Justin hat die Schnauze voll - Ein Fallbeispiel zum Familienrat, das Techniken und Grenzen erklärt

Die Seite wird erstellt Hugo Bauer
 
WEITER LESEN
Justin hat die Schnauze voll - Ein Fallbeispiel zum Familienrat,
das Techniken und Grenzen erklärt

Frank Früchtel und Erzsébet Roth

Veröffentlicht in: Das Jugendamt. Zeitschrift für Jugendhilfe und
Familienrecht, 3, 2014, 87. Jg., S. 119 - 125

Die Ausgangslage

Justin (13) hat die Schnauze voll. Weil er Sven gezeigt hat, wer schneller
zuschlagen kann, will der Bezugsbetreuer ein „klärendes Gespräch
veranstalten“. Er entschließt sich abzuhauen - mal wieder. Justin wollte sowieso
nie in diesem „Kinderknast“ sein, wie er es nennt. Seine Mutter kommt mit ihm
nicht zurecht und deswegen war er in gefühlt zehn verschiedenen
Kinderheimen. „Das brauchst du, mein Junge“, sagt seine Mutter zu ihm, wenn
er sie fragt, warum er nicht daheim sein kann. Aber jetzt reicht es ihm. Justin
hat keine Lust mehr auf Regeln und Reden der Erzieher. Er packt seine
wichtigsten Sachen und schleicht in die Nacht.

Am nächsten Tag erfährt die zuständige Jugendamtsmitarbeiterin davon und
stöhnt: Die siebte Einrichtung, der sich Justin entzogen hat. Außerdem scheint
er gerade einen neuen Rekord aufzustellen, wie viele Straftaten man in einem
Monat machen kann. Seit zehn Jahren ist der Junge beim Jugendamt bekannt.
So wie es aussieht, waren die bisherigen Hilfen - Antigewalttraining,
Sozialpädagogische Familienhilfe, stationäre Unterbringungen - erfolglos. Sie
vereinbart ein Gespräch mit der Kindsmutter und überredet sie, Justin wieder
bei sich aufzunehmen: „Frau Ohlsen, es bringt nichts, Justin wieder in eine
andere Jugendeinrichtung zu geben. Er will es nicht. Das können wir nicht
ignorieren.“ Die Mutter sieht das ein und Justin zieht zu ihr.

Nach drei Monaten ruft Justins Mutter an und erzählt, der Junge wäre wieder
abgehauen, er sei jetzt bei seinem Vater. „Der hat aber gar keine Wohnung!
Der wohnt bei einer Frau und dort sind schon viele Kinder.“ Justins Vater ist vor
ein paar Wochen aus einer siebenjährigen Haft mit Bewährung entlassen
worden. Justin hatte immer einen guten Bezug zu seinem Vater, aber der

                                                                              1
Fachkraft ist nicht wohl dabei. Die Mutter hat zwar beantragt, das
Aufenthaltsbestimmungsrecht an einen Vormund abzugeben, aber die Situation
beim Kindsvater ist undurchsichtig. Im Team ist man sich einig, der Vater
könnte eine Chance für Justin sein. Die Mutter schaffte es nicht und die Familie
hat diesen Ausweg gefunden. Andererseits könnte der Lebensstil des Vaters
ein Risiko sein. Man entschließt sich, den Weg der Familie zu unterstützen,
aber gleichzeitig auch dafür zu sorgen, dass die Lebensbedingungen beim
Vater geprüft und wenn nötig durch fachliche Hilfe verbessert werden. Die nun
anstehende Hilfeplanung soll die bereits mobilisierten Selbsthilfekräfte der
Familie bestärken. Alle professionellen Hilfen waren nicht erfolgreich, weil
Justin nur auf seine Eltern hört. Wenn derzeit jemand etwas erreichen kann,
dann sind es die Eltern. Deswegen gibt das Jugendamt einen Familienrat in
Auftrag.

Familienrat (Family Group Conference), ist ein in Neuseeland entwickeltes und
weltweit verbreitetes Hilfeplanungverfahren, mit dem das Jugendamt Familien und ihre
Netzwerke in eine gestaltende Position bei der Entwicklung von Hilfeplänen bringt. 1
Die Organisation erfolgt in den Schritten: 1. Auftragserteilung an einen Koordinator, 2.
Vorbereitung des familiären Netzwerkes und der Fachkräfte, 3. Durchführung und 4.
Die Organisation von einem oder mehreren Folgeräten zur Evaluation des Plans. Zur
Organisation des FR beauftragt die Fachkraft des Jugendamtes einen unabhängigen
Koordinator (Trennung von „Hilfeplanung“ und „Wächteramt“). Er informiert die
Kernfamilie über Ziel und Ablauf des FR sowie ihre Rechte, unterstützt sie ihr
Netzwerk zum FR zu mobilisieren und vermittelt dann allen Teilnehmern Anlass und
Ablauf des FRs sowie die Bedeutsamkeit ihres Mitwirkens für eine, die lebensweltliche
Autonomie sichernde Lösung des Problems. Die Koordination orientiert das Setting des

1
 Früchtel, Frank (2002): Die Moral des Verfahrens: Family Group Conferences als Alternative zum
Hilfeplangespräch? In: Forum Erziehungshilfen, 8; Nr. 1; S. 13 – 19, Früchtel, Frank / Budde,
Wolfgang(2003): Ein radikales Verständnis von Betroffenenbeteiligung in der Hilfeplanung: Family Group
Conferencing, in: Sozialmagazin, 28/3, S. 12-21; Hansbauer ua, Familiengruppenkonferenz: Eine
Einführung, 2009; Hilbert ua, Familienrat in der Praxis – ein Leitfaden, 2011, , Deutscher Verein,
Fachlexikon der Sozialen Arbeit, 7. Aufl. 2011, Früchtel, Frank / Straub, Ute (2011): Standards des
Familienrates. Hilfeplan oder Entscheidungsverfahren - zwischen Normierung und Diversity, in:
Sozialmagazin, 36/2, S. 53 – 57; , Kleve/Wirth, Lexikon des Systemischen Arbeitens. Grundbegriffe der
systemischen Praxis, Methodik und Theorie (2012); Früchtel, Frank / Budde, Wolfgang / Cyprian,
Gudrun (2013): Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Fieldbook: Methoden und Techniken. Opladen, S. 30-
54

In die Jugendhilfegesetzgebung übernommen wurde das Verfahren in Neuseeland (Childrens, Young
Persons, and Their Families Act, 1989), Australien (Children and Young People Act, Capital Territory,
2008), Irland (Children Act, 2001), Yukon/Kanada (Child and Family Service Act, 2008), New
Brunswick/Kanada (Family Service Act, 1997), British Columbia/Kanada (Child, Family and Community
Service Act, 1996), England and Wales (The Public Law Outline, 2008), Niederlande (Wetboek van
Burgerlijke Rechtsvordering, de wet op de jeugdzorg en de pleegkinderenwet in verband met herziening
van de maatregelen van kinderbescherming 2011), Jugendschutzgesetz: Änderung im Oktober 2013
(Familiengruppenplan)

