Erziehungskunst frühe kindheit - Raus aus der Verwöhnungsfalle - erziehungskunst frühe kindheit

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Erziehungskunst frühe kindheit - Raus aus der Verwöhnungsfalle - erziehungskunst frühe kindheit
01-48_EK_KiGa_Herbst_2019.qxp_EK_KiGa 17.09.19 12:29 Seite 1

         03 • 2019                                                             Herbst • 3,90 €

         erziehungskunst
               frühe kindheit
                                                               Waldorfpädagogik heute   •••

         • Waldbaden statt                                     • Raus
                                                                    aus der
           Erlebnispark
                                                                Verwöhnungsfalle
         • Stillen tut gut
Erziehungskunst frühe kindheit - Raus aus der Verwöhnungsfalle - erziehungskunst frühe kindheit
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                                                                               Impressum
                                                                               erziehungskunst
            2 INHALT | IMPRESSUM                                               frühe kindheit
                                                                               Waldorfpädagogik heute
                                                                               4. Jahrgang, Heft 03,
                                                                               Herbst 2019, Auflage 30.000
                                                                               Herausgeber:

                         Unsere Herbstausgabe
                                                                               Vereinigung der Waldorfkindergärten e.V.
                                                                               Bundesgeschäftsstelle:
                       • THEMA: VERWÖHNUNGSFALLE •                             Landauer Str. 66 | 67434 Neustadt/Weinstraße
                                                                               Tel.: 0 63 21/95 96 86
                 Fürsorgliche Rabeneltern – oder geht es auch anders?          www.waldorfkindergarten.de
              Im Gespräch mit dem Erziehungswissenschaftler Albert Wunsch 5    Bund der Freien Waldorfschulen e.V.
                                                                               Wagenburgstr. 6 | 70184 Stuttgart
                                                                               Tel.: 07 11/2 10 42-0
                             • MENSCH & INITIATIVE •                           www.waldorfschule.de

                  Andrea Wiebelitz: Bait-al-Shams – »Haus der Sonne«.          Redaktion:
                                                                               Dr. Ariane Eichenberg, Mathias Maurer,
                    Der erste Waldorfkindergarten im Libanon 10                Lorenzo Ravagli
                                                                               Beirat der Redaktion:
                              • MIT KINDERN LEBEN •                            Christian Boettger, Frank Kaliss, Birgit Krohmer
                                                                               Dagmar Scharfenberg
                              Inge Heine: Stillen tut gut 15
                                                                               Anschrift der Redaktion:
                         Irmgard Kutsch: Im Apfelparadies 18                   Wagenburgstraße 6 | D-70184 Stuttgart
                                                                               Tel.: 07 11/2 10 42-50 | Fax: 07 11/2 10 42-54
                                                                               E-Mail: erziehungskunst@waldorfschule.de
                                • LEICHT GEMACHT •                             www.erziehungskunst.de
                                                                               Manuskripte und Zusendungen nur an die
                                                                               Redaktion. Die Verantwortung für den Inhalt
           Stephanie Birkenstock-Würtenberg: Waldbaden statt Erlebnispark 28   der Beiträge tragen die Verfasser.
                                                                               Gestaltungskonzept: Maria A. Kafitz
                            • KINDERGARTENPRAXIS •                             Herstellung: Verlag Freies Geistesleben
                                                                               Maria A. Kafitz & Gabriele Zimmermann
                              Agnes Schütz: Mmh … lecker.
                                                                               Verlag:
                              Frühstück selbstgemacht 26                       Verlag Freies Geistesleben
                                                                               Postfach 13 11 22 | 70069 Stuttgart,
                                                                               Landhausstraße 82 | 70190 Stuttgart
                       Frank und Ulrike Kaliss: Viele Wege, ein Ziel.          Tel.: 07 11/2 85 32-00 | Fax: 07 11/2 85 32-10
                             Natur-Waldorfkindergärten 30                      www. geistesleben.com
                                                                               Anzeigenservice:
                               • BLICK IN DIE WELT •                           Werbeanzeigen & Beilagen
                                                                               Christiane Woltmann
                      Nora Jenny Windeck: Unter Anpassungsdruck.               Tel.: 07 11/2 85 32-34 | Fax: 07 11/2 85 32-11
                                                                               E-Mail: woltmann@geistesleben.com
                         Die Kindergartenschule in Dublin 32
                                                                               Stellenanzeigen & Kleinanzeigen
                                                                               Gabriele Zimmermann
                                          • DIALOG •                           Tel.: 07 11/2 85 32-43
                                                                               E-Mail: anzeigen@geistesleben.com
             Zwischen Rolle und Gefühl. Wie gelingt es, authentisch zu sein?
                                                                               Heftbestellung & Abonnement
                            Im Gespräch mit Elke Rüpke 36                      Leserservice:
                                                                               Dagmar Seiler
                                                                               Tel.: 07 11/2 85 32-26 | Fax: 07 11/2 85 32-10
                       • KOLUMNE | MÜLLERS MEINUNG •                           E-Mail: abo@geistesleben.com
                           Birte Müller: Drei Stunden mehr 42                  Einzelheft: € 3,90 zzgl. Versandkosten.
                                                                               Das Magazin erscheint 4-mal im Jahr und kann
                                                                               direkt beim Verlag bezogen werden.
                                          • SERVICE •                          Jahresabonnement: € 25,– Inland / € 32,–
                                                                               Ausland (jeweils inkl. Versandkosten).
                                                                               Das Abonnement kann nur mit einer Frist von
                      Bücher 43 | Gelegenheiten & Anzeigen 46                  sechs Wochen zum Jahresende gekündigt werden.
                                                                               Dieses Magazin wird auf FSC®-zertifiziertem
                                                                               Papier gedruckt. FSC® ist ein weltweit aner-
                  erziehungskunst frühe kindheit Herbst • 2019                 kanntes Zertifizierungs system zur Sicher-
                                                                               stellung verantwortungsvoller Waldwirtschaft.
                               Titelfoto: southnorthernlights / photocase.de
                                                                               Druck: Körner Druck / Sindelfingen
                                                                               ISSN 2509-2995
Erziehungskunst frühe kindheit - Raus aus der Verwöhnungsfalle - erziehungskunst frühe kindheit
01-48_EK_KiGa_Herbst_2019.qxp_EK_KiGa 16.09.19 16:21 Seite 3

                                                                                                                  EDITORIAL        3

aße
                                                       Neue Wege
                                                        Liebe Leserin, lieber Leser!

                 Es gibt Zeiten, da scheinen die Geburtstagskinder nur so vom Himmel herunterzupurzeln. Es ist, als ob sich
                 alle Kräfte zusammengezogen hätten, damit die Konstellationen auch glücken, um an Goethes Gedanken zu
                 seiner eigenen Geburt anzuknüpfen. So begibt sich der Mensch zwar allein auf seine Erdenreise und dieser
                 Beginn ist auch jeweils ein ganz individueller, eindrücklicher Schwellenübertritt, aber er ist doch unmittelbar
                 und mittelbar mit vielen Menschen verbunden. Nicht nur Vater, Mutter, Geschwister und Großeltern sind
er               selbstverständlich da, sondern auch Menschen, mit denen uns ein geistiges Band verbindet, das möglich
                 macht, Neues für eine Gemeinschaft zu schaffen.
                 Manchmal entdecken wir erst spät und im Rückblick, wer und was alles zu uns dazu gehört. Manchmal
                 allerdings scheint ein geistiger Funke offensichtlich zu zünden und direkte Aufforderung zu sein, gemeinsam
                 zu handeln. So vor 100 Jahren, als die erste Waldorfschule in Stuttgart gegründet wurde und allmählich ein
                 Kindergarten nach dem anderen im Laufe der Jahre dazu kam, bis 1969 die Zahl auf 69 angestiegen war. In
t
                 dieser Zeit der politischen Umwälzungen schien es notwendig, eine Vereinigung zu gründen, die gemeinsam
                 an den Erziehungsfragen arbeitet, sich gegenseitig stützt, berät und Ziele formuliert.
                 Die Vereinigung der Waldorfkindergärten feiert nun im Oktober 2019 ihren 50. Geburtstag. Das sind zwar nicht
                 100 Jahre, aber immerhin ist es die Hälfte von diesen und ein ganzes Stück Lebenserfahrung. Die drängenden
                 Fragen der Zeit sind nicht einfacher geworden, vielleicht sogar schwieriger, gewiss komplizierter. Wie wollen
                 wir unsere Kinder erziehen in einer Welt, deren Grenzen überall verschwimmen – sei es bei Freizeit und
                 Arbeit, der Geschlechterfrage, virtueller und wirklicher Welt, Familie und neuen Lebensformen, wechselnden
                 Berufsidentitäten, Wohn- und Arbeitsorten und vielem mehr? Selbst die Natur ist nicht einfach nur Natur,
                 sondern immer auch Kultur, selbst die Wissenschaftlichkeit führt zu unterschiedlichen Expertenmeinungen.
                 Eine allgegenwärtige Grauzone ist am Entstehen, die verzweifelt machen könnte. Und doch, einmal anders
                 gedacht: Dieses Nebeneinander und Durcheinander, das Orientierungslosigkeit schafft, Chaos, kann auch
                 als Chance verstanden werden, die Farben aus dem Hell-Dunkel neu zu mischen und neu zu gestalten.
                 Die Erkenntnis, nichts ist mehr, wie es ist, kann auch als ein Aufbruch verstanden werden in Neues hinein.
                 Unser Magazin erziehungskunst frühe kindheit hat auch einen Geburtstag. Sie wird drei Jahre alt. Viel-
                 leicht kann sie, die nun in den Kindergarten kommt, und neugierig ist, die Welt kennenzulernen, eine Hilfe
                 sein, diese neuen notwendigen Wege zu gehen.     •
                                                                       Es grüßt aus der Redaktion

