Kolonialismus im Comic. Eine Analyse von Hergés "Tim im Kongo"
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Institut für deutsche Sprache und Literatur Master Lehramt Grundschule (Deutsch, Sachunterricht) Masterarbeit Kolonialismus im Comic. Eine Analyse von Hergés „Tim im Kongo“ Zur Erlangung des akademischen Grades Master of Education Sommersemester 2020 vorgelegt von: Helena Mengert Prüfungsfach: Deutsch Datum der Abgabe: 24.09.2020 Erstprüfer: Prof. Dr. Toni Tholen Zweitprüferin: Dr. phil. Andrea Germer
Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung ............................................................................................................................................................. 1 2 Der Comic als literarisches Genre ........................................................................................................................ 2 2.1 Merkmale und Besonderheiten des Comics .................................................................................................. 3 2.1.1 Begriffsklärung und Definition ............................................................................................................. 3 2.1.2 Geschichte ............................................................................................................................................. 5 2.2 Tim und Struppi als Comic ......................................................................................................................... 11 2.3 Georges Remi alias Hergé .......................................................................................................................... 13 2.3.1 Biographisches zum Autor .................................................................................................................. 13 2.3.2 Hergés Arbeitsweise ............................................................................................................................ 15 2.3.2.1 Ligne claire....................................................................................................................................... 15 2.3.2.2 Hergé und Tintin .............................................................................................................................. 17 2.4 Tim im Kongo ............................................................................................................................................. 17 2.4.1 Entstehung ........................................................................................................................................... 17 2.4.2 Handlung ............................................................................................................................................. 19 3 Das kulturhistorische und gesellschaftliche Weltbild Anfang des 20. Jahrhunderts .......................................... 20 3.1 Kolonialismus und Imperialismus .............................................................................................................. 20 3.1.1 Kolonialismus ...................................................................................................................................... 20 3.1.2 Imperialismus ...................................................................................................................................... 22 3.1.3 Rassismus ............................................................................................................................................ 23 3.2 Afrikanische Geschichte ............................................................................................................................. 24 3.2.1 Problematik der afrikanischen Geschichtsschreibung ......................................................................... 24 3.2.2 Europäische Perspektive zur Zeit des Kolonialismus .......................................................................... 26 3.2.3 Die Geschichte Belgisch-Kongos ........................................................................................................ 27 4 Die Darstellung des Kolonialismus in Tim im Kongo ........................................................................................ 34 4.1 Flora und Fauna .......................................................................................................................................... 34 4.2 Leopardenmann .......................................................................................................................................... 36 4.3 Boy .............................................................................................................................................................. 37 4.4 Herrschaftsstrukturen und Tribalismus ....................................................................................................... 38 4.5 Hierarchie ................................................................................................................................................... 40 4.6 Mission ....................................................................................................................................................... 42 4.7 Sprache ....................................................................................................................................................... 44 4.8 Optische Darstellung .................................................................................................................................. 48 5 Rezeption ........................................................................................................................................................... 50 5.1 Kritik und Konsequenzen ........................................................................................................................... 50 5.2 Möglichkeiten und didaktisches Potential .................................................................................................. 52 6 Fazit.................................................................................................................................................................... 53 Literaturverzeichnis .............................................................................................................................................. 55 Anhang .................................................................................................................................................................. 59 Eigenständigkeitserklärung ................................................................................................................................... 72
