Kaihō - Deutsch-Japanische Gesellschaft in Bayern eV
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Kaihō März/April 2021 Baum der Hoffnung (Kibo no matsu), Ribuzentaka Aufnahme Dr. Oliver Schön Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 1
Liebe Mitglieder und Freunde der DJG in Bayern, Diesen Mitgliederbrief möchte ich nutzen, um an die Naturkatastrophe vom 11. März 2011 zu erinnern. Ein schweres Erdbeben etwas nördlich von Tokyo hat einen schweren Tsunami ausgelöst, der nicht nur weite Teile der Küste zerstört und etwa 20.000 Menschen getötet hat, sondern auch die technischen Systeme des Atom- komplexes in Fukushima derart beschädigte, dass es zu einem atomaren Super-GAU gekommen ist. In der deutschen Öffentlichkeit war der Schwerpunkt der Wahrnehmung auf den Atomunfall gerichtet, und deshalb wurde über die schlimme Situation in den durch den Tsunami betroffenen Gebieten nur sehr wenig berichtet. Wir haben stets ver- sucht, unsere Mitglieder mit den erforderlichen Informationen zu versorgen. Besonders wichtig war im Jahr 2014 ein Vortrag von Amiya Miller, damals eine Mitarbeiterin der Stadt Rikuzentakata, die über die Situation in der betroffenen Region berichtet hat. Die DJG Bayern hat seit der Katastrophe eine besondere Beziehung zu Rikuzentakata. In die Stadt ist ein Großteil der damals gesammelten Spenden ist in die Stadt gegeben worden, um dort die Kinder zu unterstützen, die einen oder beide Elternteile verloren haben. Ich kann mich noch sehr gut an meinen ersten Besuch im Jahr 2012 erinnern. Das Ausmaß der Zerstörung war niederschlagend und hat alles übertroffen, was ich mir im Vorfeld vorgestellt hatte. Ganz anders war das Bild, welches sich bei meinem zweiten Besuch im Jahr 2019 bot. Obwohl noch überall Bauarbeiten zu sehen waren, konnte deutlich wahrgenommen werden, dass das Leben wieder in die Stadt zurückgekehrt ist. Damals wurde gerade eine große Gedenkstätte eröffnet, die insbesondere auch viele Touristen in die Region locken sollte. Die ersten Reaktionen waren sehr positiv, und es war wirklich zu hoffen, dass sich Rikuzentakata – trotz aller verbleibender Probleme – in eine bessere Zukunft entwickeln wird. Wir werden dies weiter beobachten und Sie darüber auch in der Zukunft informieren. In diesem Jahr wird der 160. Jahrestag der Beziehungen zwischen Deutschland und Japan gefeiert. Bislang gab es diesbezüglich, bedingt durch Corona, nur wenige Veranstaltungen, aber zumindest für die letzten zehn Jahre dürfte der Begriff „Fukushima“ sicherlich die zentrale Bedeutung einnehmen. Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre dieser Ausgabe unseres Mitglieder- magazins. Ich denke, dass es wieder sehr viele abwechslungsreiche Berichte gibt, und an dieser Stelle möchte ich Sie auch bitten, dass Sie mit uns Kontakt aufnehmen, wenn Sie vielleicht selber mitarbeiten wollen oder aber Verbesserungswünsche haben. Ich denke, dass sich die Verantwortlichen alle über Rückmeldungen, wie Ihnen das Kaiho gefällt, freuen würden. Mit freundlichen Grüßen Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 3
Programm Wiederaufbau nach der Zeit: Donnerstag, 11.03.2021 um 19.00 Uhr Katastrophe Link zur Veranstaltung (siehe Seite 8) Japanischer Gesprächskreis Zeit: Donnerstag, 18.03.2021 um 19.00 Uhr Ort: Zoom—Japanischer Diskussionskreis Haiku Kreis Zeit: Donnerstag, 25.03.2021 um 18:30 Uhr Ort: Zoom Haiku Treffen Mail-Haiku-Einsendeschluss Zeit: bis Donnerstag, 25.03.2021 Thema: Mail-Haiku-Treffen Japanischer Gesprächskreis Zeit: Donnerstag, 15.04.2021 um 19.00 Uhr Ort: Zoom—Japanischer Diskussionskreis Haiku Kreis Zeit: Donnerstag, 22.04.2021 um 18:30 Uhr Ort: Zoom Haiku Treffen Mail-Haiku-Einsendeschluss Zeit: bis Donnerstag, 22.04.2021 Thema: Mail-Haiku-Treffen ____________________________________________ Anmerkung: Die Aufnahme auf der Umschlagsseite von Dr. Oliver Schön aus dem Jahr 2012 zeigt eine Pinie am Ufer in Rikuzentakata. Etwa 70.000 Bäume umfasste dort einst ein Pinienwald. Der Tsunami riss nicht nur die Ortschaft mit sich, sondern auch den gesamten Wald – bis auf einen einzigen Baum. Diese überlebende Pinie, die als “Kiseki no ippon matsu” (奇跡の一本松), als „einzelner wundersamer Baum“ bekannt wurde, gab den Katastrophenopfern die Zuversicht, wie dieser Baum überleben zu können.In ganz Japan ist diese Pinie zu einem Symbol der Hoffnung und Zuversicht geworden. Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 4
„陸前高田市“ Rikuzentakata Beitrag von Susanna Wellenberg Vor zehn Jahren kam es zu der Dreifach-Katastrophe in Japan, und seither konnte ich – abgesehen vom Jahr 2020 – jedes Jahr wieder nach Rikuzentakata zurück- zukehren und die Entwicklung mit eigenen Augen sehen. Fakten werden immer wieder in den Medien beschrieben, deshalb möchte ich mich auf Erinnerungen an persönliche Begegnungen beschränken. 2011 Mein erster Besuch war im November 2011. An einem richtigen Herbsttag mit Schneeregen, kalt und grau, ging es mit dem Bus von Sendai Richtung Rikuzentakata. Endstation war die provisorische City Hall, eine Ansammlung von Containern, die über mehrere Jahre hinaus ihren Zweck erfüllen musste. Dort wuselten sehr viele junge Leute herum, die von den anderen Präfekturen entsandt waren, um wieder eine funktionierende Verwal- tung aufzubauen. Obwohl alle sehr beschäftigt waren, kümmerte man sich sehr nett um die komische Deutsche mit ihrem japanischen Be- gleiter, die mit Origami ein wenig Freude bringen wollten. Selbst der Deputy Mayor hatte seine Abreise nach Tokyo verschoben, weil er mich begrüßen wollte. Es sollte der Anfang einer wunderbaren Freundschaft werden. In der Schule wurden wir schon erwartet zum Lunch mit Schülern, und dann ging es auch gleich ans Falten. Man konnte fast vergessen, dass jeder Blick aus dem Fenster einen an die Katastrophe erinnerte: nichts als Trümmer. In der Abenddämmerung ging es dann noch zu Ippon Matsu, der einzigen Kiefer, die den Tsunami über- standen hatte und zu einem Symbol der Katastrophe wurde. Mit großem Gerät versuchte man immer noch der Unmengen von Schutt und Trümmern Herr zu werden, aber wenn einer der Arbeiter einen bestimmten Bereich betrat, verharrte er in stillem Gebet. Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 5