                                                                                                   2
FR an der familiären Kultur, was Sprache, Ort, Termin, Rituale, Verpflegung und
Teilnehmer betrifft. Mit der Fachkraft des Jugendamtes stimmt die Koordination ab, wie
die „Sorge“ des Amtes (z.B. Justins Schulerfolg) präzise formuliert werden kann und
welche weiteren Fachkräfte anwesend sein müssen, um als sog. „Informanten“ dem
familiären Netzwerk Sachinformationen zur Verfügung zu stellen, die für eine
tragfähige Lösung berücksichtigt werden sollten. Der FR beginnt mit der
„Informationsphase“ (Vorstellung der Teilnehmer, Kontrakt über die Aufgabe des
Treffens, Familienritual, Darlegung der für einen tragfähigen Plan notwendigen
Information durch die Fachkräfte, Sorge des Jugendamtes, Auftragsformulierung an die
Familie). Danach verlassen alle Professionellen den Raum, womit die exklusive
Familienzeit eingeläutet wird. Der Familie wird der nötige und sichere Rahmen für die
eigenständige Planung gegeben.. Nach dieser „Family-only-Phase“ präsentiert die
Familie in der „Verhandlungsphase“ ihren Plan, der jetzt von der Fachkraft des
Jugendamtes geprüft wird, ob er ihre vorher formulierte Sorge (auf)löst.

Die Koordinationsarbeit

Zuerst besucht die beauftragte Koordinatorin die Fachkraft im Jugendamt:
„Unsere Aufgabe ist, möglichst viele Menschen aus dem Netzwerk der Familie
zu beteiligen. Vor allem die für Justin wichtigen Menschen sind
ausschlaggebend und die Vertrauten der Familie, die nicht jeden Tag da sind.
Letztere gehören zwar zur Familie, können aber neue Sichten eröffnen, ohne
dass das Gefühl entsteht, es wird von außen hineinregiert. Wir brauchen dazu
etwa sechs bis acht Wochen. Statt Hilfeplanzielen ist beim Familienrat Ihre
Sorgeklärung zentral, für die die im Rat versammelte Familiengruppe einen
Plan aufstellt. Sie brauchen der Familie nicht zu sagen, was zu tun ist, sondern
müssen deutlich machen, was Ihre ‚Sorge’ ist.“

Vorbereitung: Die Vorbereitung der Familie ist für den Erfolg des Familienrates von
großer Bedeutung. Das Verfahren soll so viele Menschen wie möglich „betroffen“
machen und aktiv in den Hilfeplanungsprozess einbinden. Wenn es gelingt, einen
„angemessen ungewöhnlichen“ Teilnehmerkreis zu versammeln, besteht die Chance,
das einerseits die Problemlösungswege der Familie zum Tragen kommen, andererseits
aber auch über den Tellerrand geguckt wird, blinde Flecken angesprochen werden und
neue Wege gefunden werden. Die Familie soll auf ihre eigenen Ressourcen und
Präferenzen verwiesen werden, wenn sie ihren Plan erstellt. Die Grundhaltung
beinhaltet, dass der eigene Plan den Potentialen der Familie angemessen sein wird, zur
Gemeinschaftsbildung der Familiengruppe beiträgt und aktivierend wirkt. In der
Vorbereitungsphase muss von der Koordination sichergestellt werden, dass alle
Beteiligten das Verfahren verstanden haben und sie als Netzwerk im Vordergrund
stehen.
In der Vorbereitungszeit werden auch die Fachkräfte geschult, die am Familienrat
teilnehmen. Auch deren Rolle liegt nicht darin dem Netzwerk mitzuteilen, was zu tun ist
oder Ratschläge zu geben, welche Schritte sie gehen müssen. Es geht in ihrem Beitrag
darum, eine fachliche Einschätzung zu geben, wo die Familie steht. Für einen guten
Plan, sind solide wissenschaftliche Informationen nötig, etwa zu einer bestimmten
Krankheit oder Verhaltensauffälligkeit, die zur Diskussion steht oder zu

                                                                                    3
sozialrechtlichen Fragen oder auch zu den Rechtsansprüchen, die Eltern und Kinder an
das Jugendamt haben. Die Fachkräfte sind später nur am Anfang des Familienrates
dabei. In der exklusiven Familienzeit erarbeitet das Netzwerk ohne Beiträge von
Professionellen einen Plan, der ihre und die Sorge des Jugendamtes bearbeitet. Hierbei
ist nicht ausgeschlossen, dass zur Umsetzung des Planes auch professionelle
Unterstützung gebraucht wird. Es ist aber von zentraler Bedeutung, dass dies die
Betroffenen fordern und nicht die Professionellen vorschlagen. So wird verhindert, dass
Unterstützungen, die selbst machbar sind, an das Hilfesystem abgegeben werden, weil
man sich selbst nicht genügend zutraut.

An einem heißen Sommernachmittag macht sich die Koordinatorin auf den Weg
zu Justins Vater ins Hamburger Umland. Am Klingelschild des fünfstöckigen
Hochhauses klebt neben dem Namen der Familie ein Kaugummi. Vorsichtig -
am Kaugummi vorbei - klingelt sie. Oben öffnet ein kleiner blonder Junge die
Tür und führt die Koordinatorin wortlos durch den Flur ins Wohnzimmer.
Katzenklo und Zigaretten geben der Raumluft eine würzige Note. Der Esstisch
ist mit Papierkram beladen und hat Flecken, die mit normalen Putzmitteln nicht
mehr zu entfernen sind. Die braune Couch hat ihre besten Jahre hinter sich und
ein interessantes Muster aus Brandlöchern und Einrissen. Die Tapeten sind in
Kinderkopfhöhe bekrakelt. Durch eine Fenstertür geht man auf den Balkon.
Herr Raabe, Justins Vater, erhebt sich von einer ergrauten Plastikbank, um die
Koordinatorin zu begrüßen. Vor ihm steht eine Flasche Aldibier. Er ist groß,
breitschultrig und kahlköpfig. Sein Gesicht ist mit unzähligen kleinen Narben
imprägniert, die Augen stehen leicht hervor. Seine muskulösen Oberarme
tragen große Tätowierungen. „Das ist meine Lebensgefährtin, Frau Hansen.“ Er
zeigt auf eine kleine verhärmte Frau mittleren Alters. Ein Junge im pubertären
Alter betritt den Balkon. Er hat eine sehnig kräftige Statur und einen
Gesichtsausdruck, dem man mehr Erfahrungen ansieht, als dem von Jungen
seines Alters. Das muss Justin sein. Sein Blick wirkt müde, doch wenn er
seinen Vater anschaut, fangen seine Augen an zu funkeln. „Wir haben schon
mal eine Liste gemacht.“ beginnt Herr Raabe „Frau Vogt vom Jugendamt hat
uns schon alles erklärt.“ „Super“ entgegnet die Koordinatorin: „Na Justin, wer
steht denn für dich auf der Liste? Wen würdest du denn gern bei eurem
Familienrat dabei haben wollen?“ Justin schaut auf seine Hände. Er hat
abgekaute Fingernägel. „Hm, weiß nicht. Auf jeden Fall Papa, Mama - also
Sylvia, Justin schaut zur Lebensgefährtin des Vaters, meine Schwester Nicole
und meine Halbgeschwister.“ Die Koordinatorin schreibt mit. „Weißt du, was wir
beim Familienrat machen werden?“, fragt sie weiter. „Na drüber reden, wo ich
leben soll.“ Justin steht auf und geht - vermutlich in sein Zimmer. „Bei
Gesprächen mit Sozialarbeitern kann er nicht lange still sitzen“, erklärt Herr
Raabe, während er etwas nervös an seiner Liste zupft. Auf seine Fingerrücken
sind die Buchstaben S – K – I – N tätowiert. Vor seiner Haftzeit war er in der
rechten Szene. Er beging etliche kleinere Straftaten. Dann gab es eine
Messerstecherei. Herr Raabe ging für sieben Jahre wegen Totschlags ins
Gefängnis, hat sich aber gut geführt, bereut und kam auf Bewährung vorzeitig
frei.
Die Liste des Vaters wird zur Netzwerkkarte ausgebaut. Der Bruder mit seiner
Frau soll dabei sein. Frau Hansen möchte, dass ihre Mutter dabei ist. Herr

