Kaihō - Deutsch-Japanische Gesellschaft in Bayern eV

Die Seite wird erstellt Jan Mack
 
WEITER LESEN
Kaihō - Deutsch-Japanische Gesellschaft in Bayern eV
Kaihō
                                 März/April 2021

Baum der Hoffnung (Kibo no matsu), Ribuzentaka      Aufnahme Dr. Oliver Schön

   Kaihō         No. 2/2021            März/April                   Seite 1
Kaihō - Deutsch-Japanische Gesellschaft in Bayern eV
Kaihō   No. 2/2021   März/April   Seite 2
Kaihō - Deutsch-Japanische Gesellschaft in Bayern eV
Liebe Mitglieder und Freunde der DJG in Bayern,

Diesen Mitgliederbrief möchte ich nutzen, um an die Naturkatastrophe vom 11. März
2011 zu erinnern. Ein schweres Erdbeben etwas nördlich von Tokyo hat einen
schweren Tsunami ausgelöst, der nicht nur weite Teile der Küste zerstört und etwa
20.000 Menschen getötet hat, sondern auch die technischen Systeme des Atom-
komplexes in Fukushima derart beschädigte, dass es zu einem atomaren Super-GAU
gekommen ist.
In der deutschen Öffentlichkeit war der Schwerpunkt der Wahrnehmung auf den
Atomunfall gerichtet, und deshalb wurde über die schlimme Situation in den durch
den Tsunami betroffenen Gebieten nur sehr wenig berichtet. Wir haben stets ver-
sucht, unsere Mitglieder mit den erforderlichen Informationen zu versorgen.
Besonders wichtig war im Jahr 2014 ein Vortrag von Amiya Miller, damals eine
Mitarbeiterin der Stadt Rikuzentakata, die über die Situation in der betroffenen
Region berichtet hat.
Die DJG Bayern hat seit der Katastrophe eine besondere Beziehung zu Rikuzentakata.
In die Stadt ist ein Großteil der damals gesammelten Spenden ist in die Stadt gegeben
worden, um dort die Kinder zu unterstützen, die einen oder beide Elternteile verloren
haben. Ich kann mich noch sehr gut an meinen ersten Besuch im Jahr 2012 erinnern.
Das Ausmaß der Zerstörung war niederschlagend und hat alles übertroffen, was ich
mir im Vorfeld vorgestellt hatte.
Ganz anders war das Bild, welches sich bei meinem zweiten Besuch im Jahr 2019 bot.
Obwohl noch überall Bauarbeiten zu sehen waren, konnte deutlich wahrgenommen
werden, dass das Leben wieder in die Stadt zurückgekehrt ist. Damals wurde gerade
eine große Gedenkstätte eröffnet, die insbesondere auch viele Touristen in die Region
locken sollte. Die ersten Reaktionen waren sehr positiv, und es war wirklich zu
hoffen, dass sich Rikuzentakata – trotz aller verbleibender Probleme – in eine bessere
Zukunft entwickeln wird. Wir werden dies weiter beobachten und Sie darüber auch
in der Zukunft informieren.
In diesem Jahr wird der 160. Jahrestag der Beziehungen zwischen Deutschland und
Japan gefeiert. Bislang gab es diesbezüglich, bedingt durch Corona, nur wenige
Veranstaltungen, aber zumindest für die letzten zehn Jahre dürfte der Begriff
„Fukushima“ sicherlich die zentrale Bedeutung einnehmen.
Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre dieser Ausgabe unseres Mitglieder-
magazins. Ich denke, dass es wieder sehr viele abwechslungsreiche Berichte gibt, und
an dieser Stelle möchte ich Sie auch bitten, dass Sie mit uns Kontakt aufnehmen,
wenn Sie vielleicht selber mitarbeiten wollen oder aber Verbesserungswünsche
haben. Ich denke, dass sich die Verantwortlichen alle über Rückmeldungen, wie
Ihnen das Kaiho gefällt, freuen würden.
Mit freundlichen Grüßen

Kaihō          No. 2/2021               März/April                         Seite 3
Kaihō - Deutsch-Japanische Gesellschaft in Bayern eV
Programm
Wiederaufbau nach der              Zeit: Donnerstag, 11.03.2021 um 19.00 Uhr
Katastrophe                        Link zur Veranstaltung (siehe Seite 8)

Japanischer Gesprächskreis         Zeit: Donnerstag, 18.03.2021 um 19.00 Uhr
                                   Ort: Zoom—Japanischer Diskussionskreis

Haiku Kreis                        Zeit: Donnerstag, 25.03.2021 um 18:30 Uhr
                                   Ort: Zoom Haiku Treffen

Mail-Haiku-Einsendeschluss Zeit: bis Donnerstag, 25.03.2021
                           Thema: Mail-Haiku-Treffen

Japanischer Gesprächskreis         Zeit: Donnerstag, 15.04.2021 um 19.00 Uhr
                                   Ort: Zoom—Japanischer Diskussionskreis

Haiku Kreis                        Zeit: Donnerstag, 22.04.2021 um 18:30 Uhr
                                   Ort: Zoom Haiku Treffen

Mail-Haiku-Einsendeschluss Zeit: bis Donnerstag, 22.04.2021
                           Thema: Mail-Haiku-Treffen

____________________________________________
Anmerkung: Die Aufnahme auf der Umschlagsseite von Dr. Oliver Schön aus dem Jahr
2012 zeigt eine Pinie am Ufer in Rikuzentakata. Etwa 70.000 Bäume umfasste dort einst ein
Pinienwald. Der Tsunami riss nicht nur die Ortschaft mit sich, sondern auch den gesamten
Wald – bis auf einen einzigen Baum. Diese überlebende Pinie, die als “Kiseki no ippon
matsu” (奇跡の一本松), als „einzelner wundersamer Baum“ bekannt wurde, gab den
Katastrophenopfern die Zuversicht, wie dieser Baum überleben zu können.In ganz Japan ist
diese Pinie zu einem Symbol der Hoffnung und Zuversicht geworden.

Kaihō          No. 2/2021                März/April                           Seite 4
Kaihō - Deutsch-Japanische Gesellschaft in Bayern eV
„陸前高田市“
                               Rikuzentakata
                   Beitrag von Susanna Wellenberg

 Vor zehn Jahren kam es zu der Dreifach-Katastrophe in Japan, und seither konnte
 ich – abgesehen vom Jahr 2020 – jedes Jahr wieder nach Rikuzentakata zurück-
 zukehren und die Entwicklung mit eigenen Augen sehen. Fakten werden immer
 wieder in den Medien beschrieben, deshalb möchte ich mich auf Erinnerungen an
 persönliche Begegnungen beschränken.

 2011
 Mein erster Besuch war im November 2011. An einem richtigen Herbsttag mit
 Schneeregen, kalt und grau, ging es mit dem Bus von Sendai Richtung
                                Rikuzentakata. Endstation war die provisorische
                                City Hall, eine Ansammlung von Containern, die
                                über mehrere Jahre hinaus ihren Zweck erfüllen
                                musste. Dort wuselten sehr viele junge Leute
                                herum, die von den anderen Präfekturen entsandt
                                waren, um wieder eine funktionierende Verwal-
                                tung aufzubauen. Obwohl alle sehr beschäftigt
                                waren, kümmerte man sich sehr nett um die
                                komische Deutsche mit ihrem japanischen Be-
 gleiter, die mit Origami ein wenig Freude bringen wollten. Selbst der Deputy
 Mayor hatte seine Abreise nach Tokyo verschoben, weil er mich begrüßen wollte.
 Es sollte der Anfang einer wunderbaren Freundschaft werden.
                               In der Schule wurden wir schon erwartet zum
                               Lunch mit Schülern,
                               und dann ging es auch
                               gleich ans Falten. Man
                               konnte fast vergessen,
                               dass jeder Blick aus dem
                               Fenster einen an die
                               Katastrophe erinnerte:
                               nichts als Trümmer.
 In der Abenddämmerung ging es dann noch zu Ippon
 Matsu, der einzigen Kiefer, die den Tsunami über-
 standen hatte und zu einem Symbol der Katastrophe
 wurde. Mit großem Gerät versuchte man immer noch
 der Unmengen von Schutt und Trümmern Herr zu werden, aber wenn einer der
 Arbeiter einen bestimmten Bereich betrat, verharrte er in stillem Gebet.