Rückblickend hat mich am meisten beeindruckt, mit welcher Würde die Menschen ihr Schicksal trugen und gleichzeitig einer Fremden mit soviel Wohl- wollen und Sorge um ihr Wohl entgegentraten. Und dieses Gefühl bestätigte sich Jahr für Jahr wieder, wenn ich dorthin kam. 2012-2019 Äußerlich änderte sich nur sehr langsam etwas. Auch in den ersten Jahren danach war immer noch unglaublich viel Schutt zu sehen. Schon im zweiten Jahr hatte man sich aber soweit organisiert, dass es in den Not- unterkünften Gemeinschaftsräume und Küchen gab, so dass ich nun auch dort Origami falten und mit vielen Teilnehmern deutsch kochen konnte. Wieder war ich äußerst beeindruckt, wie jeder mit einbezogen wurde. In den folgenden Jahren ging das soweit, dass Menschen, die inzwischen in anderen Einrichtungen ein neues Zu- hause gefunden hatten, extra mit dem Auto geholt wur- den, damit wir uns wiedersehen konnten. Jeder hatte ein Dach über dem Kopf, es fehlte nicht an Nahrung, aber nachdem die meisten Freiwilligen nach ein oder zwei Jahren nicht mehr vor Ort waren, konnte man merken, dass ein großes Bedürfnis nach menschlichen Kontakten bestand auch nach außerhalb. Ein ganz besonderes Erlebnis war auch, als sich plötzlich nach einem gemeinsam gekochten Essen eine der Teilnehmerinnen sich erhob und ein bekanntes Lied sang, dessen Text sie für mich geändert hatte. Und dann kam das Überraschendste: Alle fingen an, den lokalen Volkstanz aufzuführen – man sagte mir später, dass es das erste Mal seit der Katastrophe sei. So konnte man erken-nen, dass wieder - wenn auch nur in ganz kleinen Schritten - ein wenig Normalität und vielleicht sogar Lebensfreude aufkam. Im Laufe der Zeit gab es dann noch viele Begegnungen in verschiedensten Ein- richtungen und auch privat. Einige davon sind mir in besonderer Erinnerung geblieben. Eines Abends saß ich bei (inwischen) Freunden mit dem Hausherrn am Esstisch und er bereitete mir eine Schale Tee. Dann kam er ins Erzählen und beschrieb mir so anschaulich die Stunden der Katastrophe, dass ich eine Gänse- haut bekam. Sein Haus lag auf einem Hügel und acht Jahre zuvor war der Tsunami bis an seine Grundstücksgrenze gestiegen. Sein Nachbar, dessen Haus nur wenig tiefer lag, hatte es nicht mehr geschafft. Er selbst hatte alles aufge- schrieben, aber bisher hatte er es niemandem außerhalb der Familie gezeigt. Erst jetzt war er bereit dazu. Bereits bei meinem dritten Besuch gingen wir in ein kleines Restaurant mit Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 6
exzellentem Essen und zwei wunderbaren nicht mehr ganz jungen Damen als Bedienung. Das Restaurant hatte an anderer Stelle schon früher bestanden und war völlig zerstört worden. Sein Besitzer kam ums Leben und es wäre nur noch Geschichte gewesen. Dann allerdings entschied sich der Bruder des damaligen Besitzers dazu, selbst das Kochen zu lernen und das Restaurant wieder zu eröffnen, damit auch die Angestellten weiterarbeiten könnten. Dann ist da noch die Geschichte der lokalen Sake Brauerei. Sie wurde vollkommen zerstört, und der Besitzer wollte zuerst einfach nur weg. Dann aber entschied er sich, der Tradition und seinen überlebenden Mitarbeitern verpflichtet, einen Weg zu finden, die Brauerei wieder aufleben zu lassen. Ein Wiederaufbau an alter Stelle war undenkbar, also ging man in den nächsten Ort – sozusagen an die Rückseite des Berges, aus dem man das Wasser gewonnen hatte. Dort baute man dann eine neue Brauerei auf, und es zeigte sich ein weiteres Mal, wie die Menschen zusammenhielten: Bis die neue Brauerei wiedereröffnet werden konnte, stellte eine Brauerei im weit entfernten Ichinoseki ihre Braustätte zur Mitnutzung zur Verfügung. In der Nähe des alten Stadtzentrums entstand nach einigen Jahren dann ein Einkaufszentrum für viele neue, kleine Geschäfte. Anlässlich der Eröffnung lud mich der Trainer der Jugendfußballmannschaft, die von Adidas nach Deutschland eingeladen worden war und die ich bei der Gelegenheit kennengelernt hatte, zu einem Mittagessen ein. Inzwischen waren aus fast allen der „Jungs“ Studenten geworden, die überall im Land Universitäten besuchten. Seine Frau schickte, während wir auf unser Essen warteten, eine Nachricht an alle, und noch bevor wir mit dem Essen fertig waren, hatten fast alle geantwortet. Es war wunderbar zu hören, dass alle inzwischen ihren Weg machen. Und dann gab es da noch das Dorf in den Bergen. Es ist sehr abgelegen und fast alle Bewohner sind über 80 Jahre alt. Auf dem Weg dorthin kamen wir an einer Tankstelle vorbei. Vom Meer war schon lange nichts mehr zu sehen, und doch entdeckte ich an der Oberkante des Gebäudes die Markierung, bis zu der damals der Tsunami geflutet war. Es war irgendwie surreal… Im Dorf selbst traf ich dann die Bewohner. Und auch hier wurde ich verabschiedet mit der Bitte, bald wieder zu kommen. Beim folgenden Besuch hatten sie dann eine „Dokumentation“ für mich vorbereitet und erzählten von ihren Erlebnissen und Bräuchen. Ein alter Herr hatte extra ein paar Mini-Strohsandalen gemacht, so wie er sie in seiner Kindheit für den Schulweg trug. Beim dritten Mal gab es dann ein richtiges Fest: Eine Bewohnerin Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 7
war früher Tanzlehrerin und so hatte man traditionelle Tänze der Gegend vorbereitet und als Überraschung noch ein Mochitsuke (Mochi Pounding). Es zeigte sich einmal mehr, dass zwar viele alle materiellen Erinnerungen wie Bilder verloren hatten, aber die guten Erinnerungen im Kopf an die Zeit vor der Katastrophe möchte man teilen. Besucher sollen nicht nur in Erinnerung behalten, wie gebeutelt dieses Gebiet und seine Menschen sind, sondern dass es hier besonders schön war. Inzwischen sind viele neue Bauten entstanden: der riesige Schutzwall am Meer, die Gedenkstätte, das Einkaufs- zentrum, das neue „alte“ Hotel, eine neue City Hall. In einigen mehrstöckigen großen Gebäuden leben inzwischen viele der Menschen, die die ersten Jahre nach der Katastrophe in den Notunterkünften verbracht haben. Was geblieben ist, sind die Erinnerungen. Bei meinem Besuch 2018 hatte ich dann auch das erste Mal das Gefühl, dass hier wieder eine neue Stadt entsteht, eine gewisse Normalität eintritt. Gleichzeitig ist aber auch klar, dass es noch sehr, sehr lange brauchen wird. Das neu erbaute Museum soll die Erinnerungen wachhalten und auch vermitteln, wie es in der Zeit der Katstrophe und danach aussah. Als ich bei einem Besuch dort andere Gäste beobachten konnte, die das erste Mal in Rikuzentakata waren, war das ein sehr merkwürdiges Gefühl: da waren Schaustücke und Bilder, die sicher einen Eindruck vermitteln konnten, aber gleichzeitig wurde mir die Diskrepanz be- wusst zwischen dieser „schönen“ Darstellung und der Realität, die ich immer wieder erlebt hatte. Trotzdem sollten Sie, wenn Sie einmal nach Japan reisen, die Gegend besuchen und sich selbst ein Bild machen. Sie werden wunderschöne Natur erleben, köstliches Essen finden und ganz besondere Menschen treffen. „Zum Stand des Wiederaufbaus in Nordostjapan 10 Jahre nach der Dreifach-Katastrophe vom 11. März 2011„ Vortrag von Herrn Dr. Frank Bose Zeit: Donnerstag, 15.3. um 19:00 Uhr Link: https://www.djg-berlin.de/events/zum-stand-des-wiederaufbaus-in- nordostjapan-10-jahre-nach-der-dreifach-katastrophe-vom-11-maerz-2011/ Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 8