                                                                                    4
Raabe erklärt engagiert, warum alle kommen sollen. „Dass die Familie dabei
sein muss, war mir zwar neu, aber ich finde das richtig. Wir brauchen Hilfe.“

Netzwerkarbeit: Die Koordinatorin erforscht welche Ressourcen im Netzwerk der
Familie vorhanden sind. Mit einer Eco-Map (Netzwerkkarte) oder mit einem
ausführlichen Genogramm oder durch ein offenes Gespräch werden Personen
zusammengetragen, zu denen Beziehungen bestehen oder bestanden haben. Dabei gilt
erst einmal: je mehr, desto besser. Schließlich geht man die Liste zusammen durch, wer
für den Familienrat in Frage kommt. Die Koordinatorin wirbt auch hier für eine
möglichst große Anzahl, weil sich so mehr Perspektiven und Unterstützungschancen
ergeben. Gibt es Personen, die für den Familienrat wichtig wären, dessen Präsenz im
Rat das Kind oder ein Elternteil aber nicht haben will, dann ist das Geschick der
Koordination gefragt: Wie kann jemand mitwirken ohne physisch anwesend zu sein?
Durch einen Brief, eine Skypekonferenz oder etwa durch einen Stellvertreter? Wie es
am besten gehen kann, dazu sollte man auch immer die Familie befragen. „Ask the
family!“ ist eine wichtiger Grundsatz bei Koordinationsschwierigkeiten. Die
Zusammensetzung ist eine „Erfindungs-, weniger eine Entscheidungsaufgabe. Die
Koordination muss den Teilnehmerkreis auch so zusammensetzen, dass schwache
Interessen gestärkt werden, etwa indem schüchterne Menschen oder Kleinkinder
Fürsprecher aus dem Netzwerk bekommen. Weiterhin braucht die Teilnehmerschaft
Menschen, die Kompromisse finden und integrieren können. Verstrittene Parteien
brauchen dritte Personen, denen beide vertrauen. Insofern ist die Zusammenstellung der
Teilnehmenden einerseits eine partnerschaftliche Aufgabe, zusammen mit der Familie,
andererseits verlangt sie taktisches Geschick.

Nachdem die Koordinatorin alle Bereiche des Lebensumfeldes der Familie
abgeklopft hat, geht sie zum Ort des Familienrates über. „Ach, das kann bei uns
stattfinden. Unser Wohnzimmer ist ja groß genug.“, entgegnet Frau Hansen.
„Oder wir machen das am See. Also wenn schönes Wetter ist, können wir das
am See machen und wir können grillen.“

Heimspiel: „Der Begriff „Heimspiel“ (vgl. Hinte/Treß, 2007, S. 89) greift die
Beobachtung auf, dass Menschen dort, wo sie sich auskennen und ihre Verbündeten
haben, selbstbewusster und erfolgreicher agieren. Fußballmannschaften gewinnen
doppelt so viele Spiele im eigenen Stadium wie auswärts. Heimspiele in der Sozialen
Arbeit organisieren heißt, die Rahmenbedingungen für Hilfeprozesse so zu gestalten,
dass sie in erster Linie zur Kultur, zu den Routinen und Netzwerken von Adressaten
passen.“ (Früchtel/ Budde/ Cyprian (2013, S. 23ff)
Da die Familie selbstbewusst an einer Lösung arbeiten soll, ist es wichtig, den
Familienrat an einem Ort stattfinden zu lassen, an dem die Betroffenen einen gewissen
Hoheitsanspruch haben. Gibt es in der Wohnung nicht genügend Platz, kann auf
Nachbarschafts- oder Vereinsräume zurückgegriffen werden. Das räumliche Setting
kann zeigen, wem die Probleme „gehören“ und wer das Vorrecht und die
Verantwortung zur Bearbeitung hat. Zudem können Nebeneffekte entstehen, die im
normalen Hilfeplangespräch im Amt nicht zu Stande kommen: Die Familie als
Gastgeber, empfängt Fachkräfte und Verwandte. Man zeigt Gastfreundschaft. Die
Wirkung eines gemeinsamen Mahls dabei ist nicht zu unterschätzen. Es betont die
Familienkultur (Kochkünste, Lieblingsgerichte, Tradition) und die Fähigkeit, etwas

                                                                                   5
geben zu können. Außerdem können Familienräte lange dauern und sollen nicht an
Entkräftung scheitern. Es gehört zur methodischen Aufgabe der Koordination,
Familienrituale zu entdecken und in den Familienrat einzubauen: Wer ist die richtige
Autoritätsperson um das Treffen zu eröffnen? In religiösen Familien kann ein Gebet
zum Familienrat gehören, in andern Familien kann es ein gemeinsames Lied oder eine
bestimmte Art der Begrüßung sein. Auch dadurch wird die Besitzerschaft der Familie
an diesem Hilfeplanungsverfahren makrkiert und der Rat bekommt soziale Signifikanz.
Familienräte haben neben der Orientierung auf die Problemlösung - die sie mit
Hilfeplangesprächen teilen, auch das Ziel der Gemeinschaftsbildung. Das Problem ist
dabei die Gelegenheit für die Familiengruppe, sich zu versammeln, sich zusammen zu
raufen und sich als solidarische Gemeinschaft zu erleben.