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                                                                                Ariane Eichenberg
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                                             2019 • Herbst erziehungskunst frühe kindheit
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Erziehungskunst frühe kindheit - Raus aus der Verwöhnungsfalle - erziehungskunst frühe kindheit
01-48_EK_KiGa_Herbst_2019.qxp_EK_KiGa 16.09.19 16:21 Seite 4

              Fürsorgliche
              Rabeneltern – oder
              geht es auch anders?
Erziehungskunst frühe kindheit - Raus aus der Verwöhnungsfalle - erziehungskunst frühe kindheit
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                                                                                       THEMA: VERWÖHNUNGSFALLE                     5

         Wir fragten den Erziehungswissen-                                          FK | Setzt ein solcher Erziehungsansatz
         schaftler Albert Wunsch, wie es Eltern                                   nicht eine genaue Beobachtungsgabe vo-
         gelingen kann, nicht in die »Verwöhnungs-                            raus – eben keine Erziehungsraster, sondern
         falle« zu tappen.                                              Geistesgegenwart und Wandlungsfähigkeit?
                                                                        AW | Ja! – Einer meiner Kollegen sagte einmal: »Das
         Frühe Kindheit | Seit Rousseau hat sich das Verständ-          Vermögen mit der größten Rendite ist das Wahrneh-
         nis von Erziehung immer wieder geändert. Was ver-              mungsvermögen.« Voraussetzung für eine exakte
         stehen Sie unter Erziehung?                                    Wahrnehmung ist aber, dass ich mich von meinen ei-
         Albert Wunsch | Kinder und Jugendliche zu befähi-              genen Bildern und Vorstellungen löse. Das ist umso
         gen, mit etwa 25 Jahren emotional, sozial und finan-           schwieriger, je mehr ich in mir selbst befangen bin.
         ziell auf eigenen Beinen zu stehen. Das klingt banal,          Aber wir können uns den Umgang mit den Kindern
         aber um dieses Ziel geht es. Eltern und andere Erzie-          von vertrauten Menschen spiegeln lassen. Dabei geht
         hungskräfte haben demnach die Aufgabe, auf diese               es nicht um falsch oder richtig, sondern darum, was
         Wirklichkeit vorzubereiten, in der das Kind dann               ich am ehesten so oder ein wenig anders machen
         leben wird. Dazu ist seine ureigene Individualität in          könnte. Nur aus einer solchen Offenheit kann Verbes-
         den Blick zu nehmen und es daraufhin entsprechend              serung und Wachstum entstehen.
         zu fördern.
                                                                        FK | Unsere Kinder wachsen heute sehr kontrolliert
         FK | Sie gehen von der Einzigartigkeit des Kindes aus.         auf. Über Handy sind sie ständig erreichbar, werden
         Heißt das, dass Erziehung für jedes Kind in ein und            von ihren Eltern überall hingebracht und abgeholt.
         derselben Familie ganz anders aussehen kann?                   Womit hängt diese Entwicklung zusammen?
         AW | Ja, das überrascht viele Eltern bei Erziehungs-           AW | Erst mal gehe ich davon aus, dass Kinder bis zum
         problemen. Wenn sie argumentieren, wir haben doch              zehnten Lebensjahr von Handys verschont werden.
         jedes Kind gleich erzogen, wie kann es denn nur sein,          Aber auch darüber hinaus lässt sich eine Erziehung
         dass es bei diesem schiefgeht? Dann muss ich antwor-           zur Eigenverantwortung nicht mit einer ständigen
         ten: Genau das war der Grund, dass es nicht richtig            Kontrolle in Einklang bringen. Weiter hilft, einer stän-
         klappte. Dies schließt nicht aus, dass es auch einige          digen Besorgheit – meist eine Mischung aus einer
         allgemeinverbindliche Regeln gibt.                             eigenen Grundangst und einem ausgeprägten Kon-
         Eltern brauchen dazu viel Rückgrat, denn Kinder ar-            trollwahn –, keinen Nährboden zu bieten. Sonst gera-
         gumentieren gerne: »Mama, der darf das, aber ich               ten Eltern schnell in die Position, mehr oder weniger
         nicht, das ist ungerecht« – dem standzuhalten und zu           unbewusst Besitz- und Machtansprüche über das
         vertreten: »Ja, hier scheint das zu passen und bei dir         Kind auszuüben. Letztlich wollen sich Eltern durch
         nicht«, fällt den meisten Eltern ausgesprochen schwer.         ein solches Verhalten Lebenssinn und Selbstver- •          ••

                                     2019 • Herbst erziehungskunst frühe kindheit
                                                       Foto: David-W- / photocase.de
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            6 THEMA: VERWÖHNUNGSFALLE

             • • • wirklichung verschaffen. So ist es meist ihr Wille,     und ungefährliche Wegstrecke das Fahrrad zu nutzen,
                dass das Kind diesen Sport macht oder jenes Musikin-       dann müssen wir ihm Perspektiven eröffnen, damit lo-
                strument lernt. Hinzu kommt die ständige Sorge, den        cker umzugehen. Eine passende Antwort wäre zum Bei-
                Kindern könnte »auf freier Wildbahn« etwas passieren.      spiel: »Ich muss nicht mehr mit Pampers und Schnuller
                Auch wenn in der Regel die meisten Eltern das Beste        hier an der Halle abgegeben werden. Ich kann das al-
                für ihr Kind wollen, wird selten überprüft, was denn       leine.« In der Regel ist dann Ruhe. Ein liebevolles El-
                wirklich für dieses oder jenes Kind förderlich wäre.       ternhaus, in dem Mutter oder Vater sich dem Kind
                Denn oft versucht man, eigene Lebensideale im Um-          zuwenden, in dem etwas gemeinsam unternommen
                gang mit den Kindern zu verwirklichen.                     wird – das schafft Stabilität. Kinder brauchen keine
                So werten die Eltern es beispielsweise positiv, dass sie   Chauffeurdienste. Auf der anderen Seite können Eltern
                die Kinder überall hinkutschieren. Es gibt ihnen ir-       anderen Eltern darin Vorbild sein, dass es auch anders
                gendwie ein gutes Gefühl. Was dabei komplett ausge-        geht – nicht in der Konfrontation, sondern wie beiläu-
                blendet wird, ist, dass sie damit ihren Kindern die        fig: »… diese ständige Fahrerei zum Sport, Musikunter-
                Möglichkeit nehmen, immer mehr in ein eigenständi-         richt, Ballett – das reduziert die Eigenständigkeit
                ges und selbstverantwortliches Leben lernend hinein-       unseres Kindes und das wollen wir als Eltern nicht.«
                zuwachsen. Jedes unangemessene Elternverhalten             Solch eine kleine selbstbewusste Anmerkung kann zur
                schwächt die Kinder unglaublich und vereitelt den not-     Erlösung für die anderen werden. Denn Beziehungszeit
                wendigen Entwicklungsraum.                                 sollte nicht über Fahrdienste abgewickelt werden.
                So verdeutlichte eine Untersuchung vor einigen Jah-
                ren, dass die Wegstrecke von 26 Prozent der Kinder,        FK | Wie unterscheidet man Verwöhnung von Zuwen-
                die mit dem Auto zur Kita gebracht wurden, unter 800       dung?
                Metern lag. Eine »tolle Mitgift« für das weitere Leben     AW | Zuwendung orientiert sich am anderen. Ich
                unserer Kinder, auch unter ökologischen Gesichts-          wende meine gesamten Sinne meinem Gegenüber
                punkten.                                                   zu. Was ist ihm wichtig? Wie kann ich was fördern?
                                                                           Meistens sieht man gar nicht den anderen, sondern
                FK | Es ist schwer, sich diesem Fürsorgewahn zu ent-       nur sich selbst. Dann ist ein Blickwechsel nötig!
                ziehen, ohne als Rabeneltern zu gelten. Fühlt sich ein     Das Wort »verwöhnen« ist im Zusammenhang mit
                Kind nicht ausgegrenzt, wenn es nicht so wie die an-       Erziehung eindeutig negativ besetzt. Niemand wird je-
                deren bemuttert wird?                                      mals sagen: »Oh, wie schön, da kommt ein verwöhn-
                AW | Ja, das ist nicht leicht. Eltern und Kinder müssen    tes Kind, da freuen wir uns aber.«
                lernen, kreativ mit solchen Situationen umzugehen.
                Wird ein Kind angemacht, weil es nicht zum Sportver-       FK | Wann verwöhnt man also?
                ein gebracht wird, sondern stolz ist, für die bekannte     AW | Verwöhnung ist Verwahrlosung im Glitzerlook.

