Zu cool für die Schule? - Abbrüche, Ausstiege, Ausschlüsse von Kin- dern und Jugendlichen aus und von der Schule - Prof. Dr. Margrit Stamm
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Zu cool für die Schule? Abbrüche, Ausstiege, Ausschlüsse von Kin- dern und Jugendlichen aus und von der Schule Dossier 13/2 Prof. Dr. Margrit Stamm
-- 2 -- Prof. Dr. Margrit Stamm Professorin em. für Erziehungswissenschaften der Universität Fribourg SWISSEducation Swiss Institute for Educational Issues Neuengasse 8 CH-3011 Bern +41 31 311 69 69 / 079 462 92 82 www.margritstamm.ch https://twitter.com/MargritStamm Abbrüche, Ausstiege, Ausschlüsse
-- 3 -- Inhalt Management Summary..................................................................................................... 8 Schlüsselbotschaften ....................................................................................................... 13 Einleitung: Weshalb zu coole Schüler keine Bagatelle sind ................................................ 16 Briefing Paper 1: Schulschwänzen .................................................................................... 19 Briefing-Paper 2: Schulschwänzer in der Schweiz: Ergebnisse unserer Studie .................... 22 Briefing-Paper 3: Dropouts............................................................................................... 22 Briefing Paper 4: Schulabbrecher in der Schweiz: Ergebnisse unserer Studie ..................... 29 Briefing Paper 5: Schulausschluss ..................................................................................... 34 Briefing Paper 6: Wie kann man Abbrüche, Ausstiege oder Ausschlüsse theoretisch erklären? ......................................................................................................................... 37 Briefing Paper 7: Prävention und Intervention.................................................................. 40 Zu cool für die Schule?
-- 4 -- Abbrüche, Ausstiege, Ausschlüsse
-- 5 -- Vorwort Wann ist eine Schule werden (1) alle Schulabgänger, welche nach eine gute Schule? Wenn Vollendung der Schulpflicht einen Ausbildungs- Kinder und Jugendliche gang verlassen, ohne in einen anderen allge- gerne zur Schule gehen? meinbildenden Ausbildungsgang zu wechseln; Wenn die Lehrkräfte (2) die Schulabbrecher, welche noch vor Vollen- ihre Schülerinnen und dung der Schulpflicht die Schule ohne Abschluss Schüler mögen? Wenn verlassen und (3) die Ausbildungsabbrecher, viele Projektwochen, welche einen beruflichen Ausbildungsgang vor- Theater- oder Sporttage zeitig beenden. durchgeführt werden? Schliesslich gehören auch die ‚Ausschlüsse‘ dazu. Seit PISA gilt vor allem: wenn die Schüler gute Obwohl es keine (Langzeit-)Statistik gibt, wird Leistungen vorweisen können. Schulleistungen allgemein berichtet, dass sie in den letzten Jah- sind zu einem der wichtigsten Themen rund um ren in nahezu allen Kantonen stark zugenommen Schule und Ausbildung geworden. Allerdings ist haben. Gemeint sind damit Schülerinnen und dieser ein sehr verengter Blick, der vor allem für Schüler, welche durch ihr Verhalten den Schul- das deutschsprachige Europa gilt. Im angelsäch- betrieb erheblich beeinträchtigen und deshalb sischen Raum werden weit häufiger auch zu- während ein paar Schulwochen vom Unterricht sätzliche Masse von Schulqualität diskutiert, in ausgeschlossen werden. Solche Massnahmen erster Linie die Dropout- und Absentismusraten sind in verschiedenen Kantonen im Schulgesetz der einzelnen Schulen. Dies ist einleuchtend, ist verankert. Aus einer pädagogischen Perspektive doch die Präsenz von Schülerinnen und Schülern gelten sie als problematisch, weil sie einen Ein- eine zwingende Voraussetzung schulischen Ler- griff in das Grundrecht des Kindes resp. Jugendli- nens. Schulen, die ihre Schüler zu guten Leistun- chen auf Bildung darstellen. gen führen, zugleich jedoch auch eine Haltekraft entwickeln, können als ‚gute Schulen‘ gelten. Sie Ein Mangel an Schulpräsenz ist immer problema- erfüllen damit die Voraussetzungen jeder Bil- tisch und zwar deshalb, weil an Schulen der An- dungstheorie: ein gutes Bildungsniveau zu garan- spruch gestellt wird, dass sie nebst den Fach- tieren und zugleich als zentrale Sozialisations- kompetenzen auch Sozial- und Selbstkompeten- instanz zu agieren. zen vermitteln. Sie sind in unserer Wissensge- sellschaft unabdingbar. Die Durchsetzung der Dieses Dossier widmet sich Abbrüchen, Ausstie- Schulpflicht und der Umgang mit Schulpräsenz gen und Ausschlüssen als den drei zentralen Ne- sind zwei fundamentale, pädagogische Aufga- gativformen schulischer Partizipation. Unter dem ben. Die Art und Weise, wie Schulen Fragen der Stichwort ‚Ausstiege‘ lassen sich alle Formen Schulpräsenz bearbeiten, ist auch ein Hinweis kürzeren oder längeren unerlaubten Fernblei- darauf, wie sie mit Wertschätzung, Partizipation, bens von der Schule subsummieren. Dazu gehö- Integration und Ausschluss umgehen. ren die Schulverweigerung, das Zurückhalten des Kindes durch die Eltern, das Schwänzen einzel- Das vorliegende Dossier stellt das verfügbare ner Lektionen oder das Fehlen mehrerer Tage Wissen zusammen, das für eine angemessene oder Wochen inklusive dessen gelegentliche Le- Diskussion von Fragen zur Schulpräsenz von Kin- gitimation durch ein Arztzeugnis. Der Volksmund dern und Jugendlichen nötig ist. Damit ermög- nennt dieses Phänomen «Schulschwänzen», die licht es Schulen sowie weiteren verantwortlichen Fachwelt bezeichnet es als «Schulabsentismus». Instanzen, aber auch Eltern, sich schnell in die Schulschwänzen stellt ein oft falsch eingeschätz- Thematik einzulesen und sich Informationen tes Problem dar. Nur in wenigen Schulen und zum aktuellsten Stand der Forschung und der Bildungsverwaltungen wird es als solches wahr- pädagogischen Präventions- und Interventions- genommen oder offen diskutiert, und auch El- praxis zu beschaffen. Grundlage bilden unsere tern scheinen es über weite Strecken als legiti- beiden grossen Studien: die Untersuchung zum mes Verhalten zu akzeptieren und manchmal Schulabsentismus, die im Auftrag des Schweize- sogar zu unterstützen. rischen Nationalfonds SNF durchgeführt worden ist und die Längsschnittstudie zu den Schulabb- Auch bei den ‚Abbrüchen‘ handelt es sich um ein rechern, welche die GEBERT RÜF STIFTUNG fi- Phänomen, über das wir kaum etwas wissen, nanziert hat. Wer sich eingehender mit der und das sowohl in den Schulen als auch in der Thematik beschäftigen möchte, findet im Buch- Bildungs- und Sozialpolitik selten offen diskutiert handel verschiedene Publikationen vor. Sie wer- wird. Im Gegensatz dazu sind ‚Dropouts' in den den im Dossier an verschiedenen Stellen er- Medien sehr präsent. Als ‚Dropouts‘ bezeichnet Zu cool für die Schule?