Die Lehrerin von Justin kann den Termin nicht wahrnehmen. Die Koordinatorin
bittet sie dafür einen Brief zu verfassen, um ihren Beitrag zu kund zu tun:

Hallo Justin,
bald sind die Ferien zu Ende und du wirst in die 8. Klasse kommen. Hierfür gibt
es Gedanken, die ich dir gerne mitteilen möchte:
 -      Die Schule ist ein Ort des Lernens, du kannst es hier schaffen, dich für
   deine eigene Zukunft zu stärken.
 -      Die Schule ist ein Ort des Miteinanders, hier wünschen wir uns, dass du
   es schaffst, den richtigen Umgang mit deinen Mitmenschen zu erlernen.
 -      Die Schule stärkt dich in deiner Persönlichkeit, hier kannst du lernen,
   deine eigenen Schwächen und Stärken zu erkennen, sie zu reflektieren und
   am Ende mit ihnen positiv umzugehen.
 Ich freue mich auf ein Wiedersehen im nächsten Schuljahr.
Deine Lehrerin

Die Lehrerin hat versucht, der Bitte ein paar zukunftsorientierte Zeilen für Justin
nachzukommen. Allerdings schreibt sie zuviel über die Schule und zu wenig
über Justin, dessen Stärken, Ziele aber auch über das, was sie von ihm
erwartet. Der Brief würde mehr Wirkung haben, wenn er Justin erklären könnte,
warum die Lehrerin meint, dass er es in ihrer Klasse schaffen wird. Die
Koordinatorin entschließt sich dennoch den Brief so zu nehmen.

Auch mit Justins Vormund muss sie auf einen Brief ausweichen, der am Anfang
so aussieht:

Hallo Justin,
du möchtest gerne bei deinem Vater leben und bist dir bewusst, dass das an
bestimmte Voraussetzungen gebunden ist. Dein Papa scheint gewillt, dich
aufzunehmen. Es ist durchaus denkbar, dass du bei deinem Papa leben kannst,
wenn eure gerade neu zusammenwachsende Familie entsprechende
Unterstützung bekommt. So könnte dein Papa z.B. für sich einen Kurs ‚Starke
Eltern – Starke Kinder’ für Eltern mit Kindern in der Pubertät besuchen. Du
könntest Nachhilfe bekommen, um dich in deiner schulischen Situation zu
unterstützen. Weiterhin könntest du eine Verhaltenstherapie machen, um mit

                                                                                 6
deinen Wutanfällen besser umzugehen. Ferner finde ich es wichtig, wenn dein
Papa lernt sich entsprechend mit dir zu beschäftigen, dir Angebote zu machen
und ihr aktiv Zeit miteinander verbringt, weil du nicht raus gehst, keine
Interessen hast und zuviel Zeit vor dem PC verbringst. Möglichkeiten zur
Unterstützung gibt es genug, und ich denke es besteht die Chance, dass ihr es
schafft.

Der Vormund bestimmt, wo Justin wohnen darf, deshalb ist der Brief von
grundsätzlicher Bedeutung. Jedoch wird deutlich, dass der Amtsvormund Justin
und Vater professionell umstellen möchte. Er schreibt ein detailliertes Rezept,
was Vater und Sohn tun sollen und kommt so zwar seinem Wächteramt nach,
lässt den beiden aber keinen Spielraum und disqualifiziert ungewollt deren
eigenen Ideen und Fähigkeiten. Der Familie wird implizit gesagt, sie wird es
ohne fremde Hilfe nicht schaffen. Die Hoffnung des Vormundes kommt so
verhalten zum Ausdruck („Dein Papa scheint gewillt, dich aufzunehmen.“ „Es
besteht die Chance, dass ihr es schafft.“) dass sie mehr wie Misstrauen wirkt.
Die Einstellung des Vormundes ist mit Blick auf die Fallgeschichte
nachvollziehbar, aber nicht hilfreich für einen Neuanfang aus eigener Kraft. Wie
soll die Familie Mut haben, wenn die Fachkraft so skeptisch ist? Ein häufiger
Selbstschutz der Betroffenen ist Abwehr: „Die können mir gar nichts sagen! Die
wissen nichts!“

Die Grundhaltung für den Familienrat ist eine andere. Die Familie muss spüren,
dass man ihr etwas zutraut, das man ihre Potentiale sieht und grundsätzlich
zuversichtlich ist, auch wenn große Probleme bestehen. Die Betroffenen
müssen dann Raum haben, selbst zu planen und dabei möglicherweise selbst
zu erkennen, dass sie auch professionelle Hilfe benötigen. So werden
Ressourcen und Selbstheilungskräfte aufgedeckt, die vorher nicht erkennbar
waren. Die Koordinatorin überarbeitet zusammen mit dem Amtsvormund den
Brief, in dem vor allem der Vater angesprochen wird, weil er ja für sein Kind
sorgen muss:

Lieber Herr Raabe, lieber Justin,
Ihr beide habt als Vater und Sohn beschlossen, nun wieder zusammen zu
leben. Justin, du wolltest schon immer zu deinen Vater, den du sehr
bewunderst und Sie Herr Raabe haben Justin aufgenommen und stehen zu
Ihrem Jungen. Das ist beeindruckend und ich bin überzeugt, Ihr werdet das
schaffen, weil Ihr beide starke Männer seid, die durchziehen, was sie sich
vornehmen. Ich stimme als Justins Amtsvormund Eurem Vorhaben zu, wenn Ihr
mit Eurem Plan zeigt,
wie Justin jeden Tag in die Schule gehen wird,
wie Justin lernen wird, sich im Streit ohne Schläge durchzusetzen
und wie ihr als Familie zusammen Dinge unternehmt.
Justin hat viele Fähigkeiten. Er ist mutig, kräftig, weiß was er will und er hat
einen Vater, auf den er stolz ist. Wenn Justin jetzt noch Freunde in der Schule
findet, weil er seine Mitschüler gut behandelt, dann hat er eine gute Chance im
Leben ein erfolgreicher Mann zu werden. Ich wünsche Euch einen guten

                                                                             7
Familienrat. Bitte teilt mir danach Euren Plan mit und fragt mich, wenn ich
helfen kann.
Freundliche Grüße

Dass der Vormund nicht selbst beim Familienrat erscheinen wird, ist nicht
optimal. Er ist derjenige, der für das Wohl seiner Mündel Sorge trägt. In diesem
Fall wäre es von besonderer Bedeutung, dass er beim Abnehmen des Plans
dabei ist, da er in diesem Fall das Aufenthaltsbestimmungsrecht innehat.
Allerdings ist der Brief nun wirkungsvoll. Was darin immer noch fehlt - und das
ist ein Koordinationsfehler - ist die Mutter. Justin wollte sie nicht dabei haben,
aber er war die meiste Zeit seines Lebens bei ihr und auch wenn er zurzeit dort
nicht wohnen kann, heißt das nicht, die Mutter hat ihn aufgegeben. Der Wille
eines Kindes ist zwar wesentlich, aber manchmal übersehen Kinder die
Konsequenzen nicht vollständig. Die Koordinatorin hätte zusammen mit Herrn
Raabe einen Weg finden müssen, die Mutter in einer Weise zu beteiligen, die
für Justin gangbar ist, der aber gleichzeitig ermöglicht auszuloten, welche Rolle
sie in seinen weiteren Leben spielen wird und wie sie damit einverstanden sein
kann, dass Justin jetzt bei seinem Vater und einer Stiefmutter lebt. Wird diese
Perspektive beim Planen nicht berücksichtigt, ist es zwar einfacher zu einem
Ergebnis zu kommen, aber es könnte später Komplikationen bei der
Planumsetzung geben. Neben den Familienmitgliedern werden Herrn Raabes
Bewährungshelfer und Frau Hansens Familienhelferin eingeladen.