                                             erziehungskunst frühe kindheit Herbst • 2019
Erziehungskunst frühe kindheit - Raus aus der Verwöhnungsfalle - erziehungskunst frühe kindheit
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                                                                               Kinder brauchen
                                                                            reichlich altersgemäße
                                                                          körperliche und emotionale
                                                                            Herausforderungen zur
                                                                            Bildung von Resilienz.
                                                                               • • • • • • • • • • • • • • • • • •

         Wir schütten die Kinder mit Konsumgütern zu oder               lernt, dass Dinge auch anstrengen, unangenehm sind
         ersticken sie mit unserer unkontrollierten Emotiona-           oder sogar weh tun.
         lität, die oft ein Ausdruck des eigenen Zuwendungs-            Wenn ein Kind erleben darf, dass es nicht der Anfang
         mangels ist.                                                   einer tödlichen Verdurstungsgeschichte ist, wenn es
         Verwöhnen vollzieht sich immer als:                            einmal nicht sofort etwas zu trinken bekommt, son-
         – falsches Helfen,                                             dern dass es manchmal etwas dauert, dann hat es die
         – fehlende Begrenzung und                                      Chance, den lebenswichtigen Bedürfnisaufschub zu
         – ausbleibende Herausforderung.                                erlernen.
         In allen Fällen werden so Nichtkönnen, Abhängigkeit            Es geht nicht darum, keine Emotionen zu zeigen, kalt
         und Anspruchshaltungen begründet. Erlernte Hilflo-             zu sein, die Kinder nicht zu trösten. Es geht um
         sigkeit und Entmutigung ist das Resultat von Verwöh-           die Begrenzung eigener Unsicherheitsgefühle, sonst
         nung und schafft Menschen, die alles wollen, aber              entwickeln Kinder automatisch ein emotionales Star-
         nichts geben (können)!                                         Verhalten und fühlen sich als Mittelpunkt der Welt.
         Wenn ein Kind mit acht Monaten etwas intensiver                Dann kommen sie in die Schule und dort gibt es
         quäkt, Mutter und Vater sofort laufen und das Kind             einen Prinzen- und Prinzessinnen-Auflauf.
         hochnehmen, um zu schauen, was es hat, dann haben              Viel zu viele Kinder sind heutzutage das Ein und Alles
         die Kinder keine Möglichkeit, seelische Muskeln zu             ihrer Eltern. Sie kommen unter die Glasglocke, ständig
         entwickeln. Dazu gehört, dass man damit umgehen                kontrolliert und überwacht oder mit einem Alarm- •       ••

                                     2019 • Herbst erziehungskunst frühe kindheit
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                                                                           auch nicht immer das Beste,
                                                                          aber sie machen das Beste, aus
                                                                           allem, was ihnen widerfährt.
                                                                               • • • • • • • • • • • • • • • • • •

             • • • gerät versehen, damit sie nicht »geklaut« werden.      schälen und dann auch noch zu essen. Kinder möch-
                Ein eigenständiges Leben ist so nicht möglich.            ten mit Eltern und Geschwistern (falls vorhanden) das
                                                                          Leben erlernen und werden stattdessen zwischen Ergo-
                FK | Weicht ein Kind in seinem Verhalten von der          und Sprachtherapeuten und Spezialförderung hin und
                Norm ab, wird rasch therapiert. Es darf nicht komisch,    her geschoben.
                sensibel, traurig, aggressiv oder wütend sein. Was sind   Nicht wenige Eltern leiden schon im Kleinkindalter
                die Gründe für diese Inflation der Therapien?             unter der Angst, ihr Kind könnte nach dem Schulab-
                AW | Je umfangreicher die Kinder vom alltäglichen         schluss, weil es ja so ein besonderes Kleinod ist, keine
                Leben abgekoppelt sind, desto mehr müssen sie das,        angemessene Stelle bekommen. Es ist tragisch: Es
                was sie ganz natürlich erfahren könnten, gesondert        setzt bei den Eltern ein Förderwahn ein, um dem
                lernen. Wachsen Kinder mit anderen Kindern auf, so        Kind den optimalen »Anschluss« zu ermöglichen.
                machen sie untereinander jede Menge Konflikterfah-        Daher soll es schon frühzeitig in einen zweisprachi-
                rungen. Mal setzt sich dieser, ein anderes Mal jener      gen Kindergarten und mit vier bis fünf Jahren einen
                durch und hier konnten Kompromisse gefunden wer-          Computer bedienen können, um später in der global
                den. Sie müssen sich später keinen Konflikt-Coach         vernetzten Berufswelt gut aufgestellt zu sein. Nur bei
                einkaufen. Ein Kind, das alleine aufwächst, ist auto-     der Fähigkeit, die Medien-Aus-Taste zu betätigen, ha-
                matisch in der Situation, keine typischen Konflikte auf   pert es kräftig.
                selbstverständliche Weise in seinem Alltag zu erleben.
                Und wenn es ein überzogenes Selbstbewusstsein an          FK | Wie machen wir also Kinder stark? Inwiefern bil-
                den Tag legt, dann wird es auch im Kindergarten kei-      det Resilienz eine Basis für die Persönlichkeitsent-
                nen Konflikt ausleben können, da es sich immer be-        wicklung?
                haupten muss. Es hat zwar Konflikte, setzt sich aber      AW | Das stabil-resiliente Ich ist die Grundvorausset-
                jedes Mal durch. Reicht das nicht, schaltet sich die      zung zur Führung eines eigenständigen Lebens. Kin-
                Mutter ein und bittet die Erzieherin, sich gesondert      der mit diesen Voraussetzungen können dann von
                um ihr Kind zu kümmern. Frustrationstoleranz und          sich und eigenen Bedürfnissen auch mal absehen und
                Konfliktlösungsmanagement kann so nicht erlernt           betrachten sich nicht als Zentrum der Welt.
                werden. Je intensiver uns Beratungsdienste und För-       Der Religionsphilosoph Martin Buber formuliert:
                dereinrichtungen weismachen, dass es für das Kind         »Der Mensch wird am Du zum Ich.« Und gute 70
                richtig sei, es permanent und speziell zu fördern,        Jahre später ergänzt der Soziologe Ulrich Beck: »Ohne
                desto stärker fallen wir darauf herein. Wir kaufen Nah-   Ich kein Wir.« Das gebende Du ist somit der Dreh-
                rungsergänzungsmittel, anstatt nahrhafte Gerichte zu      und Angelpunkt für die Entstehung eines stabilen Ich,
                kochen. Wir haben Winter, also kaufen wir die Vitamin     das wiederum die Voraussetzung für das Wachsen von
                C-Tabletten. Ist doch einfacher, als eine Apfelsine zu    Zusammengehörigkeit und Verbundenheit im Wir ist.

