LAG - MAGAZIN 15 JAHRE EUROPÄISCHES NETZWERK ERINNERUNG UND SOLIDARITÄT 28.10.2020 - LERNEN AUS DER GESCHICHTE
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LaG - Magazin
15 Jahre
Europäisches Netzwerk
Erinnerung und Solidarität
28.10.2020
Projekte des ENRS werden gefördert von:Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Zur Diskussion
Gemeinsam erinnern als Aufgabe –
15 Jahre Europäisches Netzwerk Erinnerung und Solidarität.................................................5
Guidelines for international discourse on history and memory............................................10
Erinnerungskriege: Der Zweite Weltkrieg in der aktuellen europäischen Politik.................14
27. Januar und 23. August: Zwei Gedenktage – eine Erinnerung?..........................................19
„Zwischen Leben und Tod. Geschichten von Rettung während des Holocaust“ –
eine Ausstellung und ihre Didaktisierung für die „Holocaust-Education“............................23
„Sound in the Silence“ – ein internationales Jugendprojekt in Zusammenarbeit mit Motte
e.V. in Hamburg und dem Rapper Dan Wolf..........................................................................27
Das interaktive Webportal Hi-story lessons: Lehren und Lernen über die Geschichte Europas
im 20. Jahrhundert..................................................................................................................31
Doppelte Diktaturerfahrung im Brennglas.............................................................................33
Empfehlung Lebensbericht
„Zu wandeln die Zeiten“ – Erinnerungen von Markus Meckel..............................................37
Empfehlung Web
Online-Angebote des Europäischen Netzwerkes Erinnerung und Solidarität (ENRS)........40
Magazin vom 28.10.2020 2Einleitung
Liebe Leser*innen, Bildung und Öffentlichkeit entwickelt hat,
für welche nach außen geworben wird.
wir begrüßen Sie zum LaG-Magazin im
Oktober. Die vorliegende Ausgabe ist in Daran schließen sich Richard Overys Be-
Zusammenarbeit mit dem Europäischen trachtungen zu weiterhin national gefassten
Netzwerk Erinnerung und Solidarität (Eu- Narrativen über den Zweiten Weltkrieg an.
ropean Network Remembrance and Soli- Als aktuelle Beispiele der Instrumentalisie-
darity, kurz ENRS) entstanden. Die Arbeit rung der Weltkriegsgeschichte zur Stabi-
des Netzwerks umfasst ein breites Spekt- lisierung der eigenen nationalen Identität
rum von internationalen Forschungs- und dienen Overy die Diskussionen um den Bre-
Bildungsprojekten, von Ausstellungen und xit in Großbritannien und die Erinnerungs-
Publikationen bis hin zu Workshops, Studi- politik von Wladimir Putin in Russland.
enbesuchen und Konferenzen mit denen der Die EU-Osterweiterung schuf neben wirt-
europäische Dialog über die Geschichte des schaftspolitischen vor allem auch erinne-
20. Jahrhunderts gefördert werden soll. Aus rungs- und geschichtspolitische Kontro-
Anlass seines nunmehr fünfzehnjährigen versen. Hatte sich bis in die frühen 2000er
Bestehens stellt das ENRS in diesem Maga- Jahre die Erinnerung an den Holocaust als
zin ausgewählte Beispiele seiner Bildungs- gemeinsames Moment der westeuropäisch
arbeit vor. geprägten EU herausgebildet, kam mit den
Dazu gehen Matthias Weber und Rafał Ro- neuen Mitgliedsstaaten des östlichen Euro-
gulski in ihrem einleitenden Aufsatz auf die pa die Erinnerung an den Stalinismus hin-
Gründungsgeschichte von ENRS ein, die bis zu, die unter dem Gesichtspunkt des Ver-
ins Jahr 2005 zurückreicht und von Kont- lusts nationaler Souveränität vorgetragen
roversen um das Thema Zwangsmigration wird. Anke Hilbrenner geht auf die aus die-
begleitet war. Den Kern des erinnerungs- ser Konstellation resultierenden „Memory
politischen Ansatzes bildet das Bestreben Wars“ ein.
unterschiedliche nationale Perspektiven auf Zu den Bildungsprojekten des ENRS gehört
die europäische Geschichte des 20. Jahr- die Tafelausstellung „Zwischen Leben und
hunderts zu vermitteln und im Dialog für Tod. Geschichten von Rettung während des
eine gemeinsame europäische Erinnerung Holocaust“. Ihre Themen sind die Erfah-
produktiv werden zu lassen. rungen von verfolgten Juden*Jüdinnen so-
Ebenfalls grundlegend ist der Beitrag von wie die ihrer nicht-jüdischen Helfer*innen.
Attila Pók. Der Autor stellt das Positionspa- Die Schau und die Entwicklung von didakti-
pier „Guidelines for international discourse schen Materialien zum Thema werden von
on history and memory” vor, mit dem das Piotr Trojański vorgestellt.