-6- wähnt. Zudem finden sich auf der Website erfordert mehr als einen lediglich ordnungspoli- (www.margritstamm.ch) viele Texte zur Thema- tischen oder bürokratischen Zugang. Das Dossier tik. möchte hierzu einen Beitrag leisten und einen pädagogisch fundierten Weg aufzeigen. Weil unsere Gesellschaft alles dafür tun muss, dass Kinder und Jugendliche ihr Recht auf Bil- dung wahrnehmen können, müssen wir einen anderen Blick auf die Frage der Schulpräsenz Prof. Dr. Margrit Stamm werfen als dies bis anhin der Fall war. Grundle- Professorin em. der Universität Fribourg gend ist unsere Erkenntnis, dass Schulschwän- Swiss Education Bern zern, Schulabbrechern und aus der Schule Aus- geschlossenen eine Haltung gemeinsam ist, näm- Bern, im Mai 2013 lich die der Schuldistanz. Ihr entgegenzutreten Abbrüche, Ausstiege, Ausschlüsse
-7- Wie Sie dieses Dossier verwenden können Das vorliegende Dossier fasst das Wissen zu- Welche Formen von Dropouts und wie viele sammen, das heute zum Thema «Schuldistanz» gibt es? verfügbar ist. In den Blick genommen werden Welche Merkmale kennzeichnen sie? Kinder und Jugendliche während der obligatori- schen Schulzeit. Wie alle bisher erschienenen Was wird aus Schulabbrechern? Dossiers greift auch das vorliegende Dossier mit Schulausschlüsse der Frage «Zu cool für die Schule?» eine wichti- Was versteht man unter Schulausschlüssen? ge Thematik auf, die sowohl für die pädagogi- Wie verbreitet sind sie? sche Praxis als auch die Bildungs- und Sozialpoli- Weshalb werden Kinder und Jugendliche tik bedeutsam ist. Das Dossier verfolgt drei Zie- aus der Schule ausgeschlossen? le: Was machen sie während der Zeit des Aus- (1) Es will Forschungswissen aufbereiten und schlusses? die Haupterkenntnisse zusammenfassen: Wie erfolgreich ist die Wiedereingliederung Das Dossier fasst die Antworten auf die ak- in die Schule? tuellsten Fragen rund um die Thematik zu- sammen. Beispielsweise, welche Formen Zunächst werden in einem Management Sum- von Schuldistanz es gibt, welche Merkmale mary die Haupterkenntnisse kurz erläutert und sie kennzeichnen und welche Faktoren am daran anschliessend zu so genannten Schlüs- ehesten zu solchem Verhalten führen. selbotschaften verdichtet. Nach der Einleitung, welche erklärt, weshalb zu coole Schülerinnen (2) Es will den Wissenstransfer in die pädago- und Schüler keine Bagatelle sind, werden zu- gische Praxis anregen: Anhand des Briefing nächst in den Briefing Papers 1 und 2 das theo- Papers 7 zeigt das Dossier auf, in welche retische Wissen zum Schulschwänzen präsen- Richtung und anhand welcher Schwer- tiert sowie die Ergebnisse unserer empirischen punkte präventive und interventive Mass- Studie erläutert. Gleiches erfolgt in den Briefing nahmen zur Stärkung der Haltekraft von Papers 3 und 4 im Hinblick auf das Phänomen Schulen resp. zur Minderung schuldistan- der Schulabbrecher und seinen Folgen. In Brie- zierten und schulabsenten Verhaltens er- fing Paper 5 wird das verfügbare Wissen zur griffen werden können. Thematik der Schulausschlüsse zusammenge- (3) Es will einen bildungs- und gesellschaftspo- tragen. Daran anschliessend beantwortet Brie- litischen Bezug herstellen: Vor dem Hinter- fing Paper 6 die Frage, wie man Schuldistanz grund aktueller Bemühungen in verschie- theoretisch erklären kann. Auf der Basis der vo- denen Kantonen stellt das Dossier die rangehenden Ausführungen und Erkenntnisse Thematik auf ein breites, pädagogisch mo- fasst Briefing Paper 7 die Hauptmerkmale und tiviertes Fundament. In den Briefing Pa- Hauptaussagen des Präventions- und Interven- pers 1 bis 6 liefert jeweils der letzte Ab- tionsprogramms STOP-DROP zusammen. Jedes schnitt ‚Bilanz‘ ein paar Argumentationsli- Briefing Paper enthält zudem weiterführende nien, weshalb eine lediglich ordnungspoli- Literaturhinweise. tische Sichtweise nicht genügt. Bisher sind folgende Dossiers erschienen, die Das Dossier basiert auf folgenden Fragen: alle auf der Website herunterladbar sind (www.margritstamm.ch) Schulschwänzen Wie viele Schulschwänzer gibt es? Der Schuleintritt und HarmoS (Dossier 10/1) Welche Merkmale kennzeichnen sie? Wozu frühkindliche Bildung? (Dossier 11/1). Aus welchen Gründen bleiben sie der Schule Achtung, fertig, Schuleintritt (Dossier 12/1). fern? Talentmanagement in der beruflichen Was kann man dagegen tun? Grundbildung (Dossier 12/2) Qualität und frühkindliche Bildung (Dossier Schulabbrüche 12/3) Wie kommt es zu Schulabbrüchen? Migranten mit Potenzial (Dossier 12/4) Wer kann dafür verantwortlich gemacht werden? Zu cool für die Schule?
-8- Abbrüche, Ausstiege, Ausschlüsse
-9- Management Summary Weshalb zu coole Schüler keine Bagatelle direkten Weg ins Abseits‘ bilde und Schul- sind schwänzer ‚kriminell‘ seien, muss Schulabsen- Hinter einem Mangel an Schulpräsenz steckt tismus mit all seinen Erscheinungsformen viel immer mehr als ein ordnungspolitisches Prob- ernster als bisher genommen werden. lem. Im Kern betrifft Schulpräsenz Fragen der Traditionell geht man davon aus, dass der ein- Partizipation und der Schulqualität. zelne Schüler resp. die einzelne Schülerin und Einleitung Seite 17 ihre Familie für ihr schulabsentes Verhalten selbst verantwortlich sind. Seit ein paar Jahren Weil der Schule die Aufgabe zukommt, neben betont die Forschung jedoch auch die bedeut- Fachkompetenzen auch Sozial- und Selbstkom- same Rolle der Schule. Schulen entwickeln sehr petenzen zu vermitteln, ist davon auszugehen, unterschiedliche Strategien, um bestimmte dass aufgrund mangelnder Schulpräsenz nicht Schülerinnen und Schüler von der Schule fern- genügend beschulten Menschen Wissen und zuhalten oder sie an sich stärker zu binden und Fähigkeiten fehlen und ihnen deshalb wenig er- Schuldistanz entgegenzutreten. freuliche Zukunftsaussichten beschieden sind. Gleichaltrige («Peers») werden ebenfalls als Schulschwänzen wird aktuell nur von einer Min- zentralen Faktor beim Schulschwänzen bezeich- derheit der Schulen als wichtiges pädagogisches net. Die Demonstration von Schuldistanz gilt als Thema anerkannt. Dies steht im Gegensatz zum cool und in der Peergroup als statusfördernd. Forschungswissen, das in den letzten Jahren in Nicht selten ist sie ein möglicher Indikator für beträchtlichem Umfang generiert worden ist. In delinquentes Verhalten. Dieses tritt jedoch aus- der Gesellschaft gehört Schulschwänzen oft zum schliesslich bei massivem Schulschwänzen auf. guten Ton, herrscht doch häufig die Ansicht vor, dass es ganz einfach zum notwendigen Reper- Die neuesten Forschungserkenntnisse verwei- toire eines emanzipierten Schülers gehöre. Zwar sen auch auf einen Zusammenhang zwischen mag dies bei leistungsstabilen Kindern und Ju- überdurchschnittlicher Begabung und Schul- gendlichen der Fall sein. Für den Grossteil trifft schwänzen aus Unterforderung. dies jedoch nicht zu, kann sich doch gelegentli- ches Schulschwänzen zu massivem Schwänzen Schulschwänzer in der Schweiz: Ergebnisse entwickeln und einen Bezug zum Dramatischen unserer SNF-Studie Schulschwänzen ist eine empirische Tatsache. und zum Delinquenten bekommen. 50% der 7. bis 9. Klässler sind Gelegenheits- Schulschwänzen ist eine Unterkategorie von schwänzer, 5.8% sind massive Schulschwän- Schulabsentismus. Dieser steht für das Fern- zer. bleiben vom Unterricht aus einem gesetzlich Briefing Paper 2 Seite 22 nicht vorgesehenen Grund, unabhängig davon, ob die Eltern informiert sind und dies durch Ent- Unsere Studie hat in neun Deutschschweizer schuldigungen legitimieren oder nicht. Schul- Kantonen fast 4000 Schülerinnen und Schüler verweigerung umschreibt Kinder und Jugendli- der 7., 8. oder 9. Klasse und ihre Lehrerinnen che mit enormen emotionalen Verhaltensprob- und Lehrer befragt. Im Ergebnis zeigt sich, dass lemen, die – mit Wissen der Eltern – nicht mehr jede zweite Person während der Schullaufbahn imstande sind, zur Schule zu gehen und in die- ab und zu die Schule schwänzt, 20% relativ häu- sem Zusammenhang auffällige psychogene oder fig und 5.8% massiv. Massive Schulschwänzer psychosomatische Veränderungen zeigen. weisen ein ausgesprochen hohes Gefährdungs- profil auf. Die Gründe verweisen in erster Linie Schulschwänzen auf Schulmüdigkeit und ablehnende Schulein- Schulschwänzen überschreitet den Toleranzbe- stellungen inklusive ungünstigen Beziehungen reich des Harmlosen, weil mit diesem Verhal- zu Lehrkräften. ten grosse und lang anhaltende schulische, pri- vate und berufliche Probleme verbunden sein Lehrkräfte unterschätzen im Allgemeinen das können. Schwänzen massiv, wird doch an ihren Schulen in der Regel häufiger, vielfältiger und raffinierter Briefing Paper 1 Seite 19 geschwänzt als sie dies wahrnehmen (wollen). Schulschwänzen wird in den Medien regelmäs- Die meisten Schulen verfügen zwar über Absen- sig und viel zu oft mit reisserischen Titeln prä- zensysteme, doch scheinen sie in der Praxis sentiert. Obwohl es falsch ist, generalisierend kaum umfassend angewendet zu werden. Auch davon zu sprechen, dass Schulschwänzen ‚einen Eltern unterschätzen das Schulschwänzen ihres Zu cool für die Schule?