„Disziplin und Solidarität“ Bausteine im Krisenmanagement Beitrag von Dr. Leonard Meyer zu Brickwedde In den siebzehn Jahren, die ich damals schon in Japan lebte, hatte es niemals ein Erdbeben von dieser ungeheuren Stärke gegeben wie am 11. März 2011 um 14.46 Uhr. In den Dörfern und Städten an der nordöstlichen Küste heulten die Alarmsirenen auf. Nur zwanzig Minuten später überschwemmte ein bis zu vierzig Meter hoher Tsunami Häfen und Strände und schob Autos, Häuser und Schiffe kilometertief landeinwärts. Über 18.000 Menschen starben. Wer die Bilder dieser Naturgewalten gesehen hat, wird sie niemals vergessen. Genauso tief hat sich mir jedoch ins Gedächtnis gebrannt, wie diszipliniert und solidarisch die Japaner auf diese Katastrophe reagierten. In den Tsunami-Gebieten retteten sich viele Anwohner auf Anhöhen, wie sie es schon in der Schule gelernt hatten, und sammelten sich gefasst in öffentlichen Gebäuden und Hallen als Notunterkünften. In der Hauptstadt Tokio blieben alle Bahnen stehen, der Verkehr stockte, der Strom fiel aus. Ständige kräftige Nachbeben schürten die Sorge um Familie und Freunde, aber die Menschen bewegten sich besonnen und ruhig. Man lief zu Fuß nach Hause, auch wenn es Stunden dauerte, viele kauften sich ein Fahrrad für den Heimweg! Geschäfte und Restaurants hielten ihre Türen für die Vorbeiziehenden offen, ließen sie die Toiletten benutzen und versorgten sie mit Getränken. Wenn ich heute gefragt werde, wie diese Katastrophe das Land verändert hat, dann lautet meine Antwort: Die Japaner haben in diesen zehn Jahren sich selbst und der Welt bewiesen, dass sie solche Krisen überstehen und managen können. Die Erfahrungen aus der damaligen Zeit haben mein Vertrauen in das japanische Vermögen gestärkt, extreme Herausforderungen anzunehmen und richtige Antworten zu finden. Als Beispiel fällt mir ein, dass die Regierung dazu auf- forderte, fünfzehn Prozent weniger Strom zu verbrauchen, mit dem Ergebnis, dass Firmen und private Haushalte den Verbrauch in kurzer Zeit um dreißig Prozent senkten. Sicher, aus deutscher Perspektive lief das Krisenmanagement gerade in den ersten Tagen nicht glatt. Die unklare Kommunikation des Nuklearunfalls im AKW Fukushima sorgte für Irritationen. Im Nachhinein muss man der Regierung von Premierminister Naoto Kan jedoch zugutehalten, dass niemand genau wusste, was sich in den Reaktoren abspielte. Außerdem wollte man einen Massenexodus aus dem Großraum Tokio vermeiden und verzichtete auf unnötige Spekulationen, wie es in den internationalen Medien passierte. Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 9
Für diejenigen Deutschen, die sich entschieden hatten, bei ihren Teams und Mitarbeitern in Tokyo zu bleiben und gemeinsam, aufmerksam beobachtend, die durch das Erdbeben entstandenen Schäden aufzuarbeiten, bestand die größte Herausforderung darin, diese Entscheidung ihren Familienangehörigen in Deutschland zu erklären, die von ständig neuen und extremen Szenarien zu Fukushima beunruhigt waren. Die Reaktoren in Fukushima, die durch den Ausfall der Stromversorgung komplett isoliert waren, sind tatsächlich nie verlassen worden. Eine zunächst kleine Gruppe von Mitarbeitern versuchte zunächst verzweifelt aber schon bald, trotz der lebens- gefährlichen Situation im Kraftwerk unterstützt von weiteren Hundertschaften Frei- williger der Feuerwehren aus Tokyo und Osaka, Mitarbeitern des Betreibers Tepco und anderer Elektrokonzerne, den Schaden in Grenzen zu halten. Nach zehn Tagen war es gelungen, das Kraftwerk wieder an die Stromversorgung anzuschließen. Die Bedrohung war damit noch lange nicht abgewandt, aber die Arbeit daran hatte ab jetzt den Charakter eines Projektes, das Schritt für Schritt weiter entwickelt wird. Der Fokus vieler Auslandsmedien auf die Ereignisse in Fukushima und oft sensa- tionell aufbereitete, nicht ortskundige Informationen verursachten ganz offensicht- liche Fehlentscheidungen. So stellte beispielsweise eine der größten deutschen Immobilien-Fondsgesellschaften vorübergehend die Rücknahme und den Verkauf neuer Anteile an ihrem Global Immobilienfonds mit der Begründung ein, man könnte aufgrund der Situation in Fukushima die Fondsobjekte in Tokyo (damals vierzehn Prozent des Fondsvermögens) nicht mehr bewerten. Tatsächlich haben, wie die Grafik zeigt, Immobilien in Tokio in den Monaten unmittelbar nach dem Erdbeben nicht an Wert verloren. Wenn ich heute in einer Zeit, in der Japan aufgrund der Corona-Pandemie erneut in einer Krise steckt, an die Monate nach dem Erdbeben im März 2011 zurückdenke, dann fallen mir wieder die beschriebenen speziellen Eigenschaften von Japan auf, die dem Land und den Menschen schon damals geholfen haben. Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 10
Als Anfang 2020 die Nachrichten über die Verbreitung eines neuen Virus in China kamen, stellten sich die Menschen unmittelbar und geschlossen um. Gesichtsmasken werden in Japan schon immer zur Grippezeit in Spätwinter und als Schutz gegen Heuschnupfen durch Zedernpollen im Frühjahr häufig getragen. Nun sah man diese durchgängig. Die Geschäfte und Unternehmen stellten Desinfektionsmittel in Büros und an Eingängen auf. Im Ergebnis hatte Japan so nicht nur einen im Vergleich zu Deutschland relativ milden Infektionsverlauf während der ersten Welle. Auch die Zahl der Grippefälle sank um mehr als siebzig Prozent gegenüber den Vorjahren. Japan musste keinen Lockdown verordnen. Die Aufforderung an Unternehmen, die Büropräsenz durch Förderung von Home Office-Arbeit zu verringern und die Bitte um verkürzte Öffnungszeiten von Restaurants und Bars reichten aus, um im Frühjahr 2020 und erneut auch jetzt wieder in der dritten Welle die Neuinfektionen zurückzudrängen. Medienberichte aus Deutschland und anderen Ländern über Proteste gegen „Freiheitsberaubung“ durch Maskenpflicht werden hier einfach nicht verstanden. Den Schutz anderer, das Gemeinwohl versteht jeder Bürger als Pflicht. Es passt in dieses Bild, dass Unternehmen wie Toyota tausende Mitarbeiter von Unternehmen übernehmen, die unter den Auswirkungen der Corona-Pandemie den Betrieb stark reduzieren müssen. Im Falle von Toyota handelt es sich im großen Stil um Mitarbeiter von Mitsubishi Heavy Industry, deren Flugzeugproduktion eingebrochen ist. Überall zeigt sich: Japan lebt seit Jahrtausenden mit der Bedrohung durch Erdbeben, Tsunami und Taifune und ist im Krisenmanagement geübt und geprüft. Das Land kann sich auf seine Kerncharaktereigenschaften Disziplin und Solidarität verlassen, heute in der Pandemie genauso wie 2011 nach dem schweren Erdbeben. FRÜHLINGS-HAIKU Lange auf die Sterne am Himmel schauen. Milde Frühjahrsnacht heute. Inge Johnson Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 11