ENRS sich nach innen eine gemeinsame “Sound in the Silence. History through Art”
Basis für den Umgang mit Geschichte in ist ein internationales Begegnungsprojekt
Magazin vom 28.10.2020 3Einleitung
für Jugendliche, das vom ENRS gemeinsam
mit dem Rapper Dan Wolf und dem Ham-
burger Stadtteil & Kulturzentrum MOTTE
seit 2015 jährlich durchgeführt hat. Joanna
Orłoś und Annemarie Franke geben einen
Überblick zur Projektgeschichte.
In den Bereich des Lernens mit digitalen
Medien gehört die von Madeleine Hart-
mann vorgestellte interaktive Online-
Lern- und Lehrplattform „Hi-story lessons:
Lehren und Lernen über die Geschichte Eu-
ropas im 20. Jahrhundert“. Die interaktive
Webseite basiert auf einer Zusammenarbeit
des ENRS mit dem Georg-Eckert-Institut
für internationale Schulbuchforschung.
Der dokumentarische Roman „Gespräche
mit dem Henker“ von Kazimierz Moczar-
ski wurde aus dem Polnischen in mehr als
15 Sprachen übersetzt und ist ein Klassiker
der historischen Literatur des 20. Jahr-
hunderts. Das Buch und sein Autor erle-
ben in Polen eine neue Aufmerksamkeit.
Das Europäische Netzwerk Erinnerung und
Solidarität hat in diesem Jahr mit einem
Filmspot an Kazimierz Moczarski erinnert.
Annemarie Franke stellt das Buch vor.
Wir bedanken uns bei allen Autor*innen
für die eingereichten Beiträge und bei
Annemarie Franke vom ENRS für die Zu-
sammenarbeit.
Das nächste LaG-Magazin erscheint am 25.
November 2020. Es hat den Umgang mit
dem Nationalsozialismus in den unmittel-
baren Nachkriegsjahren zum Thema.
Ihre LaG-Redaktion
Magazin vom 28.10.2020 4Zur Diskussion
Gemeinsam erinnern Zugleich nahm fast sechs Jahrzehnte nach
als Aufgabe – 15 Jahre dem Ende des Zweiten Weltkriegs und etwas
Europäisches Netzwerk über zehn Jahren nach dem Fall des Eiser-
Erinnerung und Solidarität nen Vorhangs die europäische Integration
weiter Fahrt auf und so wurde gerade über
Von Rafał Rogulski und Matthias Weber
die Fragen der gemeinsamen Vergangenheit
1. Ein Europäisches Netzwerk – international diskutiert und auch gestritten:
Gründung und Auftrag In der Wissenschaft, in den Medien und in
Über die Vergangenheit berichten die Men- der Politik.
schen in Europa mit unterschiedlichen, Seinerzeit entstand auch eine öffentliche
manchmal sogar einander widersprechen- Debatte über die angemessene, europäi-
den Stimmen. Vielfältig sind ihre Erfah- sche Form der Erinnerung an das Kriegsen-
rungen, verschieden ihre Erinnerungen, de und an seine Folgen. Eine sensible Fra-
individuell die Perspektiven und manch- ge, die bald international ausstrahlte, betraf
mal kontrovers die Lehren, die sie aus der das Gedenken an die Opfer von Flucht und
Vergangenheit ziehen. Das trifft besonders Vertreibungen am Ende des Krieges in
dann zu, wenn es um das 20. Jahrhundert Deutschland. Dabei ging es vor allem um
geht, das zu Recht als ‚kurz‘ und als ‚extrem‘ die Darstellung der historischen Kontexte
bezeichnet wurde. ‚Kurz‘, weil die Phase bis der Ereignisse, um die Differenzierung zwi-
zum Beginn des Ersten Weltkriegs im Jahr schen Ursachen und Folgen sowie um die
1914 noch ganz die Prägung des alten Euro- Gestaltung und Lokalisierung eines musea-
pa trägt und weil mit dem Fall des Eisernen len Gedenkorts.
Vorhangs im Jahr 1989 nach Jahrzehnten
Ein Resultat der Diskussionen auf interna-
der Ost-West-Konflikt zu Ende ging und
tionaler Ebene war im Jahr 2005 die Grün-
eine neue Epoche begann. ‚Extrem‘ weil sich
dung des Europäischen Netzwerks Erin-
in den 75 Jahren zwischen 1914 und 1989
nerung und Solidarität (ENRS), dessen
zwei Weltkriege und in ihrer Dimension bis-
Arbeitsbereich nun die gesamte Geschichte
lang nicht gekannte Verbrechen gegen die
Europas im 20. Jahrhundert umfasste, also
Menschheit ereigneten.
weit über die Thematik der Zwangsmigrati-
Mit der kleiner gewordenen Zahl der onen hinausging. Ziel war es, den Diskurs
Zeitzeug*innen und dem größer werdenden über die europäische Geschichte des 20.