                                             erziehungskunst frühe kindheit Herbst • 2019
Erziehungskunst frühe kindheit - Raus aus der Verwöhnungsfalle - erziehungskunst frühe kindheit
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                                               THEMA: VERWÖHNUNGSFALLE                             9

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                                                                                                        Kinderjahre

         FK | Was fördert die Resilienz, was behindert sie?
         AW | Einmal fördert alles, was zu einem satten Urvertrauen führt, die Entwick-
                                                                                                                               Freies Geistesleben
         lung von Resilienz. Die Krippe gehört nicht dazu: Sie ist eher ein Resilienz-
         Verhinderer. Denn die Eltern sind in dieser entscheidenden Phase als                          Christiane Kutik
                                                                                                       Entscheidende Kinderjahre
         Hauptbezugspersonen für die Entwicklung eines stabilen Selbst unersetzbar.
                                                                                                       Ein Handbuch zur Erziehung von 0 bis 7
         Das Kind muss spüren, ich bin geborgen, Mama und Papa sind für mich da.                       309 Seiten, mit farbigen Fotos,
         Dann kann das Kind die lebenswichtige Ichstärke entwickeln. Wenn ich einen                    gebunden mit Schutzumschlag
                                                                                                       € 24,90 (D) | ISBN 978-3-7725-2495-0
         sicheren Hafen habe, dann kann ich mich aus diesem herauswagen und bei                        www.geistesleben.com
         Sturm immer wieder in ihn zurückkehren. Die Eltern als verlässlicher Ur-
         Hafen sind die Voraussetzung, dass Kinder auf andere Menschen, neue Situa-
         tionen zugehen, Dinge ausprobieren und so die Welt sehend und lernend                         Kinder ins Leben begleiten
         erobern können.
         Kinder brauchen demnach reichlich altersgemäße körperliche und emotionale                     Entwicklung verstehen, Förderung der
         Herausforderungen zur Bildung von Resilienz. Dazu müssen Eltern und andere                    Sinne, Rhythmus im Alltag, richtiges
         Erziehungskräfte wieder lernen, Herausforderungen zuzulassen oder gar zu                      Spielen – das sind wichtige Elemente
         schaffen. Die Voraussetzung dafür, solch eine starke Persönlichkeit bei Kindern               einer modernen Erziehung. Christiane
         zu fördern, ist eine auf Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortung ausgerich-                  Kutik gibt zahlreiche Ratschläge und
         tete Grundhaltung aller Beteiligten. Denn ohne eine mentale Ermutigung gibt                   Anregungen für alle Lebensbereiche
         es kein Lernen, kein positives Zusammenleben, kein gesellschaftliches Wachs-                  mit Kindern in den ersten 7 Lebens-
         tum. Das alles erfordert starke, konsequente, einplanbare, handlungsfähige und                jahren – eine Zeit, in der Kinder
         liebevoll sorgende Eltern. Resilienten Kindern (und Erwachsenen) widerfährt                   intensiv lernen, entdecken, aus-
         sicher auch nicht immer das Beste, aber sie machen das Beste, aus allem, was                  probieren und aktiv sein wollen.
         ihnen widerfährt.   •                                                                         Anschaulich, praxisnah und um-
                                                                                                       fassend zeigt sie, wie es gelingt, mit
                                   Die Fragen stellte Ariane Eichenberg.
                                                                                                       Kindern kindgemäß umzugehen.
             Zum Autor: Albert Wunsch ist Diplom-Sozialpädagoge, Kunst- und Werklehrer,
           Psychologe und promovierter Erziehungswissenschaftler. Er lehrt seit vielen Jahren
                an der Universität Düsseldorf sowie der Hochschule für Ökonomie und                    Die Kinder haben sich uns anvertraut
               Management (FOM) in Düsseldorf/Neuss und arbeitet in eigener Praxis als
                                                                                                       – sie bringen uns unbedingtes
                   Erziehungs- und Konfliktberater sowie als Supervisor und Coach.
                                                                                                       Vertrauen entgegen. Lassen wir uns
                                       Link: www.albert-wunsch.de
                                                                                                       davon ermutigen. Und stärken wir
             Literatur: A. Wunsch: Abschied von der Spaßpädagogik, München 2007; ders.: Die
                                                                                                       uns auf dem Weg, ein Kind zu
            Verwöhnungsfalle, München 2013; ders.: Mit mehr Selbst zum stabilen Ich! – Resilienz
               als Basis der Persönlichkeitsbildung, Berlin/ Heidelberg 2018; ders.: Boxenstopp
                                                                                                       erziehen. Der Weg entsteht im Gehen.
                       für Paare, … damit Ihre Beziehung weiter rund läuft, Berlin 2018                Dieses Buch begleitet Sie dabei.

                      2019 • Herbst erziehungskunst frühe kindheit                                     Freies Geistesleben
Erziehungskunst frühe kindheit - Raus aus der Verwöhnungsfalle - erziehungskunst frühe kindheit
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          10 MENSCH & INITIATIVE

                                          Bait-al-Shams
                                        »Haus der Sonne«
                               Der erste Waldorfkindergarten im Libanon
                                                           von Andrea Wiebelitz

                Im Süden der pulsierenden Großstadt Beirut liegt auf     richtet sind. Alles ist sehr sauber und vor allen Dingen:
                einem Gebiet von nur etwa einem Quadratkilometer         friedlich und ruhig. Hier haben drei Kindergartengrup-
                das Flüchtlingslager Shatila. Es wurde 1948 ursprüng-    pen ihr Zuhause. Ein Team von sieben Waldorfkinder-
                lich für 3.000 palästinensische Flüchtlinge eingerich-   gärtnerinnen – alle nach zweijähriger Fortbildungszeit
                tet, heute leben darin über 25.000 Menschen auf          zertifiziert über die Freie Hochschule Mannheim –
                engstem Raum zusammen.                                   schafft eine anregende, liebevolle Atmosphäre für 60
                Die Straßen sind meistens voller Menschen, die sich      Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren.
                an den Marktständen vorbeidrängen, wo Obst, Ge-          Einfache Holzspielsachen in verschiedenen Formen
                müse, Fleisch, Kohlen, Textilien, Haushaltswaren und     und Größen, Stoffpuppen, Stofftiere und bunte Tü-
                Vieles mehr verkauft werden. Dazwischen hört man         cher laden zum Spielen ein und die Kindergärtnerin-
                das Hupen der Motorräder, auf denen junge Männer         nen beleben die Räume mit Tätigkeiten wie Nähen,
                in atemberaubendem Tempo durch die Menge fahren,         Brot backen und Filzen, in die sie die Kinder gerne
                und das Geklapper von Tassen, mit denen der Kaffee-      einbeziehen. Ich staune immer wieder darüber, wie
                verkäufer auf sich aufmerksam macht. Es ist eine ganz    intensiv und hingegeben die Kinder hier spielen.
                eigene Welt. Abseits der Hauptstraße des Lagers muss
                man sich in den engen dunklen Gassen zurechtfin-                    • Paradies auf dem Dach •
                den, denn Platz für so viele Menschen gibt es nur,
                wenn man Stockwerk auf Stockwerk in die Höhe baut.       Etwas ganz Besonderes in dieser Gegend ist der Dach-
                Das bedeutet auch, dass die weiter unten liegenden       garten: Hoch oben über den Häusern, im hellen Son-
                Wohnungen kein Licht mehr haben und oft feucht,          nenlicht und an der frischen Luft bietet er den Kindern
                eng und dunkel sind.                                     vielfältige Bewegungsmöglichkeiten auf einem phan-
                Das ist der Lebensraum der Kinder und der Kinder-        tastischen Kletter-Ensemble aus Holzbalken und di-
                gärtnerinnen, die fast alle in Shatila aufgewachsen      cken Seilen. Außerdem gibt es eine große Sandkiste
                sind. Hier, mittendrin, steht das »Haus der Sonne«,      zum Spielen. Ein Häuschen, eine Schaukel und liebe-
                der Kindergarten. Hat man es geschafft, die steile       voll gepflegte Blumenkübel vervollständigen den Au-
                Treppe hinaufzusteigen bis in das dritte und vierte      ßenbereich und man hat den Eindruck: Es ist ein
                Stockwerk, dann betritt man helle, in warmer Farbe ge-   kleines Paradies. Doch wie können so viele Kinder es
                strichene Räume, die schlicht und freundlich einge-      nutzen? Alle 60 Kinder auf einmal wären für das

                                            erziehungskunst frühe kindheit Herbst • 2019
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                                                                                 Die zukünftigen Schulkinder erzählen
                                                                                am letzen Kindergartentag im Rahmen
                                                                                    der Verabschiedung für die anderen
                                                                                    Kindergartenkinder und Eltern eine
                                                                                Geschichte und führen einen Reigen vor.

                                                                                                 Im »Haus der Sonne«
                                                                                                       wird gern mit
                                                                                                       Sonnenfarben
                                                                                                              gemalt.