Kaihō         No. 2/2021              März/April                       Seite 5
Kaihō - Deutsch-Japanische Gesellschaft in Bayern eV
Rückblickend hat mich am meisten beeindruckt, mit welcher Würde die
 Menschen ihr Schicksal trugen und gleichzeitig einer Fremden mit soviel Wohl-
 wollen und Sorge um ihr Wohl entgegentraten. Und dieses Gefühl bestätigte sich
 Jahr für Jahr wieder, wenn ich dorthin kam.
 2012-2019
 Äußerlich änderte sich nur sehr langsam etwas. Auch in den ersten Jahren danach
 war immer noch unglaublich viel Schutt zu sehen. Schon im zweiten Jahr hatte
                         man sich aber soweit organisiert, dass es in den Not-
                         unterkünften Gemeinschaftsräume und Küchen gab, so
                         dass ich nun auch dort Origami falten und mit vielen
                         Teilnehmern deutsch kochen konnte. Wieder war ich
                         äußerst beeindruckt, wie jeder mit einbezogen wurde. In
                         den folgenden Jahren ging das soweit, dass Menschen,
                         die inzwischen in anderen Einrichtungen ein neues Zu-
                         hause gefunden hatten, extra mit dem Auto geholt wur-
                         den, damit wir uns wiedersehen konnten. Jeder hatte ein
                         Dach über dem Kopf, es fehlte nicht an Nahrung, aber
                         nachdem die meisten Freiwilligen nach ein oder zwei
 Jahren nicht mehr vor Ort waren, konnte man merken, dass ein großes Bedürfnis
 nach menschlichen Kontakten bestand auch nach außerhalb.
 Ein ganz besonderes Erlebnis war auch, als
 sich plötzlich nach einem gemeinsam
 gekochten Essen eine der Teilnehmerinnen
 sich erhob und ein bekanntes Lied sang,
 dessen Text sie für mich geändert hatte.
 Und dann kam das Überraschendste: Alle
 fingen an, den lokalen Volkstanz
 aufzuführen – man sagte mir später, dass
 es das erste Mal seit der Katastrophe sei. So
 konnte man erken-nen, dass wieder - wenn
 auch nur in ganz kleinen Schritten - ein
 wenig Normalität und vielleicht sogar
 Lebensfreude aufkam.
 Im Laufe der Zeit gab es dann noch viele Begegnungen in verschiedensten Ein-
 richtungen und auch privat. Einige davon sind mir in besonderer Erinnerung
 geblieben. Eines Abends saß ich bei (inwischen) Freunden mit dem Hausherrn am
 Esstisch und er bereitete mir eine Schale Tee. Dann kam er ins Erzählen und
 beschrieb mir so anschaulich die Stunden der Katastrophe, dass ich eine Gänse-
 haut bekam. Sein Haus lag auf einem Hügel und acht Jahre zuvor war der
 Tsunami bis an seine Grundstücksgrenze gestiegen. Sein Nachbar, dessen Haus
 nur wenig tiefer lag, hatte es nicht mehr geschafft. Er selbst hatte alles aufge-
 schrieben, aber bisher hatte er es niemandem außerhalb der Familie gezeigt. Erst
 jetzt war er bereit dazu.
 Bereits bei meinem dritten Besuch gingen wir in ein kleines Restaurant mit
Kaihō          No. 2/2021                März/April                      Seite 6
Kaihō - Deutsch-Japanische Gesellschaft in Bayern eV
exzellentem Essen und zwei wunderbaren nicht mehr
                            ganz jungen Damen als Bedienung. Das Restaurant
                            hatte an anderer Stelle schon früher bestanden und
                            war völlig zerstört worden. Sein Besitzer kam ums
                            Leben und es wäre nur noch Geschichte gewesen.
                            Dann allerdings entschied sich der Bruder des
                            damaligen Besitzers dazu, selbst das Kochen zu
                            lernen und das Restaurant wieder zu eröffnen, damit
                            auch die Angestellten weiterarbeiten könnten.
                              Dann ist da noch die Geschichte der lokalen Sake
 Brauerei. Sie wurde vollkommen zerstört, und der Besitzer wollte zuerst einfach
 nur weg. Dann aber entschied er sich, der Tradition und seinen überlebenden
 Mitarbeitern verpflichtet, einen Weg zu finden, die Brauerei wieder aufleben zu
 lassen. Ein Wiederaufbau an alter Stelle war undenkbar, also ging man in den
 nächsten Ort – sozusagen an die Rückseite des Berges, aus dem man das Wasser
 gewonnen hatte. Dort baute man dann eine neue Brauerei auf, und es zeigte sich
 ein weiteres Mal, wie die Menschen zusammenhielten: Bis die neue Brauerei
 wiedereröffnet werden konnte, stellte eine Brauerei im weit entfernten Ichinoseki
 ihre Braustätte zur Mitnutzung zur Verfügung.
 In der Nähe des alten Stadtzentrums entstand nach einigen Jahren dann ein
 Einkaufszentrum für viele neue, kleine Geschäfte.
 Anlässlich der Eröffnung lud mich der Trainer der
 Jugendfußballmannschaft, die von Adidas nach
 Deutschland eingeladen worden war und die ich
 bei der Gelegenheit kennengelernt hatte, zu einem
 Mittagessen ein. Inzwischen waren aus fast allen
 der „Jungs“ Studenten geworden, die überall im
 Land Universitäten besuchten. Seine Frau schickte,
 während wir auf unser Essen warteten, eine
 Nachricht an alle, und noch bevor wir mit dem
 Essen fertig waren, hatten fast alle geantwortet. Es
 war wunderbar zu hören, dass alle inzwischen
 ihren Weg machen.
 Und dann gab es da noch das Dorf in den Bergen.
 Es ist sehr abgelegen und fast alle Bewohner sind
 über 80 Jahre alt. Auf dem Weg dorthin kamen wir an einer Tankstelle vorbei.
 Vom Meer war schon lange nichts mehr zu sehen, und doch entdeckte ich an der
 Oberkante des Gebäudes die Markierung, bis zu der damals der Tsunami geflutet
 war. Es war irgendwie surreal… Im Dorf selbst traf ich dann die Bewohner. Und
 auch hier wurde ich verabschiedet mit der Bitte, bald wieder zu kommen. Beim
 folgenden Besuch hatten sie dann eine „Dokumentation“ für mich vorbereitet
 und erzählten von ihren Erlebnissen und Bräuchen. Ein alter Herr hatte extra ein
 paar Mini-Strohsandalen gemacht, so wie er sie in seiner Kindheit für den
 Schulweg trug. Beim dritten Mal gab es dann ein richtiges Fest: Eine Bewohnerin

Kaihō         No. 2/2021               März/April                         Seite 7
Kaihō - Deutsch-Japanische Gesellschaft in Bayern eV
war früher Tanzlehrerin und so hatte man traditionelle Tänze der Gegend
 vorbereitet und als Überraschung noch ein Mochitsuke (Mochi Pounding). Es
 zeigte sich einmal mehr, dass zwar viele alle materiellen Erinnerungen wie Bilder
 verloren hatten, aber die guten Erinnerungen im Kopf an die Zeit vor der
 Katastrophe möchte man teilen. Besucher sollen nicht nur in Erinnerung behalten,
 wie gebeutelt dieses Gebiet und seine Menschen sind, sondern dass es hier
 besonders schön war.
                                        Inzwischen sind viele neue Bauten
                                        entstanden: der riesige Schutzwall am
                                        Meer, die Gedenkstätte, das Einkaufs-
                                        zentrum, das neue „alte“ Hotel, eine neue
                                        City Hall. In einigen mehrstöckigen großen
                                        Gebäuden leben inzwischen viele der
                                        Menschen, die die ersten Jahre nach der
                                        Katastrophe in den Notunterkünften
                                        verbracht haben. Was geblieben ist, sind die
                                        Erinnerungen.
 Bei meinem Besuch 2018 hatte ich dann auch das erste Mal das Gefühl, dass hier
 wieder eine neue Stadt entsteht, eine gewisse Normalität eintritt. Gleichzeitig ist
 aber auch klar, dass es noch sehr, sehr lange brauchen wird. Das neu erbaute
 Museum soll die Erinnerungen wachhalten und auch vermitteln, wie es in der
 Zeit der Katstrophe und danach aussah. Als ich bei einem Besuch dort andere
 Gäste beobachten konnte, die das erste Mal in Rikuzentakata waren, war das ein
 sehr merkwürdiges Gefühl: da waren Schaustücke und Bilder, die sicher einen
 Eindruck vermitteln konnten, aber gleichzeitig wurde mir die Diskrepanz be-
 wusst zwischen dieser „schönen“ Darstellung und der Realität, die ich immer
 wieder erlebt hatte. Trotzdem sollten Sie, wenn Sie einmal nach Japan reisen, die
 Gegend besuchen und sich selbst ein Bild machen. Sie werden wunderschöne
 Natur erleben, köstliches Essen finden und ganz besondere Menschen treffen.