1 Einleitung Gerade einmal 60 Jahre ist es her, dass die ehemalige belgische Kolonie, der heutige Kongo, die Unabhängigkeit von seiner Kolonialmacht erlangte. 30 Jahre zuvor erschienen die ersten Seiten von Tim im Kongo in der französischen Jugendzeitung Le Petit Vingtième, in dem der Reporter Tim mit dem Auftrag, eine Reportage über Belgisch-Kongo zu produzieren, in die Kolonie reist und verschiedene Abenteuer erlebt. Jedoch stand der Comic wiederholt auf- grund pro-kolonialistischer und rassistischer Darstellungen in der Kritik. Im Jahr 2007 forder- te ein kongolesischer Student aus diesem Grund ein Verkaufsverbot des Comics und klagte vor Gericht1. Allerdings stammt die Urfassung des Comics aus dem Jahr 1930, als der Kolo- nialismus und damit verbundene Denkweisen über andere Menschengruppen das damalige Weltbild in der europäischen Bevölkerung prägten. Rassismus ist bis heute ein präsentes Phä- nomen, dass gerade durch die Black Lives Matter-Bewegung wieder in den Fokus der Medien gerückt ist. Doch inwieweit steht rassistisches Denken mit den Inhalten eines 90 Jahre alten Comics in Verbindung? Wäre ein Verkaufsverbot ein sinnvoller Schritt, um gegen Rassismus vorzugehen? Die Geschichten von Tim und Struppi sind weltweit beliebt und wurden in über 80 Sprachen übersetzt. Daher stellt sich die Frage, ob ein solches Medium wie der Comic möglicherweise auch als Zugang dienen kann, um sich kritisch mit genau diesen Themen aus- einanderzusetzen, was eine Daseinsberechtigung auf dem Büchermarkt durchaus legitimieren würde. Aus diesem Grund werden die Inhalte des Comics in dieser Arbeit im Hinblick auf kolonialistische und rassistische Aspekte hin genauer betrachtet, um u.a. zu beurteilen, ob bzw. unter welchen Bedingungen Tim im Kongo gelesen und verkauft werden sollte. Die vorliegende Arbeit ist dem Bereich Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik zuzuord- nen, welcher unter anderem den Aspekt Sprache, Diskurs, Literatur und Medien in histori- scher und gesellschaftlicher Perspektive beinhaltet, wobei der Fokus dieser Arbeit eindeutig auf der historischen Perspektive liegt. Wie bereits der Titel andeutet, ist das Ziel dieser Arbeit, Aspekte des Kolonialismus im Comic aufzuzeigen, in diesem Fall in der Farbausgabe von Hergés Tim im Kongo. Die Besonderheit bei dem gewählten Thema ist, dass der Produktions- zeitraum des Comics deckungsgleich mit der im Comic dargestellten Epoche ist. Da der Ko- lonialismus jedoch sowohl Einfluss auf die Menschen in den Kolonien als auch auf die euro- päische Bevölkerung hatte, ist auch der Autor von diesem beeinflusst. Aus diesem Grund steht zwar die Darstellung des Kolonialismus im Comic im Vordergrund, jedoch müssen bei 1 vgl. AFP: Student aus Kongo verklagt Tim und Struppi. 08.08.2007. https://www.welt.de/kultur/article1089188/Student-aus-Kongo-verklagt-Tim-und-Struppi.html (12.09.2020). 1
der Analyse auch die Umstände unter denen Tim im Kongo geschrieben wurde, insbesondere das Weltbild und die Intention des Autors mit einbezogen werden, um die Darstellung nach- vollziehen zu können. Diesem Forschungsziel lässt sich folgende Fragestellung überordnen: Inwiefern werden Elemente des Kolonialismus im Comic Tim im Kongo dargestellt? Zunächst wird daher auf den Comic als literarisches Genre eingegangen, da sich dieses durch einige Besonderheiten, insbesondere die Bedeutung der Bildebene, von anderen Genres unter- scheidet. Im Anschluss wird auf die Tim und Struppi-Comics im Speziellen eingegangen. Die Merkmale dieser werden mit biographischen Informationen des Autors verknüpft, welche für die Analyse des Inhalts aus oben genannten Gründen von Bedeutung sind. Im Zusammenhang damit wird im Folgenden die Entstehung und Intention von Tim im Kongo dargelegt. Danach findet ein thematischer Sprung statt und der Fokus wird auf das Weltbild des Produktionszeit- raums des zu analysierenden Comics gelegt. Hierfür werden die zusammenhängenden Phä- nomene Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus genauer erläutert. Außerdem wird der historische Kontext, d.h. die spezifische Geschichte der Kolonie Belgisch-Kongo, dargestellt. In diesem Zusammenhang wird eine kritische und reflektierte Betrachtung der Quellenlage zur afrikanischen bzw. Kolonialgeschichte vorgeschoben. Im Anschluss daran werden die beiden Themenblöcke in der Analyse miteinander verbunden. Bei dieser werden ausgewählte Aspekte in Tim im Kongo beschrieben und Referenzen zu der damaligen Realität in der Kolo- nie gezogen. Außerdem werden die Wirkung der Darstellung thematisiert und mögliche Gründe für diese unter Rückbezug auf das Weltbild des Autors aufgezeigt. Im Anschluss da- ran wird auf die Rezeption des Comics bzw. seiner Darstellungen kolonialistischer Elemente und daraus resultierende Konsequenzen eingegangen. Außerdem werden Möglichkeiten und Risiken in den Blick genommen, die der Comic aufgrund seines Inhalts für die Rezipientinnen und Rezipienten bereithält. Im darauf folgenden Fazit werden die Ergebnisse vorgestellt und die Forschungsfrage beantwortet. 2 Der Comic als literarisches Genre Als theoretische Grundlage des in dieser Arbeit analysierten literarischen Werkes Tim im Kongo, werden in dem folgenden Kapitel das literarische Genre des Comics und seine Genese genauer erläutert. Im Zusammenhang damit stehen ebenfalls die Geschichte und Besonderhei- ten der Comics von Tim und Struppi allgemein sowie im Speziellen die in Tim im Kongo. 2
2.1 Merkmale und Besonderheiten des Comics 2.1.1 Begriffsklärung und Definition Das Wort Comic geht auf das englische Wort comical zurück, welches als „komisch“, „lustig“ oder „drollig“2 übersetzt werden kann. Auch wenn sich der Begriff Comic weltweit durchge- setzt hat, so sind in einigen Nationen bzw. Sprachräumen andere Bezeichnungen gebräuch- lich. Im frankophonen Raum werden Comics bspw. als Bande dessinée3 bezeichnet. Allge- mein gefasst bezeichnen Comics in erster Linie Bildergeschichten. Allerdings finden sich große Unterschiede hinsichtlich des Zeitpunktes, ab wann es sich bei einer Bildergeschichte um einen Comic handelt. Da das Erzählen durch Bilder bereits in der Steinzeit in Form der Höhlenmalerei angewendet wurde, wird diese Zeit mitunter als Beginn des Comics verstan- den. Andere Zeitpunkte, die in der Literatur zu finden sind, sind die Mitte des 15. Jahrhun- derts aufgrund der Einblattholzschnitte oder das 18. Jahrhundert, in dem diese dann auf Papier gedruckt und als Bilderbogen bezeichnet wurden. Der allgemeine Konsens in der Literatur für den Beginn des Comics ist jedoch das ausgehende 19. Jahrhundert. Der Begriff Comic Print tauchte das erste Mal im 18. Jahrhundert in England auf und bezeichnet zunächst witzige Zeichnungen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff Comic bzw. Comic-Strip auf Bildergeschichten übertragen, die in Zeitschriften veröffentlicht wurden. Zuvor wurden diese als „new humor“ oder „funnies“4 bezeichnet. Comic-Strips zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus einer Folge einzelner Panels bestehen, die in Form eines Streifens chronologisch angeord- net sind. Die Intention dieser Bildfolgen ist es, die Leserinnen und Leser zum Lachen zu brin- gen. Mit der Zeit entwickelten sich verschiedene Unterarten des Comics. So wurde das Ele- ment der Komik mitunter durch jene der Spannung und des Abenteuers ersetzt, wobei es auch Comics gibt, in denen beide Elemente vorhanden sind. Grünewald nennt an dieser Stelle die Begriffe Funny, Semi-Funny und Adventure Strip. Der Zeichenstil spielt bei der Zuordnung ebenfalls eine Rolle.5 Außerdem wird zwischen Comic-Strip, Comic-Heft (im Englischen Comic-Book) und Comic- Album unterschieden. Als Comic-Strip wird eine chronologische Bildfolge bezeichnet, die in Form eines Streifens (Strips) angeordnet ist und einer in Zeitung publiziert wird. Sie besteht aus wenigen einheitlichen, gleichgroßen Panels und an ihrem Ende findet sich häufig eine humoristische Pointe. Allerdings ist es ebenfalls möglich, eine längere Erzählung in Form von 2 Grünewald, Dietrich: Comics. Tübingen: Niemeyer 2000. S. 3. 3 Da es sich bei Tim im Kongo um einen Comic aus dem französischsprachigen Raum handelt, wird in der ver- wendeten Literatur häufig der Begriff Bande dessinée verwendet, welcher mit der Bezeichnung Comic gleichzu- setzen ist. 4 Abel, Julia; Klein, Christian: Comics und Graphic Novels. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 2016. S. 6, Grü- newald, Dietrich: Comics. Tübingen: Niemeyer 2000. S. 3. 5 vgl. Grünewald, D.: Comics. S. 3f. 3
Comic-Strips über einen größeren Zeitraum zu veröffentlichen. Bei den sogenannten Comic- Heften handelte es sich zunächst um gesammelte Nachdrucke der zuvor in Zeitungen veröf- fentlichten Strips, allerdings wurden mit der Zeit auch Comicserien mit einer abgeschlossenen Handlung direkt in Heft-Form publiziert. Dies geschieht in der Regel in gleichbleibenden Zeitabständen, zum Beispiel wöchentlich oder monatlich. Comic-Hefte unterscheiden sich in ihrer grafischen Gestaltung von der der Comic-Strips, indem sie an das Format (17 x 24 cm) angepasst sind. So finden sich z.B. durch die größere zur Verfügung stehende Seite Variatio- nen in der Größe der einzelnen Panels. Das Comic-Album ist ein überwiegend europäisches Phänomen. Es unterscheidet sich vom Comic-Heft vor allem hinsichtlich seines Formates (A4). Nicht nur die Größe definiert die jeweilige Comicform, auch die Anzahl der Seiten ist unterschiedlich, in beiden Fällen jedoch genormt. Ein Heft besitzt 32, 48, oder 64 Seiten, ein Album 48 oder 64 Seiten. Die Größe und die tendenziell höhere Seitenzahl des Comic- Albums ermöglichen daher umfangreichere Geschichten.6 Ein Begriff, der heutzutage häufig zusammen mit dem des Comics fällt, ist der der Graphic Novel. Diese hat ihren Ursprung im Jahr 1978 durch Will Eisners A Contract with God. Der Autor wollte einen literarisch an- spruchsvollen Comic schaffen, der in den regulären Buchläden verkauft werden sollte. Da Comics zu jener Zeit in der Gesellschaft als Unterhaltungsmedien angesehen wurden, wählte er die neue Bezeichnung, um negative Konnotationen zu vermeiden. Die Graphic Novel hat im Gegensatz zum Comic keine Vorgaben hinsichtlich der Seitenanzahl oder der Größe und Anordnung der Panels und beschäftigt sich mit ernsteren Inhalten. Aufgrund der verschiedenen Comicformen, ist es daher nicht leicht, eine Definition für den Comic zu finden. Grünewald nennt folgende Merkmale als comicspezifische Merkmale: „Bildfolge, Sprechblase, Onomatopöie […], grafische Indizes […], Serie mit stehender Fi- gur“7. Allerdings merkt er dazu an, dass diese Merkmale nur hinreichende Kriterien seien, um einen Comic als solchen zu identifizieren. Beispielsweise sind die stark mit Comics assoziier- ten Sprechblasen zwar häufig in diesen zu finden, allerdings gibt es auch Comics, die auf eine andere Gestaltung des Textes, z.B. unter den Bildern, zurückgreifen oder vollständig auf die- sen verzichten. Allen Comics gemein ist nach Grünewald jedoch die Erzählung gestaltende „synthetisch verschmelzende“8 Einheit von Bild und Text. Die Handlung wird sowohl über den Text als auch über die Bilder erzählt. Die beiden Elemente ergänzen sich gegenseitig. Abzugrenzen sind Comics dadurch von Geschichten, die zwar Illustrationen beinhalten, gene- 6 vgl. Grünewald, D.: Comics. S. 4. 7 Grünewald, D.: Comics. S. 4. 8 Grünewald, D.: Comics. S. 4. 4
rell jedoch auf der Basis des Textes erzählt werden. Darüber hinaus ist im Comic auch die Erzählung mit Bildern ohne Text möglich. Dennoch gibt es Geschichten, die ebenfalls diese Kriterien erfüllen, wie bspw. Wilhelm Buschs Max und Moritz, was die Abgrenzung vom Comic zur Bildgeschichte erschwert.9 Damit zeigt sich, dass sich eine allgemeine Definition des Comics schwierig gestaltet. Wenn sie sich auf wenige Merkmale, wie z.B. die Verschmelzung von Text und Bild beschränkt, die auf alle Comics zutrifft, so können auch andere Bildgeschichten zu diesem Genre dazugezählt werden. Berücksichtigt man jedoch weitere comicspezifische Besonderheiten, so tritt das Problem auf, dass diese nur hinreichende Kriterien sind, die nicht auf alle Comics zutreffen, da die Bandbreite innerhalb des Genres so groß ist. Grünewald plädiert daher dafür, die Bildgeschichte als „übergeordnete[s] Prinzip“10, das von anderen literarischen Formen, die Text und Bild beinhalten, abgegrenzt werden kann, zu se- hen und den Comic diesem Prinzip unterzuordnen. Er nennt ihn eine „moderne Form der Bildgeschichte“11, da er Comics von der Bildgeschichte aufgrund der „seit Beginn des 20. Jahrhunderts gewonnenen und weiterentwickelten Gestaltungsmittel (Sprechblase, visuelle Indices, Symbole, Lautmalerei, Perspektivwechsel, Montage)“12 abgrenzt. Grünewald formu- liert daher folgende Definition: „Comics sind Bildgeschichten des 20. Jahrhunderts, vorwiegend der engen Bildfolge verpflichtet, dank moderner Drucktechnik über Massenprintmedien wie Zeitung, Heft, Album oder Buch verbreitet, was allerdings Unikate oder elektronische Verbreitung (Comics im Internet) nicht ausschließt.“13 Als drei elementare Kriterien des Comics können demnach die Verschmelzung von Text und Bild, die Anwendung im 20. Jahrhundert populär gewordener Gestaltungsmittel sowie die Verbreitung durch moderne Printmedien angesehen werden, die den Comic als literarisches Genre relativ klar definieren. 2.1.2 Geschichte Bereits in der Steinzeit bemalten die Menschen die Wände der Höhlen, in denen sie lebten. Mit Hilfe dieser Visualisierung hielten sie Augenblicke und Erlebnisse in Form von Bildern oder Bildfolgen fest. Die Höhlenmalerei kam ohne Text aus, der Inhalt erschließt sich allein 9 vgl. Grünewald, D.: Comics. S. 4. 10 Grünewald, D.: Comics. S. 15. 11 Grünewald, D.: Comics. S. 15. 12 Grünewald, D.: Comics. S. 15. 13 Grünewald, D: Comics. S. 15. 5