-10- Nachwuchses nicht nur, sondern sie stehen ihm Schulabbrecher in der Schweiz: Ergebnisse auch gar nicht so selten mit einem gewissen unserer Studie Verständnis gegenüber. Jede dritte Familie ist Die repräsentative Studie erfasste im Jahr notfalls bereit, eine falsche Entschuldigung aus- 2007 in 51 Schulen der Deutschschweiz aus zustellen. einer Population von 3‘708 Schülerinnen und Schülern 101 Dropouts. Das entspricht einer Die Medaille ‚zu cool für die Schule‘ hat auch ei- Quote von 2.8% und gesamtschweizerisch ca. ne Kehrseite: schuldistanzierte und schulmei- 5‘000 Dropouts. dende Lehrkräfte. Ähnlich wie Schulschwänzer zeigen sie ein Profil, das längere krankheitsbe- Briefing Paper 4 Seite 29 dingte Fehlphasen beinhaltet, verspätetes Er- Die N=101 Dropouts unserer repräsentativen scheinen zum Unterricht oder die systematische Studie entsprechen einer Quote von 2.7% in- Verlängerung von Pausen. nerhalb der Population der 8. und 9. Klässler, Schulabbrecher was hoch gerechnet gesamtschweizerisch etwa Dropout handelt von Jugendlichen, welche 5000 Jugendlichen entsprechen dürfte. Dropout die Schule vorzeitig abbrechen. Laut der Bun- ist ein männliches Phänomen, sind doch von desverfassung dürfte es solche Jugendliche zehn Schulabbrechern deren sieben Knaben. Die gar nicht geben, denn in der Regel dauert die Dropouts kommen sowohl aus Familien mit ge- Schulpflicht neun Jahre. hobenem als auch aus Familien mit einfachem sozioökonomischem Status. Schulabbruch ist Briefing Paper 3 Seite 26 deshalb kein sozio-strukturell bedingtes Phä- Das Dropout-Phänomen wird in der Schweiz oft nomen. negiert, sicher jedoch bagatellisiert, möglicher- Bei jedem fünften Schulabbruch handelt es sich weise gerade deshalb, weil wir aufgrund der um einen von der Schule motivierten Schulaus- Schulpflicht davon ausgehen, dass es keine schluss. Schulen beeinflussen das Abgangsver- Schulabbrecher geben kann. Statistisches Da- halten ihrer Schülerinnen und Schüler auf un- tenmaterial existiert allerdings nicht. Neben terschiedlichste Art und Weise. Dies spiegeln Schulabbrechern unterscheidet man Schulab- auch die Abgangsgründe wider. Sie lassen sich gänger (sie verlassen einen Ausbildungsgang drei Hauptmotiven zuteilen: Mobbing und Prob- nach Vollendung der Schulpflicht, ohne in einen lemen mit Lehrkräften, Leistungs- und Motivati- anderen zu wechseln) und Ausbildungsabbre- onsproblemen sowie familiären und psychi- cher (sie brechen einen beruflichen Ausbil- schen Problemen. Insgesamt sind es drei Prä- dungsgang vorzeitig ab). diktoren, welche einen Schulabbruch wahr- Dropout hat vielschichtige Hintergründe. So sind scheinlicher machen: Klassenwiederholung, ab- Schulabbrecher überzufällig häufig unter den weichendes Verhalten und Schulschwänzen. Minoritäten unserer Jugendlichen verbreitet, Den Schulabbrecher oder die Schulabbrecherin mit oft vorausgehendem massivem Schwänzen. gibt es nicht. Vielmehr lassen sich fünf unter- Ein fehlender Schulabschluss dürfte in vielen schiedliche Typen identifizieren: die Schulmü- Fällen grosse Nachteile in der Berufswelt berei- den (30%), die Gemobbten (16%), die familiär ten und mit der Gefahr langfristiger Arbeitslo- Belasteten (18%), die Delinquenten (16%) sowie sigkeit und Abhängigkeit von der Sozialhilfe ver- die Hänger (20%). Ferner sind fast 60% der bunden sein. Dropouts als Wiedereinsteiger zu bezeichnen, Ähnlich wie beim Schulschwänzen sind indivi- welche drei Jahre nach ihrem Abbruch den duelle Risikofaktoren (zerrüttete Familienstruk- Schulabschluss nachgeholt und eine berufliche turen, schlechte Schulleistungen, Klassenwie- Ausbildung begonnen haben. Für 40% trifft dies derholung, geringe Leistungsmotivation, Diszip- nicht zu. Dropouts dürfen somit nicht per se als lin- und Delinquenzprobleme, Gleichaltrige als Risikogruppe dramatisiert werden. In Bezug auf Risikomarker) und institutionelle Risikofaktoren die 40% jedoch schon. (ungünstige Organisation der Schule, schlechtes Schulklima, Praktiken wie Repression und Sank- Schulausschlüsse Schulausschlüsse sind in fast allen Kantonen tion, Blossstellungen, Blamagen) für den Schul- stark im Trend, obwohl die Wirksamkeit um- abbruch verantwortlich zu machen. Schulabb- stritten ist. Sicher ist jedoch, dass ein Schul- ruch ist in den seltensten Fällen ein plötzlich ausschluss eine Entlastung einer schwierigen auftretendes Ereignis. In 80% der Fälle beginnen schulischen Situation bewirken kann. die Probleme bereits im Kindergarten oder in der Primarschule. Briefing Paper 5 Seite 34 Abbrüche, Ausstiege, Ausschlüsse
-11- Schulausschlüsse sollen sanktionierende Mass- umzugehen. Die Kontrolltheorie erklärt Schuldis- nahmen zur Disziplinierung von verhaltens- tanziertheit anhand der persönlichen Selbstkon- schwierigen Schülerinnen und Schülern darstel- trolle des Menschen. Schulschwänzer und len. Ziel ist in jedem Fall ihre schulische Rein- Schulabbrecher sehen in ihrem Tun eine kurz- tegration. Unklarheit besteht über die Höhe der fristige Befriedigung ihrer eigenen Interessen. Ausschlussquoten in den Kantonen, insbesonde- Kommen schlechte Lehrer-Beziehungen dazu, re deshalb, weil für Schulausschlüsse meist die verschärft sich Schuldistanz. Der Etikettierungs- Schulgemeinden zuständig sind. Die Gründe für ansatz sieht Schulausstiege als Ergebnis eines einen Schulausschluss sind vielfältig, betreffen Zuschreibungsprozesses mit der Etikette «devi- jedoch vorwiegend die Missachtung von Verhal- ant». Es ist somit die Gesellschaft, welche Kin- tensregeln, massive Störungen des Unterrichts, der und Jugendliche als deviant einstuft, ohne Leistungsverweigerung, delinquente Handlun- dass sie sich bereits in ausgeprägtem Sinn so gen inklusive verbale Angriffe und Drohungen verhalten. Die Subkulturtheorie erklärt norm- gegenüber Lehrkräften und Mitschülern. abweichendes Verhalten aus Gruppenzugehö- rigkeit und der Konzentration auf bestimmte Evaluationsstudien zu Schulausschlüssen bele- geographische Regionen. In unserer Gesell- gen, dass sie noch nicht die erwünschte Nach- schaft sind Subkulturen oft im Widerstreit mit haltigkeit erzielt haben. Lediglich zwischen 50% dem herrschenden Mainstream. Deviante Hand- und 70% der Ausgeschlossenen können erfolg- lungen sind deshalb eine Reaktion auf die un- reich reintegriert werden. Vor diesem Hinter- gleiche Anerkennung von Subgruppen. grund müsste die Gesamtsituation, in der sich die Schulausschlussthematik befindet, umfas- Prävention und Intervention sender als bis anhin diskutiert und die entspre- Das STOP-DROP-Programm liefert den Schu- chenden Massnahmenkataloge kritisch überar- len, aber auch bildungs- und sozialpolitischen beitet werden. Behörden, Handlungsanleitungen, wie die Problematik «Zu cool für die Schule» ange- Wie Abbrüche, Ausstiege und Ausschlüsse