   „Zum Stand des Wiederaufbaus in    Nordostjapan 10 Jahre
        nach der Dreifach-Katastrophe vom 11. März 2011„
                Vortrag von Herrn Dr. Frank Bose

  Zeit:        Donnerstag, 15.3. um 19:00 Uhr
  Link: https://www.djg-berlin.de/events/zum-stand-des-wiederaufbaus-in-
  nordostjapan-10-jahre-nach-der-dreifach-katastrophe-vom-11-maerz-2011/

Kaihō          No. 2/2021               März/April                          Seite 8
Kaihō - Deutsch-Japanische Gesellschaft in Bayern eV
„Disziplin und Solidarität“
                    Bausteine im Krisenmanagement
              Beitrag von Dr. Leonard Meyer zu Brickwedde

 In den siebzehn Jahren, die ich damals schon in Japan lebte, hatte es niemals ein
 Erdbeben von dieser ungeheuren Stärke gegeben wie am 11. März 2011 um 14.46
 Uhr. In den Dörfern und Städten an der nordöstlichen Küste heulten die
 Alarmsirenen auf. Nur zwanzig Minuten später überschwemmte ein bis zu
 vierzig Meter hoher Tsunami Häfen und Strände und schob Autos, Häuser und
 Schiffe kilometertief landeinwärts. Über 18.000 Menschen starben.

 Wer die Bilder dieser Naturgewalten gesehen hat, wird sie niemals vergessen.
 Genauso tief hat sich mir jedoch ins Gedächtnis gebrannt, wie diszipliniert und
 solidarisch die Japaner auf diese Katastrophe reagierten. In den Tsunami-Gebieten
 retteten sich viele Anwohner auf Anhöhen, wie sie es schon in der Schule gelernt
 hatten, und sammelten sich gefasst in öffentlichen Gebäuden und Hallen als
 Notunterkünften. In der Hauptstadt Tokio blieben alle Bahnen stehen, der
 Verkehr stockte, der Strom fiel aus. Ständige kräftige Nachbeben schürten die
 Sorge um Familie und Freunde, aber die Menschen bewegten sich besonnen und
 ruhig. Man lief zu Fuß nach Hause, auch wenn es Stunden dauerte, viele kauften
 sich ein Fahrrad für den Heimweg! Geschäfte und Restaurants hielten ihre Türen
 für die Vorbeiziehenden offen, ließen sie die Toiletten benutzen und versorgten
 sie mit Getränken.

 Wenn ich heute gefragt werde, wie diese Katastrophe das Land verändert hat,
 dann lautet meine Antwort: Die Japaner haben in diesen zehn Jahren sich selbst
 und der Welt bewiesen, dass sie solche Krisen überstehen und managen können.
 Die Erfahrungen aus der damaligen Zeit haben mein Vertrauen in das japanische
 Vermögen gestärkt, extreme Herausforderungen anzunehmen und richtige
 Antworten zu finden. Als Beispiel fällt mir ein, dass die Regierung dazu auf-
 forderte, fünfzehn Prozent weniger Strom zu verbrauchen, mit dem Ergebnis,
 dass Firmen und private Haushalte den Verbrauch in kurzer Zeit um dreißig
 Prozent senkten.

 Sicher, aus deutscher Perspektive lief das Krisenmanagement gerade in den ersten
 Tagen nicht glatt. Die unklare Kommunikation des Nuklearunfalls im AKW
 Fukushima sorgte für Irritationen. Im Nachhinein muss man der Regierung von
 Premierminister Naoto Kan jedoch zugutehalten, dass niemand genau wusste,
 was sich in den Reaktoren abspielte. Außerdem wollte man einen Massenexodus
 aus dem Großraum Tokio vermeiden und verzichtete auf unnötige Spekulationen,
 wie es in den internationalen Medien passierte.

Kaihō         No. 2/2021               März/April                         Seite 9
Kaihō - Deutsch-Japanische Gesellschaft in Bayern eV
Für diejenigen Deutschen, die sich entschieden hatten, bei ihren Teams und
Mitarbeitern in Tokyo zu bleiben und gemeinsam, aufmerksam beobachtend, die
durch das Erdbeben entstandenen Schäden aufzuarbeiten, bestand die größte
Herausforderung darin, diese Entscheidung ihren Familienangehörigen in
Deutschland zu erklären, die von ständig neuen und extremen Szenarien zu
Fukushima beunruhigt waren.

Die Reaktoren in Fukushima, die durch den Ausfall der Stromversorgung komplett
isoliert waren, sind tatsächlich nie verlassen worden. Eine zunächst kleine Gruppe
von Mitarbeitern versuchte zunächst verzweifelt aber schon bald, trotz der lebens-
gefährlichen Situation im Kraftwerk unterstützt von weiteren Hundertschaften Frei-
williger der Feuerwehren aus Tokyo und Osaka, Mitarbeitern des Betreibers Tepco
und anderer Elektrokonzerne, den Schaden in Grenzen zu halten. Nach zehn Tagen
war es gelungen, das Kraftwerk wieder an die Stromversorgung anzuschließen. Die
Bedrohung war damit noch lange nicht abgewandt, aber die Arbeit daran hatte ab
jetzt den Charakter eines Projektes, das Schritt für Schritt weiter entwickelt wird.

Der Fokus vieler Auslandsmedien auf die Ereignisse in Fukushima und oft sensa-
tionell aufbereitete, nicht ortskundige Informationen verursachten ganz offensicht-
liche Fehlentscheidungen. So stellte beispielsweise eine der größten deutschen
Immobilien-Fondsgesellschaften vorübergehend die Rücknahme und den Verkauf
neuer Anteile an ihrem Global Immobilienfonds mit der Begründung ein, man könnte
aufgrund der Situation in Fukushima die Fondsobjekte in Tokyo (damals vierzehn
Prozent des Fondsvermögens) nicht mehr bewerten. Tatsächlich haben, wie die Grafik
zeigt, Immobilien in Tokio in den Monaten unmittelbar nach dem Erdbeben nicht an
Wert verloren.

Wenn ich heute in einer Zeit, in der Japan aufgrund der Corona-Pandemie erneut in
einer Krise steckt, an die Monate nach dem Erdbeben im März 2011 zurückdenke,
dann fallen mir wieder die beschriebenen speziellen Eigenschaften von Japan auf, die
dem Land und den Menschen schon damals geholfen haben.

Kaihō          No. 2/2021               März/April                         Seite 10
Als Anfang 2020 die Nachrichten über die Verbreitung eines neuen Virus in China
kamen, stellten sich die Menschen unmittelbar und geschlossen um. Gesichtsmasken
werden in Japan schon immer zur Grippezeit in Spätwinter und als Schutz gegen
Heuschnupfen durch Zedernpollen im Frühjahr häufig getragen. Nun sah man diese
durchgängig. Die Geschäfte und Unternehmen stellten Desinfektionsmittel in Büros
und an Eingängen auf. Im Ergebnis hatte Japan so nicht nur einen im Vergleich zu
Deutschland relativ milden Infektionsverlauf während der ersten Welle. Auch die
Zahl der Grippefälle sank um mehr als siebzig Prozent gegenüber den Vorjahren.

Japan musste keinen Lockdown verordnen. Die Aufforderung an Unternehmen, die
Büropräsenz durch Förderung von Home Office-Arbeit zu verringern und die Bitte
um verkürzte Öffnungszeiten von Restaurants und Bars reichten aus, um im Frühjahr
2020 und erneut auch jetzt wieder in der dritten Welle die Neuinfektionen
zurückzudrängen. Medienberichte aus Deutschland und anderen Ländern über
Proteste gegen „Freiheitsberaubung“ durch Maskenpflicht werden hier einfach nicht
verstanden. Den Schutz anderer, das Gemeinwohl versteht jeder Bürger als Pflicht.