Der Familienrat

Justin ist gespannt. Ein Familienrat, das ist etwas Neues. Mit all den
Verwandten seine Lage zu besprechen, ist ihm nicht ganz geheuer, aber sein
Papa ist dabei, das findet er gut. Nach und nach treffen die Eingeladenen ein.
Herr Raabe ist etwas enttäuscht, denn von seiner Seite der Verwandtschaft ist
niemand gekommen. Aber seine Tochter ist da - immerhin.

Bei ihrer Evaluation wird die Koordinatorin herausfinden müssen, womit das
Fehlen der Eingeladenen zusammenhängt. Hätte man die Vorbereitungsarbeit
verbessern können oder ist das Ausbleiben Ausdruck der Entfremdung
zwischen den Verwandten, die so einfach nicht zu heilen ist? Welche anderen
Mobilisierungsstrategien könnte man beim Folgerat versuchen? An wen könnte
man ersatzweise denken?

So sind die Fachkräfte beim Familienrat in der Überzahl. Bewährungshelfer,
Familienhelferin, Frau Vogt vom Jugendamt und die Koordinatorin nehmen auf
der großen Couch Platz. Ihnen gegenüber sitzen Herr Raabe und seine
Partnerin auf Bürostühlen. Justin hat zwischen ihnen auf dem Boden Platz
genommen, seine große Schwester sitzt etwas abseits am Esstisch. Der Vater
beginnt mit der Begrüßung seiner Gäste und dankt allen für ihr Erscheinen. Er
hat mit der Koordinatorin beraten, welche Botschaften den Familienrat am
besten einleiten könnten. Seine Worte wirken feierlich. Dann übergibt er das

                                                                               8
Wort an die Koordinatorin, die sich ebenfalls bedankt und die Kollegin vom
Jugendamt bittet, ihre Sorge vorzutragen:

„Ich habe mit Justins Klassenlehrerin gesprochen. Sie war begeistert davon,
wie du, Justin, dich in der Schule verändert hast. Du warst also jeden Tag in der
Schule und du hast deine Mitschüler fair behandelt. Gut fände sie, wenn du
jede Woche eine Stunde länger in der Schule sein würdest und irgendwann den
ganzen Unterricht mitbekämst. Deine Lehrerin weiß zwar, dass das vielleicht
nicht einfach für dich ist, aber sie würde sich freuen wenn du das schaffst,
genauso wie du es jetzt schon schaffst, mit den Mitschülern fair zu sein. Ich
habe mit der Polizei gesprochen: Justin hat, seit er hier bei Ihnen, Herr Raabe
und Frau Hansen, wohnt, keine Straftaten begangen. Justin - das hat mich stark
beeindruckt! Ich habe mit Justin gesprochen und er sagt, es tut ihm gut, bei
seinem Vater zu leben. Er will erstens in keiner Jugendeinrichtung mehr leben.
Justin muss zweitens ein gutes Zuhause haben, wie es einem neunjährigen
Jungen gut tut und er drittens soll in der Schule vorankommen. Deshalb haben
Sie sich heute als Familie versammelt. Machen Sie zu diesen drei Punkten bitte
einen Plan und ich bin überzeugt, dass der Plan besser werden wird als alle
Hilfepläne, die wir bisher gemacht haben, weil Sie es als Familie wollen.“

Die Koordinatorin notiert diese drei Planungsaufträge auf einem der zahlreichen
Flipcharts, die überall im Zimmer an den Schränken und Fenstern festgemacht
wurden. Mit der Fachkraft vom Jugendamt hatte die Koordinatorin während der
Vorbereitungsarbeit intensiv an dieser Sorgeerklärung gearbeitet. Es ist nicht
einfach, in einer kurzen Ansprache die Dinge so auf den Punkt zu bringen, dass
sie klar, empathisch und Mut machend sind. Aber eine gute Sorgeerklärung des
Amtes setzt oft den Ton des kompletten Familienrats und orientiert die anderen
Fachkräfte genauso wie die Familiengruppe.

Die Sorgeerklärung basiert auf den Recherchen die das Jugendamt seit der Meldung
des Falles oder seit der letzten Hilfeplanung durchgeführt hat. Diese Untersuchungen
bzw. dieses Monitoring nennen wir im Familientrat „Sorge-Klärung“, also eine Klärung
der Fakten und Faktoren, die den Anlass zur Intervention der Behörde liefern und den
Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung oder das Recht des Amtes begründen, in das
Sorgerecht der Eltern einzugreifen. Darauf folgt ein eigener, didaktischer Arbeitsschritt
der „Sorge-Er-klärung“, die Aufgabe, die Rechercheergebnisse so vorzutragen, dass sie
eine aktivierende Wirkung bei der Familiengruppe entfalten. Aktivierung entsteht
normalerweise dann, wenn einerseits die sorgebegründenden Fakten deutlich benannt
werden, andererseits aber auch das Potential der Familie anerkannt wird.
Erfahrungsgemäß wirkt eine Sorgeerklärung am besten, wenn sie die folgenden Aspekte
berücksichtigt:

1. Fakten: Was geschah an Ermittlungsarbeit und was haben diese Recherchen
ergeben? Das Problem wird präzise und ungeschminkt durch nachprüfbare Fakten und
Geschichten beschrieben. Aufgrund welcher Werte (Gesetze, Fachwissen,
Alltagsnomen) können die Dinge nicht so bleiben wie sie sind und welcher Zeitdruck
besteht?
2. Betroffenheit: Wer seine Sorge erklärt, bringt auch seine eigene affektive