gangen werden kann. theoretisch erklärt werden können Schuldistanziertes und abweichendes Verhal- Briefing Paper 7 Seite 40 ten kann sehr unterschiedliche Ausprägungen Das Konzept STOP-DROP ist als Handreichung haben. Theoretisch lässt es sich anhand psy- für Lehrkräfte und Bildungsverantwortliche kon- chologischer und soziologischer Theorien er- zipiert, das ohne externe Beratung angewendet klären. werden kann. Es liefert Empfehlungen zur Re- Briefing Paper 6 Seite 37 duktion potenziellen Schulausstiegsverhaltens anhand eines Sets an Strategien. Das Konzept Jugendliche, die ‚zu cool für die Schule‘ sind, baut auf vier Säulen mit sieben Empfehlungen werden oft zu Schulschwänzern und Schulabb- auf: auf der Diagnostik von Schuldistanzierung rechern oder zu aus der Schule Ausgeschlosse- und potenziellem Schulausstieg, auf der Arbeit nen. Trotz dieser Unterschiedlichkeiten haben mit den gefährdeten Schülerinnen und Schülern ihre Verhaltensweisen einen gemeinsamen in Schule und Unterricht und auf der Institution Nenner: die Schuldistanz. Sie bildet die Basis für Schule und ihren präventiven und interventiven psychologische und soziologische Theorien, Möglichkeiten. Weil frühe Prävention und Inter- welche Schuldistanz und ihre Folgen als abwei- vention im Vorschulbereich eine besonders chendes Verhalten erklärbar machen. Die fünf zentrale Bedeutung für das spätere Schulenga- bekanntesten Theorien sind das Modelllernen, gement hat, ist eine vierte Säule auf die vor- die Anomietheorie, die Kontrolltheorie, der Eti- schulische Förder- und Integrationsarbeit ausge- kettierungsansatz sowie die Subkulturtheorie. richtet. Das Modelllernen geht davon aus, dass bewusst oder unbewusst beobachtetes Verhalten – bei- Säule I: Diagnostik: Fundament aller Massnah- spielsweise schuldistanziertes und schulabsen- men zur Reduktion von Schulausstiegen ist die tes Verhalten – nachgeahmt und auf diese Wei- Einrichtung von Systemen zur Erfassung derje- se angeeignet wird. Die Anomietheorie fragt nigen Schülerinnen und Schüler, die von einem nach den gesellschaftlichen Bedingungen, die potenziellen Schulausstieg betroffen sind. abweichendes Verhalten provozieren. Weil die Säule II: Auf die Individualförderung ausgerich- Zugangschancen zu den Bildungsmöglichkeiten tete Prävention: In erster Linie geht es hier da- von der sozialen Herkunft abhängig sind, kön- rum, durch aktive Partizipation möglichst alle nen gerade benachteiligte Jugendliche be- Schülerinnen und Schüler durch Beziehungs-, stimmte Ziele nicht erreichen. Ihr zu cooles Ver- Schul- und Lernangebote einzubinden. Schüle- halten wird deshalb Ausdruck eines Bewälti- rinnen und Schüler, welche ein hohes Ausstiegs- gungsverhaltens, um mit solchen Diskrepanzen Zu cool für die Schule?
-12- risiko haben, sollten eine erwachsene Mento- Säule IV: Vorschulische Förderung als Präventi- renperson zugewiesen bekommen, die mit on: Weil sich Schuldistanzierung schon sehr früh ihnen Trainingsprogramme mit Verhaltensmodi- entwickelt, müssen pädagogische Förder- und fikationstechniken durchführt. Integrationsangebote früh einzusetzen und eng an die Familie und ihr Engagement angebunden Säule III: Auf die Schule ausgerichtete Präven- werden. Solche Angebote sollten sowohl auf tionen: Kinder und Jugendliche mit schulischen schulvorbereitende als auch auf soziale und in- Abkoppelungsproblemen brauchen schulische, tegrative Kompetenzen ausgerichtet werden. soziale und verhaltensbezogene Unterstützung und Ermutigung von den Lehrkräften, der Schu- le sowie von externen Unterstützungssystemen. Säule III zeigt, wie dies bewerkstelligt werden kann. Abbrüche, Ausstiege, Ausschlüsse
-13- Schlüsselbotschaften Weshalb zu coole Schüler keine Bagatelle die Probleme bereits im Kindergarten oder sind in der Primarschule. Schulschwänzen steht für das Fernbleiben Schulabbrecher in der Schweiz: Ergebnisse vom Unterricht aus einem gesetzlich nicht vorgesehenen Grund, unabhängig davon, ob unserer Studie Es liessen sich 2.7% Dropouts finden die Eltern informiert sind und dies durch (N=101), was hoch gerechnet gesamtschwei- Entschuldigungen legitimieren oder nicht. zerisch etwa 5‘000 Acht- und Neuntklässlern Nicht nur die Schulschwänzer selbst und ihre entsprechen dürfte. Familien sind für derartiges Verhalten ver- Dropout – ein vorwiegend männliches Phä- antwortlich, sondern auch die Schule. nomen – kommen sowohl aus Familien mit Schulen entwickeln – häufig unbewusst – gehobenem als auch mit einfachem sozio- Strategien, mit denen sie bestimmte Schüle- ökonomischem Status. rinnen und Schüler von der Schule fernhal- Die Hauptmotive für einen Schulabbruch lie- ten und ihre Schuldistanz vergrössern, aber gen in Problemen mit Lehrkräften, Leistungs- auch, mit denen sie eine stärkere Haltekraft und Motivationsproblemen sowie in familiä- entwickeln. ren und psychischen Problemen. Weil bei Schulschwänzern die Demonst- Fast 60% der Dropouts haben den Schulab- ration von Schuldistanz oft als cool und in schluss drei Jahre nach ihrem Abbruch nach- der Peergroup als statusfördernd gilt, spielen geholt Gleichaltrige («Peers») eine wichtige Rolle. Für 40% trifft dies nicht zu. Sie sind als Risi- Es gibt auch einen Zusammenhang zwischen kogruppe zu bezeichnen. überdurchschnittlicher Begabung und Schul- schwänzen aus Unterforderung. Schulausschlüsse Schulschwänzer in der Schweiz: Ergebnisse Schulausschlüsse sind sanktionierende Massnahmen zur Disziplinierung von ver- unserer SNF-Studie haltensschwierigen Schülerinnen und Schü- 50% der 7. bis 9. Klässler sind Gelegen- lern mit dem Ziel der schulischen Rein- heitsschwänzer, 5.8% sind massive Schul- tegration. schwänzer. Diese weisen ein ausgespro- chen hohes Gefährdungsprofil auf. Schulausschlüsse sind im Trend. Weshalb geschwänzt wird liegt am ehesten Die Gründe für einen Schulausschluss be- in einem relativ hohen Ausmass an Schul- treffen vorwiegend die Missachtung von müdigkeit, ablehnenden Schuleinstellungen Verhaltensregeln, massive Störungen des und ungünstigen Beziehungen zu Lehrkräf- Unterrichts, Leistungsverweigerung und de- ten. linquente Handlungen. Lehrkräfte unterschätzen im Allgemeinen Schulausschlüsse erzielen (noch) nicht die das Schwänzen massiv. erwünschte Nachhaltigkeit. Lediglich zwi- schen 50% und 70% der Ausgeschlossenen Es gibt auch schuldistanzierte und schul- können erfolgreich reintegriert werden. meidende Lehrkräfte. Wie Abbrüche, Ausstiege und Ausschlüsse Schulabbrecher theoretisch erklärt werden können Dropouts (Schulabbrecher) sind Jugendli- Schuldistanziertes und abweichendes Ver- che, welche die Schule vor Beendigung der halten kann anhand psychologischer und obligatorischen Schulpflicht verlassen. soziologischer Theorien erklärt werden. Schulabbrecher finden sich überzufällig Aus der Sicht des Modelllernens wird häufig unter den Minoritäten, oft mit vo- schuldistanziertes und schulabsentes Ver- rangehendem massivem Schwänzen. halten – beobachtet und nachgeahmt. Ähnlich wie beim Schulschwänzen sind in- Die Kontrolltheorie erklärt Schuldistanziert- dividuelle und institutionelle Risikofaktoren heit anhand der persönlichen Selbstkon- für den Schulabbruch verantwortlich zu trolle. Schulschwänzen oder Schulabbruch machen. stellt eine (kurzfristige) Befriedigung der ei- Schulabbruch ist selten ein plötzlich auftre- genen Interessen dar. tendes Ereignis. In 80% der Fälle beginnen Schuldistanz und Schulausstiege sind aus der Perspektive des Etikettierungsansatzes Zu cool für die Schule?