         Oben: Wiebke Eden-Fleig aus Hamburg, die Gründerin und
         Organisatorin der Einrichtung. Unten rechts: Der Dachgarten –
         noch ohne Klettergerüst und Sonnenschutz

         Dachgärtchen ja viel zu viel. Also haben die Kinder-
         gärtnerinnen eine geniale Lösung gefunden: Jede
         Gruppe hat einen eigenen festen Tagesrhythmus. Fle-
         xibel und unkonventionell wird aus den Gegebenhei-
         ten das Beste gemacht – eine der vielen Stärken des
         Teams. Und wenn ich zu den Fortbildungseinheiten
         nach Shatila komme, bin ich immer wieder von der
         Hingabe und dem Engagement der sieben Frauen be-
         eindruckt. Das »Haus der Sonne« hat auch in der Zu-
         sammenarbeit untereinander oder mit den Eltern viel
         Wärme und Licht.                                 ••             •

                                         2019 • Herbst erziehungskunst frühe kindheit
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          12 MENSCH & INITIATIVE

                                Beim freitäglichen Ausflugstag
                                    im Schnee in den Bergen.

             • • • Damit die Kinder auch einmal richtig in der Natur    sche Aktivitäten anbieten und auch das freie Spiel auf
                sein können, gibt es jeden Freitag einen Ausflugstag,   dem Dachgärtchen ermöglichen.
                bei dem sie einen der wenigen Parks von Beirut besu-
                chen oder auf eine Plantage außerhalb der Stadt zur        • Waldorfpädagogik breitet sich aus •
                Olivenernte oder in den Schnee in die Berge fahren.
                Welch tiefe Erlebnisse das für die Stadtkinder sind,    Inzwischen scheinen die Strahlen vom »Haus der
                kann man sich vorstellen!                               Sonne« weit über Shatila hinaus und es findet bei den
                                                                        vielen Besuchern von nah und fern große Beachtung
                    • Lesen, Schreiben, Rechnen – auch                  – was nicht zuletzt der unermüdlichen Arbeit der
                             im Kindergarten •                          Gründerin und Organisatorin der Einrichtung,
                                                                        Wiebke Eden-Fleig aus Hamburg, zu verdanken ist.
                Schulen im Libanon setzen voraus, dass die Kinder       Sie hat seit nunmehr 18 Jahren eine enge Beziehung
                bereits auf Englisch und Arabisch lesen und schrei-     zu Shatila und zu deren Familien. Dabei war es einem
                ben und einen ersten Zahlenraum überschauen             Zufall geschuldet, dass sie ihren Weg dorthin fand.
                können. Die Vermittlung solcher Fertigkeiten ist ei-    Gerade das Politikwissenschaftsstudium abgeschlos-
                gentlich nicht Aufgabe eines Waldorfkindergartens.      sen, arbeitete Eden-Fleig bei einer deutschen politi-
                Aber auch hier gilt, das Beste aus den unabänderli-     schen Stiftung in Beirut. Ein befreundeter Fotograf,
                chen Gegebenheiten zu machen und für die Kinder         der gerade an einer Reportage über die zwölf palästi-
                eine hilfreiche Situation zu schaffen. So gibt es für   nensischen Flüchtlingslager im Land arbeitete, nahm
                die Vorschulkinder jeden Tag zur selben Zeit eine       sie mit. Und sie blieb, arbeitete an den Wochenenden
                kleine Unterrichtsstunde, in der sie nach Methoden      mit Jugendlichen, unterstützte Englisch-Hausauf-
                der Waldorfpädagogik mit den ersten Lerninhalten        gaben oder organisierte Ausflüge.
                vertraut gemacht werden.                                »Aber eigentlich hatte ich mehr davon, als die Jugend-
                Die ersten Jahrgänge der Kinder, die nun die Schule     lichen. Ich hatte damals das Gefühl, etwas Gutes zu
                besuchen, werden seit diesem Jahr nachmittags von       tun, etwas von meinem privilegierten Leben zu teilen.
                zwei weiteren Pädagogen betreut, die sie bei den        Im Rückblick denke ich, habe ich mehr profitiert als
                Hausaufgaben unterstützen, als Ausgleich künstleri-     die Kinder«, sagt Wiebke Eden-Fleig. Deswegen habe

                                             erziehungskunst frühe kindheit Herbst • 2019
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       »Die Kindergärten sind im Prinzip Mini-Schulen.
         Oft herrscht auch Gewalt und ein großer akademischer Druck«.
                                • • • • • • • • • • • • • • • • • •

                 Viele Kinder sind schon beim Schuleintritt müde und haben keine Lust
          mehr zum Lernen. Die Schulabbrecherquote ist bereits in den ersten Jahren
                                 sehr hoch. Wir wussten, dass wir es anders machen wollten.

         sie beschlossen, etwas zu tun, was gebraucht wird        Methoden, die sich in Shatila bewähren, auch dort ein-
         und Sinn macht. Und zwar gemeinsam mit den Men-          zuführen.
         schen vor Ort, das sei ihr besonders wichtig. Denn       Nach gründlichen Überlegungen wurde entschieden,
         nur so könne etwas entstehen, was ein Teil der Ge-       diese Chance zu ergreifen. Gemeinsam mit einem
         meinschaft wird und auch beständig ist. Ein Kinder-      Team der »Freunde der Erziehungskunst Rudolf Stei-
         garten sollte es werden, daran mangelt es in den         ners« wurde ein Anfang gemacht, um die heilenden
         Lagern. Und wenn es welche gibt, dann sind diese         Methoden der Waldorfpädagogik auch in Baalbek
         sehr verschult, es gibt kaum Raum zum Spielen. »Die      wirksam werden zu lassen – zumal es in Baalbek um
         Kindergärten sind im Prinzip Mini-Schulen. Oft           die Betreuung vieler syrischer Familien mit Fluchter-
         herrscht auch Gewalt und ein großer akademischer         fahrung geht. Gemeinsam mit dem bestehenden
         Druck. Viele Kinder sind schon beim Schuleintritt        Team wird behutsam und in gegenseitigem Respekt
         müde und haben keine Lust mehr zum Lernen. Die           nach Formen gesucht, um für die Kinder und ihre Fa-
         Schulabbrecherquote ist bereits in den ersten Jahren     milien eine gute soziale Gemeinschaft zu bilden.
         sehr hoch. Wir wussten, dass wir es anders machen        Dafür hoffen wir auf viele Menschen, die sich für diese
         wollten.« Wiebke Eden-Fleigs eigene Kinder haben         beiden Projekte in Shatila und Baalbek begeistern
         einen Waldorfkindergarten besucht und gehen nun          können, diese Arbeit sinnvoll finden und uns ideell
         beide auf eine Waldorfschule.                            oder finanziell unterstützen, sodass die sozialen Le-
         Sie wollte, dass auch die Kinder und Eltern in Shatila   bensverhältnisse in dieser Region weiter stabilisiert
         Waldorfpädagogik erleben dürfen. Zunächst waren          werden können und das friedliche Miteinander ge-
         viele skeptisch, würde dies funktionieren im Libanon?    stärkt wird.•
         Und dann auch noch in Shatila? Die Initiatorin blieb
         hartnäckig und glaubte fest an die Stärke der Waldorf-
                                                                                  Link: www.justchildhood.org
         pädagogik. Und sie überzeugte damit nicht nur die Er-
         zieherinnen, sondern auch die Eltern.
                                                                   Zur Autorin: Andrea Wiebelitz ist Waldorfkindergärtnerin
         Aus der Shatila-Initiative hat sich eine Anfrage eines        mit heilpädagogischer Zusatzausbildung, tätig in
         großen, bestehenden Kindergartens mit 220 Kindern              Eltern-Kind-Gruppen, der Erwachsenenbildung
         in Baalbek im Nordosten des Libanons ergeben, die                          und Notfallpädagogik.