                                                                                      9
Anteilnahme zum Ausdruck. Das ist für ein verwaltungsmäßig agierendes System
ungewöhnlich, aber fachlich hilfreich, weil die emotionale Betroffenheit der Fachkraft
deren Fakten mit einer emotional verstehbaren Bedeutung auflädt und Menschen
Gefühle besser als Fakten verstehen.
3. Verständnis: Die Sorge-Erklärung darf von den Betroffenen nicht als Anklage
verstanden werden können, weil sie dann ihre Energie auf Verteidigung statt auf Lösung
konzentrieren würden. Deswegen ist sie mit Verständnis und Wertschätzung
aufgeladen. Die Betroffenen spüren, dass der Vortragende Sinn in ihren Beweggründen
erkennt und die schwierige Lebenslage sieht, die nicht nur selbstverschuldet ist, sondern
auch durch die Lebensverhältnisse bestimmt wird.
4. Erfolgserwartung: Die SE muss Mut machen. Sie muss eindeutig zeigen, wie
Fachkräfte an die Kompetenz und Vernunft der Betroffenen glauben, diese sogar den
eigenen professionellen Möglichkeiten für überlegen halten. Stärken und Leistungen
aus der Vergangenheit werden benannt und erklärt, warum man der Überzeugung ist,
dass die Familie es damit schaffen wird.
5. Lösungsabstinenz: Die SE sagt nichts zur Lösung, sondern setzt professionelles
Nichtwissen und Ratlosigkeit als Ressource ein, die Kompetenz der Familie
aufzuwerten und Selbsttätigkeit zu mobilisieren. Angebote des Hilfesystems werden nur
grundsätzlich angedeutet: „Sie sollen auch wissen, dass das Jugendamt
Unterstützungsleistungen anbieten kann, auf die Sie ein Recht haben. Wir werden Sie
nicht alleine lassen, wenn Sie beim Planen feststellen, dass Sie an der ein oder anderen
Stelle auch die Hilfe durch Fachkräfte brauchen.“
6. Quick and simple: Insgesamt soll die SE nicht länger als drei Minuten dauern und
sie wirkt ohne Fachjargon (Hilfen, Tagesstruktur, Unterbringung, Träger) am besten.
Die Alltagssprache ist nicht nur leichter verständlich, vor allem konzentriert sie die
Planungen auf alltägliche Leistungen, während die Fachsprache immer implizite
Verweisungszusammenhänge zu professionellen Dienstleistungen herstellt. Die Sorge
muss in einer Versammlung bearbeitbar sein. Wenn mehrere Probleme anliegen,
beschränkt man sich im ersten FR auf das Wichtigste.
7. Auftrag: Bitten Sie am Ende die Familie einen Plan zu machen, indem Sie die
komplette Sorge in einen einzigen Auftragssatz zusammenfassen und den gewünschten
Zustand andeuten: „Ich bitte Sie als Familie einen Plan zu machen, wie Justin Erfolg in
der Schule und im Leben haben kann.“

Danach schließt sich der Vater mit seiner Sorge an. Er erzählt, dass ihm
vielleicht wegen nicht wahrgenommenen Arbeitsterminen eine weitere
Haftstrafe von drei Monaten bevorstehen könnte. Er möchte, dass das im Plan
mit berücksichtigt wird. „Und wir haben die Sorge, dass Justin uns
weggenommen wird.“ Auch das wird auf dem Flipchart festgehalten.

Nach der Sorgeklärung gibt es eine Stärkerunde. Alle Namen der Familie
werden auf Flipcharts geschrieben und die Beteiligten sollen Stärken der
jeweiligen Person aufzählen. Vor allem zu Justin wird viel gesagt:
„Justin, ich finde, dass du viel ruhiger geworden bist. So oft habe ich von
deinem Papa oder aus früheren Berichten alter Schulen die du besucht hast
gehört, dass du regelmäßig Wutanfälle bekommen würdest. Aber ich habe
beobachten können, wie du versucht hast, das in den Griff zu bekommen. Jetzt
gehst du immer eine Weile aus dem Zimmer, wenn du wütend wirst. Das ist

                                                                                      10
wirklich schön mit anzusehen, wie du selbst an dir arbeitest.“, sagt Frau
Schuhmann und schaut liebevoll zu Justin. Er lächelt und schaut zu Boden.
„Und er kann sehr gut mit Kindern umgehen.“, sagt seine große Schwester.
„Und du tust, was man dir sagt. Wenn ich dich beauftrage mehr im Haushalt
mitzuhelfen und zum Beispiel eine Woche den Müll runter zu bringen, dann
machst du das auch.“, sagt sein Vater. In 20 Minuten werden drei Plakate mit
den unterschiedlichsten Stärken der Familie beschrieben. Justins Poster ist
randvoll und er blickt als wäre seine Seele wie die Mannschaft eines Schiffs aus
dem Schiffsbauch an Deck gekommen.

Die Stärkerunde soll sicherstellen, dass die Familie mit ihren Stärken in die exklusive
Familienzeit gehen und auf diese in der Planerstellung zurückgreifen kann. Hinzu
kommt der nicht zu unterschätzende Effekt für die Professionellen: Durch permanente
Problembearbeitungen leidet auch deren Zuversicht und die Stärkerunde kann auch für
sie wie eine Tankstelle wirken.

Die Koordinatorin schließt die erste Phase mit der Wiederholung des Auftrags
und einer Regel ab: „Reden Sie nicht darüber, was war, reden Sie über die
Zukunft. Machen Sie sich keine Vorwürfe, sondern machen Sie einen Plan, der
Hoffnung macht! Brauchen Sie noch etwas von uns bevor Sie unter sich sein
werden?“ Als die Familie verneint, verlassen alle Fachkräfte die Wohnung. Die
Koordination hinterlässt der Familie ihre Karte, zum Anrufen, wenn der Plan
fertig ist oder wenn zwischendurch Fragen auftauchen. Alle haben ein
aufgeregtes Gefühl im Bauch.

Vor der Haustür unterhalten sich die Famlienhelferin und die ASD-Kraft: „Wann
vereinbaren wir die Fachleistungsstunden? Momentan arbeite ich ja nur mit der
Stiefmutter, aber wir können das gern erweitern, so dass wir die Hilfeziele auf
die Familie ausbreiten können“. Frau Vogt antwortet: „In zwei Wochen habe ich
ein Hilfeplangespräch angesetzt, ich schicke Ihnen eine Einladung.“ Die
Koordinatorin schreitet ein: „Frau Vogt, lassen Sie uns doch abwarten, was das
Ergebnis der Familie sein wird. Den Plan, den die Familie heute erstellt und in
dem Sie in der dritten Phase ja noch Einfluss nehmen können, ist doch der
Hilfeplan. Sie brauchen kein eigenes Hilfeplangespräch mehr und es wäre auch
nicht gut weil das den Plan der Familie entwerten würde.“

Die Jugendamtskraft schaut etwas irritiert. Die Koordinatorin hat sich in ihre
Arbeit eingemischt und irgendwie eine Grenze überschritten. Vielleicht wäre das
schlecht ausgegangen, wenn die Koordinatorin nicht noch schnell angefügt
hätte: „Frau Vogt, Sie haben mich doch beauftragt, ein neues
Hilfeplanungsverfahren für die Familie Raabe zu machen, weil die alten
Hilfeplanungsverfahren nicht erfolgreich waren. Als Fachkraft muss ich
dazwischen grätschen, wenn ich merke, dass die Kraft, die jetzt in dieser
Familie entstanden ist, geschwächt werden könnte, wenn dann doch die
Fachleute den Plan machen.“ Frau Vogt denkt nach. „Stimmt schon, aber wir
müssen doch einen Hilfeplan machen.“ „Wir können ja den Plan der Familie so
formulieren, dass er als Hilfeplan gelten kann“ hilft die Koordinatorin und darauf

                                                                                    11
kann sich die Kollegin einlassen, der man anmerkt, dass das kein kleiner Schritt
für sie ist.

