commerciale établie» angelegt sind,46 be-
     haftpflichtrechtlich gefasst. Nur soweit                      inhaltet der Gegenentwurf nicht.47
     die Verletzung der menschen- und um-
     weltrechtlichen Sorgfaltsprüfungspflicht                5. Gedanken zur konkreten Regelung
     zu derart handfesten Schädigungen an                       – Zurückhaltung nicht übertreiben
     privatrechtlich geschützten Gütern führt,               28    Die Rechtskommission des Ständerates
     ist sie haftungsrelevant. Die Regelung
                                                                   ist im Herbst 2018 auf den indirekten
     führt dementsprechend auch nicht etwa
                                                                   Gegenentwurf mit 9 gegen 2 Stimmen bei
     zu einem neuen internationalen Um-
                                                                   einer Enthaltung eingetreten. Gleichzei-
     welthaftungsrecht.
                                                                   tig hat sie in ihrer Medienmitteilung vom
                                                                   17. Oktober 2018 verlauten lassen, die
                                                                   Arbeiten am vom Nationalrat verab-
     Nicolas Bueno, La responsabilité des entreprises
     de respecter les droits de l’homme – État de la               ____________________________
     pratique suisse, AJP 8/2017, S. 1023 f.; Enneking        45   Vgl. etwa Ehrat (Fn. 44).
     (Fn. 22), S. 996; Geisser (Fn. 8), S. 962; inner-        46   Neue Artikel L225-102-4, L225-102-5 im Code de
     halb der von SKMR/SIR (Hrsg.), mit Christine                  commerce, eingeführt durch Loi n° 2017-399 re-
     Kaufmann und Lukas Heckendorn Urscheler, in                   lative au devoir de vigilance des sociétés mères et
     ihrer Wiedergutmachungs-Studie [Access to                     des entreprises donneuses d'ordre vom 27. März
     Remedy – Study commissioned by the FDFA with                  2017, in Kraft seit dem 29. März 2017. In Au-
     view to fulfilling Postulate 14.3663], 2017, Execu-           seinandersetzung mit der konkreten Frage vgl.
     tive Summary, S. 10 und Bericht, S. 131 ff., darge-           Stéphane Brabant u.a., The Vigilance Plan – Cor-
     legten Optionen, entspricht dieses Vorgehen dem               nerstone of the Law of the Corporate Duty of Vi-
     vermittelnden Szenario C: Klärung statt Erweite-              gilance, Revue Internationale de la Compliance,
     rung.                                                         Suppl., 2017, S. 2 f.
44   Vgl. z.B. Felix Ehrat, «Die Initiative ist eine Mo-      47   Vgl. explizit auch Kommissionsbericht (Fn. 5),
     gelpackung», NZZ online vom 8. November 2016.                 Kap. 2.3.1, dritter Absatz.

                                                sui-generis 2018, S. 438
Franz Werro, Indirekter Gegenentwurf zur Konzernverantwortungsinitiative