Es passt in dieses Bild, dass Unternehmen wie Toyota tausende Mitarbeiter von
Unternehmen übernehmen, die unter den Auswirkungen der Corona-Pandemie den
Betrieb stark reduzieren müssen. Im Falle von Toyota handelt es sich im großen Stil
um Mitarbeiter von Mitsubishi Heavy Industry, deren Flugzeugproduktion
eingebrochen ist. Überall zeigt sich: Japan lebt seit Jahrtausenden mit der Bedrohung
durch Erdbeben, Tsunami und Taifune und ist im Krisenmanagement geübt und
geprüft. Das Land kann sich auf seine Kerncharaktereigenschaften Disziplin und
Solidarität verlassen, heute in der Pandemie genauso wie 2011 nach dem schweren
Erdbeben.

FRÜHLINGS-HAIKU

                                Lange auf die Sterne
                             am Himmel schauen. Milde
                                Frühjahrsnacht heute.
                                                                Inge Johnson

Kaihō          No. 2/2021               März/April                         Seite 11
„Akiya 空き家“
             Ursachen und Maßnahmen zu leer stehenden
                       Wohnhäusern in Japan
             Beitrag von Dr. med Ernst Engelmayr MBA

 Die folgenden Ausführungen basieren auf der gleichnamigen Seminararbeit, die
 Anna Rike Grauvogl, Studentin (Master) Japanologie, am Japan-Zentrum der
 LMU, im Rahmen des Seminars „Japan als Entschleunigungsgesellschaft?
 Phänomene, Diskurse und Praktiken in der japanischen Gegenwartsgesell-
 schaft“ (Leitung Prof. Dr. Evelyn Schulz, Sommersemester 2020) verfasste. Die
 Aufbereitung des Materials für den vorliegenden Beitrag erfolgt mit freundlicher
 Genehmigung der Autorin und tatkräftiger Unterstützung von Frau Prof. Evelyn
 Schulz.

 Japans Bevölkerung schrumpft deutlich!

 In den Statistiken zur Überalterung der Gesellschaft und im Hinblick auf die
 damit verbundenen ungünstigen demographischen Entwicklungen belegt Japan
 einen Spitzenplatz. Das Bevölkerungswachstum Japans erreichte um das Jahr
 2010 mit 128.057 Millionen Einwohnern seinen Höhepunkt. Seitdem nimmt die
 Bevölkerung Japans kontinuierlich ab. Laut einer Statistik des Statistics Bureau of
 Japan 総務省統計局 aus dem Jahr 2018 war die Bevölkerung Japans in jenem Jahr
 bereits auf 126.443.000 Menschen zurückgegangen. Die weitere Entwicklung lässt
 keinen Zweifel daran, dass dieser Trend der Bevölkerungsabnahme weiter anhält.
 Schätzungen des National Institute for Population and Social Security Research 日
 本の将来推計人口 zufolge könnte Japans Bevölkerung im Jahr 2060 nur noch
 etwa 87 Millionen betragen. Dieser Wert deckt sich mit der Schätzung, dass die
 Gesamtbevölkerung Japans in etwa 40 Jahren auf unter 90 Millionen Menschen
 und nach weiteren 100 Jahren auf einen Tiefpunkt von 50 Millionen Menschen
 fallen wird.

 Demographisch zählt Japan zu einem der „ältesten Länder“!

 Gegenwärtig sind 25% der Bevölkerung 65 Jahre und älter, weshalb Japan auch
 als „hyper-aged society“ bezeichnet wird. Dazu kommt, dass die Geburtenrate in
 Japan sehr gering ist: im Jahr 2016 lag sie bei 1,44. Auch das führt dazu, dass die
 Gesellschaft Japans weiter schrumpft.

Kaihō         No. 2/2021                März/April                         Seite 12
Landflucht verändert die Gesellschaft und sorgt für Probleme!

Ein weiteres weltweites gesellschaftspolitisches Problem, das auch in Japan von
großer Relevanz ist, ist die Landflucht: Junge Menschen drängen immer mehr in die
Städte, vor allem in die großen Metropolen. So gibt es auch in bayerischen Regionen,
z.B. Oberfranken und Oberpfalz, „sterbende Dörfer“. Die Jungen sind weg, zurück
bleiben nur die Alten. Dies führt zu dem Problem der „leerstehenden Häuser“ (jap.:
akiya 空き家). In Deutschland sind diese bisher nur eine Randerscheinung, in Japan
hingegen sind sie bereits ein seit längerem bekanntes Problem.

Offiziellen Daten des Statistics Bureau of Japan
zu „Dwellings by Occupancy Status (2003 to
2018)“ 居住世帯の有無別住宅数(平成15~30
年) zufolge gab es 2018 in Japan 8,46 Millionen
Akiya, was einem Anteil unter den Wohn-
gebäuden von 13,6% entspricht. Dieser Wert
bezieht sich auf ganz Japan, wobei es große
regionale Unterschiede gibt. Beispielsweise
war 2013 die Präfektur Yamanashi 山梨県 mit
17,2% die Präfektur mit dem größten Anteil
von Akiya und die Präfektur Miyagi 宮城県
mit 9,1% die mit dem geringsten. In Tokio betrug der Anteil der Akiya unter den
Behausungen ebenso überraschenderweise 11,1%, was ein vergleichsweise hoher
Wert ist. In einem „stabilen“ Wohnungsmarkt gelten 1% bis 5% Leerstandrate als
normal und förderlich. In Deutschland liegt die Zahl der leer stehenden bzw.
verlassenen Häuser in den Großstädten München und Hamburg bei 0,6% und 0,7%,
wohingegen der Anteil im östlichen Deutschland, die Hauptstadt ausgeschlossen, bei
6,5% liegt.

Worin liegen die Gründe für diese Entwicklung in Japan?

Einen maßgeblichen Hintergrund bildet eine Politik, die seit Jahrzehnten den Woh-
nungsmarkt aus wirtschaftlichen Gründen vorantreibt, obwohl der Bedarf seit Jahren
gesättigt ist. Diese führte dazu, dass vor allem in ländlichen Regionen ein deutliches
Überangebot an Wohnungen entstand: Seit 1968 übersteigt die Gesamtzahl der
Wohngebäude die Gesamtzahl der Haushalte. Im Jahr 2013 gab es einen Überschuss
von 8,18 Millionen Häusern. Dies führt dazu, dass es mittlerweile schwierig ge-
worden ist, ein Haus zu vermieten oder zu verkaufen, es sei denn, die Standort-
faktoren sind sehr gut.

Diese Entwicklung wird dadurch verstärkt, dass man in Japan lieber in einem
Neubau als in einem Altbau wohnen möchte und der Wunsch nach einem Eigenheim
sich vor allem auf Neubauten konzentriert. Wohnungsbau-Unternehmen wiederum
reagieren auf diese Wünsche und den daraus resultierenden Bedarf an neuen
Wohnungen und Häusern.

Kaihō          No. 2/2021               März/April                         Seite 13
So wurden dem Ministerium für Land, Infrastruktur und Transport 国土交通省
zufolge im Jahr 2014 über 970.000 neue Wohnhäuser errichtet. Zwar ist dieser Wert
im Vergleich zu früheren Jahren niedriger geworden, dennoch geht die Anzahl von
fast einer Million Neubauten am tatsächlichen Bedarf vorbei.

Ein weiterer Faktor, der die Zunahme von Akiya fördert, sind Policen für
Wohnhypotheken. Diese unterstützen den Kauf von neuen Häusern und tragen
damit dazu bei, dass alte Wohngebäude aus dem Wohnungsmarkt verschwinden
und dauerhaft zu Akiya werden.