Diese Szene ist ein Beispiel dafür, wie schwierig es ist etablierte Routine mit
dem Familienrat so zu verbinden, dass dessen Potential nicht in den
administrativen Vollzügen zerrieben wird. Es geht nicht darum, der Familie in
einem Treffen das Gefühl zu geben, sie könnten ihre Probleme selbst
bearbeiten, sondern das gesamte Planen wird der Familie überlassen und das
Jugendamt setzt den nötigen Rahmen dafür, indem der administrative Ablauf
angepasst wird.

Zwei Stunden später kommt der Anruf: Die Familie ist fertig. Als die
Koordinatorin und Mitarbeiterin des Jugendamtes das Wohnzimmer betreten,
fällt ihnen auf, dass Justins Stärkeposter umgehängt wurde. „Wir fanden das so
toll, das haben wir gleich über sein Bett gehängt.“ Justin strahlt. Die
Koordinatorin und Frau Vogt betreten ein verrauchtes Wohnzimmer und
nehmen auf der großen alten Couch Platz. Die große Schwester stellt den Plan
vor.

Die Schule nimmt sehr viel Platz ein. Herr Raabe und Frau Hansen werden
dafür sorgen, dass Justin jeden Morgen pünktlich zur Schule kommt. Frau Vogt
fragt, was sie denn machen würden, wenn es nicht klappt. Herr Raabe schaut
etwas verdutzt. „Naja“, sagt er, „wir können uns ja dann an die Familienhelferin
wenden um Tipps zu bekommen. Die bleibt doch, oder?“ „Ok, dann sollten wir
die Familienhelferin auch mit auf den Plan schreiben. Was meinen Sie, wie oft
und wie lange Sie die noch brauchen werden?“ Frau Vogt hat das
Pausengespräch sofort umgesetzt und heraus kommt eine Stundenzahl, die sie
auch selbst so im Kopf hatte.

Am Balkonfenster hängt ein Plakat mit nur einem Satz: „Wir wollen einmal in
der Woche einen Familienrat machen.“ Daran wird deutlich, welches
„Handwerkszeug“ der Familie mit dem Familienrat in die Hände gegeben
wurde. Sich zu versammeln, die Dinge zu besprechen, miteinander reden sind
kommunikative Kulturtechniken, die nicht selbstverständlich sind und auch
verloren gehen können, wenn man die Erfahrung macht, dass einem die
Probleme über den Kopf wachsen und Fachkräfte das Wort viel besser
gebrauchen können. Wenn das Hilfesystem eine Familiegruppe versammelt
und mit dem Auftrag nur eine offene Frage formuliert, entsteht daraus eine
soziale Dynamik. Das Problem wirkt fast wie ein Katalysator, der
kommunikative Verbindungen schafft. Das Problem wird wertvoll, weil es der
Anlass zum Reden ist und eine Problem-Gemeinschaft erzeugt.            Die
Familiegruppe erlebt sich als Verbund. Die Einzelnen merken, sie gehören
mehr zusammen als gedacht, sie können sich helfen und Helfen schafft
Anerkennung.

Auf dem dritten Flipchart an der Balkontür steht was die Familie nicht will:
„Justin soll bei uns bleiben. Hier ist sein Zuhause.“ Frau Vogt hakt nach. „Frau
Hansen bedeutet das, dass Justin bei Ihnen bleiben kann, wenn Herr Raabe

                                                                             12
noch mal in Haft muss?“ Frau Hansen wirkt entschlossen: „Ja, auf jeden Fall.
Justin ist wie ein Sohn für mich.“ Frau Vogt schaut Justin an: „Was sagst du
dazu, Justin?“ Alle Augen sind aufmerksam auf den Jungen gerichtet. Er sitzt
noch immer zwischen seinem Vater und Frau Hansen. Im Schneidersitz, die
Knie nach oben gewinkelt, stützt er seine Ellbogen ab und schaut zu Boden.
Seine Stimme ist klar und deutlich: „Ich will das auch. Ich mag Sylvia sehr. Und
ich will hier bleiben.“, Justin atmet tief und schwer durch, alle Anwesenden
halten den Atem an. Es ist für alle Teilnehmenden das erste Mal, dass sie
Justin so standfest und überzeugt reden hören: „Wenn ich je wieder in ein Heim
muss, dann haue ich ab und keiner wird wissen, wo ich bin.“, Justin macht noch
eine Pause, seine große Schwester gibt ein sorgenvolles Seufzen von sich.
Herr Raabe legt seinen Arm um Justins Schulter. Er muss sich
zusammenreißen. Tränen stehen dem Vater in den Augen, während Justin mit
den Worten:“ Ich komme nicht wieder. Das schwöre ich.“, endet.
Justins Botschaft scheint angekommen zu sein. Die Koordinatorin und Frau
Vogt sind sichtlich mitgenommen. Justins Botschaft ist angekommen. Sie gilt
auch dem Vater und der Stiefmutter und allen.“ Keine leeren Versprechungen
mehr! Haltet euer Wort! Ich will hier bleiben.“

Frau Vogt sagt schnell, wie sehr es auch ihr Wunsch ist, dass er bei seiner
Familie leben kann. Der Plan gäbe ihr Hoffnung. Sie wünscht der Familie, dass
sie es schaffen. Das könnte ein pathetisches Schlusswort sein, doch die
Koordinatorin holt alle noch einmal auf die operative Ebene herunter: Es wird
aufgeschrieben, wer was tut und wer mit dem Jugendamt in Kontakt bleibt, um
Frau Vogt auf dem Laufenden zu halten, wann der Folgerat stattfinden wird.
Nach vier Stunden ist dann der Rat beendet.

Folgerat: Zur Überprüfung und Optimierung des aufgestellten Planes wird beim
Familienrat gleich ein Folgerat vereinbart, oft im Abstand von drei Monaten, aber stets
abhängig davon, was die Familiengruppe und die Fachkraft des Jugendamtes angesichts
des vorliegenden Planes für angemessen halten. Wenn sich Mitglieder der des Rates
unsicher sind, ob bestimmte wichtige Planungen funktionieren werden, wird ein kurzer
Zeitabstand vereinbart, wenn alle zuversichtlich sind, trifft man sich in drei Monaten
wieder.

 Der Folgerat hat mehrere Funktionen:
1. Würdigung der Erfolge. Das ist der erste Tagessordnungspunkt, von dem das
Aktivierungspotential für alles Weitere abhängt. Es muss herausgestellt werden, was
gelungen ist und dass dies das Verdient des familären Engagement und der neuen
Kooperation war.