aus den Bildern. Dieser Aspekt des Erzählens mit Hilfe von Bildern ist ebenfalls ein zentrales Merkmal des Comics.14 Der Beginn der Geschichte des Comics wird in der Regel jedoch im 18. Jahrhundert verortet. Zu dieser Zeit nahm die Popularität von Karikaturen zu, da durch die Lithographie der Druck von Zeichnungen kostengünstiger wurde. Um die Absichten der Figuren klar zum Ausdruck zu bringen, integrierten die Zeichner den Text direkt im Bild und ordneten ihn durch die Ver- wendung von Sprechblasen den jeweiligen Figuren zu. Die Karikatur war die erste zeichneri- sche Darstellungsform, in der Sprechblasen Verwendung fanden. Im Jahr 1830 wurde die Zeitschrift La Caricature ins Leben gerufen, deren Zeichnungen von Charles Philipon bei der Bevölkerung auf große Begeisterung stießen. Ein Jahr später veröffentlichte der Autor und Zeichner Rodolphe Töppfer eine Autografie über die Figur Monsieur Jabot. Hierfür zeichnete er über zweihundert Bilder mit zugehörigen Textfeldern. Diese Form des Erzählens erhielt ebenfalls eine positive Resonanz in der Bevölkerung. Töpffer schreibt zu seinem Stil: „Beides [Bild und Text] zusammen bildet als Ganzes eine Art Roman“15. Vierzehn Jahre später, im Jahr 1845, wurde sein Essai de physiognomie veröffentlich, eine Theorie, die sich auf das Erzählen mit Hilfe von Bildern bezieht. Weitere bildbasierte Geschichten, die als Vorläufer des Comics betrachtet werden können sind der Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann (1845), die Historie vom Heiligen Russland von Gustave Doré (1854) sowie Wilhelm Buschs Max und Moritz (1865). All diesen Ge- schichten gemein ist die Textgestaltung unterhalb der Zeichnungen. Die Sprechblase findet zu dieser Zeit nur in Karikaturen Anwendung.16 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewann die Darstellung von Zeit mit Hilfe von Bildfolgen zunehmend an Bedeutung. Hierzu zählen die Serienaufnahmen eines galoppieren- den Pferdes von Eadweard Muybridge (1872), Thomas Edisons Filmbetrachter (1876), das Kinetoskop sowie die erste öffentliche Filmvorführung eines einfahrenden Zuges der Brüder Auguste und Louis Lumière (1895). Auf zeichnerischer Ebene ist an dieser Stelle die Bildan- imation Origin of a New Species des amerikanischen Zeichners Richard F. Outcault aus dem Jahr 1894 zu nennen, der mit Hilfe von sechs aufeinanderfolgenden Bildern die Geschichte einer Schlange erzählt, die einen Hund frisst. Dessen Herrchen schneidet der Schlange aller- dings Löcher in den Bauch, sodass der Hund weiterhin laufen kann und führt im Folgenden 14 vgl. Abel, J.; Klein, C.: Comics und Graphic Novels. S. 4. 15 zitiert nach Abel, J.; Klein, C.: Comics und Graphic Novels. S. 3 16 vgl. Abel, J.; Klein, C.: Comics und Graphic Novels. S. 3f. 6
die Schlange, aus deren Mund die Leine hängt, spazieren.17 Diese Bildfolge bedarf keines Textes, da die Bilder alle relevanten Informationen enthalten. Hergé griff diese Bildfolge in ähnlicher Form in Tim im Kongo auf und baute sie in den Handlungsverlauf ein.18 In den folgenden Jahren entwickelte Outcault die Serienfigur, The Yellow Kid, bei der der Autor zwar zunehmend Text in seine Bilder u.a. in Form von Sprechblasen integrierte, aller- dings nie mehr als ein Bild veröffentlichte. Dies änderte sich 1896, als er eine Bildfolge von fünf Bildern zeichnete, die durch einen in Sprechblasen dargestellten Text ergänzt wurde.19 Bei dieser Darstellung waren sowohl das Element der Verzahnung von Bild und Text als auch das Erzählen in sequenzieller Form vorhanden. Aus diesem Grund wird The Yellow Kid and his new phonograph häufig als „Geburt des modernen Comics“20 angesehen. Da in New York, dem Publikationsort von The Yellow Kid, eine Vielzahl von Sprachen ge- sprochen wurde, hatten die gezeichneten Bildfolgen den Vorteil, dass die Sprache für das Verständnis nicht, oder nur geringfügig von Bedeutung war, weshalb sie sich großer Beliebt- heit erfreuten und eine identitätsstiftende Funktion einnahmen. Zu dieser Zeit entstand auch die Bezeichnung comic strip. Die große Popularität der Comics führte dazu, dass immer mehr Zeichner das Erzählformat adaptierten, bis es überall in den Vereinigten Staaten von Amerika präsent war.21 Zunächst handelte es sich bei den Comics um komische bzw. humoristische Bildfolgen, die mit einer humorvollen Pointe endeten. Auch der Comicautor Winsor McCay schrieb und zeichnete seine Comics nach diesem Format. Im Jahr 1905 begann er jedoch die fortlaufende Erzählung Little Nemo, die einmal wöchentlich erschien und von den Abenteuern eines klei- nen Jungen, Nemo, handelte. Die Geschichten von Nemo zogen sich über mehrere Monate und zeigten aufgrund der Kontinuität und des Fokus auf das Abenteuer statt einer humorvol- len Pointe Aspekte einer Erzählung, wie sie in der klassischen Literatur zu finden ist. Im Jahr 1911 wurde Little Nemo als erster Zeichentrickfilm im Kino gezeigt. Hierfür zeichnete McCay viertausend Zeichnungen, die den Film auf eine Länge von vier Minuten brachten. Dies ist der Moment, mit dem ein wechselseitiger Einfluss zwischen Comic und Kino bzw. Film entstand, der bis heute anhält. Dennoch blieb der von einer Erzählung gekennzeichnete Comic von McCay zunächst ein Einzelphänomen. 17 Hergé greift diese Geschichte in Tim im Kongo auf, vgl. Hergé: Tim im Kongo. 18. Auflage. Hamburg: Carlsen 1992. S. 34f. 18 siehe Anhang, Abb. 1 und 2. 19 siehe Anhang, Abb. 3. 20 Abel, J.; Klein, C.: Comics und Graphic Novels. S. 5. 21 vgl. Abel, J.; Klein, C.: Comics und Graphic Novels. S. 4-6. 7
1907 begannen die amerikanischen Zeitungen, die sogenannten daily strips zu veröffentli- chen. Während die Strips innerhalb der Woche in schwarz-weiß erschienen, griffen viele Zei- tungen am Sonntag auf eine Version in Farbe zurück. Eine weitere Veränderung, die sich fünf Jahre später vollzog und in den gesamten USA eingeführt wurde, war die Einrichtung einer eigenen Seite nur für Comics, die comic section.22 In den 1930er Jahren vollzog sich ein genereller Wechsel vom humorvollen Comic hin zum Abenteuercomic und markierte eine Wende in der Erzählung der Comics. Anstatt witziger Comichelden prägten nun vor allem solche die Geschichten, die gegen „das Böse“ kämpften und für Gerechtigkeit sorgten.23 So erschienen im Jahr 1929 erstmals Buck Rogers und Tarzan als Comicserien. Das Besondere bei diesen beiden daily strips war, dass es sich um reine Abenteuergeschichten handelte, bei denen der Witz nicht länger im Fokus stand. Dieser Wan- del kann als Reaktion auf den Zusammenbruch der Börse und die Prohibition gesehen wer- den. Im Fall von Tarzan bestanden die Geschichten aus jeweils fünf Panels mit zugehörigem, teils aus den Originalbüchern zitiertem, Text. Aufgrund mangelnden Interesses der Leser- schaft24 wurden sie abgewandelt und erschienen 1931 nur noch einmal wöchentlich, dafür jedoch als Sunday strip. In dieser Form wurde der Abenteuercomic