Schließlich führen auch steuerliche Anreize
dazu, dass man baufällige und leerstehende
Häuser (akiya) auf einem Grundstück stehen
lässt, anstatt sie abzureißen. Dies liegt daran,
dass die Grundsteuer für brachliegendes Land
fünfmal höher ist als für bebaute Flächen. Ein
anderer Fall sind so genannte shigaika kuiki
市街化区域 („Urbanisierungs-Gebiete“).
Dabei handelt es sich um Gebiete in Vor-
städten und auf dem Land, die mit dem Ziel
die Urbanisierung voranzutreiben, als „Urbanisierungs-Gebiete“ ausgewiesen
werden und in der Folge niedriger besteuert werden als ungenutztes Land oder gar
landwirtschaftliche Flächen, die vergleichsweise gering besteuert werden. Dieses
steuerliche Instrument wird seit den 1970er Jahren eingesetzt, um Baugrund zu
gewinnen. Dies hat dazu geführt, dass mancher Landbesitzer kostengünstige
Apartmenthäuser errichtet, wenn die Gegend, in der sein Grundstück liegt, als ein
solches „Urbanisierungs-Gebiet“ ausgewiesen wurde.

Welche Lösungsansätze gibt es in Japan?

Zusammenfassend kann man sagen, dass es viele private Projekte gibt, die zwar nicht
unbedingt konkret auf Akiya ausgerichtet sind, die aber durch eine Stärkung der
lokalen Gemeinschaft und eine Bindung der Bewohner an ihre Heimat durchaus
einen positiven Einfluss auf die Situation der Akiya haben können. Daher sollte die
private Ebene bei den Überlegungen zu möglichen Lösungen des Problems nicht
unterschätzt werden. Zumal die endgültige Entscheidung, ob ein Haus aufgegeben
wird, immer bei dem Besitzer liegt. Ein weiterer Aspekt sind Maßnahmen auf lokaler
Ebene. Viele Regionen leiden unter Entvölkerung, Wegzug der jungen Bevölkerung
in die Städte und anderen gesellschaftlichen Problemen. Dazu zählt die stetige
Zunahme der Zahl der Akiya. Einige Städte und Regionen versuchen daher ihre
Akiya in sogenannten Akiya Banks 空き家バンク anzubieten.

Kaihō         No. 2/2021               März/April                       Seite 14
Leider gibt es für diese „Banks“ kein einheitliches System, was zu Schwierigkeiten
beim tatsächlichen Erwerb eines Akiya führt. In Städten wie z.B. in Kyoto gibt es
Projekte, die in der Bevölkerung ein Bewusstsein für die Problematik schaffen und
Unterstützung bei der Nutzung von Akiya anbieten. Die Projekte in Kyoto sind ein
sehr guter Anfang, allerdings sind sie nur auf eine Stadt beschränkt. Es wäre daher
gut, wenn solche vielversprechenden Konzepte auch in anderen Gegenden oder
sogar landesweit angewendet und von der Politik unterstützt würden.

Die Politik hat mittlerweile reagiert und 2014 ein „Sondergesetz über die Förderung
leerstehender Häuser“ (空家等対策の推進に関する特別措置法) erlassen, das die
Identifizierung von Akiya und deren Besitzern erleichtert und die Durchsetzung von
Empfehlungen und Anordnungen für deren Besitzer ermöglicht. Damit unterstützt
das Gesetz vor allem die Lösung akuter Probleme von bereits vorhandenen Akiya.
Allerdings trägt es nicht dazu bei, für die Zukunft die Zahl von neuen Akiya zu
reduzieren. Dies liegt darin begründet, dass die Wohnungsbau-Politik in Japan
unverändert vor allem auf wirtschaftliches Wachstum ausgerichtet ist. Diese
Zusammenhänge müssten daher überdacht werden, um dem Problem der Akiya
dauerhaft Herr zu werden.

Literaturhinweise:

Kubo, Tokomo und Yoshimichi Yui (2020). The Rise in Vacant Housing in Post-
growth Japan. Housing Market, Urban Policy, and Revitalizing Aging Cities.
Singapur: Springer Singapore.
Miki, Seko (2019). Housing Markets and Household Behavior in Japan. Singapur:
Springer Nature.
Zhang, Beibei (2020). “Why Is Japan’s Housing Vacancy Rate So High? A History of
Postwar Housing Policy”. Social Science Japan Journal 23 (1), S. 65-77.

Bildlegende:

 Bild 1: „Leerstehende Gebäude auf der Shimoda-Halbinsel.“ Foto von Prof. Dr.
 Evelyn Schulz, Oktober 2019
 Bild 2: "Innerstädtische Freifläche in Shimoda.“
 Ebenfalls Oktober 2019.

Kaihō          No. 2/2021               März/April                        Seite 15
Japanischer Sake, Nihon-shu (日本酒)
                 Genuss im Jahreszyklus und Alter
                     Beitrag von Kai Dräger
 Das grundsätzlich aus Reis, Wasser, Hefe und dem Hefepilz Kōjikabi (麹,
 aspergillus oryzae) bestehende japanische Nationalgetränk Sake* wird in seinem
 Heimatland im Einklang mit den vier Jahreszeiten gebraut und nicht nur jung,
 sondern auch längere Zeit gereift genossen. Die in Deutschland nur schwer
 erhältlichen saisonalen Produkte haben durch ihre unglaubliche Aromen- und
 Geschmacksvielfalt schon so manch einem Japanreisenden die Augen für das bei
 uns im Westen immer noch wenig beachtete Getränk geöffnet**. Dasselbe gilt
 insbesondere auch für länger gereiften Sake, der uns vom Profil her an einige
 Sherry, Port, Marsala und Madeira erinnert.

 Stellvertretend für den Jahreszyklus und die Reifung von
 Sake steht die über dem Eingang von Brauereien, Restau-
 rants und Bars hängende Sugidama (杉玉) oder auch
 Sakabayashi (酒林) genannte Kugel aus zusammengebun-
 denen und geschnittenen Zweigen der japanischen Sichel-
 tanne Sugi (杉, cryptomeria japonica). Die aus frischen,
 grünen Zweigen in Handarbeit hergegestellte Kugel wird
                     von einigen Brauereien traditionell am
                     Anfang der von September bis März
                     dauernden Brausaison aufgehängt, um zu signalisieren, dass
                     der erste Sake des Jahres trinkfertig ist. Die dann langsam
                     eintretende Braunfärbung der Kugel symbolisiert den konti-
                     nuierlichen Reifungsprozess des Sake bis zur nächsten
                     Brausaison.

 Ab Anfang November verläßt der erste frisch gebraute Sake
 des Jahres die Brauereien und bereichert die Getränkekarten
 der Bars und Restaurants und auch die Auslagen der Laden-
 geschäfte. Der als Shiboritate (しぼりたてabgeleitet vom
 japanischen Wort für pressen, shiboru 絞る) bezeichnete
 Sake wird direkt aus der vergorenen Maische gepresst und
 entweder durch Filtration von Reisrückständen befreit oder
 auch naturtrüb als Nigori-Sake (にごり酒) in Flaschen ab-
 gefüllt. Als unpasteurisierter Namazake (生酒) hat
 Shiboritate ein frisches, kräftiges jugendliches Profil mit
 merklicher Säure und Adstringenz, das oft durch einen
 Hauch Kohlensäure aus der gerade abgeschlossenen Gärung bereichert wird. Wie
 bei den meisten Sake liegt der Alkoholgehalt bei durchschnittlich 16%. Getrunken
 wird Shiboritate gekühlt, bei Raumtemperatur oder auch leicht erwärmt. Um die
 in der Flasche noch fortschreitenden mikrobiologischen Prozesse zu verlangsamen

Kaihō         No. 2/2021               März/April                        Seite 16
und dem Verlust seines lebendigen Charakters vorzubeugen, sollte Shiboritate bei
etwa 5 ° C im Kühlschrank aufbewahrt werden. Ungeöffnete Flaschen sollten
innerhalb von drei bis sechs Monaten verbraucht werden,
geöffnete Flaschen innerhalb weniger Tage.