-14- das Ergebnis eines gesellschaftlichen Zu- Säule II fokussiert auf die einzelnen Schüle- schreibungsprozesses mit der Etikette «de- rinnen und Schüler. Wer ein hohes Aus- viant». stiegsrisiko hat, soll eine erwachsene Mento- Die Subkulturtheorie erklärt normabwei- renperson zur Unterstützung zugewiesen chendes Verhalten aus Gruppenzugehörig- bekommen. keit und der Konzentration auf bestimmte Säule III richtet ihr Augenmerk auf die Schule geographische Regionen. und zeigt, wie Kinder und Jugendliche mit schulischen Abkoppelungsproblemen schuli- Prävention und Intervention sche, soziale und verhaltensbezogene Unter- Das STOP-DROP-Programm stellt Hand- stützung und Ermutigung erhalten können. lungsanleitungen für Schulen bereit, um die Problematik «Zu cool für die Schule» ange- Säule IV konzentriert sich auf vorschulische hen zu können. Förderung als Prävention. Dies deshalb, weil sich Schuldistanzierung im Grossteil der Fälle Säule I ist auf die Diagnostik ausgerichtet schon sehr früh entwickelt. und damit auf die Erfassung derjenigen Schülerinnen und Schüler, die von einem po- tenziellen Schulausstieg betroffen sind. Abbrüche, Ausstiege, Ausschlüsse
-15- Zu cool für die Schule? Abbrüche, Ausstiege, Ausschlüsse von Kin- dern und Jugendlichen aus und von der Schule Dossier 13/2 Briefing Papers Prof. Dr. Margrit Stamm Zu cool für die Schule?
-16- Abbrüche, Ausstiege, Ausschlüsse
-17- Einleitung: Weshalb zu coole Schüler keine Bagatelle sind Wer sich mit aktuellen Fragestellungen im Bil- viele entschuldigte Absenzen sehen nicht gut dungswesen beschäftigt, kommt nicht darum aus. Bleibe nicht wegen jeder Kleinigkeit zu Hause!» herum, sich auch mit solchen der Schulpräsenz und Schulabsenz zu beschäftigen. Ein Mangel Solche Broschüren verweisen nicht nur darauf, an Schulpräsenz ist immer problematisch. dass Schulschwänzen im Bewusstsein der Schu- Weshalb? Schule stellt heute den Anspruch, len sein muss, sondern auch darauf, dass es für dass sie neben der Fachkompetenz auch Sozial- eine erfolgreiche Lehrstellensuche ein hinderli- und Selbstkompetenz vermittelt, Kompeten- cher Faktor darstellt. zen, die in unserer Wissensgesellschaft unab- dingbar sind. Vor diesem Hintergrund muss die Betriebe haben die Bedeutung von Mitar- beiterpräsenz erkannt Idee, wonach nicht genügend beschulte Men- Alle deutschsprachigen Staaten gehörten bis schen sozial inkompetent seien, in Rechnung vor wenigen Jahren kaum zur Avantgarde der gestellt werden. Anzunehmen ist, dass ihnen Länder, die den Schulschwänzern Beachtung Wissen und Fähigkeiten fehlen und dass dieser schenkten. Im Gegensatz zu Deutschland und Mangel nur wenig erfreuliche Zukunftsaussich- Österreich trifft dies auch heute noch für die ten erlaubt. Massives Schulschwänzen wird Schweiz zu. Anders ist die Sachlage in Wirt- deshalb immer wieder – und wie noch aufge- schaft und Industrie. Dort wird Absentismus, zeigt wird, teilweise auch zu Recht – mit späte- das Fehlen am Arbeitsplatz, als weit verbreite- rer Arbeitslosigkeit in Verbindung gebracht. tes Phänomen anerkannt. Es hat erhebliche Wenig beachtete Problematik Auswirkungen auf die Produktivität des Unter- Kennzeichnend für die aktuelle pädagogische nehmens, auf die Arbeitszuweisung und auf die Praxis ist, dass Schulabsentismus kaum zur Mitarbeiterführung. Versicherergruppen stel- Kenntnis genommen und – wenn überhaupt – len heute den Unternehmen bereits Ärzte- und nur als bürokratische Last abgehandelt wird. Expertenteams zur Verfügung, damit sie Mass- Damit tolerieren die Schulen stillschweigend nahmen ausarbeiten können, die zur Verbesse- eine schleichende Abkoppelung und zuneh- rung der Mitarbeiterpräsenz führen. mende Schuldistanzierung ihrer Schülerinnen Überblickt man allerdings die bestehenden und Schüler. Die Durchsetzung der Schulpflicht Präventions- und Interventionskataloge, so und der Umgang mit Schulpräsenz sind jedoch entbehren sie weitgehend einer theoretischen zwei fundamentale, pädagogische Aufgaben. Basis. So ist kaum grundlagenorientiertes Wis- Die Art und Weise, wie Schulen Fragen der sen auffindbar, das sich auf die Befunde der Schulpräsenz bearbeiten, ist auch ein Hinweis Absentismusforschung stützt. Deshalb befindet darauf, wie sie mit Wertschätzung, Partizipati- sich die Absentismusthematik auch in den Be- on, Integration und Ausschluss umgehen. Denn trieben aktuell lediglich in einem Spannungs- es ist auch eine Frage des Respekts, den die feld innerhalb der Praxis, kaum jedoch zwi- Lehrkräfte ihren Schülerinnen und Schülern schen Praxis und Wissenschaft. und diese wiederum ihren Lehrkräften entge- genbringen. Gerade mit Blick auf die zukünftige Ganz ausgeprägt gilt diese Feststellung für das Einmündung in die berufliche Ausbildung Ju- Phänomen des Schulabsentismus. Pädagogisch- gendlicher geht es auch darum, Partizipation psychologisch und soziologisch ist die Thematik und Höflichkeit einzuüben. Berichte zur Lehr- jedoch bereits relativ gut erforscht. Dies gilt stellensuche Jugendlicher zeigen immer wie- insbesondere in internationaler Hinsicht, wo der, wie stark solche Aspekte von Lehrmeistern auch eine intensive Bearbeitung der Thematik bei der Auswahl ihrer Berufslernenden gewich- durch andere Disziplinen, wie etwa durch tet werden. Absenzen und Verspätungen ha- Schul- oder Strafrecht oder die Kriminologie ben einen grossen Einfluss auf eine erfolgrei- stattgefunden hat. Weil dies bis vor kurzem in che Lehrstellensuche. Auf einer Informations- der Schweiz nicht der Fall war und repräsenta- broschüre des Kantons Basel-Stadt ist zu lesen: tive Daten gefehlt haben, ist lange unbekannt «Dein Zeugnis zeigt mir, was du bisher geleis- geblieben, wie viele Schulschwänzer es tat- tet hast. Mich interessieren aber nicht nur sächlich gibt, wer sie sind, aus welchen Moti- deine Schulnoten, sondern auch deine Absen- ven sie der Schule fern bleiben, welche Rolle zen. Mit unentschuldigten Absenzen im sie dabei spielt und ob es tatsächlich einen Zu- Zeugnis fällst du bei mir sofort durch. Auch zu sammenhang zwischen der Intensität schulab- Zu cool für die Schule?