„Akiya 空き家“ Ursachen und Maßnahmen zu leer stehenden Wohnhäusern in Japan Beitrag von Dr. med Ernst Engelmayr MBA Die folgenden Ausführungen basieren auf der gleichnamigen Seminararbeit, die Anna Rike Grauvogl, Studentin (Master) Japanologie, am Japan-Zentrum der LMU, im Rahmen des Seminars „Japan als Entschleunigungsgesellschaft? Phänomene, Diskurse und Praktiken in der japanischen Gegenwartsgesell- schaft“ (Leitung Prof. Dr. Evelyn Schulz, Sommersemester 2020) verfasste. Die Aufbereitung des Materials für den vorliegenden Beitrag erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin und tatkräftiger Unterstützung von Frau Prof. Evelyn Schulz. Japans Bevölkerung schrumpft deutlich! In den Statistiken zur Überalterung der Gesellschaft und im Hinblick auf die damit verbundenen ungünstigen demographischen Entwicklungen belegt Japan einen Spitzenplatz. Das Bevölkerungswachstum Japans erreichte um das Jahr 2010 mit 128.057 Millionen Einwohnern seinen Höhepunkt. Seitdem nimmt die Bevölkerung Japans kontinuierlich ab. Laut einer Statistik des Statistics Bureau of Japan 総務省統計局 aus dem Jahr 2018 war die Bevölkerung Japans in jenem Jahr bereits auf 126.443.000 Menschen zurückgegangen. Die weitere Entwicklung lässt keinen Zweifel daran, dass dieser Trend der Bevölkerungsabnahme weiter anhält. Schätzungen des National Institute for Population and Social Security Research 日 本の将来推計人口 zufolge könnte Japans Bevölkerung im Jahr 2060 nur noch etwa 87 Millionen betragen. Dieser Wert deckt sich mit der Schätzung, dass die Gesamtbevölkerung Japans in etwa 40 Jahren auf unter 90 Millionen Menschen und nach weiteren 100 Jahren auf einen Tiefpunkt von 50 Millionen Menschen fallen wird. Demographisch zählt Japan zu einem der „ältesten Länder“! Gegenwärtig sind 25% der Bevölkerung 65 Jahre und älter, weshalb Japan auch als „hyper-aged society“ bezeichnet wird. Dazu kommt, dass die Geburtenrate in Japan sehr gering ist: im Jahr 2016 lag sie bei 1,44. Auch das führt dazu, dass die Gesellschaft Japans weiter schrumpft. Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 12
Landflucht verändert die Gesellschaft und sorgt für Probleme! Ein weiteres weltweites gesellschaftspolitisches Problem, das auch in Japan von großer Relevanz ist, ist die Landflucht: Junge Menschen drängen immer mehr in die Städte, vor allem in die großen Metropolen. So gibt es auch in bayerischen Regionen, z.B. Oberfranken und Oberpfalz, „sterbende Dörfer“. Die Jungen sind weg, zurück bleiben nur die Alten. Dies führt zu dem Problem der „leerstehenden Häuser“ (jap.: akiya 空き家). In Deutschland sind diese bisher nur eine Randerscheinung, in Japan hingegen sind sie bereits ein seit längerem bekanntes Problem. Offiziellen Daten des Statistics Bureau of Japan zu „Dwellings by Occupancy Status (2003 to 2018)“ 居住世帯の有無別住宅数(平成15~30 年) zufolge gab es 2018 in Japan 8,46 Millionen Akiya, was einem Anteil unter den Wohn- gebäuden von 13,6% entspricht. Dieser Wert bezieht sich auf ganz Japan, wobei es große regionale Unterschiede gibt. Beispielsweise war 2013 die Präfektur Yamanashi 山梨県 mit 17,2% die Präfektur mit dem größten Anteil von Akiya und die Präfektur Miyagi 宮城県 mit 9,1% die mit dem geringsten. In Tokio betrug der Anteil der Akiya unter den Behausungen ebenso überraschenderweise 11,1%, was ein vergleichsweise hoher Wert ist. In einem „stabilen“ Wohnungsmarkt gelten 1% bis 5% Leerstandrate als normal und förderlich. In Deutschland liegt die Zahl der leer stehenden bzw. verlassenen Häuser in den Großstädten München und Hamburg bei 0,6% und 0,7%, wohingegen der Anteil im östlichen Deutschland, die Hauptstadt ausgeschlossen, bei 6,5% liegt. Worin liegen die Gründe für diese Entwicklung in Japan? Einen maßgeblichen Hintergrund bildet eine Politik, die seit Jahrzehnten den Woh- nungsmarkt aus wirtschaftlichen Gründen vorantreibt, obwohl der Bedarf seit Jahren gesättigt ist. Diese führte dazu, dass vor allem in ländlichen Regionen ein deutliches Überangebot an Wohnungen entstand: Seit 1968 übersteigt die Gesamtzahl der Wohngebäude die Gesamtzahl der Haushalte. Im Jahr 2013 gab es einen Überschuss von 8,18 Millionen Häusern. Dies führt dazu, dass es mittlerweile schwierig ge- worden ist, ein Haus zu vermieten oder zu verkaufen, es sei denn, die Standort- faktoren sind sehr gut. Diese Entwicklung wird dadurch verstärkt, dass man in Japan lieber in einem Neubau als in einem Altbau wohnen möchte und der Wunsch nach einem Eigenheim sich vor allem auf Neubauten konzentriert. Wohnungsbau-Unternehmen wiederum reagieren auf diese Wünsche und den daraus resultierenden Bedarf an neuen Wohnungen und Häusern. Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 13
So wurden dem Ministerium für Land, Infrastruktur und Transport 国土交通省 zufolge im Jahr 2014 über 970.000 neue Wohnhäuser errichtet. Zwar ist dieser Wert im Vergleich zu früheren Jahren niedriger geworden, dennoch geht die Anzahl von fast einer Million Neubauten am tatsächlichen Bedarf vorbei. Ein weiterer Faktor, der die Zunahme von Akiya fördert, sind Policen für Wohnhypotheken. Diese unterstützen den Kauf von neuen Häusern und tragen damit dazu bei, dass alte Wohngebäude aus dem Wohnungsmarkt verschwinden und dauerhaft zu Akiya werden. Schließlich führen auch steuerliche Anreize dazu, dass man baufällige und leerstehende Häuser (akiya) auf einem Grundstück stehen lässt, anstatt sie abzureißen. Dies liegt daran, dass die Grundsteuer für brachliegendes Land fünfmal höher ist als für bebaute Flächen. Ein anderer Fall sind so genannte shigaika kuiki 市街化区域 („Urbanisierungs-Gebiete“). Dabei handelt es sich um Gebiete in Vor- städten und auf dem Land, die mit dem Ziel die Urbanisierung voranzutreiben, als „Urbanisierungs-Gebiete“ ausgewiesen werden und in der Folge niedriger besteuert werden als ungenutztes Land oder gar landwirtschaftliche Flächen, die vergleichsweise gering besteuert werden. Dieses steuerliche Instrument wird seit den 1970er Jahren eingesetzt, um Baugrund zu gewinnen. Dies hat dazu geführt, dass mancher Landbesitzer kostengünstige Apartmenthäuser errichtet, wenn