     schiedeten Text weiterzuführen48. Dieses                   bescheiden ausfällt und im Vergleich zur
     Vorgehen ist aus rechtlicher Sicht inso-                   Initiative deutliche Abstriche aufweist.
     weit zu begrüssen, als mit der Fortfüh-                    Eine weitere Ausdünnung könnte somit
     rung der Arbeiten legistische Präzisie-                    einen Rückschritt hinter das geltende
     rungen gemeint sind. Die eingangs wie-                     Recht bedeuten. Diese These beleuchte
     dergegebene Bestimmung von Art. 55                         ich beispielhaft anhand des im Zuge die-
     Abs. 1bis E-OR ist lang, als solche schwer                 ser Abhandlung dargelegten Sorgfalts-
     lesbar und mitunter redundant.49 Kaum                      beweises:
     nachvollziehbar ist dabei, dass das gera-
     de im vorliegenden Zusammenhang emi-                 30    Der Sorgfaltsbeweis ist wie erwähnt ein
     nent wichtige Wort «Sorgfalt» in der                       im Prinzip überkommenes Tatbestandse-
     deutsch- und französischsprachigen                         lement (vgl. Kap. II.2.). Ich plädiere des-
     Textfassung fehlt. Auch empfehle ich aus                   halb an sich dafür, darauf zu verzichten.
     den erwähnten Gründen (vgl. Kap. II.3),                    Hält der Ständerat dennoch am Sorg-
     die Haftungsregelung strukturell vom be-                   faltsbeweis fest, muss dieser zumindest
     stehenden Art. 55 OR abzukoppeln und                       vorbehaltlos beim Beklagten bleiben. Je-
     die gehaltvollen Aussagen von Art. 55                      nen Stimmen, welche die Beweislast im
     Abs. 1bis E-OR stattdessen in eine eigen-                  Rahmen von Art. 55 Abs. 1bis E-OR statt
     ständige rechtsformneutrale Norm zu                        dem Unternehmen nun der geschädigten
     giessen. Im vorliegenden Grundsatz-                        Person auferlegen wollen,50 bleibt bei
     beitrag gehe ich legistischen Fragen nicht                 dieser Ausgangslage umso entschiedener
     weiter nach und gehe davon aus, dass die                   zu entgegnen: Die Geschäftsherrenhaf-
     zuständige Rechtskommission diese er-                      tung basiert auf dem Verständnis, dass
     folgreich bereinigt.                                       sich der Geschäftsherr von einem schädi-
                                                                genden Fehlverhalten seiner Hilfsperson
29   Einem Ansinnen nach Präzisierung kann                      durch einen Sorgfaltsbeweis haftpflicht-
     ich aus haftpflichtrechtlicher Sicht aber                  rechtlich distanzieren kann.51 Diesen
     dann nicht folgen, wenn damit weitere                      Sorgfaltsbeweis – oder eben Entlas-
     materielle Einschränkungen (so. z.B.                       tungsbeweis – hat systembedingt das
     eine Umkehr des Sorgfaltsbeweises zu-                      Unternehmen zu erbringen. Vorliegend
     lasten des Geschädigten; dazu sogleich)                    ist diese Beweislastverteilung umso vor-
     gemeint sind. Die Ausführungen haben                       dringlicher, als der Möglichkeit eines un-
     gezeigt, dass die Haftungsnorm in ihrer                    ternehmerischen Sorgfaltsbeweises im
     Konzeption (enger Kontrollbegriff, Fest-                   Gesamtkonzept betont präventive Funk-
     halten am Sorgfaltsbeweis) bereits jetzt                   tion zukommt (vgl. Kap. II.4. vorste-
     ____________________________                               hend).
48   Medienmitteilung der RK-S vom 17. Oktober
     2018: Kommission tritt auf den indirekten Ge-
                                                          31    Wer nun behauptet, der Entlastungsbe-
     genentwurf zur Konzernverantwortungsinitiative
     ein.                                                       weis sei eine systemfremde unternehme-
49   Stellvertretend für die Redundanz z.B. die zwei-
     malige Erwähnung des Passus «Bestimmungen
                                                                rische Last, die der Unschuldsvermutung
     zum Schutz der Menschenrechte und der Um-
     welt». Eine Norm mit komplexen Inhalten wie                ____________________________
     den vorliegenden über zwei Sätze und zehn Zeilen      50   Vgl. Hansueli Schöchli, Die Beweislast soll beim
     zu erstrecken, sprengt zweifellos den Rahmen ei-           Kläger sein, NZZ online vom 28. Juni 2018.
     ner übersichtlichen und verständlichen Bestim-        51   In diesem Sinne treffend auch SKMR/SIR
     mung.                                                      (Fn. 43), Executive Summary, Rz. 21.

                                             sui-generis 2018, S. 439
Franz Werro, Indirekter Gegenentwurf zur Konzernverantwortungsinitiative