-18- senten Verhaltens und Delinquenz gibt. Unsere Folgeproblem oder auch eine Begleiterschei- beiden Studien «Schulabsentismus in der nung von mehr oder minder schwierigen schu- Schweiz» und «Die Zukunft verlieren? Schulab- lischen und/oder ausserschulischen Belastun- brecher in der Schweiz» liefern hierzu wichtige gen sein. Eine isolierte Ursache, die wie ein Informationen. Blitz aus heiterem Himmel einschlägt, gibt es selten. Unser Verhältnis zum Schulschwänzen Zum Schulschwänzen haben wir ein gespalte- Der Begriff Schulabsentismus nes Verhältnis. Mit Blick auf die persönliche Zum Begriff Schulabsentismus liegen sehr un- Schulkarriere herrscht in unserer Gesellschaft terschiedliche Definitionen vor. Eine Problema- die Meinung vor, dass doch fast jeder Schüler tik liegt darin, dass mit dem Terminus ver- und jede Schülerin während der Schullaufbahn schiedene Verhaltensweisen wie Schwänzen, die Schule geschwänzt habe, jedoch trotzdem Schulverweigerung oder Zurückhalten durch aus den allermeisten etwas geworden sei. die Eltern umschrieben werden. Dies scheint Schulschwänzen gehöre ganz einfach zum gu- insofern problematisch, als hinter Schul- ten Ton, zum notwendigen Repertoire eines schwänzen andere Motive verborgen sein dürf- emanzipierten Schülers. Unerlaubtes Fernblei- ten als hinter einer Schulverweigerung. Aus ben von der Schule sei nichts anderes als eine diesem Grund verwenden wir Schulabsentis- Lust am verdeckten Revoltieren. Notorische mus als Oberbegriff: Schulabsentismus steht Schulschwänzer gäbe es zudem überall. Damit für das Fernbleiben vom Unterricht aus einem müsse sich die Schule abfinden. Denn da helfe gesetzlich nicht vorgesehenen Grund, unab- auch das beste Schulgesetz oder Absenzensys- hängig davon, ob die Eltern informiert sind und tem nichts. dies durch Entschuldigungen legitimieren oder nicht. Eine Unterkategorie bildet das Schul- Diese Auffassung ist zwar verständlich, trotz- schwänzen, eine andere die Schulverweige- dem jedoch stark verkürzter Natur. Bei leis- rung. Schulschwänzen kann weiter differenziert tungsstabilen Schülerinnen und Schülern kann werden nach Ausmass (gelegentliches oder Schulschwänzen zwar sehr wohl lediglich ein massives Schulschwänzen) oder nach Objekt Kavaliersdelikt sein. Dies trifft dann zu, wenn (Schwänzen von Randstunden, von bestimm- sie zwar hin und wieder ‚blau’ machen, das ten Lektionen etc). Schulverweigerung um- damit verbundene Risiko jedoch zu kalkulieren schreibt Kinder und Jugendliche mit enormen wissen und ihren Schulerfolg dadurch nicht ge- emotionalen Verhaltensproblemen, die – mit fährden. Begünstigen die schulischen und fami- Wissen der Eltern – nicht mehr imstande sind, liären Bedingungen und der Umgang mit zur Schule zu gehen und in diesem Zusammen- Gleichaltrigen jedoch den Absentismus, dann hang auffällige psychogene oder psychosoma- kann sich ein gelegentliches zu einem massiven tische Veränderungen zeigen. Schwänzen weiterentwickeln. Dadurch be- kommt das bislang tolerierte und wenig beach- Insgesamt ist bei der Begriffsdiskussion wichtig, tete Fehlen plötzlich einen Bezug zum Dramati- dass Schulverweigerung oder gar Schulabbruch schen oder gar zur Delinquenz. Dies gilt insbe- nicht mit Schulabsentismus gleichgesetzt wird. sondere dann, wenn massive Schulschwänzer Diese beiden Formen der Schuldistanzierung mit der Schule nicht zurechtkommen, sich zu- haben jeweils andere Ursachen und verlaufen nehmend von ihr zurückziehen und in eine Kar- auch anders. Allerdings geht Schulschwänzen riere des Scheiterns hineinzurutschen drohen. sehr häufig einem Schulabbruch oder einer Schulverweigerung voraus. Dabei ist jedoch zu beachten, dass es vielfältige Formen von schulabsenten Verhaltensweisen Weiterführende Literatur gibt. Schulschwänzer sind verschieden, den Stamm, M. (2006). Null Bock auf Schule. Neue Schulschwänzer oder die Schulschwänzerin gibt Zürcher Zeitung, Zeitfragen, 16./17. Dezember, es nicht. Schulschwänzen bricht auch nicht S. 73. über Nacht aus. Häufig hat es eine lange Vor- und Nachgeschichte. Es kann ein Haupt- oder Abbrüche, Ausstiege, Ausschlüsse
-19- Briefing Paper 1: Schulschwänzen Während sich – mit Ausnahmen - Schulen o- den Schulen auch kaum kommunizierte Ange- der Bildungsdepartemente bisher kaum mit legenheit. dem Phänomen Schulschwänzen beschäftigt Wer ist ,Schuld‘ am Schulschwänzen? haben, wird es in den Medien seit ein paar Die internationale Schulabsentismusforschung Jahren regelmässig diskutiert. Meist wird mit ist unterschiedlich weit gediehen. Während reisserischen Titeln darauf verwiesen, dass die vor allem die angelsächsische und auch die Zahl der Schwänzer dramatisch zunehme, vie- amerikanische Forschung eine lange Tradition le von ihnen in die Kriminalität abdriften wür- haben und folgedessen auch ausgereifte Er- den und Schulschwänzen damit ein direkter kenntnisse zurückgreifen können, trifft dies Weg ins Abseits darstelle. Solche Lettern im- für die lediglich zwei Jahrzehnte alte hiesige plizieren, dass es sich um eine zunehmende Forschung noch nicht im selben Ausmass zu. Anzahl von Schulschwänzern handle. Tatsache ist allerdings, dass die aktuelle Forschungslage Insgesamt lässt sich die internationale Schul- ein solch konsistentes Bild nicht zulässt, da die absentismusforschung durch zwei Perspekti- verfügbaren Daten meist nicht repräsentativ, ven kennzeichnen. Die erste, traditionelle und immer querschnittig und auf bestimmte Regi- dominante Perspektive fokussiert auf indivi- onen bezogen erhoben worden sind. duelle und familiäre Hintergrundsfaktoren und legt Probleme schulabsenten Verhaltens in die Sicher jedoch ist die Aussage zulässig, dass un- Verantwortung des Individuums und seiner sere heutigen Kenntnisse zum Aufkommen Familie. Die zweite, neuere Perspektive – sie von Schulschwänzen den Toleranzbereich des wird als ‚institutionelle Perspektive‘ bezeich- Harmlosen überschreiten. Eine Auseinander- net – geht davon aus, dass die Institution setzung mit dem Thema gehört somit zu einer Schule einen entscheidenden Anteil am zeitgemässen Aufgabenbestimmung von Schu- Schwänzverhalten der Schülerinnen