                                     2019 • Herbst erziehungskunst frühe kindheit
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                                                Stillen tut gut
                                                                von Inge Heine

                Von Wärme und Geruch geleitet findet das Neuge-                   Stunden nach der Geburt sowie erreichbare Beratungs-
                borene, wenn es auf dem Bauch oder der Brust der                  und Hilfsangebote während der gesamten Stillzeit. Die
                Mutter liegt, meist innerhalb der ersten halben Stunde            Beratung umfasst die Bedeutung des Stillens für die
                nach der Geburt den Weg zur Brust. Erste Saugbewe-                physische Gesundheit. Stillen bietet vorübergehende
                gungen stimulieren die Milchbildung und prägen das                Immunität gegenüber zahlreichen Krankheitserregern
                Saugverhalten des Kindes.                                         (Nestschutz). Muttermilch enthält alle für die körperli-
                Trotz dieses instinktiven Sich-Findens zweifeln viele             che Entwicklung nötigen Substanzen. Die Komposi-
                Mütter an ihrer Fähigkeit, das Kind mit der Brust er-             tion der Inhaltsstoffe passt sich der Entwicklung des
                nähren zu können. Entscheidend für die Motivation                 Kindes optimal an. Stillende Mütter profitieren durch
                und den Erfolg des Stillens sind daher Beratungen                 das Stillen von einer besseren Rückbildung der Gebär-
                schon während der Schwangerschaft, in den ersten                  mutter. Sie haben ein geringeres Risiko, an Brust- und

                                            erziehungskunst frühe kindheit Herbst • 2019
                                                                Foto: vanda lay / photocase.de
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                                                                                               MIT KINDERN LEBEN              15

                                                                   ten Speisen findet. Jede Art der Beikost ist besser ver-
                                                                   träglich, wenn während der Nahrungsumstellung wei-
                                                                   ter gestillt wird.

                                                                           • Das Kind als Sinneswesen •

                                                                   Auf dreifache Weise verbindet sich das Neugeborene
                                                                   unmittelbar nach der Geburt mit der Welt:
                                                                   • durch die Sinneseindrücke,
                                                                   • durch die Atmung,
                                                                   • durch die Nahrungsaufnahme.

                                                                   Das Kind ist zunächst ganz Sinneswesen, was sich
                                                                   auch durch den im Verhältnis zum übrigen Körper
                                                                   sehr großen Kopf ausdrückt. Jede Stillmahlzeit ist eine
                                                                   Anregung aller Sinne. Wärme, Tasten, Bewegungsko-
                                                                   ordination, Gleichgewicht, Geruch und Geschmack,
                                                                   Sättigung und Hunger, Sehen und Hören werden be-
                                                                   ansprucht. Der im Vergleich zu tierischer Milch ge-
                                                                   ringe Eiweiß- und Calciumanteil ist auf das sich über
                                                                   zwei Jahrzehnte hin erstreckende körperliche Wachs-
                                                                   tum des Menschen abgestimmt. Der hohe und diffe-
         Gebärmutterkrebs zu erkranken. Bei Mutter und Kind        renzierte Zuckeranteil der Muttermilch stellt
         tritt im späteren Leben seltener Diabetes auf. Im Hin-    demgegenüber die schnelle Zuckerverfügbarkeit für
         blick auf die seelisch-geistige Entwicklung fördert das   die Funktion des Nervensystems in den Vordergrund.
         Stillen die Bindung zwischen Mutter und Kind. Die         »Die Muttermilch weckt den schlafenden Geist im
         Brust ist der körperliche Ausgangspunkt für ein kom-      Menschen«, so charakterisiert Rudolf Steiner die Be-
         plexes Geschehen: Für den Rhythmus von Hunger             deutung der Muttermilchernährung für das Neugebo-
         und Sättigung (Körper), das Zusammenspiel von             rene. Die durch das Stillen angeregten vielfältigen
         Geben und Empfangen (Seele) sowie das Wechselspiel        Sinneseindrücke unterstützen die Neuroplastizität des
         von Ich und Du (Geist).                                   Gehirns, das heißt die Bildung und Differenzierung
         Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das             von Nervenverbindungen.
         Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF)           Die ungeteilte Aufmerksamkeit für das Kind während
         empfehlen, sechs Monate lang ausschließlich zu stil-      der Stillmahlzeit sowie das Staunen über sein erwa-
         len. Neben der traditionellen Einführung der Breikost,    chendes Interesse für die Welt charakterisieren die
         wählen Eltern heute den Weg des »baby led weaning«.       Stillzeit. Äußere Störungen, welche die Aufmerksam-
         Das bedeutet, dass das Kind sich allmählich abstillt,     keit vom Kind ablenken, wie zum Beispiel die Nut-
         wenn es am Familientisch eine Auswahl von geeigne-        zung des Smartphones, sollten vermieden werden. •          ••

                                     2019 • Herbst erziehungskunst frühe kindheit
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                                                                                                     Durch Wärme,
                                                                                                    Hautkontakt und
                                                                                                Geborgenheit werden die
                                                                                               mit der Geburt verlassene
                                                                                               Hülle der Gebärmutter und
                                                                                                    die durchtrennte
                                                                                                 Nabelschnur gleichsam
                                                                                                     neu aufgebaut.

                                                                                 Kind müssen sich im Rhythmus erst finden. Meist ge-
                                                                                 schieht dies innerhalb der ersten sechs Wochen. Bei
                                                                                 Änderungen der Lebensumstände des Kindes oder
                                                                                 der Mutter muss der Rhythmus angepasst werden.
                                                                                 Der Ernährungsrhythmus ist das körperliche Modell
                                                                                 für den Rhythmus von Schlafen und Wachen sowie von
             •••                  • Rhythmen •                                   Alleinsein und Zusammensein. Ein harmonischer
                                                                                 Schlaf-Wachrhythmus von Mutter und Kind wirken
                Mit der Geburt wird der über die Plazenta und Nabel-             sich positiv auf die Stillbeziehung aus. Ebenso ein ge-
                schnur vermittelte, kontinuierliche Nahrungsstrom                lungener Rhythmus von Zeiten des Alleinseins und des
                unterbrochen. Gleiches gilt für den Austausch von                Zusammenseins. Rhythmus ist Ordnung in der Zeit.
                Sauerstoff und Kohlendioxyd, der nach der Geburt in              Zeitliche Ordnung entsteht durch Rituale und gute Ge-
                den Rhythmus von Einatmung und Ausatmung über-                   wohnheiten; die räumliche Ordnung zum Beispiel
                geht. Weder der Ernährungsrhythmus noch der Atem-                durch die Trennung von Spiel- und Schlafräumen.
                rhythmus oder der Rhythmus von Wachen und
                Schlafen sind bereits mit der Geburt ausgereift. Sie                     • Von der Bindung zur Beziehung •
                stellen sich erst im Laufe der folgenden Lebensjahre
                ein. Die leiblichen und seelischen Bedürfnisse des               Ernährung ist die Grundlage für den Aufbau des Lei-
                Kindes müssen mit den Anforderungen von Familie                  bes. Das Neugeborene setzt seine ganze Kraft dafür
                und Beruf in Einklang gebracht werden. Das Stillen               ein, durch Nahrung und Zuwendung zu bekommen,
                unterstützt das Entstehen eines solchen Alltagsrhyth-            was es für seine Entwicklung braucht. Seiner vollkom-
                mus. Zum Beispiel stimuliert das Nahrungsbedürfnis               men körperlichen Abhängigkeit entspricht seelisch die
                des Kindes die Erzeugung der Muttermilch. So passt               vollständige Orientierung auf die lebenssichernden
                sich die Menge der Milch flexibel an das Wachstum                Bezugspersonen. Dieser Abhängigkeitsbeziehung ent-
                des Säuglings an. Ruhe, Vertrauen und ausreichendes              sprechen auf Seiten der Mutter Fürsorgeinstinkte und
                Trinken verstärken die Milchbildung und die empa-                liebevolle Zuwendung. Dieses Wechselverhältnis wird
                thische Beziehung zum Kind. Dagegen reduzieren                   »Bindung« genannt. Ist diese Bindung vor der Geburt
                Kummer, sozialer Stress, Schmerz, Ablenkung,                     durch Uterus und Nabelschnur untrennbar, so wird
                Schlaf- oder Flüssigkeitsmangel die Milchbildung –               mit der Geburt ein »Abnabelungsprozess« von vielen
                bis hin zum entzündlichen Milchstau. Mutter und                  körperlichen, seelischen und sozialen Bindungen ein-

                                            erziehungskunst frühe kindheit Herbst • 2019
                                                                Foto: livcool / photocase.de
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                                                                MIT KINDERN LEBEN                 17

         geleitet. Im Stillen werden zunächst körperliche, seelische und soziale Bedürf-
         nisse in einem befriedigt. Schon in den ersten Tagen nach der Geburt diffe-
         renzieren sich die Bedürfnisse des Säuglings und die Mutter entdeckt und
         erlernt andere Formen der Zuwendung und Fürsorge. Diese können auch von                          Caroline Hosmann
         anderen Bezugspersonen übernommen werden. Es entstehen Räume der Un-                             Willkommen, Baby !
                                                                                                          Natürliches und Schönes
         abhängigkeit und Eigenständigkeit für das Kind und das Familiensystem. So                        für die erste Zeit
         vollzieht sich der Übergang von »Bindung« zu »Beziehung«. Eine zu große                          160 Seiten, mit Fotos und Anleitungen,
                                                                                                          durchgehend farbig, gebunden
         Unabhängigkeit kann zur Vernachlässigung von Beziehungen führen oder                             € 20,– (D) | ISBN 978-3-7725-2856-9
         zum Rückfall in alte Bindungsmuster. Das Stillen ist für die Bindungs- und                       www.geistesleben.com