die Gegend, in der sein Grundstück liegt, als ein solches „Urbanisierungs-Gebiet“ ausgewiesen wurde. Welche Lösungsansätze gibt es in Japan? Zusammenfassend kann man sagen, dass es viele private Projekte gibt, die zwar nicht unbedingt konkret auf Akiya ausgerichtet sind, die aber durch eine Stärkung der lokalen Gemeinschaft und eine Bindung der Bewohner an ihre Heimat durchaus einen positiven Einfluss auf die Situation der Akiya haben können. Daher sollte die private Ebene bei den Überlegungen zu möglichen Lösungen des Problems nicht unterschätzt werden. Zumal die endgültige Entscheidung, ob ein Haus aufgegeben wird, immer bei dem Besitzer liegt. Ein weiterer Aspekt sind Maßnahmen auf lokaler Ebene. Viele Regionen leiden unter Entvölkerung, Wegzug der jungen Bevölkerung in die Städte und anderen gesellschaftlichen Problemen. Dazu zählt die stetige Zunahme der Zahl der Akiya. Einige Städte und Regionen versuchen daher ihre Akiya in sogenannten Akiya Banks 空き家バンク anzubieten. Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 14
Leider gibt es für diese „Banks“ kein einheitliches System, was zu Schwierigkeiten beim tatsächlichen Erwerb eines Akiya führt. In Städten wie z.B. in Kyoto gibt es Projekte, die in der Bevölkerung ein Bewusstsein für die Problematik schaffen und Unterstützung bei der Nutzung von Akiya anbieten. Die Projekte in Kyoto sind ein sehr guter Anfang, allerdings sind sie nur auf eine Stadt beschränkt. Es wäre daher gut, wenn solche vielversprechenden Konzepte auch in anderen Gegenden oder sogar landesweit angewendet und von der Politik unterstützt würden. Die Politik hat mittlerweile reagiert und 2014 ein „Sondergesetz über die Förderung leerstehender Häuser“ (空家等対策の推進に関する特別措置法) erlassen, das die Identifizierung von Akiya und deren Besitzern erleichtert und die Durchsetzung von Empfehlungen und Anordnungen für deren Besitzer ermöglicht. Damit unterstützt das Gesetz vor allem die Lösung akuter Probleme von bereits vorhandenen Akiya. Allerdings trägt es nicht dazu bei, für die Zukunft die Zahl von neuen Akiya zu reduzieren. Dies liegt darin begründet, dass die Wohnungsbau-Politik in Japan unverändert vor allem auf wirtschaftliches Wachstum ausgerichtet ist. Diese Zusammenhänge müssten daher überdacht werden, um dem Problem der Akiya dauerhaft Herr zu werden. Literaturhinweise: Kubo, Tokomo und Yoshimichi Yui (2020). The Rise in Vacant Housing in Post- growth Japan. Housing Market, Urban Policy, and Revitalizing Aging Cities. Singapur: Springer Singapore. Miki, Seko (2019). Housing Markets and Household Behavior in Japan. Singapur: Springer Nature. Zhang, Beibei (2020). “Why Is Japan’s Housing Vacancy Rate So High? A History of Postwar Housing Policy”. Social Science Japan Journal 23 (1), S. 65-77. Bildlegende: Bild 1: „Leerstehende Gebäude auf der Shimoda-Halbinsel.“ Foto von Prof. Dr. Evelyn Schulz, Oktober 2019 Bild 2: "Innerstädtische Freifläche in Shimoda.“ Ebenfalls Oktober 2019. Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 15
Japanischer Sake, Nihon-shu (日本酒) Genuss im Jahreszyklus und Alter Beitrag von Kai Dräger Das grundsätzlich aus Reis, Wasser, Hefe und dem Hefepilz Kōjikabi (麹, aspergillus oryzae) bestehende japanische Nationalgetränk Sake* wird in seinem Heimatland im Einklang mit den vier Jahreszeiten gebraut und nicht nur jung, sondern auch längere Zeit gereift genossen. Die in Deutschland nur schwer erhältlichen saisonalen Produkte haben durch ihre unglaubliche Aromen- und Geschmacksvielfalt schon so manch einem Japanreisenden die Augen für das bei uns im Westen immer noch wenig beachtete Getränk geöffnet**. Dasselbe gilt insbesondere auch für länger gereiften Sake, der uns vom Profil her an einige Sherry, Port, Marsala und Madeira erinnert. Stellvertretend für den Jahreszyklus und die Reifung von Sake steht die über dem Eingang von Brauereien, Restau- rants und Bars hängende Sugidama (杉玉) oder auch Sakabayashi (酒林) genannte Kugel aus zusammengebun- denen und geschnittenen Zweigen der japanischen Sichel- tanne Sugi (杉, cryptomeria japonica). Die aus frischen, grünen Zweigen in Handarbeit hergegestellte Kugel wird von einigen Brauereien traditionell am Anfang der von September bis März dauernden Brausaison aufgehängt, um zu signalisieren, dass der erste Sake des Jahres trinkfertig ist. Die dann langsam eintretende Braunfärbung der Kugel symbolisiert den konti- nuierlichen Reifungsprozess des Sake bis zur nächsten Brausaison. Ab Anfang November verläßt der erste frisch gebraute Sake des Jahres die Brauereien und bereichert die Getränkekarten der Bars und Restaurants und auch die Auslagen der Laden- geschäfte. Der als Shiboritate (しぼりたてabgeleitet vom japanischen Wort für pressen, shiboru 絞る) bezeichnete Sake wird direkt aus der vergorenen Maische gepresst und entweder durch Filtration von Reisrückständen befreit oder auch naturtrüb als Nigori-Sake (にごり酒) in Flaschen ab- gefüllt. Als unpasteurisierter Namazake (生酒) hat Shiboritate ein frisches, kräftiges jugendliches Profil mit merklicher Säure und Adstringenz, das oft durch einen Hauch Kohlensäure aus der gerade abgeschlossenen Gärung bereichert wird. Wie bei den meisten Sake liegt der Alkoholgehalt bei durchschnittlich 16%. Getrunken wird Shiboritate gekühlt, bei Raumtemperatur oder auch leicht erwärmt. Um die in der Flasche noch fortschreitenden mikrobiologischen Prozesse zu verlangsamen Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 16
und dem Verlust seines lebendigen Charakters vorzubeugen, sollte Shiboritate bei etwa 5 ° C im Kühlschrank aufbewahrt werden. Ungeöffnete Flaschen sollten innerhalb von drei bis sechs Monaten verbraucht werden, geöffnete Flaschen innerhalb weniger Tage. Wenn es Frühling wird und die Temperaturen langsam wieder steigen, werden die auf kältere Umgebungs- temperaturen angewiesenen Brauprozesse beendet. Der fertige Sake wird in Tanks und Flaschen eingelagert, wobei die Lagertemperatur durch natürliche oder künstliche Kühlung stets unter der Umgebungs- temperatur bleibt. Um die mikrobiologische Stabilität sicherzustellen und ihn länger haltbar zu machen, wird Sake durch Erhitzen pasteurisiert. Traditionell findet dieser Vorgang einmal vor der Lagerung im Winter und dann noch einmal vor der Auslieferung statt. Heutzutage wird von vielen Brauern allerdings eine nur ein- malige Pasteurisierung für ausreichend erachtet, da diese nicht so sehr in das Aroma- und Geschmacksprofil eingreift. Der Frühling steht auch in Japan für Frische und Erneuerung und wird durch die vielen gerade erst gebrauten Sake bereichert. In bester Form zu genießen sind