      widerspreche,52 irrt nicht nur zwischen                      schenrechtlichen Sorgfaltsprüfung Revi-
      Straf- und Haftpflichtrecht und verkennt                     sionsstellen zur Prüfung vorlegen, darf
      das erwähnte Konzept der Geschäftsher-                       nach meiner Auffassung ein Prüfbericht
      renhaftung. Er verschliesst die Augen vor                    allenfalls die Basis für eine tatsächliche
      massgeblichen Rechtstatsachen. So dürf-                      Vermutung der haftpflichtrechtlich gebo-
      te es dem Geschädigten kaum je möglich                       tenen Sorgfalt bilden, nicht aber jene für
      sein zu beweisen, dass das Unternehmen                       eine gesetzliche Vermutung.56 Eine er-
      die gebotene Sorgfalt hat walten lassen,                     folgreiche Zertifizierung sollte also nicht
      liegen doch die Beweise beim Unterneh-                       zu einer Umkehr des Sorgfaltsbeweises
      men und sind diese wegen der fehlenden                       zulasten des Geschädigten führen und
      prozessualen Herausgabepflicht gegen-                        ihm den Hauptbeweis auferlegen. Ent-
      über dem Beklagten für Aussenstehende                        schiede der Gesetzgeber anders, wäre das
      kaum je zugänglich.53 Der Geschädigte                        erwähnte Konzept der Geschäfts-
      hätte gegebenenfalls nicht nur den Be-                       herrenhaftung auf den Kopf gestellt.
      weis des Schadens, des widerrechtlichen                      Denn einer derart pauschalen, externali-
      Fehlverhaltens der Tochtergesellschaft,                      sierten «Checklisten-Prüfung» kann
      den mitunter heiklen Beweis der «tat-                        schlechterdings nicht die Fähigkeit zu-
      sächlich ausgeübten Kontrolle» sowie                         kommen, die haftpflichtrechtlich nach
      den notorisch schwierigen Beweis des                         den «konkreten Umständen»57 gebotene
      Kausalzusammenhangs zu erbringen. 54                         Sorgfalt eines Unternehmens zu bestim-
      Er hätte darüber hinaus auch die kaum                        men. Das UNO-Hochkommissariat für
      zu erbringende Verletzung der gebotenen                      Menschenrechte spricht im vorliegenden
      Sorgfalt der Muttergesellschaft zu bewei-                    Zusammenhang denn auch treffend von
      sen. Eine erfolgreiche Klage bliebe so                       einer systemimmanenten «inappropri-
      faktisch unmöglich.                                          ateness and unfairness of business enter-
                                                                   prises seeking to raise due diligence de-
32    Die in dieser Deutlichkeit erkannte Not-                     fenses in cases where superficial ‹check
      wendigkeit der konzeptuell vorgesehenen                      box› approaches to human rights due
      Beweislast muss, so meine ich, ihre Kraft                    diligence might be used as a reference
      auch gegenüber den im Kommissionsbe-                         point.»58
      richt zum Gegenentwurf erwähnten Zer-
      tifizierungen behalten.55 Soweit Unter-
                                                           III. Zusammenfassung
      nehmen dereinst etwa Teile einer men-
                                                             33    Die vorstehenden Thesen lassen sich
      ____________________________
 52   So etwa Ehrat (Fn. 44).
                                                                   demnach wie folgt zusammenfassen:
 53   Zu den konkreten Beweisschwierigkeiten wegen
      fehlender Herausgabepflichten der Gegenpartei                (1) Die Geschäftsherrenhaftung ist wie
      eingehend Geisser (Fn. 23), Rz. 423 ff. In anderen               andere funktional vergleichbare In-
      Staaten wie Frankreich, England oder den Nie-
      derlanden bestehen hingegen grundsätzlich pro-               ____________________________
      zessuale Editionspflichten.                             56   Zur Abgrenzung von tatsächlichen und gesetzli-
 54   Zu den möglichen Beweisherausforderungen im                  chen Vermutungen vgl. Peter Guyan, in: Basler
      vorliegenden Zusammenhang vgl. u.a. Hofstetter               Kommentar, Schweizerische Zivilprozessord-
      (Fn. 22), S. 240 ff.                                         nung, 3. Aufl., Basel 2017, N. 13 zu Art. 157 ZPO.
 55   Kommissionsbericht (Fn. 5), S. 6 (dort auch mit         57   Vgl. statt vieler Rey/Wildhaber (Fn. 13), Rz. 1087;
      dem Hinweis auf eine entsprechende «Vermu-                   Fellmann/Kottmann (Fn. 11), Rz. 753 zum dahin
      tung» der Anwendung der angewendeten Sorgfalt                gehenden Wortlaut von Art. 51 Abs. 1 OR (Fn. 6).
      gemäss Art. 55 Abs. 1bis E-OR).                         58   OHCHR (Fn. 37), Ziff. 29.

                                                sui-generis 2018, S. 440
Franz Werro, Indirekter Gegenentwurf zur Konzernverantwortungsinitiative