Wenn es Frühling wird und die Temperaturen langsam
wieder steigen, werden die auf kältere Umgebungs-
temperaturen angewiesenen Brauprozesse beendet. Der
fertige Sake wird in Tanks und Flaschen eingelagert,
wobei die Lagertemperatur durch natürliche oder
künstliche Kühlung stets unter der Umgebungs-
temperatur bleibt. Um die mikrobiologische Stabilität
sicherzustellen und ihn länger haltbar zu machen, wird
Sake durch Erhitzen pasteurisiert. Traditionell findet
dieser Vorgang einmal vor der Lagerung im Winter und dann noch einmal vor der
Auslieferung statt. Heutzutage wird von vielen Brauern allerdings eine nur ein-
malige Pasteurisierung für ausreichend erachtet, da diese nicht so sehr in das Aroma-
und Geschmacksprofil eingreift. Der Frühling steht auch in Japan für Frische und
Erneuerung und wird durch die vielen gerade erst gebrauten Sake bereichert. In
bester Form zu genießen sind insbesondere die unpasteurisierten Namazake, die
über die nächsten Monate langsam ihre ursprüngliche Frische verlieren werden und
daher ideale Begleiter beim Betrachten der ebenfalls vergänglichen Kirschblüte sind.

Wenn im Juni die Regenzeit über das Land zieht und sich im
Juli die heißschwüle Sommerhitze über das Land legt, kommt
der eigens für diesen Zweck gebraute Sommersake (Natsu-
Sake, 夏酒) mit farbenfrohen Motiven auf den Etiketten wie
Feuerwerk, Sommerblumen, Strand und Meer, auf den Markt.
Während das Aroma und der Geschmack des Sommers von
jedem Brauer frei interpretiert wird, ist Natsu-Sake im All-
gemeinen erfrischend, leicht und trocken, aber auch fruchtig
aromatisch. Natsu-Sake wird oft als unpasteurisierter
Namazake gebraut, um sein Profil noch lebendiger zu ge-
stalten. Beliebt sind seit einigen Jahren auch Sake mit natürlicher oder zugesetzter
Kohlensäure (sog. Sparkling Sake, スパクリンぐ). In der japanischen Sommerhitze
wird Natsu-Sake stark gekühlt getrunken und auch gerne mit Soda oder auf Eis
serviert, das den Sake dann schmelzend angenehm verdünnt. Soweit nicht als
Namazake gebraut, lässt sich die Erinnerung an den vergangenen Sommer bei
Temperaturen unter 15 ° C bis zu einem Jahr gelagert konservieren. Geöffnete
Flaschen sollten allerdings innerhalb von einer bis zwei Wochen konsumiert werden.

Nachdem sich die sommerliche Hitze im September langsam gelegt hat, schließen
die traditionell als Hiyaoroshi (冷やおろし) und Akiagari(あきあがりbezeichneten
herbstlichen Saisonprodukte den Jahreszyklus des im letzten Winter gebrauten Sake.
Die Kugel aus den Zweigen der japanischen Sicheltanne ist mittlerweile tiefbraun
gefärbt. Durch die halbjährige Lagerung hat der Sake ein reifes, mildes, rundes und

Kaihō         No. 2/2021               März/April                         Seite 17
ausgewogenes Aroma und Geschmacksprofil erhalten. Akiagari steht dabei für die
traditionelle zweifache Pasteurisierung vor Lagerung und
vor Versand, während Hiyaoroshi nur einmal vor seiner
Lagerung im Winter pasteurisiert wird und dadurch noch
etwas von seinem jugendlichen Profil beibehält. Der
Begriff Hiyaoroshi bedeutet wörtlich kühler Versand.
Damit der Sake seine Qualität auch bei einmaliger Pasteu-
risierung beibehält, wurde Hiyaoroshi nämlich erst dann
ausgeliefert, wenn die Umgebungstemperatur der kühlen
Lagertemperatur entsprach. Durch die heutige Kühl-
logistik und die Erkenntnis, dass eine einmalige Pasteu-
risierung durchaus genügt, ist dieses Problem in den
Hintergrund gerückt. Je später Hiyaoroshi auf den Markt kommt, desto reifer ist der
Sake. Hiyaoroshi kann in allen Temperaturen getrunken werden, jedoch zeigt sich
seine vollendete Reife besonders bei warmen Temperaturen von 40 bis 50° C.
Aufgrund der durch die Pasteurisierung erlangten mikrobiologischen Stabilität
können Akiagari und Hiyaoroshi bei Temperaturen unter 15 ° C bis zu einem Jahr
gelagert werden. Geöffnete Flaschen sollten allerdings innerhalb von einer bis zwei
Wochen konsumiert werden.

Neben den saisonalen Produkten gibt es die vielen ganzjährig erhältlichen Sake, die
ebenfalls gereift werden, um ihr Aroma- und Geschmacksprofil abzurunden, bevor
sie auf den Markt kommen. Je nach Sake kann dies sechs Monate bis ein Jahr oder
länger dauern. Seinen ursprünglichen Charakter verändert
ein Sake dabei nicht bzw. nur im Sinne einer graduellen
Reifung zur Verbesserung des ursprünglichen Aroma- und
Geschmacksprofils. Eine wirkliche Entwicklung zu einer
komplexeren Form von Sake, die auf Japanisch als Koshu (古
酒), alter Sake oder Chōki Jukusei-Shu (長期熟成酒), lang-
fristig gereifter Sake bezeichnet wird und die ich hier als
„Aged Sake“ bezeichnen werde, findet erst zwischen drei
und fünf Jahren statt. Insbesondere die Maillard-Reaktion
spielt dabei eine wichtige Rolle. Der im Sake enthaltene Rest-
zucker reagiert mit den Aminosäuren und erzeugt eine neue Aroma- und
Geschmacksvielfalt, die uns im Westen nicht unbekannt ist und mit der Reifung
einiger Sherry, Port, Marsala und Madeira verglichen werden kann. Lange Reife
verleiht Aged Sake einen ausdrucksstarken und kraftvollen Körper mit ausgewo-
gener Süße, Säure und zarter Bitterkeit sowie eine kräftige, viskose Textur und einen
langen Abgang. Die breitgefächerte Aromen- und Geschmacksvielfalt reicht von
süßen Noten (Honig, braunem Zucker, Melasse, Karamell, Vanille und getrockneten
Früchten) über Butter-, Schokoladen- und Kaffee- und Nussnoten (Mandel und
Walnuss) und Gewürzen (Anis, Nelke, Zimt, Pfeffer und Muskatnuss) bis zu
herzhaften Noten (Sojasauce, Shiitake, eingelegtem Gemüse und Bouillon). Durch die
entstehenden gelbbraunen stickstoffhaltigen organischen Verbindungen
(Melanoide), wandelt sich der Farbton langsam von zitronengelb zu gold-, bern-
steinfarben und dunkelbraun um.

Kaihō         No. 2/2021               März/April                         Seite 18
Trockene Aged Sake passen sehr gut zu geschmacksintensiver
japanischer, asiatischer und westlicher Küche, wie z.B. zu
italienischen Gerichten auf Tomatenbasis, würzigen chinesi-
schen Speisen, rustikalen Rindersteaks, deftigen Eintöpfen und
aromatischen indischen Currys. Als Digestif passt Aged Sake
hervorragend zu dem intensiven und pikanten Geschmack von
Käse, wie z.B. Parmesan, Gorgonzola und Roquefort, aber auch
zu bittererer Schokolade, trockenen Früchten, Nüssen und als
Begleiter zu einer guten Zigarre.

Gereift wird Aged Sake in verschiedensten Gefäßen und an unterschiedlichsten
Orten, die Einfluss auf das Aroma und den Geschmack des Endprodukts haben. Das
Spektrum reicht von Stahltanks über Glasflaschen und Keramikgefäßen bis zu Holz-
fässern aus Zedern- oder Eichenholz, die in Lagerhallen, Kühlräumen, Höhlen und
sogar unter Wasser im Meer gelagert werden. Ein Zeitrahmen ist für die Reifung von
Aged Sake nicht vorgeschrieben und es gibt keine allgemein gültige Definition.
Zumindest der 1985 gegründete private japanische Verein
für langfristig gereiften Sake (Chōki jukusei-shu kenkyūkai,
長期熟成酒研究会) hat einige Leitlinien für seine Mitglieder
festgelegt. Um das Altern unter anderem von der bloßen
Verbesserung des ursprünglichen Aroma- und Geschmacks-
profils zu unterscheiden, ist eine Mindestalterungszeit von
drei Jahren vorgesehen. Die Gruppe unterscheidet des Wie-
teren drei Stile: Kojuku (濃熟), bei Umgebungstemperatur
gereifter Sake mit tiefer Farbe, der sich extrem von dem Aroma und Geschmack des
Ausgangproduktes absetzt. Chūkan (中間), in einer Kombination aus niedriger
Temperatur und Umgebungstemperatur gereifter Sake mit tiefer Farbe, der immer
noch einen Teil von dem Aroma und Geschmack des Ausgangproduktes aufweisen
kann und Awajuku (淡熟) als elegantesten Reifungsstil. Awajuku wird ausschließlich
bei sehr niedrigen Temperaturen gereift. Das Ergebnis ist ein Sake mit heller Farbe,
der viel von dem Aroma und Geschmack des Ausgangproduktes beibehält und oft
mit zarter Bitterkeit veredelt ist. Neben dem Verein für langfristig gereiften Sake
existiert noch die im November 2020 neu gegründete Toki Sake Vereinigung, diese
hat sich der Vermarktung und auch der Forschung von Aged Sake verschrieben hat
und versucht, Spitzenprodukte angesehener Brauereien im preislich oberen Segment
des Marktes zu etablieren.