erfolgreich. Später wurde Tarzan verfilmt, wohingegen Mickey Mouse zunächst im ersten vertonten Zeichentrickfilm zu sehen war und erst im Anschluss eine Comicfigur wurde. Diese beiden Beispiele verdeutli- chen noch einmal den gegenseitigen Einfluss von Comic und Film.25 Während der Comic in den Vereinigten Staaten bereits um die Jahrhundertwende präsent und beliebt war, wurde der Comic in Europa erst gegen Ende der 1920er Jahren populär. Während die Comic-Strips in den Zeitungen Lesestoff für Kinder und Erwachsene darstellten, wurden die Comichefte im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten zunächst nur von Kindern und Ju- gendlichen gelesen. Die ersten Comicserien entstanden durch Beziehungen zwischen europäi- schen und amerikanischen Zeitungen. Anders als in den USA dienten sie nicht allein der Un- terhaltung, sondern sie verfolgen eine pädagogische Funktion: in den meisten Fällen die der Belehrung nach religiösen Maßstäben. Insbesondere die katholische Kirche erkannte das Po- tential der Geschichten, um den Kindern ihre Wertvorstellungen nahezubringen. Aus diesem Grund unterstützte sie die Publikation von Comicserien, die diesen Vorstellungen entsprachen in den europäischen Kinderzeitschriften, die in der Regel ohnehin kirchlich geprägt waren. 22 vgl. Abel, J.; Klein, C.: Comics und Graphic Novels. S. 6f. 23 vgl. Abel, J.; Klein, C.: Comics und Graphic Novels. S. 10. 24 Der Begriff „Leserschaft“ umfasst in dieser Arbeit sowohl Leserinnen als auch Leser. Die gewählte Formulie- rung soll zu einem besseren Lesefluss beitragen. 25 vgl. Abel, J.; Klein, C.: Comics und Graphic Novels. S. 8f., 197. 8
Den europäischen Comics fehlte zunächst ebenfalls das Element der Sprechblase. Auch hier griff man auf Textfelder unterhalb der Panels zurück. Das erste Mal fand sie 1925 in der Co- micserie Zig et Puce des Franzosen Alain Saint-Organ Verwendung. Die Abenteuer der bei- den Jungen wurden zunächst in einer Beilage der Sonntagsausgabe Dimanche Illustré des Excelsior veröffentlicht, ab 1927 dann auch als eigenständige Comicalben, von denen bis 1941 zehn Stück publiziert wurden.26 An dieser Stelle ist auch Hergé zu nennen, auf dessen Comics im weiteren Verlauf der Arbeit noch genauer eingegangen wird. Hergé, der Schöpfer von Tim und Struppi, der mit seinen Geschichten über den Reporter Tim und seinen Hund Struppi zu einer Ikone der europäischen Comiczeichnung wurde, wechselte in seinen Abenteuergeschichten ebenfalls vom Gestal- tungselement des Textfeldes zur Sprechblase. Die erste Serie von Tim und Struppi erschien in Belgien am 10. Januar 1929 in Le Petit Vingtième, der Kinderbeilage von Le Vingtième Siècle und damit fast zeitgleich mit den Abenteuerserien Buck Rogers und Tarzan in den USA. Sie war in Belgien direkt so erfolgreich, dass das erste Abenteuer, Tim im Lande der Sowjets, im Folgejahr bereits als Album veröffentlich wurde. Der erste Comic, der europaweit seinen Er- folg feierte, war Le Journal de Mickey, in dem amerikanische Comic-Strips und Zeichentrick- filme adaptiert wurden. Die Beliebtheit der Alben führte dazu, dass in Europa, insbesondere in Frankreich und den Beneluxstaaten neue nationale Comicgeschichten entstanden. Damit war in Europa der Grundstein des modernen Comics gelegt.27 Mitte der 1940er Jahre fand eine Gabelung des europäischen Comicstils in „zwei gegensätzli- che Stilrichtungen“28 statt. Zum einen der als ligne claire (klare Linie) bezeichnete Stil Her- gés, der in Kapitel 2.3.2.1 näher erläutert wird, zum anderen der dynamische Stil, wie er in den seit 1938 erschienenen Spirou-Comics zu finden ist. Im Gegensatz zu Hergés klaren strukturierten Zeichnungen und Handlungen, sind die Zeichnungen bei Spirou lebhaft und chaotisch. Die Erzählung ähnelt dabei mehr den amerikanischen Comic-Strips. Diese Tren- nung in die beiden genannten Stile wirkte sich auf die Fortentwicklung des Comics in Europa aus. Neue Comicserien orientierten sich in der Regel an einem der beiden Stile und folgten damit einem „vorgegebenen“ Muster.29 26 vgl. Abel, J.; Klein, C.: Comics und Graphic Novels. S. 14f., Weniger Weniger, Katja: Tim und Struppi unter- wegs. Das Motiv der Reise in „Les aventures de Tintin“. Marburg: Tectum 2010. S. 15. 27 vgl. Abel, J.; Klein, C.: Comics und Graphic Novels. S. 14f. 28 Abel, J.; Klein, C.: Comics und Graphic Novels. S. 16. 29 vgl. Abel, J.; Klein, C.: Comics und Graphic Novels. S. 16. 9
Belgien war seit den 1930er Jahren eines der erfolgreichsten Länder für die Produktion und den Export von Comics. Ein Grund dafür war die Aufgeschlossenheit der Belgier30 für Popu- lärliteratur.31 Tim und Struppi und Spirou gehörten zu den erfolgreichsten und bekanntesten belgischen Comics. In den folgenden Jahren wurden sie durch Lucky Luke (1946), Marsupi- lami (1952), Gaston (1957) und Die Schlümpfe (1958) ergänzt. Die Comics in Frankreich zu dieser Zeit waren weniger erfolgreich. Dies änderte sich erst mit den Abenteuern von Asterix der beiden Franzosen René Goscinny und Albert Uderzo, deren erster Band im Jahr 1959 in dem Comicmagazin Pilote erschien. Diese richteten sich neben Kindern und Jugendlichen auch an ein älteres Publikum und waren ausschlaggebend für das Interesse der erwachsenen Leserschaft. Ebenfalls dazu bei trug die Adaption als Kinofilm, die Asterix und somit auch den Comic allgemein populärer machte32. Damit initiierten Goscinny und Uderzo den Auftakt für ein breiteres Publikum von Comicbüchern. Wie auch in den belgischen Magazinen Tintin, Spirou oder Vaillant wurden die Abenteuer einer bestimmten Comicserie, wie bspw. Tim und Struppi, in dem entsprechenden Magazin einmal wöchentlich in einem Umfang von zwei Sei- ten publiziert. War eine Geschichte abgeschlossen, folgte die Veröffentlichung als 46- bis 62- seitiges Album. Diese Form der Veröffentlichung setzte sich europaweit durch und unter- schied sich von den comic books der USA. Auch in anderen europäischen Ländern und Japan mit den sogenannten Mangas entwickelte sich ab diesem Zeitpunkt der Comicmarkt national jeweils unterschiedlich weiter.33 Während er in den 1950er Jahren in Europa immer stärker expandierte, wurden Comics im geteilten Deutschland vor allem in der DDR kritisch gesehen. Hier wurden sie in den 1950er und 1960er Jahren zunächst überwiegend als „Schundlektüre“34 bezeichnet und nicht als Lite- ratur anerkannt. Deutsche Comicproduktionen waren bis auf wenige Ausnahmen nicht vor- handen. Erst Ende der 1960er Jahre stieg die Akzeptanz von Comics in Deutschland.35 Zu dieser Zeit veränderte sich der Comicmarkt in Europa. In den 1960er Jahren wurden zu- nehmend Comics, die sich an Erwachsene richteten, publiziert, wie bspw. Barbarella von Jean-Claude Forest (1964) oder Hugo Pratts Ballata del Mare Salato (1967). Bei diesen Co- mics handelte es sich um Erzählungen, die in Form eines einzelnen, unabhängigen Bandes 30 Die Bezeichnung „Belgier“ umfasst in dieser Arbeit auch Belgierinnen, soll aber durch die gewählte Formu- lierung zu einem besseren Lesefluss beitragen. 31 vgl. Begenat-Neuschäfer, Anne: Bild und Text im belgischen Comic. In: Begenat-Neuschäfer: Comic und Ju- gendliteratur in Belgien von ihren Anfängen bis heute. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2009. S. 3-37, S. 3. 32 vgl. Weniger, K.: Tim und Struppi unterwegs. S. 16. 33 vgl. vgl. Abel, J.; Klein, C.: Comics und Graphic Novels. S. 17. 34 Grünewald, D.: Comics. S. 2. 35 vgl. Grünewald, D.: Comics. S. 2. 10