         Beziehungsentwicklung ein »Hotspot«. Es kann zur Projektionsfläche werden
         für Konflikte, die mit dem Stillen nichts zu tun haben. Eine gelungene Stillbe-                  So schön ist
         ziehung steht für einen guten Start ins Leben.                                                   Geborgenheit !
         »Hüllen« und »Aufrichten« sind die beiden Gesten, die den Weg von der Bin-
         dung zur Beziehung gestalten. Durch Wärme, Hautkontakt und Geborgenheit                          «Heb Sorg» – das schrieb eine Leserin
         werden die mit der Geburt verlassene Hülle der Gebärmutter und die durch-                        Caroline Hosmann zur Geburt ihres
         trennte Nabelschnur gleichsam neu aufgebaut. Im Aufrichten erscheint der                         vierten Kindes. «Sei achtsam» – ist zu
         freie, verantwortliche Mensch als Ziel der Entwicklung des Kindes. Sie entsteht                  einer Lebenseinstellung der Autorin,
         im Entschluss der Eltern, selbstbewusst und aufrichtig für das Kind zu sorgen                    Gestalterin und Naturpädagogin
         und es Schritt für Schritt in die Selbstständigkeit zu entlassen.           •                    geworden. Daher sind auch die
                                                                                                          Projekte ihres Buches, die man selbst
           Zur Autorin: Inge Heine arbeitet seit 1986 als Gesundheits- und Krankenpflegerin               herstellen kann, mit viel Liebe und
               in der Filderklinik. Als Still- und Laktationsberaterin berät sie Familien im              Achtsamkeit vorwiegend aus Natur-
           Wochenbett und bereitet Paare auf das Eltern-Sein vor. Zusammen mit R. Heine hat               und Recyclingmaterialien gestaltet.
             sie das Konzept der »Pflegerischen Gesten« für die frühe Kindheit entwickelt.                Schön, individuell, ökologisch und
                                      www.stillen-huellen-pflegen.de                                      günstig sind sie zudem – und
                                                                                                          wunderbar fürs Baby und die Eltern.
         Studien: https://lansinoh.de/tipps-infos/lansinoh-stillstudie-2017, Internationale Stillstudie
          2017: 12.087 Frauen aus 9 Ländern, darunter 1002 deutsche Frauen. Die Erkenntnisse
              der Studie zeigen erhöhten Beratungsbedarf und Unterstützung beim Stillen.
            www.stiftungstillen.ch, SWIFS – Swiss Infant Feeding Study, Schweizer Nationale
                             Stillstudie 2014: Unterstützte Mütter stillen länger.
            www.babyfreundlich.org, Positionspapier des ESPGHAN Committee on Nutrition.
                               J. Pediatr. Gastroenterol Nutr. 2017; 64:119-132
           Studien zum Stillverhalten in Deutschland: SuSe I (1987/1989), SuSe II (2017/2019)
                                                                                                          Besuchen Sie uns auf der
              https://www.isst.fraunhofer.de/de/geschaeftsfelder/digitization-in-healthcare/              Frankfurter Buchmesse (16.-20. Oktober)
                                           digital-health/SuSe.html                                       Halle 3.1, D 55
                                                                                                          Wir freuen uns auf Sie!

                      2019 • Herbst erziehungskunst frühe kindheit                                        Freies Geistesleben
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                        Im
                   Apfelparadies
                               von Irmgard Kutsch

                Endlich ist es geschafft: Die junge Familie mit zwei
                kleinen Söhnen zieht aufs Land, in ein winziges Dorf
                mit achtzig Einwohnern; nun sind es vierundachtzig.
                Sabine und Sebastian, die Eltern der beiden noch nicht
                schulpflichtigen Jungen Marco und Mats, haben zum
                Wohl ihrer Kinder entschieden, aus der engen, lauten
                und hektischen Großstadt Köln ins Oberbergische zu
                ziehen. Hier konnten sie günstig ein altes kleines
                Fachwerkhaus erwerben, um es in Eigenleistung für
                ihre Zwecke aus- und umzubauen. Auch mit den be-
                ruflichen Anforderungen ließ sich die neue Lebens-
                situation vereinbaren: für Sabine konnte ein
                Home-Office-Arbeitsplatz eingerichtet werden und
                Sebastian, tätig im Garten- und Landschaftsbau, hat
                ohnehin stets wechselnde Einsatzorte, zu denen er
                fahren muss.
                Von der aktiven Dorfgemeinschaft erhalten sie beim                gen und windgeschützten Streuobstwiese, die das
                Einzug ein besonderes Begrüßungsgeschenk: einen                   kleine Dorf halbkreisförmig umschmiegt. Sie wird von
                Apfelbaum der alten Lokalsorte mit dem schönen                    der Dorfgemeinschaft gemeinsam gehegt, gepflegt
                Namen »Rheinisches Seidenhemdchen«, die auch für                  und bewirtschaftet.
                durch Spätfrost gefährdete Tallagen geeignet ist;                 Hier stehen vielerlei lokale Obstsorten beieinander, die
                schließlich liegt das neue Zuhause im Flusstal unter-             dem rauen Klima im Mittelgebirge und den flachgrün-
                halb einer Talsperre. Friedrich, der älteste Dorfbewoh-           digen, steinreichen und mageren Bodenverhältnissen
                ner, überreicht das Apfelbäumchen, das kurz darauf                trotzen und ebenso mit späten Frostepisoden fertig
                gemeinsam eingepflanzt wird – und zwar an einen                   werden. Zwetschgen-, Birnen- und einige Kirsch-
                ganz besonderen Ort: Weil das Grundstück der neuen                bäume sind im lockeren Verbund mit wenigen Wal-
                Familie recht klein und an einem Hang gelegen ist,                nussbäumen angeordnet. In der Hauptsache sind hier
                bekommt der junge Baum einen Platz auf der sonni-                 aber Apfelbäume angesiedelt, die aufschlussreiche

                                             erziehungskunst frühe kindheit Herbst • 2019
                                                                Foto: ©ilietus/stock.adobe.com
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         Namen tragen wie Ananas-Renette, Bäumches Apfel,             • Obstbäume, Blumen und Bienen •
         Bergische Schafsnase, Grünapfel, Keuleman, Wellers
         Eckenhagener, Paafenapfel – aus des Pfarrers Garten.     Streuobstwiesen gehörten im Oberbergischen ur-
         Ihre Früchte sind in Aussehen und Aroma so unter-        sprünglich zu jedem Dorf und die Menschen gewan-
         schiedlich, wie die Namen der Bäume es vermuten          nen einen bedeutenden Teil ihrer Nahrungsmittel aus
         lassen: es gibt Tafeläpfel, Wirtschaftssorten für die    ihnen. Die wenigen heute noch existierenden werden
         Küche, Mostäpfel für die Saftpresse und Lageräpfel für   vom Landschaftsverband Rheinland und der Biologi-
         den Winter. Die einen eignen sich besonders für den      schen Station gefördert, die den Dorfgemeinschaften
         Apfelkuchen, andere schmecken frisch vom Baum am         mit Rat und Tat zur Seite stehen. Weil die Bäume ihrer
         besten, manche brauchen eine Lagerzeit, um ihr volles    Art entsprechend Wurzeln, Stamm, Geäst, Blüten,
         Aroma zu entfalten; aus Falläpfeln wird köstliches       Laub und schließlich Früchte ausbilden, bedarf es
         Mus gekocht.                                             sachkundiger Pflege durch den Menschen, der sich • •     •