insbesondere die unpasteurisierten Namazake, die über die nächsten Monate langsam ihre ursprüngliche Frische verlieren werden und daher ideale Begleiter beim Betrachten der ebenfalls vergänglichen Kirschblüte sind. Wenn im Juni die Regenzeit über das Land zieht und sich im Juli die heißschwüle Sommerhitze über das Land legt, kommt der eigens für diesen Zweck gebraute Sommersake (Natsu- Sake, 夏酒) mit farbenfrohen Motiven auf den Etiketten wie Feuerwerk, Sommerblumen, Strand und Meer, auf den Markt. Während das Aroma und der Geschmack des Sommers von jedem Brauer frei interpretiert wird, ist Natsu-Sake im All- gemeinen erfrischend, leicht und trocken, aber auch fruchtig aromatisch. Natsu-Sake wird oft als unpasteurisierter Namazake gebraut, um sein Profil noch lebendiger zu ge- stalten. Beliebt sind seit einigen Jahren auch Sake mit natürlicher oder zugesetzter Kohlensäure (sog. Sparkling Sake, スパクリンぐ). In der japanischen Sommerhitze wird Natsu-Sake stark gekühlt getrunken und auch gerne mit Soda oder auf Eis serviert, das den Sake dann schmelzend angenehm verdünnt. Soweit nicht als Namazake gebraut, lässt sich die Erinnerung an den vergangenen Sommer bei Temperaturen unter 15 ° C bis zu einem Jahr gelagert konservieren. Geöffnete Flaschen sollten allerdings innerhalb von einer bis zwei Wochen konsumiert werden. Nachdem sich die sommerliche Hitze im September langsam gelegt hat, schließen die traditionell als Hiyaoroshi (冷やおろし) und Akiagari(あきあがりbezeichneten herbstlichen Saisonprodukte den Jahreszyklus des im letzten Winter gebrauten Sake. Die Kugel aus den Zweigen der japanischen Sicheltanne ist mittlerweile tiefbraun gefärbt. Durch die halbjährige Lagerung hat der Sake ein reifes, mildes, rundes und Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 17
ausgewogenes Aroma und Geschmacksprofil erhalten. Akiagari steht dabei für die traditionelle zweifache Pasteurisierung vor Lagerung und vor Versand, während Hiyaoroshi nur einmal vor seiner Lagerung im Winter pasteurisiert wird und dadurch noch etwas von seinem jugendlichen Profil beibehält. Der Begriff Hiyaoroshi bedeutet wörtlich kühler Versand. Damit der Sake seine Qualität auch bei einmaliger Pasteu- risierung beibehält, wurde Hiyaoroshi nämlich erst dann ausgeliefert, wenn die Umgebungstemperatur der kühlen Lagertemperatur entsprach. Durch die heutige Kühl- logistik und die Erkenntnis, dass eine einmalige Pasteu- risierung durchaus genügt, ist dieses Problem in den Hintergrund gerückt. Je später Hiyaoroshi auf den Markt kommt, desto reifer ist der Sake. Hiyaoroshi kann in allen Temperaturen getrunken werden, jedoch zeigt sich seine vollendete Reife besonders bei warmen Temperaturen von 40 bis 50° C. Aufgrund der durch die Pasteurisierung erlangten mikrobiologischen Stabilität können Akiagari und Hiyaoroshi bei Temperaturen unter 15 ° C bis zu einem Jahr gelagert werden. Geöffnete Flaschen sollten allerdings innerhalb von einer bis zwei Wochen konsumiert werden. Neben den saisonalen Produkten gibt es die vielen ganzjährig erhältlichen Sake, die ebenfalls gereift werden, um ihr Aroma- und Geschmacksprofil abzurunden, bevor sie auf den Markt kommen. Je nach Sake kann dies sechs Monate bis ein Jahr oder länger dauern. Seinen ursprünglichen Charakter verändert ein Sake dabei nicht bzw. nur im Sinne einer graduellen Reifung zur Verbesserung des ursprünglichen Aroma- und Geschmacksprofils. Eine wirkliche Entwicklung zu einer komplexeren Form von Sake, die auf Japanisch als Koshu (古 酒), alter Sake oder Chōki Jukusei-Shu (長期熟成酒), lang- fristig gereifter Sake bezeichnet wird und die ich hier als „Aged Sake“ bezeichnen werde, findet erst zwischen drei und fünf Jahren statt. Insbesondere die Maillard-Reaktion spielt dabei eine wichtige Rolle. Der im Sake enthaltene Rest- zucker reagiert mit den Aminosäuren und erzeugt eine neue Aroma- und Geschmacksvielfalt, die uns im Westen nicht unbekannt ist und mit der Reifung einiger Sherry, Port, Marsala und Madeira verglichen werden kann. Lange Reife verleiht Aged Sake einen ausdrucksstarken und kraftvollen Körper mit ausgewo- gener Süße, Säure und zarter Bitterkeit sowie eine kräftige, viskose Textur und einen langen Abgang. Die breitgefächerte Aromen- und Geschmacksvielfalt reicht von süßen Noten (Honig, braunem Zucker, Melasse, Karamell, Vanille und getrockneten Früchten) über Butter-, Schokoladen- und Kaffee- und Nussnoten (Mandel und Walnuss) und Gewürzen (Anis, Nelke, Zimt, Pfeffer und Muskatnuss) bis zu herzhaften Noten (Sojasauce, Shiitake, eingelegtem Gemüse und Bouillon). Durch die entstehenden gelbbraunen stickstoffhaltigen organischen Verbindungen (Melanoide), wandelt sich der Farbton langsam von zitronengelb zu gold-, bern- steinfarben und dunkelbraun um. Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 18
Trockene Aged Sake passen sehr gut zu geschmacksintensiver japanischer, asiatischer und westlicher Küche, wie z.B. zu italienischen Gerichten auf Tomatenbasis, würzigen chinesi- schen Speisen, rustikalen Rindersteaks, deftigen Eintöpfen und aromatischen indischen Currys. Als Digestif passt Aged Sake hervorragend zu dem intensiven und pikanten Geschmack von Käse, wie z.B. Parmesan, Gorgonzola und Roquefort, aber auch zu bittererer Schokolade, trockenen Früchten, Nüssen und als Begleiter zu einer guten Zigarre. Gereift wird Aged Sake in verschiedensten Gefäßen und an unterschiedlichsten Orten, die Einfluss auf das Aroma und den Geschmack des Endprodukts haben. Das Spektrum reicht von Stahltanks über Glasflaschen und Keramikgefäßen bis zu Holz- fässern aus Zedern- oder Eichenholz, die in Lagerhallen, Kühlräumen, Höhlen und sogar unter Wasser im Meer gelagert werden. Ein Zeitrahmen ist für die Reifung von Aged Sake nicht vorgeschrieben und es gibt keine allgemein gültige Definition. Zumindest der 1985 gegründete private japanische Verein für langfristig gereiften Sake (Chōki jukusei-shu kenkyūkai, 長期熟成酒研究会) hat einige Leitlinien für seine Mitglieder festgelegt. Um das Altern unter anderem von der bloßen Verbesserung des ursprünglichen Aroma- und Geschmacks- profils zu unterscheiden, ist eine Mindestalterungszeit von drei Jahren vorgesehen. Die Gruppe unterscheidet des Wie- teren drei Stile: Kojuku (濃熟), bei Umgebungstemperatur gereifter Sake mit tiefer Farbe, der sich extrem von dem Aroma und Geschmack des Ausgangproduktes absetzt. Chūkan (中間), in einer Kombination aus niedriger Temperatur und Umgebungstemperatur gereifter Sake mit tiefer Farbe, der immer noch einen Teil von dem Aroma und Geschmack des Ausgangproduktes aufweisen kann und Awajuku (淡熟) als