2. Ausgehend von dieser Anerkennung, wird thematisiert, was nicht funktioniert hat.
Wenig Pläne (professionelle wie lebensweltliche) klappen schon bei ersten Mal
reibungslos. Komplex soziale Probleme sind meist nur durch Versuch und Irrtum zu
bearbeiten. Deswegen wird im Folgerat ausgelotet, was besser und schlechter
funktioniert hat, wovon man mehr und wovon man weniger machen sollte, welche
neuen Ideen zu Planverbesserung den Beteiligten gekommen sind.

                                                                                    13
3. hat der Folgerat die Aufgabe weitere Sorgen, die aus Sicht des Jugendamtes
bearbeiten werden sollten, einzubringen. Der erste Familienrat ist erfolgreicher wenn
man sich auf ein wesentliches Problem konzentriert um die Planungsaufgabe
überschaubar zu halten. Im Folgerat kann die Familiengruppe bereits auf Erfolge
zurückblicken.

4. Schließlich soll der Folgerat – dies ist der schwierigste Punkt – auch den Auftakt zu
einer gewissen Ritualisierung des Versammelns sein. Der vielzitierte Satz, wonach man
ein ganzes Dorf für die Erziehung des Nachwuchses braucht, legt nahe, Familienräte zu
einem regelmäßigen Ritual der Familiengruppe zu machen. Wenn es gelingt, dass durch
das gemeinsame Treffen und Planen Erfolge sichtbar werden und die Versammlungen
auch als ein angenehmer sozialer Event erlebt werden, kann durch den Familienrat eine
soziale Infrastruktur (re)etabliert werden, die enorm stabilisierende Wirkungen hat, weil
dann eben nicht nur Erziehungsprobleme bearbeitet werden, sondern das Soziale
gestärkt wird. Eine Ritualisierung des Versammelns kommt noch nicht durch einen
einzigen Familienrat zustande und es könnte eine professionelle Aufgabe des
Jugendamtes sein, diese Versammlungen über eine längeren Zeitraum hinweg immer
wieder mit zu initiieren und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass die Versammelten bei den
Treffen ein stärkendes soziales Erlebnis haben.

Frau Vogt verabschiedet sich bei der Koordinatorin mit folgenden Worten: „Das
war ein berufliches Highlight. Ich bin wirklich gespannt, was die Familie daraus
macht. Dass sich Justin so lange beteiligt hat und die ganze Zeit konzentriert
war, habe ich in keinem Hilfeplangespräch erlebt.“ Sie hat Recht: Für einen
Jungen, der als nur zwei Stunden beschulbar gilt, ist es fast ein Wunder, sich
vier geschlagene Stunden an Erwachsenengesprächen zu beteiligen. Es ist, als
hätte Justin intuitiv den Ernst der Sache und die große Chance gespürt und als
ob die Problemgemeinschaft eine heilsame Wirkung auf ihn hatte. Justin wird
wahrscheinlich nie ein leichtes Leben haben. Aber heute wurde ihm zugehört,
seine Leute haben ihm etwas zugetraut und heute hat er dazugehört.

Fortsetzung

Mit dem Familienrat haben sich die Probleme der Familie Raabe-Hansen nicht
in Luft aufgelöst. Nach drei Monaten fand der Folgerat statt. Es gab einen
Vorfall in der Schule. Justin hat einen Mitschüler gebissen und wurde für drei
Monate „beurlaubt“. Diese sind jetzt aber bald um und Justin freut sich auf die
Schule - sein Vater auch. Seit neun Monaten, seitdem er beim Vater lebt, ist er
nicht mehr straffällig geworden und die Familie berichtet von einem
angenehmen Zusammenleben. Allerdings gibt es ein neues Problem. Justins
Mutter hat sich beim Jugendamt gemeldet. Ihr Mann hätte die große Tochter
geschlagen und Justin soll zurück zu ihr. Jetzt rächt sich, dass man sie beim
Familienrat vergessen hatte und wie die dreizehnte Fee in Dornröschen, die
nicht eingeladen wurde, spricht sie jetzt ihren berechtigten, unheilvollen Ärger
aus. Es braucht einen weiteren Familienrat…

                                                                                      14
Justins Situation ist ein Beispiel dafür, dass es eine gemeinschaftsstärkenden
Prozess braucht, um einen jungen Menschen den Halt zu geben, den die
institutionalisierte Erziehungshilfe in diesem Fall nicht bieten konnte. Diese
Methoden werden als „restorative“, deutsch „restaurativ“ 2bezeichnet, weil sie
eine Orientierung auf traditionale Gemeinschaftsprozesse „wieder herstellen“,
die in der modernen Sozialarbeit verloren gegangen sind. Dazu wird ein
Spielraum geschaffen, der staatliches Handeln für bürgerschaftliches Handeln
öffnet. Der Kreis der Beteiligten aus Verwandtschaft, Freundschaft,
Nachbarschaft wird so weit wie irgend möglich gezogen und diese Gruppe der
Planenden werden mit Entscheidungsrechten ausgestattet. Dadurch soll
staatliches Handeln besser in Einklang mit lebensweltlichen Gepflogenheiten
gebracht werden und der professionellen Arbeit auch die Versammlung und
Stärkung von Gemeinschaften als Aufgabe zugeschrieben werden.

2
 Der Fachdiskurs um Restorative Social Work entspringt der international gebräuchlichen
Gerechtigkeitstheorie "Restorative justice", die sich nicht auf die Bestrafung krimineller
Handlungen, sondern auf die Wiedergutmachung des Schaden konzentriert und dabei versucht,
alle unmittelbar und viele mittelbar Betroffenen einzubeziehen sowie die formalen Verfahren
des Justizsystems für solche kooperativen Prozesse zu öffnen. Modellbildend sind dabei
Problemlösungsverfahren aus Stammesgesellschaften. Restorative Social Work erweitert den
Einsatz dieses Prinzips auf andere Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit. "Restore" bezieht sich
dabei auf die "Wiederherstellung" des Betroffenen, genauso wie auf die Wiederherstellung der
Zuständigkeiten von Bürgern, ihre Angelegenheiten selbst und in partikularer Weise zu
regulieren, aus denen sie durch expertendominierte, universalistische Verfahren verdrängt
wurden. Weil restaurative Verfahren den Kreis der Adressaten deutlich erweitern und deren
Zusammenwirken anregen, entstehen mehr gemeinschaftsbildende, inklusive Effekte als in
administrativen und professionellen Problemlösungsverfahren. Der "Legitimation durch
Verfahren" wird eine "Legitimation durch Gemeinschaft" gegenübergestellt, die die Funktion des
Staates und seiner Experten darauf begrenzt, Grundlagen für restaurative Prozesse zu
schaffen. (vgl. Costello, Bob / Wachtel, Joshua / Wachtel, Ted (2009): The Restorative
Practices Handbook, Bethlehem, PA; Früchtel; Frank (2011): Muss Strafe sein? Gerechtigkeit
geht (auch) anders! Eine Einführung in Restorative Social Work, in: Sozialmagazin, 36/1, S. 34
– 42)

                                                                                           15
Sie können auch lesen