Aged Sake ist keine frühzeitliche Entdeckung oder Kopie westlicher Spirituosen,
sondern wurde bereits in Büchern von Tempeln und Verwaltungen in der ehema-
ligen japanischen Hauptstadt Kamakura (1185–1333) erwähnt. In der nach dem
damaligen Namen der japanischen Hauptstadt Tokio benannten Edo-Zeit (1603 bis
1868) wurde z.B. ein neun Jahre lang gereifter Sake als Luxusware gehandelt und zu
besonderen Anlässen gereicht. Dieser neun Jahre alte Sake bzw. eine Reproduktion
aus schwarzen Bohnen, Sake und Miso wird auch heute noch für kaiserliche Hoch-
zeitszeremonien verwendet. Zwischen 1868 bis 1945 verschwand gereifter Sake dann
aus dem Markt. Ursache war eine Veränderung der japanische Steuergesetzgebung.

Kaihō          No. 2/2021              März/April                         Seite 19
Anstelle der Besteuerung zum Verkaufszeitpunkt wurde bereits
an den Zeitpunkt der Produktion angeknüpft. Angesichts der
hohen Steuerlast und dem Risiko, dass Sake beim Reifen auch
verderben kann, bestand für Brauer kein Anreiz, Sake länger als
notwendig zu lagern. Seitdem diese Besteuerung 1945 wieder
abgeschafft wurden, bemühen sich einige Brauereien darum,
Aged Sake auf dem japanischen Markt zu etablieren. Allerdings
macht Aged Sake immer noch einen sehr geringen Teil des
Inlandmarktes aus. Dies liegt insbesondere an der geringen
Nachfrage und den kleinen Produktionsmengen der wenigen
Brauereien, die Sake überhaupt länger reifen lassen.

Unser DJG Mitglied Kai Dräger ist deutscher Rechtsanwalt und arbeitet in der
Konzernrechtsabteilung der TDK Corporation in Tokyo. In seiner Freizeit beschäftigt
sich Herr Dräger mit Sake. Er ist durch den Sake Educational Council (SEC) als Sake
Professional (CSP) zertifiziert, SSC Sake Scholar und hält den WSET Level 3 Award in
Sake. Herr Dräger beantwortet gerne Fragen unserer Mitglieder zum Thema unter
info@aged-sake.com.

* Der in diesem Artikel der Einfachheit halber verwendete Begriff „Sake“ (酒) ist der
unspezifische japanische Sammelbegriff für alle Alkoholika, einschließlich Bier und
Wein. Der korrekte Begriff für das Getränk, das wir im Westen als Sake kennen, lautet
in Japan eigentlich „Japanischer Sake“, „Nihon-shu“ (日本酒). Wer in Japan seinen
„Sake“ bestellen möchte, sollte spezifisch nach „Nihon-shu“ (日本酒) fragen.

** Die nachfolgenden Erörterungen zu saisonalen Produkten und gereiften Sake sind
allgemeingültig und unabhängig von den dem Leser vielleicht bekannten Sake-
Typen wie Daiginjō, Ginjō, Honjōzō Sake und den Stilen wie Junmai, Kimoto,
Yamahai.

Bildlegende (Aufnahmen Kai Dräger)
 Bild 1: Neuer Sugidama, Brauerei Hirase, Hida
 Bild 2: Brauner Sugidama, Gekkeikan Brauerei Museum, Kyoto
 Bild 3: Shiboritate, Brauerei Tanaka, Himeji
 Bild 4: Shiboritate Angebot, Brauerei Hirase; Hida
 Bild 5: Nigori-Sake, Brauerei Masuda Tokubee, Kyoto
 Bild 6: Natsu-Sake, Brauerei Nagayama, Yamaguchi
 Bild 7: Akiagari, Brauerei Kayashima, Oita
 Bild 8: Hiyaoroshi, Brauerei Miyasaka, Nagano
 Bild 9: Aged Sake, Brauerei Kayashima, Oita
 Bild 10: Aged Sake, Brauerei Fukumitsuya, Kanazawa

Kaihō          No. 2/2021               März/April                        Seite 20
„Eulenburg—Mission“
                      Beitrag von Dr. Andrea Hirner

 Die Eulenburg-Mission und die ersten diplomatischen Kontakte zwischen
 Japan und Deutschland.

 1. Teil: Die Voraussetzungen.

 Vor 160 Jahren, am 24. Januar 1861, wurde der erste Vertrag zwischen Japan und
 Deutschland unterzeichnet. „Deutschland“ ist in diesem Zusammenhang
 allerdings nicht der richtige Ausdruck, denn ein „deutsches“ Reich existierte noch
 nicht. In Frankfurt am Main gab es einen „Deutschen Bund“, der sich aus drei
 Dutzend Fürstentümern und vier freien Reichsstädten zusammensetzte. Im
 Vergleich zu den europäischen Nationalstaaten war dies ein schwaches Gebilde,
 das der politischen Entwicklung des übrigen Europa hinterherhinkte. Größere
 Mitglieder wie etwa das Königreich Bayern suchten noch nach einer angemes-
 senen Stellung im Deutschen Bund, und drohend
 kristallisierte sich bereits ein Konflikt zwischen dem
 Königreich Preußen und dem Kaiserreich Österreich
 heraus. Das Kaiserreich hatte mit der Weltumseglung
 der Novara von 1857 bis 1859 seine maritimen Fähig-
 keiten bewiesen. Das Königreich Preußen dagegen war
 eine Landmacht, und doch war es dann Preußen, unter
 dessen Fittichen erfolgreich eine diplomatische
 Mission nach Ostasien ausgesendet wurde: Friedrich
 Graf zu Eulenburg (1815-1881) brachte die ersten
 Verträge mit Japan, China und Siam zustande und
 verhalf damit seinem Auftraggeber zu einem Plus-
 punkt im Streben um die Vorherrschaft im künftigen
 deutschen Reich.

 Mit der Öffnung Japans durch die Verhandlungen des amerikanischen
 Commodore Matthew Calbraith Perry (1794-1858) 1853/1854 war auf einmal
 Japan ins Blickfeld gerückt, das bis dahin kaum eine Rolle gespielt hatte. Das
 Kaiserreich China war bereits in zwei Kriegen gezwungen worden, Häfen für
 ausländische Kaufleute zu öffnen, doch Japan hatte sich bis dahin erfolgreich
 gegen diese Forderungen gesträubt. Seit der Machtergreifung der Tokugawa 1603
 galt die Doktrin einer Abschließung gegen westliche Länder; ausgenommen
 davon waren bekanntlich die Niederlande und China als Nachbarland. Philipp
 Franz von Siebold hatte noch 1844 ein Schreiben des holländischen Königs
 Wilhelm II. an das Shogunat angeregt und darin eine vorsichtige Öffnung des
 Landes vorgeschlagen – er hatte den immensen Aufschwung der europäischen

Kaihō         No. 2/2021               März/April                         Seite 21
Länder und der Vereinigten Staaten richtig eingeschätzt und fürchtete die Folgen
 für Japan.