    stitute ein international allgegenwär-                norm auf. Beide Vorlagen erweitern
    tiges Haftungskonzept. Sie bildet die                 den geltenden Haftungsrahmen
    Grundnorm für typische Unterneh-                      nicht, sondern präzisieren ihn. Das
    mensrisiken. Ihr liegt die bestechen-                 gilt auch im vorliegend menschen-
    de Rechtfertigung zugrunde, dass                      rechtlichen Zusammenhang. Indem
    wer aus der Tätigkeit eines Anderen                   sich die in dieser Regelung geschütz-
    wirtschaftlichen Nutzen zieht, auch                   ten Rechtsgüter auf «Leib und Leben
    die damit verbundenen Risiken von                     oder Eigentum» beschränken, blei-
    Schädigungen Dritter tragen soll. Als                 ben sie haftpflichtrechtlich im tradi-
    solche ist diese Haftung in der Ver-                  tionellen Sinne eingegrenzt und im
    gangenheit immer wieder Modell ge-                    Privatrecht eingebettet.
    standen für richterliche Fortentwick-
    lungen bis hin zu neuen Gesetzen.                 (5) Die im Gegenentwurf verankerte
                                                          Haftungsregelung fällt dabei auffal-
(2) Indem sowohl die Konzernverant-                       lend einschränkend aus. Sowohl der
    wortungsinitiative als auch der Ge-                   Entscheid für den Entlastungsbeweis
    genentwurf dem Unternehmen im                         als auch jener für einen mehrfach
    Klagefall einen Entlastungsbeweis                     eingeschränkten Kontrollbegriff füh-
    zur Verfügung stellen, bauen beide                    ren zu einer sehr zurückhaltenden
    Vorlagen mit Art. 55 OR auf eine im                   Haftungsnorm. Eine weitere Be-
    internationalen Vergleich äusserst                    schneidung dieser dünnen Vorlage –
    milde, unternehmensfreundliche Va-                    so etwa mit einer systemfremden
    riante der Geschäftsherrenhaftung                     Umkehr des Sorgfaltsbeweises zulas-
    auf.                                                  ten des Geschädigten – fiele hinter
                                                          geltendes Recht zurück.
(3) Die Übertragung dieser Haftung oder
    vergleichbarer Institute auf Kon-            34   Ein Zusammenzug dieser Grundthesen
    zernverhältnisse folgt wiederum ei-               führt zum Schluss, dass der indirekte
    nem klaren in- und ausländischen                  Gegenentwurf den bestehenden Haf-
    Trend, der bereits im geltenden                   tungsrahmen nicht erweitert. Die
    Recht angelegt ist. Eine Übertragung              Schweiz wählt mithin eine Lösung, die im
    rechtfertigt sich durch den schlagen-             Einklang steht mit ihrer Rechtstradition.
    den Grundsatz, dass soweit herr-                  Dabei wählt die Schweiz eine im interna-
    schende Gesellschaften ihren Hand-                tionalen Vergleich zurückhaltende Lö-
    lungsspielraum durch den Einsatz                  sung. Wenn unser Land in Nachachtung
    von abhängigen Gesellschaften aus-                der UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft
    weiten, sie auch für die Handlungen               und Menschenrechte mit dem Geset-
    in diesem erweiterten Handlungsbe-                zesentwurf allenfalls eine international
    reich haftpflichtrechtlich mitverant-             aktive Rolle übernimmt, dann besteht
    wortlich sind.                                    diese lediglich in der Konkretisierung
(4) Initiative wie Gegenentwurf bauen                 der bestehenden Haftungsgrundlagen
    demnach auf einer sachgerechten                   und nicht in der Erweiterung dieser.
    und in ihrer schweizerischen Ausge-
    staltung zurückhaltenden Haftungs-

                                    sui-generis 2018, S. 441
Franz Werro, Indirekter Gegenentwurf zur Konzernverantwortungsinitiative

35   In diesem Sinne sollte es der Schweiz als
     Rechtsstaat      kontinentaleuropäischer
     Prägung zumindest ein Anliegen sein, der
     bereits im geltenden Recht angelegten
     Konzernorganisationhaftung      im    be-
     schränkt menschenrechtlichen Zusam-
     menhang einen gesetzlichen Grundrah-
     men zu geben. Damit blieben wichtige
     und de lege lata weitgehend ungeklärte
     Fragen nicht alleine dem weiten Ermes-
     sen richterlicher Rechtsfindung überlas-
     sen. Die entworfene Gesetzgebung kann
     in beschränktem Umfang nicht nur den
     Menschenrechtsschutz stärken, sondern
     dient vor allem der Rechtssicherheit.
     Dieser Befund schweizerischer Zurück-
     haltung bezieht sich auf materielles
     Haftpflichtrecht. Das Prozessrecht war
     nicht Gegenstand dieser Untersuchung.
     Unter Berücksichtigung des international
     notorisch beklagtenfreundlichen Zivil-
     prozessrechts der Schweiz dürfte die Vor-
     lage in einer Gesamtbilanz noch um Ei-
     niges bescheidener ausfallen. Von der
     mitunter befürchteten Klageflut ist bei
     nüchterner     rechtlicher   Betrachtung
     demnach nicht auszugehen.

                                        sui-generis 2018, S. 442
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