elegantesten Reifungsstil. Awajuku wird ausschließlich bei sehr niedrigen Temperaturen gereift. Das Ergebnis ist ein Sake mit heller Farbe, der viel von dem Aroma und Geschmack des Ausgangproduktes beibehält und oft mit zarter Bitterkeit veredelt ist. Neben dem Verein für langfristig gereiften Sake existiert noch die im November 2020 neu gegründete Toki Sake Vereinigung, diese hat sich der Vermarktung und auch der Forschung von Aged Sake verschrieben hat und versucht, Spitzenprodukte angesehener Brauereien im preislich oberen Segment des Marktes zu etablieren. Aged Sake ist keine frühzeitliche Entdeckung oder Kopie westlicher Spirituosen, sondern wurde bereits in Büchern von Tempeln und Verwaltungen in der ehema- ligen japanischen Hauptstadt Kamakura (1185–1333) erwähnt. In der nach dem damaligen Namen der japanischen Hauptstadt Tokio benannten Edo-Zeit (1603 bis 1868) wurde z.B. ein neun Jahre lang gereifter Sake als Luxusware gehandelt und zu besonderen Anlässen gereicht. Dieser neun Jahre alte Sake bzw. eine Reproduktion aus schwarzen Bohnen, Sake und Miso wird auch heute noch für kaiserliche Hoch- zeitszeremonien verwendet. Zwischen 1868 bis 1945 verschwand gereifter Sake dann aus dem Markt. Ursache war eine Veränderung der japanische Steuergesetzgebung. Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 19
Anstelle der Besteuerung zum Verkaufszeitpunkt wurde bereits an den Zeitpunkt der Produktion angeknüpft. Angesichts der hohen Steuerlast und dem Risiko, dass Sake beim Reifen auch verderben kann, bestand für Brauer kein Anreiz, Sake länger als notwendig zu lagern. Seitdem diese Besteuerung 1945 wieder abgeschafft wurden, bemühen sich einige Brauereien darum, Aged Sake auf dem japanischen Markt zu etablieren. Allerdings macht Aged Sake immer noch einen sehr geringen Teil des Inlandmarktes aus. Dies liegt insbesondere an der geringen Nachfrage und den kleinen Produktionsmengen der wenigen Brauereien, die Sake überhaupt länger reifen lassen. Unser DJG Mitglied Kai Dräger ist deutscher Rechtsanwalt und arbeitet in der Konzernrechtsabteilung der TDK Corporation in Tokyo. In seiner Freizeit beschäftigt sich Herr Dräger mit Sake. Er ist durch den Sake Educational Council (SEC) als Sake Professional (CSP) zertifiziert, SSC Sake Scholar und hält den WSET Level 3 Award in Sake. Herr Dräger beantwortet gerne Fragen unserer Mitglieder zum Thema unter info@aged-sake.com. * Der in diesem Artikel der Einfachheit halber verwendete Begriff „Sake“ (酒) ist der unspezifische japanische Sammelbegriff für alle Alkoholika, einschließlich Bier und Wein. Der korrekte Begriff für das Getränk, das wir im Westen als Sake kennen, lautet in Japan eigentlich „Japanischer Sake“, „Nihon-shu“ (日本酒). Wer in Japan seinen „Sake“ bestellen möchte, sollte spezifisch nach „Nihon-shu“ (日本酒) fragen. ** Die nachfolgenden Erörterungen zu saisonalen Produkten und gereiften Sake sind allgemeingültig und unabhängig von den dem Leser vielleicht bekannten Sake- Typen wie Daiginjō, Ginjō, Honjōzō Sake und den Stilen wie Junmai, Kimoto, Yamahai. Bildlegende (Aufnahmen Kai Dräger) Bild 1: Neuer Sugidama, Brauerei Hirase, Hida Bild 2: Brauner Sugidama, Gekkeikan Brauerei Museum, Kyoto Bild 3: Shiboritate, Brauerei Tanaka, Himeji Bild 4: Shiboritate Angebot, Brauerei Hirase; Hida Bild 5: Nigori-Sake, Brauerei Masuda Tokubee, Kyoto Bild 6: Natsu-Sake, Brauerei Nagayama, Yamaguchi Bild 7: Akiagari, Brauerei Kayashima, Oita Bild 8: Hiyaoroshi, Brauerei Miyasaka, Nagano Bild 9: Aged Sake, Brauerei Kayashima, Oita Bild 10: Aged Sake, Brauerei Fukumitsuya, Kanazawa Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 20
„Eulenburg—Mission“ Beitrag von Dr. Andrea Hirner Die Eulenburg-Mission und die ersten diplomatischen Kontakte zwischen Japan und Deutschland. 1. Teil: Die Voraussetzungen. Vor 160 Jahren, am 24. Januar 1861, wurde der erste Vertrag zwischen Japan und Deutschland unterzeichnet. „Deutschland“ ist in diesem Zusammenhang allerdings nicht der richtige Ausdruck, denn ein „deutsches“ Reich existierte noch nicht. In Frankfurt am Main gab es einen „Deutschen Bund“, der sich aus drei Dutzend Fürstentümern und vier freien Reichsstädten zusammensetzte. Im Vergleich zu den europäischen Nationalstaaten war dies ein schwaches Gebilde, das der politischen Entwicklung des übrigen Europa hinterherhinkte. Größere Mitglieder wie etwa das Königreich Bayern suchten noch nach einer angemes- senen Stellung im Deutschen Bund, und drohend kristallisierte sich bereits ein Konflikt zwischen dem Königreich Preußen und dem Kaiserreich Österreich heraus. Das Kaiserreich hatte mit der Weltumseglung der Novara von 1857 bis 1859 seine maritimen Fähig- keiten bewiesen. Das Königreich Preußen dagegen war eine Landmacht, und doch war es dann Preußen, unter dessen Fittichen erfolgreich eine diplomatische Mission nach Ostasien ausgesendet wurde: Friedrich Graf zu Eulenburg (1815-1881) brachte die ersten Verträge mit Japan, China und Siam zustande und verhalf damit seinem Auftraggeber zu einem Plus- punkt im Streben um die Vorherrschaft im künftigen deutschen Reich. Mit der Öffnung Japans durch die Verhandlungen des amerikanischen Commodore Matthew Calbraith Perry (1794-1858) 1853/1854 war auf einmal Japan ins Blickfeld gerückt, das bis dahin kaum eine Rolle gespielt hatte. Das Kaiserreich China war bereits in zwei Kriegen gezwungen worden, Häfen für ausländische Kaufleute zu öffnen, doch Japan hatte sich bis dahin erfolgreich gegen diese Forderungen gesträubt. Seit der Machtergreifung der Tokugawa 1603 galt die Doktrin einer Abschließung gegen westliche Länder; ausgenommen davon waren bekanntlich die Niederlande und China als Nachbarland. Philipp Franz von Siebold hatte noch 1844 ein Schreiben des holländischen Königs Wilhelm II. an das Shogunat angeregt und darin eine vorsichtige Öffnung des Landes vorgeschlagen – er hatte den immensen Aufschwung der europäischen Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 21