und Schü- len, Bildungs-und Sozialdepartementen, aber ler hat. Die individuelle Perspektive ist bei auch der Eltern. Lehrpersonen und Bildungsverwaltungen weit Gemeinsamkeiten von Schulschwänzen stärker verbreitet als die institutionelle Per- und Schulabbruch spektive. Zwischen den üblicherweise angewendeten Die individuelle Perspektive Sanktionen gegenüber Schulschwänzern und In der Fachdiskussion gelten individuelle Fak- ausgeschlossenen Schülern gibt es Unter- toren wie Alter, Geschlecht, Intelligenz sowie schiede. Während die Sanktionen des Schul- Schulleistungen als bedeutsame Prädiktoren ausschlusses auf die Bewältigung streng stö- für Schulschwänzen. So wird allgemein davon renden Verhaltens ausgerichtet sind und den ausgegangen, dass ältere Schüler die Schule Lehrpersonen und den Schülern etwas Zeit ausgeprägter schwänzen als jüngere und als zum Aufatmen geben sollen, haben die Mass- Schülerinnen. Gleiches gilt für leistungsschwa- nahmen zur Bewältigung von Schulschwänzen che Schülerinnen und Schüler, gibt es doch gegenteilige Ziele: Schüler sollen möglichst deutliche Hinweise auf Korrelationen von schnell wieder zur vollen Schulpräsenz zurück- niedriger Intelligenz und Schulschwänzen, kehren. Gemeinsam ist beiden Massnahmen, meist im Zusammenhang mit Klassenwieder- dass sowohl die zeitlich bedingten Ausschlüsse holungen. Allerding existierten auch Studien, als auch das Schulschwänzen nach Ermessen welche einen Zusammenhang zwischen über- und im Engagement der Schule abgewickelt durchschnittlicher Intelligenz und Schul- werden. Ferner zeichnen sich die Entschei- schwänzen verweisen, wobei schulische Un- dungsprozesse in formalen Prozeduren des terforderung die Hauptrolle spielen dürfte. Im Ausschlusses und des Schwänzens durch eine Rahmen einer Studie (vgl. Stamm, 2005) konn- grosse Varianz aus. In den Augen untrainierter ten wir zwei Typen überdurchschnittlich be- Beobachter mag dies als Willkür erscheinen. gabter Schulschwänzer identifizieren: den Typ Unterschiede zeigen sich in der Transparenz der ‚Distanzierten’, die schlechte Schulleistun- der Handhabung: Obwohl sowohl Schulaus- gen und eine deutliche Schulaversion zeigten, schlüsse als auch massives Schulschwänzen sowie der Typ ‚Blaumacher’, welche aktive häufig die Schulen schwer belasten, werden und leistungsstabile Schülerinnen und Schüler meist nur Schulausschlüsse in der Öffentlich- waren, die Schule jedoch aus Unterforde- keit diskutiert. Das Schulschwänzen bleibt in rungsgründen schwänzen oder aufgrund um- den meisten Fällen eine verdeckte und von fassender ausserschulischer Aktivitäten. Zu cool für die Schule?
-20- In Bezug auf familiäre Bedingungsfaktoren gel- Distanzierung, zum allmählichen Aussteigen ten vor allem Kinder und Jugendliche aus bil- oder zum Verlassen der Schule drängen. dungsfernen Familien und solchen mit be- Gerade im Gefolge der PISA-Diskussion ist eine nachteiligendem Migrationshintergrund als bislang wenig diskutierte Problematik aktuell besonders gefährdet. Neuere Untersuchungen geworden: Regelmässig durchgeführte Leis- weisen jedoch nach, dass gerade auch in aus- tungstests können in der Tendenz dazu füh- serordentlich bildungsambitionierten Familien ren, dass Schulen einen gewissen Prozentsatz problematische elterliche Kontrollmechanis- an Schulschwänzern und Abbrechern gerade- men – oft im Sinne von Überbehütung – anzu- zu produzieren. Denn die verstärkte Orientie- treffen sind, welche verweigernde Haltungen rung des Unterrichtsgeschehens an der Über- ihrer Kinder im Sinne des Schulschwänzens ge- prüfbarkeit von Leistungen dürfte nicht selten radezu provozieren können. zur Folge haben, dass Leistungsschwache als Gleichaltrige (‚Peers‘) spielen eine ebenfalls Hindernis gelten, um gute Testergebnisse zu wichtige Rolle. Es gilt als unbestritten, dass erzielen. Deshalb besteht die Gefahr, dass sich Jugendliche in ihrem Verhalten gegensei- Schulen schulmeidende Verhaltensweisen mit tig beeinflussen. Gerade angesichts der er- bestimmten – meist nicht sichtbaren und auch höhten Bedeutung heutiger Freizeitkulturen kaum bewussten – Strategien unterstützen. ist diese Beeinflussungstendenz in den letzten Dass dieser Sachverhalt nicht von der Hand zu Jahren deutlich ausgeprägter geworden. Heu- weisen ist, belegen empirische Studien, wel- te gilt die Demonstration von Schuldistanz in che in bestimmten Schulen sowohl hohe der Peergroup als statusfördernd. Eher zufälli- Schwänzerraten als auch hohe Testleistungen ge Schulschwänzer geraten auf diese Weise nachweisen. tendenziell schneller in den Sog solcher Grup- Die institutionelle Perspektive hat jedoch pen. Die Gefahr ist dann besonders gross, gleichzeitig aufgezeigt, welche Merkmale wenn in der Klasse/der Schule eine schuldis- denn Schulen mit einer guten ‚Haltekraft‘ aus- tanzierte Kultur herrscht. Im Zusammenhang zeichnen. Es sind vor allem solche Schulen, mit Schulschwänzen werden ‚bullying’ und welche auf die Beziehungen von Lehrkräften ‚mobbing‘ sehr oft genannt. und Schülern sowie auf deren Wohlbefinden Zum oft diskutierten Zusammenhang zwischen setzen – bei gleichzeitig hohen leistungsbezo- Schulschwänzen und Delinquenz lassen sich genen Erwartungshaltungen. Je höher nämlich folgende Aussagen formulieren: Für den Schülerinnen und Schüler ihr Wohlbefinden deutschsprachigen Raum ist dieser Zusam- und die Beziehungen zu den Lehrkräften ein- menhang auf einer allgemeinen Ebene empi- schätzen, desto seltener schwänzen sie die risch kaum nachgewiesen. Doch zeigt sich, Schule. Auf Schulseite manifestiert sich ein gu- dass massives Schulschwänzen ein möglicher tes Schulklima in erster Linie in der Art und Indikator für delinquentes Verhalten sein Weise, ob Lehrkräfte und Schulleitung hin- kann. schauen, Präsenz ernst nehmen und sofort auf Schulversäumnisse reagieren. Die Schulgrösse Die institutionelle Perspektive spielt dabei kaum eine Rolle. Wichtiger als sie Heute gilt es als überholt, allein die individuel- ist die formelle und informelle Regelstruktur le Perspektive in den Blick zu nehmen. Die In- in der Gesamtorganisation. In wenig regle- stitution Schule als