 Es waren dann nicht diplomatische Erwägungen, sondern die robusten
 Forderungen der jungen USA, die die Entwicklung vorantrieben. Mehrere
 amerikanische Emissäre nach Japan waren vorher gescheitert und erfolglos
 wieder abgezogen. Wenn man in Washington zwar von einer „humanitären“
 Aufgabe sprach, dieses renitente Volk der Japaner der Weltgemeinschaft
 zuzuführen, standen tatsächlich wirtschaftliche Interessen hinter der Entsendung
 von Perry. Für den äußerst lukrativen, aber gefährlichen Walfang im Norden von
 Japan brauchten die USA dringend eine Versorgungsstation auf Japan, wo man
 Kohle aufnehmen und kranke Seeleute versorgen konnte. Doch das hatte die
 Shogunats-Regierung immer abgelehnt.

 Als er mit vier Schiffen am 8. Juli 1853 in der Bucht vor Edo auftauchte, schaffte er
 sofort Fakten und weigerte sich, Nagasaki als Verhandlungsort zu akzeptieren.
 Dort gab es japanische Küstenwachmannschaften und damit die Möglichkeit,
 seine Landung zu verhindern, aber in Edo gab es dergleichen nicht. Die
 Hauptstadt lag ungeschützt vor den amerikanischen Schiffen.

 Japan mangelte es nicht an tapferen Samurai, die ihr Land bis zum letzten
 Blutstropfen verteidigt hätten – wohl aber an schwerem Kriegsgerät. Der über 200
 Jahre währende innerjapanische Frieden und das Fehlen einer Bedrohung von
 außen hatten es nicht nötig gemacht, neue Waffen zu entwickeln. In Europa
 dagegen waren es die unablässigen Kriege, mit denen sich die europäischen
 Reiche gegenseitig überzogen, die für eine entscheidende Entwicklung der
 Waffentechnik sorgten.

 Alleine die Drohung Perrys, seine Bordkanonen einzusetzen und die neuen
 sechsschüssigen Colts, reichte aus, den Japanern die Ausweglosigkeit ihrer Lage
 zu demonstrieren. Ihre kostbaren Schwerter und einige einzelne kleinere
 Kanonen symbolisierten mehr den Stolz der japanischen Kriegerkaste, als dass sie
 wirksam einsetzbar waren. Der immerwährende interne Frieden machte - so
 traurig es klingt - den raschen Sieg von Perry erst möglich.

 Nach dem Vertrag von Kanagawa vom 31. März 1854 beeilten sich die
 europäischen Staaten, den USA zu folgen und Verträge mit der japanischen
 Regierung des Shogunats abzuschließen, die diesen Forderungen hilflos
 gegenüberstand: Großbritannien, Frankreich, Russland (das nur um einige
 Monate nach Perry zu spät nach Japan gelangte) und schließlich noch die
 Niederlande. 1859 wurden die drei Häfen Nagasaki, Yokohama und Hakodate
 für den Außenhandel geöffnet, 1868 kamen noch Kobe und Niigata hinzu. Von
 diesen gewann vor allem Yokohama an Bedeutung und entwickelte sich zum
 wichtigsten Wohnort für die Ausländer und die damalige Hauptstadt Edo mit
 ihrer Millionen zählenden Bevölkerung zum Hauptabsatzmarkt für europäische
 Güter.

Kaihō          No. 2/2021                März/April                          Seite 22
In Japan leben und Handel treiben durften allerdings nur die Angehörigen der
 „Vertragsstaaten“, was die Deutschen damit ausschloss. Von ihnen gab es aber
 bereits seit den 1840er Jahren einige Handelshäuser, die sich in den Vertragshäfen
 des Kaiserreichs China niedergelassen hatten und erfolgreich agierten.Von China
 war es nicht weit nach Japan, wo es offensichtlich neue Chancen gab, die aber nur
 von den Handelsagenten der zugelassenen Länder genutzt werden konnten.
 Louis Kniffler, ein aus dem Rheinland stammender
 Preuße (1827-1888), hatte das Handelshaus L.
 Kniffler & Co. gegründet, auf Deshima in Nagasaki,
 das gerade (1859) als Vertragshafen eröffnet worden
 war. Da er vorher in Batavia gearbeitet hatte, stellte
 er sich unter den Schutz der Niederlande, um un-
 behelligt seinen Geschäften nachgehen zu können.
 Das erinnert an Philipp Franz von Siebold, der ja
 auch als „Holländer“ nach Japan gelangt war.

 Kniffler war durchaus geschickt und erfolgreich: 1867 lieferte er die ersten Krupp-
 Kanonen nach Japan, denn Rüstungsgüter wurden immer wichtiger für den
 Import. Allerdings konnten sie die Shogunats-Regierung nicht mehr retten, die
 Ende 1867 die Regierungsgewalt in die Hände des Kaisers zurückgab. Da Kniffler
 geschickt beide Kontrahenten, die aufsässigen Daimyos und die Shogunats-
 regierung, gleichzeitig mit Waffen versorgte, stieg er zum zweitgrößten Rüstungs
 -händler in Japan auf. Wie die anderen ausländischen Handelsagenten exportierte
 Kniffler vorwiegend Tee und Seide aus Japan nach Europa, bediente aber auch
 die asiatischen Märkte. Sein Manko war, dass kein deutsches Handelsschiff Japan
 anlaufen durfte, solange Deutschland noch nicht zu den „Vertragsstaaten“
 gehörte.

 Der zerstrittene Deutsche Bund mochte politisch schwach sein, aber Technik und
 Industrialisierung hatten die wirtschaftliche Entwicklung in den deutschen
 Ländern vorangetrieben. Neue Absatzmärkte wurden gesucht. Der zunehmende
 überseeische Handel durch den Einsatz von Dampfschiffen erhöhte die
 Bedeutung der deutschen Seehäfen Bremen, Hamburg und Lübeck. Daher ging
 eine erste Initiative von diesen drei norddeutschen Städten aus, die mit Argwohn
 die Handelsbemühungen der anderen europäischen Staaten und der USA
 registrierten. Schon 1855 lag ein Antrag der hamburgischen Kaufmannschaft an
 den heimischen Senat vor, mit Japan in Verhandlungen zu treten. Ziemlich
 blauäugig glaubte man, einen eigenen Vertrag erreichen zu können (die
 Hansestädte waren ja „freie“ Städte), und setzte sogar einen Brief an den „Kaiser
 von Japan“ (gemeint war der Shogun) auf, von dem allerdings keine Antwort
 kam. Für eine diplomatische Mission reichten die Kräfte der Hansestädte nicht
 aus.

Kaihō         No. 2/2021                März/April                         Seite 23
Einen Handelsvertrag mit dem neuen Mitspieler auf der internationalen Bühne Japan
abzuschließen, wurde in der Mitte Europas inzwischen zu einem politischen Kalkül
zwischen Preußen und Österreich, wobei Preußen diesmal die Oberhand behielt.
Doch erst, als die noch vagen Pläne der preußischen Regierung bekannt wurden, eine
diplomatische Delegation nach Fernost zu entsenden, nahmen diese Forderungen
Gestalt an. In Berlin war es vor allem Handelsminister August von der Heydt (1801-
1874), der seit 1854 zunehmend auf diese Expedition drängte. Es gab nur ein gra-
vierendes Problem, denn Preußen verfügte noch nicht über die für eine solche Fahrt
nach Ostasien notwendigen Schiffe. Die „Königlich Preußische Marine“ hatte große
Mühe, wenigstens vier Schiffe aufzutreiben: die Korvette Arcona und die Fregatte
Thetis waren noch im Bau, ein kleinerer Schoner konnte durch eine Kollekte unter
Frauen gekauft werden und erhielt deshalb den Namen Frauenlob, und das
Transportschiff Elbe steuerte Hamburg bei. Am 9. August 1859 gab der Preußische
Landtag grünes Licht für die Unternehmung, doch die Abfahrt verzögerte sich immer
wieder; so geriet die Arcona in der Nordsee gleich in einen schweren Sturm und
musste in England in die Reparatur. Das Unternehmen stand erst einmal unter
keinem guten Stern.

Bildlegende:

Bild 1: Porträt von Graf zu Eulenburg
Bild 2: Abbildung des Vertrags mit der Unterschrift Eulenburgs und seiner
japanischen Partner

FRÜHLINGS-HAIKU

                                Märztag im Nebel –
                            in Schläfrigkeit eingetaucht
                                verrinnt dieser Tag.
                                                           Christine Matha

Kaihō          No. 2/2021               März/April                          Seite 24
Sie können auch lesen