ohne Fortsetzung erschienen. Die Gestaltung folgte gewissen anderen, an ein erwachsenes Publikum gerichteten, Ansprüchen und war häufig „nicht jugendfrei“. Der Trend dieser sogenannten underground comics setzte sich bis zur Mitte der 1970er Jahre fort und beeinflusste die weitere Entwicklung des Comics stark. Es entstanden immer neue Genres, die dazu beitrugen, dass das Comicangebot vielfältiger wurde. Die zunehmende Etab- lierung von Comicläden trug dazu bei, diese zu verbreiten.36 Beginnend in den 1980er, aber vor allem seit den 1990er Jahren nahm das Interesse an Co- mics sowohl in den USA als auch in Europa aufgrund der Konkurrenz durch andere Medien ab. Allerdings kam es zu einer Adaption ebenjener Comichelden in Filmen und Videospielen. Darüber hinaus bot sich nun die Möglichkeit, Comics im Internet zu publizieren. Im Jahr 1995 wurde der erste digitale Comic von Charles Parker, Argon Zack!, veröffentlicht. Bei den traditionellen gedruckten Comics sind lediglich die japanischen Mangas weiterhin bei Kin- dern und Erwachsenen in Japan, aber auch international, sehr beliebt, was sich in den hohen Verkaufszahlen widerspiegelt. Durch die Globalisierung beeinflussen sich die unterschiedli- chen Comicstile heutzutage, sodass statt klar abzugrenzender Stilrichtungen wie der ligne claire heute die meisten Comics einen individuellen Stil aufweisen, da die Autoren und Zeichner völlig frei in der Themenauswahl und Gestaltung sind. Diese Freiheit führt zu einer nie dagewesenen Vielfalt an Comics.37 Georg Seeßlen erklärt dieses Phänomen damit, dass ein Genre, je weiter es sich mit der Zeit entwickle, zunehmend mehr Variationen von der Ur- form hervorbringe.38 Die Entstehung und Entwicklung des Comics zeigen, dass die jeweilige Entstehungszeit die Gestaltung und den Inhalt beeinflusst. Allerdings zeigt die Entwicklung ebenfalls, dass (zu- mindest heutzutage) alle gesellschaftlichen Themen in Form des Comics angesprochen wer- den können und das Genre an sich ein Anlaufpunkt für eine Leserschaft aller Altersklassen darstellt, das viele Menschen erreicht. 2.2 Tim und Struppi als Comic Hergés Zeichenstil, wie er aus den kolorierten Tim und Struppi-Büchern bekannt ist, entwi- ckelte sich parallel zu diesen. Zunächst waren seine Zeichnungen schwarz-weiß gehalten und von Schraffuren gekennzeichnet. Die zu den Bildern bzw. Figuren gehörenden Texte wurden unterhalb des Bildes eingefügt, wie bei seinen Abenteuern von Totor dem Pfadfinder, der als 36 vgl. Abel, J.; Klein, C.: Comics und Graphic Novels. S. 25, Grünewald, D.: Comics. S. 2. 37 vgl. Abel, J.; Klein, C.: Comics und Graphic Novels. S. 35f. 38 vgl. Seeßlen, Georg: Tintin, und wie er die Welt sah. Fast alles über Tim und Struppi, Mühlenhof & den Rest des Universums. Dritte, durchgesehene Auflage. Berlin: Bertz + Fischer 2014, S. 141. 11
Vorgänger von Tim angesehen werden kann. Im Jahr 1929 erhielt der 21-jährige den Auftrag, wöchentlich etwas für Le Petit Vingtième zu illustrieren. Als Hergé darum bat, die Abenteuer von Totor in der Kinderbeilage veröffentlichen zu dürfen, gestatte der Verlag ihm dies nur unter der Bedingung einiger Veränderungen an seiner Figur. Diese Veränderungen von Totor führten letztendlich zu der Entstehung der Figur von Tintin (Tim) und seinem Terrier Milou39 (Struppi) im Jahr 1929. Der Pfadfinder wurde zum Reporter, wenngleich Tim viele Züge ei- nes Pfadfinders und Merkmale von Totor aufweist, weshalb Hergé ihn auch als kleinen Bru- der von diesem bezeichnete. Mit der Erfindung von Tim entwickelte Hergé einen charakteris- tischen, wiedererkennbaren Zeichenstil. Wurden die seriellen Geschichten von Tim und Struppi zunächst ebenfalls in schwarz-weiß gezeichnet, so wurde die Linienführung Hergés immer klarer, Schraffierungen dafür weniger. Das Einfügen des zugehörigen Textes unter den Bildern änderte er und entschied sich dafür, seine Comic-Strips mit Sprechblasen zu versehen. Damit adaptierte er die im amerikanischen Comic übliche Textdarstellung. Auch wenn sich der Autor zeichnerisch an den amerikanischen Vorlagen orientierte, stimmte er seine Figuren und Inhalte auf die konservativen Vorstellungen des Verlages ab, für den er arbeitete.40 Für die Gestaltung seiner Comics stellte Hergé Kontakt zu Saint-Organ her, dem Vorreiter der modernen Bande dessiné, dem Begriff für Comics im französischsprachigen Raum, die eine Verknüpfung der Text- und Bildebene aufweisen. Nach Rücksprache mit diesem entschied er sich für ebenjenen Stil, der die Tim und Struppi-Comics prägt.41 Hergé selbst äußerte sich zu seinem Verhältnis zu Saint-Organ wie folgt: „Saint-Organ a eu beaucoup d’influence sur moi […] car je l’admirais, et je l’admire encore.“42 Allgemein sind die Geschichten von Tim und Struppi von Abenteuern in fernen Ländern und Verbrechen geprägt, die der Protagonist aufklärt, wobei er sich häufig in gefährliche Situatio- nen begibt. Mit der Zeit nimmt die Komplexität der Geschichten zu, da Hergé die Abenteuer miteinander verknüpft. Außerdem werden die Alben durch weitere immer wiederkehrende Figuren ergänzt, die ebenfalls zu dieser Komplexität beitragen.43 Die Popularität der Comic-Strips von Tim und Struppi, aber auch von Spirou oder Vaillant führte zu der Gründung von Zeitschriften, die sich ausschließlich diesen Inhalten widmeten. Sie enthielten nicht nur die Geschichten der eben genannten Figuren, sondern auch Foren für die Comicschreiber und -zeichner sowie Hintergrundinformationen zur Entstehung der jewei- 39 vgl. Farr, Michael: Tim & Co. Hamburg: Carlsen 2009. S. 24. 40 vgl. Seeßlen, G.: Tintin, und wie er die Welt sah. S. 18, 21, Farr, M.: Tim & Co. S. 12f. 41 vgl. Weniger, K.: Tim und Struppi unterwegs. S. 15. 42 Dt.: „Saint-Organ hatte großen Einfluss auf mich […], weil ich ihn bewunderte und ihn immer noch bewunde- re.“, Sadoul, Numa: Entretiens avec Hergé. Édition Définitive. Bruxelles: Casterman 1989, S. 123. 43 vgl. Seeßlen, G.: Tintin, und wie er die Welt sah. S. 18, 21, Farr, M.: Tim & Co. S. 76. 12