pädagogische Handlungs- mentierten und wenig förderorientierten einheit rückt deshalb verstärkt in den Mittel- Schulen nehmen Normdistanz und Schwänzer- punkt der Betrachtung. Schulen beeinflussen raten bei Schülern zu. Sind die Rahmenbedin- über ihre Struktur und ihre Organisation gungen hingegen förderorientiert und regel- Schulschwänzen in beeindruckender Weise: strukturiert, wirken sie sich absenzmindernd auf der Dimension der Schule über ihre aus. Normen, Werte, Traditionen und Verhal- Bilanz tensrituale Unser aktuelles Forschungswissen erfordert auf der Dimension der Schüler- und Leh- einen breiter als bisher üblichen Fokus auf die rerbeziehungen über Motivation resp. Thematik des Schulschwänzens. Dabei gilt es Motivierung und Einstellungen. jedoch nicht nur, den Blick auf die individuelle, Im Allgemeinen geht man davon aus, dass sondern auch auf die institutionellen Bedin- Schulen relativ oft Strategien entwickeln, um gungen und Prozesse zu lenken. Schulschwän- bestimmte Schülerinnen und Schüler von der zen darf auch nicht ausschliesslich unter dem Schule fernzuhalten. Die Forschung belegt ein Fokus der Leistungsschwäche aufgrund niedri- ganzes Set derselben, welche sie geradezu zur ger Intelligenz diskutiert werden. Wer die Abbrüche, Ausstiege, Ausschlüsse
-21- Schule schwänzt, unter welchen Bedingungen empirische Befunde zu einer ungewohnten Li- und wie, lässt sich nicht in eine lineare und aison. Psychologie in Erziehung und Unter- eindeutige Antwort packen. Es ist aber schon richt, 1, 20-33. viel erreicht, wenn wir davon ausgehen, dass Stamm, M. (2008). Die Psychologie des alle Schultypen mit dem Phänomen konfron- Schuleschwänzens. Rat für Eltern, Lehrer und tiert werden und dass es in komplexe und in- Bildungspolitiker. Bern: Huber. terdependente Zusammenhänge eingebettet ist. Weiterführende Literatur Stamm, M. (2005). Hochbegabung und Schul- absentismus. Theoretische Überlegungen und Zu cool für die Schule?
-22- Briefing-Paper 2: Schulschwänzer in der Schweiz: Ergebnisse unserer Studie Schülerinnen und Schüler sollten während ihrer Gelegenheitsschwänzern, während Knaben fast obligatorischen Schulzeit ca. fünfzehntausend doppelt so oft massive Schulschwänzer sind. Das Stunden in der Schule verbringen. Für einen Schwänzen steigt zudem mit dem Alter an. nicht kleinen Teil dürften es jedoch bedeutend Neuntklässler schwänzen fast doppelt so häufig weniger sein. Unsere Studie, welche im Jahr wie Sechst- und Siebtklässler. Bei den massiven 2007 im Auftrag des Schweizerischen National- Schulschwänzern ergibt sich das gleiche Bild. fonds (SNF) durchgeführt worden ist, liefert hier- Schwänzen beginnt jedoch nicht erst in der Se- zu repräsentative Daten. kundarstufe I, sondern oft schon in der Primar- schule: 52% haben bereits zwischen der dritten Merkmale der Studie und sechsten Klasse zum ersten Mal geschwänzt. «Schulabsentismus in der Schweiz – ein Phäno- Zu den häufigsten Motiven zählt ‚Nullbock auf men und seine Folgen» basiert auf einer Stich- Schule’ mit 64%, gefolgt von ‚Ausschlafen wol- probe von 28 repräsentativ ausgewählten Schu- len’ (4%) und ‚langweiliger Unterricht’ mit 40%. len aus neun Kantonen der deutschsprachigen Dies sind alles Aspekte, die auf eine gewisse Schweiz. Teilgenommen haben insgesamt 3‘942 Schulmüdigkeit und auf eine ablehnende Schu- Schülerinnen und Schülern der 7., 8. oder 9. leinstellung hindeuten. Ein zweiter, mit schuli- Klasse der Sekundarstufe I und ihre Lehrerinnen schen Anforderungen verbundener Bereich be- und Lehrer. Davon waren 50.6% Knaben und trifft ‚eine Prüfung nicht schreiben wollen’ 49.4% Mädchen. 297 (7.5%) besuchten eine (31%), ‚eine Prüfung vorbereiten können’ (20%) Kleinklasse, 914 (23.2%) eine Schule mit Grund- oder ‚die Hausaufgaben machen’ mit 19%. Diese ansprüchen (Realschule) und 2‘577 (65.4%) eine Aspekte betreffen alle den Umgang mit schuli- Schule mit erweiterten Ansprüchen (Sekundar- schen Anforderungen. Der dritte wesentliche Be- schule, Bezirksschule oder gymnasiale Vorberei- reich betrifft die Beziehungsstrukturen: ‚mit tungsklassen). Auch diese Verteilung ist reprä- Lehrperson nicht zurechtkommen’ (22%), weil sentativ für die Deutschschweiz. ‚die anderen der Klasse das auch machen’ (Mo- Häufiges, raffiniertes und früh beginnendes delleffekt) mit 19% und Aspekte von Mobbing Schwänzen und Bullying mit 7%. Jeder zweite Schüler und jede zweite Schülerin (49%) schwänzt während der Schullaufbahn ab Unterschiedliche Schwänzertypen Es gibt sehr unterschiedliche Schwänzertypen. und zu die Schule und kann als Gelegenheits- Da sind die bereits erwähnten, welche hin und schwänzer resp. Gelegenheitsschwänzerin be- wieder einen halben Tag oder mehr blau ma- zeichnet werden. 33% tun dies relativ häufig, chen. Von ihnen zu unterscheiden sind diejeni- und 5.0% sind gar als massive Schulschwänzer zu gen Schülerinnen und Schüler, die zwar jeden bezeichnen. Lediglich 13% gehören zu den Tag in der Schule auftauchen, aber ganz gezielt durchgehend präsenten Schülerinnen und Schü- bestimmte Fächer oder Lehrkräfte («Lektionen- lern. Das wird aus Abbildung 1 deutlich. schwänzer») meiden, und diejenigen, die zwar auf dem Schulareal sind, den Unterricht aber nicht regelmässig besuchen. Die kleine Gruppe der massiven Schulschwänzer hebt sich dabei besonders ab, weil sie Merkmale auf sich verei- nigt, die ihr das Etikett einer Problemgruppe ver- leiht. Dazu gehören ungünstige Lehrerbeziehun- gen, eine beachtliche Schuldistanz, ein Hang zu leichter Delinquenz und teilweise schlechte Schulleistungen, die mit (drohender) Klassenre- petition einhergehen. Ferner gibt es massive Schulschwänzer aus Unterforderung. Lehrkräfte scheinen jedoch kaum zwischen diesen Schwän- zertypen zu unterscheiden. Schulschwänzen darf nicht dramatisiert Abbildung 1: Ausmass des Schulschwänzens werden, aber es wird unterschätzt Ferner bestehen zwischen Mädchen und Knaben Insgesamt darf das Schulschwänzen natürlich Unterschiede. Mädchen gehören häufiger zu den nicht dramatisiert werden. Gelegentliches uner- Abbrüche, Ausstiege, Ausschlüsse
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