                                     2019 • Herbst erziehungskunst frühe kindheit
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             • • • nicht nur Kenntnisse über Baumschnitt, Baum-
                krankheiten und deren Vorbeuge erwirbt, sondern
                eine Obstwiese auch als Gesamtorganismus, als sen-
                sibles Biotop mit einer möglichst großen Artenvielfalt
                in Flora und Fauna verstehen lernt.
                Der Naturschutzbund bietet einen Kurs zum Bauen
                von Nist- und Überwinterungsquartieren für Vögel,
                Erdhummeln, Solitärinsekten, Fledermäuse und Igel
                an, die fachgerecht auf der Streuobstwiese unterge-
                bracht werden. – Die Dorfgemeinschaft diskutiert          Mia und ihre Großmutter beim Pflanzen.
                über das Anlegen einer insektenfreundlichen Wild-
                blumenwiese unter den Obstbäumen, wovon die Bio-
                logische Station zunächst abrät: Man solle einfach        junge Familie ein, ihn zu den Bienen zu begleiten. In
                einmal das häufige Mähen einstellen, um zu schauen,       respektvollem Abstand beobachtet sie seine Arbeit an
                welche ursprünglich vorhandenen Wildpflanzenarten         den offenen Völkern, rückt nach und nach immer
                wieder aufleben. Das Ergebnis ist verblüffend und         dichter an die Bienenkästen heran, um staunend den
                lässt hoffen: Wiesenschaumkraut, Schafgarbe, Johan-       Antworten des Imkers auf ihre interessierten Fragen
                niskraut, kriechender und stehender Günsel, gelbes        zu lauschen. – Welcher wunderbarer Duft entströmt
                und rot blühendes Habichtskraut, Margeriten, Wie-         den mit Honig befrachteten Bienenwohnungen.
                senglockenblumen und viele andere Arten entfalten         Welch emsiges Treiben dieser unzählig vielen kleinen
                sich wieder in ihrer natürlichen Schönheit, weil man      aus- und einfliegenden Tierchen herrscht dort.
                sie nicht ständig mit dem Mäher unterdrückt, sondern
                einfach wachsen lässt. – Die Biostation bietet einen                   • Ein Dorf macht Saft •
                Sensenkurs an und gemäht wird von nun an nur noch
                zwei Mal pro Jahr – auch an Wegrändern und teilweise      Zur Erntezeit treffen sich die Dorfbewohner bei der
                auf Privatgrund. Welch eine Errungenschaft!               Obstwiese. Alle Interessierten – auch Sabine und Se-
                Friedrich, der Dorfälteste, ist Imker und hat seine Ho-   bastian dürfen sich schon als Teilhaber fühlen –
                nigbienenvölker sinnvollerweise auf der Apfelwiese        schreiben auf einen »Wunschzettel«, den sie Friedrich
                stehen, wohl wissend, dass sie Quantität und Qualität     geben, für welchen Verwendungszweck sie gerne
                der zukünftigen Obsternte durch ihre Bestäubungsar-       Äpfel hätten und die Wunschmenge. Friedrich hat als
                beit positiv beeinflussen. Er lädt die neu zugezogene     derjenige, der seit seiner Kindheit mit der Streuobst-

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                                                                                                in Blumentöpfen mit Erde
                                                                                                  aus Apfelkernen kleine
                                                                                              Bäumchen ziehen, wenn man
                                                                                              ihnen etwas Aufmerksamkeit
                                                                                              schenkt, sie regelmäßig gießt
                                                                                                 und für genügend Licht
                                                                                                    und Wärme sorgt.

         Mia spielt mit dem kleinen Hänschen Apfelkern bei ihren eigen-
         händig gepflanzten Apfelbäumchen. Figuren von Friederike Rex.

         wiese verbunden ist, schließlich den besten Überblick                            • Möglichkeiten für Stadtkinder •
         über Reifezeitpunkt, Qualität und Ernteertrag der ein-
         zelnen Bäume und teilt zu, wer von welchem Baum                         Wie können wir solche Erlebnisse Kindern in Kitas er-
         wie viel bekommt. Und eine segensreiche Neuerung                        möglichen, die inmitten der Städte – in einem gewis-
         wird bekanntgegeben: Im Oberbergischen Land gibt                        sermaßen »verinselten« Zustand leben, wo sie einen
         es erstmals eine mobile Saftpresse, also eine kleine                    beachtlichen Teil ihrer kostbaren Kindheit in einem
         Saftfabrik auf Rädern.                                                  längst nicht immer gedeihlichen Umfeld verbringen?
         Dorfgemeinschaften können sie zu einem bestimm-                         – Eine Antwort könnte sein, dass sich ehrenamtliche
         ten Termin buchen. Dann werden in Gemeinschafts-                        Bündnisse von Zeit habenden und fachkundigen Er-
         arbeit die vorher gepflückten oder aufgelesenen                         wachsenen bilden, die mit Kindern in Einrichtungen
         Mostäpfel ein letztes Mal durchsortiert und auf ein                     gärtnern, Waldbesuche unternehmen, Nutzgärten im
         Fließband gelegt. Sie fahren automatisch durch eine                     Rahmen von Urban Gardening mitbetreuen und so
         Waschanlage, werden zerkleinert und ausgepresst.                        das pädagogische Personal in seinen naturpädagogi-
         Der Apfelsaft wird nun pasteurisiert (auf circa 78°C er-                schen Bemühungen unterstützen. Die Liebe zur
         hitzt) und umgehend abgefüllt. Den Apfeltrester holen                   Natur will entfacht sein und genährt werden: Was
         sich Landwirte, Besitzer von Schafherden und Jäger                      man liebt, das schützt man auch.
         als Leckerbissen für die Tiere ab. Mit dem frisch ge-                   Leicht lassen sich in Blumentöpfen mit Erde aus Ap-
         pressten Apfelsaft ziehen dann alle Teilnehmer nach                     felkernen kleine Bäumchen ziehen, wenn man
         Hause. Das ist Lebensqualität der besonderen Art.                       ihnen etwas Aufmerksamkeit schenkt, sie regel- •        ••

                                         2019 • Herbst erziehungskunst frühe kindheit
                                                       Fotos: Irmgard Kutsch, ©cooperr/stock.adobe.com
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          22    MIT KINDERN LEBEN

             • • • mäßig gießt und für genügend Licht und Wärme                    Spielerisch erwerben sie sich kindliches Weltwissen –
                sorgt. Dann kann man überlegen, wohin das Bäum-                    oder besser Mitweltwissen, auf welchem sie später ihr
                chen gepflanzt wird, damit es gut weiter wachsen                   Lernen und Handeln mit Kopf, Herz und Hand auf-
                kann. Sehr beliebt sind auch die Apfelringe bei Kin-               bauen können, das eine stabile Basis für ihr späteres
                dern, die aufgereiht auf einer Schnur ein wenig trock-             Lernen und Arbeiten in der digitalen Welt schafft.
                nen müssen oder auch im Backofen gedörrt werden                    Welten liegen zwischen ihrem Herkunftsort, einer
                können; dann der Apfelkuchen und das Apfelmus. Be-                 Großstadt und dieser neuen Heimat, in der sie sich
                sonders schön ist es, wenn wir die Bratäpfel zuberei-              Haus um Haus, Familie um Familie »erobern« und
                ten, unsere Äpfel aushöhlen mit Nüssen und Rosinen                 sich ganz ihrem Tempo gemäß verwurzeln dürfen.                    •
                füllen und das Lied vom Bratapfel singen. »Ihr Kinder
                                                                                        Zur Autorin: Irmgard Kutsch entwickelt seit 1994 das
                kommt und ratet, / was im Ofen bratet, / hört wie es
                                                                                     inhaltliche Konzept der Natur-Kinder-Garten-Werkstatt und
                knallt und zischt, / bald wird er aufgetischt, / der Kip-              ist Buchautorin. Zur Zeit arbeitet sie am bundesweiten
                fel, der Kapfel, / der goldbraune Apfel.«                            Projekt: »Mehr Natur für Kinderorte« mit dem Programm
                Marco und Mats leben sich sehr schnell ein in der                                der Natur-Kinder-Garten-Werkstatt.
                neuen Umgebung. Ihre Eltern gewinnen auch bald                          Literatur: I. Kutsch / B. Walden: Natur-Kinder-Garten-
                Vertrauen zu älteren Dorfkindern, die die Kleinen                      Werkstatt, Bd. I, Frühling, Bd. II, Sommer, Bd. III Herbst,
                                                                                       Bd. IV Winter, Stuttgart 2016; I. Kutsch / G. Obermann:
                selbstverständlich in ihre Spiele in Wald, Feld und na-
                                                                                       Mit Kindern im Bienengarten, Stuttgart 2015; B. Hächler,
                türlich auf der Apfelwiese einbeziehen. Schließlich                     A. Rissler: Hubert und der Apfelbaum, Hamburg 1999;
                dürfen sie sogar am Dorfbach mitspielen, jedenfalls                     B. Zahlingen: Hänschen Apfelkern, Kleine Märchen und
                in Zeiten, in denen dieser »zahm« ist.                                  Geschichten zum Erzählen und Spielen, Stuttgart 2017

                                              erziehungskunst frühe kindheit Herbst • 2019
                                                                Foto: Nora Philipp / photocase.de
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