ligen Geschichten mit der Intention, Wissen zu vermitteln und der Zeitschrift auf diese Weise eine pädagogische Funktion zu verleihen.44 2.3 Georges Remi alias Hergé 2.3.1 Biographisches zum Autor Hergé, Sohn eines Knabenausstatters, wurde am 22. Mai 1907 als Georges Prosper Remi in Brüssel geboren. Das Pseudonym, unter dem er bekannt ist, entwickelte er, indem er die Rei- henfolge der beiden Anfangsbuchstaben von Georges und Remi zu RG vertauschte, sodass diese in der französischen Aussprache Hergé ergaben.45 Hergés Elternhaus kann als streng katholisch beschrieben werden und auch das weitere Umfeld, in dem er sich bewegte, war konservativ und religiös. So besuchte er die Schule Saint-Boniface, eine Schule, in der die Kinder von Priestern unterrichtet wurden. Jeder Unterrichtstag begann mit einer gemeinsamen Messe. In diesem religiösen und konservativen Umfeld spielten Sünde und Strafen stets eine große Rolle und prägten die Kindheit Hergés.46 Bis zum Beginn mit seiner Arbeit bei der Zei- tung beschreibt er sein Leben als „grau“: „Mon enfance, mon adolescence, le scoutisme, le service militaire, tout était gris.“47. In seiner Jugend wurde Hergé Mitglied bei der katholischen Association des Scouts Baden- Powell de Belgique, einer Pfadfinderschaft. Die Pfadfinder prägten Hergé enorm, denn die Association des Scouts ermöglichte ihm ein glaubenskonformes Abenteuer, bspw. in Form von Reisen durch Belgien und Europa. Die Pfadfinder, zu denen Hergé gehörte, hatten eine klar definierte Weltvorstellung, die den katholischen Werten entsprach und von vielen Feind- bildern geprägt war. Ebenfalls mit Feindbildern und dem mitunter pfadfinderähnlichen Solda- tentum wurde Hergé durch den Ersten Weltkrieg konfrontiert. All diese Erfahrungen, die Hergé während seiner Jugend sammelte, prägten ihn so stark, dass die Figuren, die er zeichne- te ebenfalls typische Pfadfindermerkmale aufweisen, so auch Tim von Tim und Struppi. Seeß- len bezeichnet die Figuren daher als „kindliche Menschen auf der Suche nach dem Abenteu- er“48. Sie spiegeln Hergés Sehnsucht nach ebendiesem wider und seinen Weg, dieser Sehn- sucht nachzugehen, indem er sie zeichnete.49 Bereits in seiner Kindheit zeigte Hergé großes Talent für das Zeichnen. René Weverbergh, der Verleger des Verlages Librairie Coloniale sowie Herausgeber der Zeitschrift Le-Boy-Scout 44 vgl. Weniger, K.: Tim und Struppi unterwegs. S. 15f. 45 vgl. Farr, M.: Tim & Co. S. 11. 46 vgl. Seeßlen, G.: Tintin, und wie er die Welt sah. S. 16. 47 Dt.: „Meine Kindheit, meine Jugend, die Pfadfinderbewegung, der Militärdienst, alles war grau.“, Sadoul, N.: Entretiens avec Hergé. S. 95. 48 Seeßlen, G.: Tintin, und wie er die Welt sah.S. 16. 49 vgl. Seeßlen, G.: Tintin, und wie er die Welt sah. S. 15f., Peeters, Benoît: Hergé. Son of Tintin. Baltimore: John Hopkins 2012. S. 17 13
Belge, war der erste, der auf Hergés Zeichentalent aufmerksam wurde. Er ermöglichte es ihm, im Anschluss an seinen Realschulabschluss bei diesem Verlag anzufangen. Im Jahr 1922 be- gann Weverbergh Zeichnungen von Hergé in seiner Zeitschrift zu veröffentlichen. Auch das spätere Vorbild für Tim (im französischen Original Tintin50), der Pfadfinder Totor wurde in Form einer Serie, deren Format als „Extrasuperfilm“51 bezeichnet wurde, in Le-Boy-Scout publiziert. Durch Weverbergh erhielt Hergé später eine Anstellung bei der Société Nouvelle Presse et Librairie, einem katholischen Verlagshaus, wo er den Redakteur Norbert Wallez, der zudem als Pfarrer tätig war, kennenlernte. Zunächst war er dort in der Verwaltung tätig, doch nach seinem Militärdienst (1926-1927)52 bestand seine Hauptbeschäftigung darin, Bild- folgen für die Kinderbeilage der Zeitung Le Vingtième Siècle mit dem Namen Le Petit Vingtième zu zeichnen. Während er zunächst nur für Illustrationen zuständig war, wurden ab dem Jahr 1929 auch von ihm geschriebene sowie illustrierte Geschichten publiziert. Im Jahr 1927 wurde Hergé aufgefordert, Illustrationen im Rahmen einer „rechtskatholischen Publizis- tik“53 anzufertigen. Er war zu jener Zeit Mitglied bei der Association Catholique de la Jeunes- se, einer stark politisch orientierten Bewegung, die sich gegen den Kommunismus und den kulturellen Liberalismus aussprach und antisemitische Züge aufwies. Diese Bewegung ver- suchte, Jugendliche propagandistisch für das Mouvement d’Action Catholique zu gewinnen, einer katholischen Pfadfinderbewegung, die eine ähnliche politische Orientierung vorgab.54 Der erste Comic-Strip von Tim erschien am 10. Januar 1929 in Le Petit Vingtième und diente erneut propagandistischen Intentionen. Wallez verfolgte die Absicht, durch Tim im Lande der Sowjets den Leserinnen und Lesern den Kommunismus der Sowjetunion als „Schreckensre- giment“55 nahezubringen. Er stand der Rex-Partei nahe, die eine sowohl anti-moderne und antisemitische als auch eine rassistische und kolonialistische Ideologie verfolgte. Hergé wurde daher damit beauftragt, die Sowjetunion ideologisch passend darzustellen. Jede Woche wur- den neue Abenteuer von Tim in der Sowjetunion in Le Petit Vintième veröffentlicht, wobei diese mit echten Fotos, die dieser angeblich geschossen hatte, unterstützt wurden. Fiktion und Realität ergänzten sich auf diese Weise gegenseitig und trugen zu einer glaubhaften Inszenie- rung der in der Presse dargestellten Sowjetunion bei. Hergé orientierte sich bei der Darstel- lung an dem propagandistischen Buch Moskau ohne Schleier von Joseph Doulliet, das aus- schließlich aus stereotypischen Darstellungen des Landes bestand. Damit hatte der Anfang der 50 vgl. Farr, M.: Tim & Co. S. 11. 51 Seeßlen, G.: Tintin, und wie er die Welt sah. S. 18. 52 vgl. Weniger, K.: Tim und Struppi unterwegs. S. 23. 53 Seeßlen G.: Tintin, und wie er die Welt sah. S. 18. 54 vgl. Seeßlen G.: Tintin, und wie er die Welt sah. S. 18-20. 55 Seeßlen G.: Tintin, und wie er die Welt sah. S. 22. 14
Abenteuer von Tim und Struppi wenig mit den amerikanischen Comics zu tun, in denen es um Komik, Satire und fiktive Abenteuer ging. Dennoch wurde diese Form der Realfiktion von der Leserschaft sehr positiv aufgenommen und wurde zu einem Kennzeichen der Tim und Strup- pi-Alben generell, so auch in Tim im Kongo, dem zweiten Abenteuer, dass Hergé für Le Petit Vingtième schrieb.56 2.3.2 Hergés Arbeitsweise 2.3.2.1 Ligne claire Der Stil, den Hergé durch die Arbeit an Tim und Struppi entwickelte, und der zentrales Merkmal dieser Geschichten wurde, ist die sogenannte ligne claire. Dieser 1976 von dem Niederländer Joost Swarte geprägte Begriff bezieht sich auf die klare Linie, die sich in Hergés Zeichenstil und Linienführung wiederspiegelt. Die Zeichnungen werden dabei nicht schraf- fiert und auf Farbverläufe wird verzichtet. Stattdessen werden die Bilder monochrom kolo- riert, wodurch die Illustrationen statisch und technisiert wirken. Seit dem fünften Abenteuer, Der blaue Lotos, findet sich diese Klarheit auch in der Erzählung der Handlung wieder, wes- halb die ligne claire sich sowohl auf die Zeichen- als auch auf die Erzählebene bezieht. Diese Geradlinigkeit führt dazu, dass Bild und Text miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig ergänzen bspw. durch zusätzliche Informationen innerhalb der Sprechblasen, die über die Bildebene hinausgehen. Katja Weniger bezeichnet dieses Phänomen als Verschmelzung von „Stil und Geschichte“57. Im Gegensatz zum amerikanischen Comic, der klassischerweise eine Vielzahl von Handlungen beinhaltet, verfolgt Hergé eine (Haupt-) Erzählung bzw. Rahmen- handlung, die sich aus aufeinanderfolgenden Handlungen, die zu dieser passende Funktionen übernehmen, zusammensetzt.58 Die ersten Tim und Struppi-Comics stellen eine Art Reportage über ein spezifisches Land dar, was sich in den jeweiligen Titeln widerspiegelt: Tim im Lande der Sowjets, Tim im Kongo, Tim in Amerika. Dabei setzte Hergé das Dokumentarische der Reportage zeichnerisch um. Auch die neuesten technischen Errungenschaften sowie Gebäude wurden vom Autor auf diese Weise realitätsgetreu dokumentiert und später teilweise aufgrund Hergés steigender Ansprü- che noch einmal überarbeitet. Die ligne claire bot sich an, die Welt, in der sich Tim in seinen Abenteuern bewegt, detailgetreu und übersichtlich darzustellen, während sich die Leserin 56 vgl. Seeßlen G.: Tintin, und wie er die Welt sah. S. 18, 21, Farr, M.: Tim & Co. S. 22-25. 57 Weniger, K.: Tim und Struppi unterwegs. S. 26. 58 vgl. Abel, J.; Klein, C.: Comics und Graphic Novels. S. 25f. 15
oder der Leser durch die einfache Identifikationsmöglichkeit mit dem Protagonisten aus des- sen Perspektive diese Welt erschließen kann.59 Für das Abenteuer Der blaue Lotus wurde Hergé aufgefordert, genauer über die nationalen Gegebenheiten zu recherchieren, als er es in den vier Abenteuern zuvor gemacht hatte. Die Recherche hinsichtlich der Kultur, der Geschichte, der Politik und den sozialen Umständen der Reiseziele Tims wurde von diesem Zeitpunkt an ein zentrales Merkmal seiner Arbeitswei- se. Außerdem überarbeitete er die vorherigen Bände entsprechend.60 Das Verhältnis von Text und Bild betrachtete Hergé als gleichrangig. Im Produktionsprozess entwickelte er die beiden Elemente entsprechend parallel, da sie ihm zufolge als gegenseitige Ergänzung und Erläuterung dienten. Zunächst zeichnete er hierfür Skizzen, die im Anschluss abgepaust wurden, sodass nur die finalen Linien erhalten blieben, die ein elementares Merk- mal der ligne claire darstellen. Durch das Abpausen konnten die Zeichnungen neu kombiniert und der Platz für den jeweiligen Text berechnet werden. Im Anschluss daran wurden die Li- nien mit Tusche finalisiert und der Text eingefügt. Bei den Farbausgaben kolorierten Assis- tentinnen die Panels, wobei sie sich auf Anweisung Hergés an der originalen Farbgebung zu orientieren hatten.61 Damit lässt sich Hergés Arbeits- und Gestaltungsstil auf zwei zentrale Merkmale reduzieren: Präzision und der Fokus auf die Handlung. Dieser Fokus zeigt sich besonders bei der Einar- beitung der für Comics typischen humoristischen Elemente. Diese wurden so konzipiert, dass sie die Handlung weiter fortführen.62 Die dem Zweiten Weltkrieg geschuldete Papierknappheit in Belgien führte dazu, dass Hergé in der Seitenzahl seiner Alben beschränkt wurde. So durfte ein Abenteuer von Tim und Strup- pi ab diesem Zeitpunkt nicht mehr als 62 Seiten aufweisen. Allerdings erschienen die Aben- teuer ab 1942 als Farbausgabe. Hierfür kolorierte Hergé die monochromen Versionen nach.63 Da Hergé großes Interesse am nationalen- wie auch Weltgeschehen zeigte und seine Arbeit ihm durch das verlagseigene Archiv Zugang zu diversen Zeitungen bzw. Zeitungsausschnitten bot, war das Material für eine umfangreiche Recherche durchaus gegeben. Mit der steigenden Popularität der Tim und Struppi-Alben legte Hergé jedoch ein eigenes privates Archiv an, mit dessen Hilfe er sich inspirierte sowie die Hintergründe seiner Geschichten recherchierte.64 59 vgl. Seeßlen G.: Tintin, und wie er die Welt sah. S.58, 145f. 60 vgl. Weniger, K.: Tim und Struppi unterwegs. S. 23. 61 vgl. Seeßlen, G.: Tintin, und wie er die Welt sah. S. 58f. 62 vgl. Seeßlen G.: Tintin, und wie er die Welt sah. S. 60. 63 vgl. Weniger, K.: Tim und Struppi unterwegs. S. 23f. 64 vgl. Farr, M.: Tim & Co. S. 11. 16
2.3.2.2 Hergé und Tintin Tim ist das Ergebnis einer auf Zeitdruck basierenden Improvisation. Aus diesem Grund ist sein Äußeres sehr einfach gestaltet. Der runde Kopf, die Knopfnase und die Augen, die ledig- lich zwei Punkte sind, verleihen ihm etwas Allgemeines und bieten Raum zur Identifikation mit ihm, wohingegen die charakteristische Haartolle einen hohen Wiedererkennungswert aufweist und ihn einmalig macht.65 Dennoch kann der jüngere Bruder von Hergé, Paul Remi, u.a. wegen seiner Tolle als optisches Vorbild für Tim angesehen werden.66 Allerdings zeich- nete Hergé alle seine Figuren eher allgemein, was es den Leserinnen und Lesern ermöglicht, sich leicht mit ihnen zu identifizieren. Bei technischen Erfindungen und landschaftlichen Zeichnungen hingegen ging er sehr detailliert vor und legte Wert auf ihre Aktualität und Au- thentizität.67 Michael Farr beschreibt die Figur Tims wie folgt: „Ein junger, unerschrockener Mann mit hohen moralischen Ansprüchen, von unbestimmtem Alter und ohne Angehörige, mit dem sich jeder identifizieren kann“68. Damit vertritt Tim Werte, die auch Hergé nach ei- gener Aussage sehr wichtig waren.69 Auch die Tätigkeit Tims als Reporter lässt sich auf Hergés persönliches Interesse zurückfüh- ren. Dieser hatte den Wunsch, selbst als Reporter tätig zu sein, so wie Albert Londres, eines seiner Vorbilder für Tim. Londres war ein Journalist, der Auslandsreportagen schrieb und dafür selbst in die entsprechenden Regionen reiste, bis er 1932 auf einem Schiff, dass auf dem Weg nach Europa aufgrund eines ungeklärten Feuers versank, ums Leben kam. Durch Tim als abenteuerlustigen Reporter konnte Hergé seinen Wunsch, selbst als solcher tätig zu sein, indi- rekt ausleben. Auch wenn Tim in den Comics immer als Reporter bezeichnet wird, wird er gerade im Verlauf der Geschichten verstärkt zum Abenteurer, da er nur in wenigen Fällen von seinen Erfahrungen berichtet. Tim im Kongo stellt eine der Ausnahmen dar, da Tim in diesem Album diverse Ausrüstungen eines Reporters mit sich führt, u.a. eine Filmkamera und einen Plattenspieler, und seine Eindrücke dokumentiert.70 2.4 Tim im Kongo 2.4.1 Entstehung Die Idee, ein Abenteuer zu schreiben, in dem Tim nach Belgisch-Kongo reist, kam nicht von Hergé selbst, sondern er erhielt den Auftrag von Wallez. Die Geschichte sollte der belgischen Jugend die Kolonie näherbringen. Wallez begründete die Wahl des Handlungsortes laut Hergé 65 vgl. Farr, M.: Tim & Co. S. 13. 66 vgl. Farr, M.: Tim & Co. S. 16. 67 vgl. Seeßlen G.: Tintin, und wie er die Welt sah. S. 145. 68 Farr, M.: Tim & Co. S. 11. 69 vgl. Sadoul, N.: Entretiens avec Hergé. S. 51. 70 vgl. Farr, M.: Tim & Co. S. 14. 17
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