Länder und der Vereinigten Staaten richtig eingeschätzt und fürchtete die Folgen für Japan. Es waren dann nicht diplomatische Erwägungen, sondern die robusten Forderungen der jungen USA, die die Entwicklung vorantrieben. Mehrere amerikanische Emissäre nach Japan waren vorher gescheitert und erfolglos wieder abgezogen. Wenn man in Washington zwar von einer „humanitären“ Aufgabe sprach, dieses renitente Volk der Japaner der Weltgemeinschaft zuzuführen, standen tatsächlich wirtschaftliche Interessen hinter der Entsendung von Perry. Für den äußerst lukrativen, aber gefährlichen Walfang im Norden von Japan brauchten die USA dringend eine Versorgungsstation auf Japan, wo man Kohle aufnehmen und kranke Seeleute versorgen konnte. Doch das hatte die Shogunats-Regierung immer abgelehnt. Als er mit vier Schiffen am 8. Juli 1853 in der Bucht vor Edo auftauchte, schaffte er sofort Fakten und weigerte sich, Nagasaki als Verhandlungsort zu akzeptieren. Dort gab es japanische Küstenwachmannschaften und damit die Möglichkeit, seine Landung zu verhindern, aber in Edo gab es dergleichen nicht. Die Hauptstadt lag ungeschützt vor den amerikanischen Schiffen. Japan mangelte es nicht an tapferen Samurai, die ihr Land bis zum letzten Blutstropfen verteidigt hätten – wohl aber an schwerem Kriegsgerät. Der über 200 Jahre währende innerjapanische Frieden und das Fehlen einer Bedrohung von außen hatten es nicht nötig gemacht, neue Waffen zu entwickeln. In Europa dagegen waren es die unablässigen Kriege, mit denen sich die europäischen Reiche gegenseitig überzogen, die für eine entscheidende Entwicklung der Waffentechnik sorgten. Alleine die Drohung Perrys, seine Bordkanonen einzusetzen und die neuen sechsschüssigen Colts, reichte aus, den Japanern die Ausweglosigkeit ihrer Lage zu demonstrieren. Ihre kostbaren Schwerter und einige einzelne kleinere Kanonen symbolisierten mehr den Stolz der japanischen Kriegerkaste, als dass sie wirksam einsetzbar waren. Der immerwährende interne Frieden machte - so traurig es klingt - den raschen Sieg von Perry erst möglich. Nach dem Vertrag von Kanagawa vom 31. März 1854 beeilten sich die europäischen Staaten, den USA zu folgen und Verträge mit der japanischen Regierung des Shogunats abzuschließen, die diesen Forderungen hilflos gegenüberstand: Großbritannien, Frankreich, Russland (das nur um einige Monate nach Perry zu spät nach Japan gelangte) und schließlich noch die Niederlande. 1859 wurden die drei Häfen Nagasaki, Yokohama und Hakodate für den Außenhandel geöffnet, 1868 kamen noch Kobe und Niigata hinzu. Von diesen gewann vor allem Yokohama an Bedeutung und entwickelte sich zum wichtigsten Wohnort für die Ausländer und die damalige Hauptstadt Edo mit ihrer Millionen zählenden Bevölkerung zum Hauptabsatzmarkt für europäische Güter. Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 22
In Japan leben und Handel treiben durften allerdings nur die Angehörigen der „Vertragsstaaten“, was die Deutschen damit ausschloss. Von ihnen gab es aber bereits seit den 1840er Jahren einige Handelshäuser, die sich in den Vertragshäfen des Kaiserreichs China niedergelassen hatten und erfolgreich agierten.Von China war es nicht weit nach Japan, wo es offensichtlich neue Chancen gab, die aber nur von den Handelsagenten der zugelassenen Länder genutzt werden konnten. Louis Kniffler, ein aus dem Rheinland stammender Preuße (1827-1888), hatte das Handelshaus L. Kniffler & Co. gegründet, auf Deshima in Nagasaki, das gerade (1859) als Vertragshafen eröffnet worden war. Da er vorher in Batavia gearbeitet hatte, stellte er sich unter den Schutz der Niederlande, um un- behelligt seinen Geschäften nachgehen zu können. Das erinnert an Philipp Franz von Siebold, der ja auch als „Holländer“ nach Japan gelangt war. Kniffler war durchaus geschickt und erfolgreich: 1867 lieferte er die ersten Krupp- Kanonen nach Japan, denn Rüstungsgüter wurden immer wichtiger für den Import. Allerdings konnten sie die Shogunats-Regierung nicht mehr retten, die Ende 1867 die Regierungsgewalt in die Hände des Kaisers zurückgab. Da Kniffler geschickt beide Kontrahenten, die aufsässigen Daimyos und die Shogunats- regierung, gleichzeitig mit Waffen versorgte, stieg er zum zweitgrößten Rüstungs -händler in Japan auf. Wie die anderen ausländischen Handelsagenten exportierte Kniffler vorwiegend Tee und Seide aus Japan nach Europa, bediente aber auch die asiatischen Märkte. Sein Manko war, dass kein deutsches Handelsschiff Japan anlaufen durfte, solange Deutschland noch nicht zu den „Vertragsstaaten“ gehörte. Der zerstrittene Deutsche Bund mochte politisch schwach sein, aber Technik und Industrialisierung hatten die wirtschaftliche Entwicklung in den deutschen Ländern vorangetrieben. Neue Absatzmärkte wurden gesucht. Der zunehmende überseeische Handel durch den Einsatz von Dampfschiffen erhöhte die Bedeutung der deutschen Seehäfen Bremen, Hamburg und Lübeck. Daher ging eine erste Initiative von diesen drei norddeutschen Städten aus, die mit Argwohn die Handelsbemühungen der anderen europäischen Staaten und der USA registrierten. Schon 1855 lag ein Antrag der hamburgischen Kaufmannschaft an den heimischen Senat vor, mit Japan in Verhandlungen zu treten. Ziemlich blauäugig glaubte man, einen eigenen Vertrag erreichen zu können (die Hansestädte waren ja „freie“ Städte), und setzte sogar einen Brief an den „Kaiser von Japan“ (gemeint war der Shogun) auf, von dem allerdings keine Antwort kam. Für eine diplomatische Mission reichten die Kräfte der Hansestädte nicht aus. Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 23
Einen Handelsvertrag mit dem neuen Mitspieler auf der internationalen Bühne Japan abzuschließen, wurde in der Mitte Europas inzwischen zu einem politischen Kalkül zwischen Preußen und Österreich, wobei Preußen diesmal die Oberhand behielt. Doch erst, als die noch vagen Pläne der preußischen Regierung bekannt wurden, eine diplomatische Delegation nach Fernost zu entsenden, nahmen diese Forderungen Gestalt an. In Berlin war es vor allem Handelsminister August von der Heydt (1801- 1874), der seit 1854 zunehmend auf diese Expedition drängte. Es gab nur ein gra- vierendes Problem, denn Preußen verfügte noch nicht über die für eine solche Fahrt nach Ostasien notwendigen Schiffe. Die „Königlich Preußische Marine“ hatte große Mühe, wenigstens vier Schiffe aufzutreiben: die Korvette Arcona und die Fregatte Thetis waren noch im Bau, ein kleinerer Schoner konnte durch eine Kollekte unter Frauen gekauft werden und erhielt deshalb den Namen Frauenlob, und das Transportschiff Elbe steuerte Hamburg bei. Am 9. August 1859 gab der Preußische Landtag grünes Licht für die Unternehmung, doch die Abfahrt verzögerte sich immer wieder; so geriet die Arcona in der Nordsee gleich in einen schweren Sturm und musste in England in die Reparatur. Das Unternehmen stand erst einmal unter keinem guten Stern. Bildlegende: Bild 1: Porträt von Graf zu Eulenburg Bild 2: Abbildung des Vertrags mit der Unterschrift Eulenburgs und seiner japanischen Partner FRÜHLINGS-HAIKU Märztag im Nebel – in Schläfrigkeit eingetaucht verrinnt dieser Tag. Christine Matha Kaihō No. 2/2021 März/April Seite 24
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