zeitlichen Abstand werden die Präsenz und Jahrhunderts insgesamt zu fördern. In ihrer
Wirkungsmacht dieses kurzen extremen damaligen, im Warschauer Königsschloss
Jahrhunderts keineswegs geringer. Ganz im verabschiedeten „Absichtserklärung“ for-
Gegenteil: Im neuen Jahrtausend setzte ge- mulierten die Kulturminister*innen
radezu eine ,Konjunktur des Gedächtnisses‘ Deutschlands, Polens, der Slowakei und
und eine Aufwertung der Erinnerung ein. Ungarns, die die Initiative ergriffen hatten,
Magazin vom 28.10.2020 5Zur Diskussion
einen umfassenden Arbeitsauftrag: das Netz- Grund wurde ausdrücklich die Bildung eines
werk solle „eine gemeinsame, ausschließlich Netzwerks vereinbart, keines zusätzlichen
vom europäischen Geist der Versöhnung Museums oder weiteren Forschungs- oder
getragene Analyse, Dokumentation und Bildungsinstituts. Um den internationalen
Verbreitung der Vergangenheit“ unterstüt- Diskurs zu unterstützen und aus dem Zu-
zen, um „die Geschichte der Völker Europas sammenhang gerissene Interpretationen zu
miteinander zu verbinden, zur Entwicklung vermeiden, sollte die Verbindung der in den
einer europäischen Erinnerungskultur bei- einzelnen Ländern bereits bestehenden In-
zutragen und damit die freundschaftlichen itiativen vorangebracht werden. Dieser eu-
Beziehungen zwischen den beteiligten Staa- ropäische Vernetzungsauftrag zeichnet die
ten zu festigen...”. Insbesondere sollte die Arbeit des ENRS aus.
Zusammenarbeit staatlicher und zivilgesell- 2014 ist Rumänien dem ENRS beigetreten,
schaftlicher Institutionen der historischen weitere Länder (Albanien, Estland, Georgi-
Forschung und Bildung aus den verschie- en, Kroatien, Lettland, Österreich, Tsche-
denen EU-Mitgliedsstaaten durch die Ent- chien) haben ihr Interesse an einer Mitar-
wicklung gemeinsamer Projekte grenzüber- beit signalisiert und beteiligen sich zum Teil
schreitend gefördert werden. bereits als „Beobachter”. Das ENRS verfügt
Dabei gilt es, die Singularität der Vernich- über ein Sekretariat in Warschau sowie über
tungspolitik des nationalsozialistischen international besetzte Aufsichtsgremien. Es
Deutschlands gegenüber den europäischen wird von den Kulturminister*innen der fünf
Juden und den präzedenzlosen Holocaust im Mitgliedsländer und ergänzend durch Dritt-
Blick zu behalten. Zugleich sollen die ande- mittel u. a. der Europäischen Union und des
ren zivilen und militärischen Opfer der na- Visegrád Funds finanziert.
tionalsozialistischen Besatzungspolitik und 2. Erinnerung und Solidarität –
des Zweiten Weltkriegs nicht vergessen Mehr als Schlagworte
werden. Der aus einer unterschiedlichen
Das 20. Jahrhundert, auf das sich der Begriff
historischen Wurzel hervorgegangene kom-
Erinnerung hier bezieht, ist in besonderer
munistische und stalinistische Terror, des-
Weise durch Gewaltausübung und -erfah-
sen Gewaltexzesse ebenfalls Millionen von
rung geprägt, verursacht von totalitären
Menschenleben forderte, ist genauso Ge-
Diktaturen und von zwei Weltkriegen. Den
genstand der Arbeit des ENRS.
zahllosen Leidtragenden der Kriege, Völker-
Den Initiator*innen ging es um die Zusam- morde, Eroberungen und Zwangsaussied-
menführung bislang getrennter und kon- lungen, den Opfern nationalistischer, ras-
kurrierender Perspektiven. Deshalb stellten sistischer, kommunistischer, ideologischer
sie die Grenzen-, Nationen- und generatio- Repressionen und deren oft langfristigen
nenüberschreitende Begegnung der Men- Folgen sollte das ENRS besonderes Augen-
schen in den Vordergrund. Aus diesem merk schenken.
Magazin vom 28.10.2020 6Zur Diskussion
Erinnerung bezieht sich dabei nicht auf das 3. Ein neues Europa –
technische Memorieren. Erinnerung meint Beispiele aus der Praxis
vielmehr die gemeinsame Entwicklung Es dauerte bis 2010, also annähernd fünf
vielgestaltiger aktiver internationaler Aus- Jahre, bis das ENRS seine Arbeit vollstän-
einandersetzungen mit der Vergangenheit dig aufnehmen, das Sekretariat eröffnen
durch Diskussionen und nicht selten auch und ein professionelles Projektmanagement
durch selbstkritische Reflexionen, um viel- aufbauen konnte. In dem seither vergange-
leicht künftig ein gemeinsames Geschichts- nen Jahrzehnt wurden über 160 Projekte in
bewusstsein unter den Europäer*innen 26 Ländern realisiert, die sich auf die Berei-
entstehen zu lassen, in das die unterschied- che Wissenschaft, historische und kulturelle
lichen Erfahrungen und Perspektiven ein- Bildung und vor allem Begegnung und Ver-
fließen und das die Generationen und Nati- netzung erstreckten. In dieser Ausgabe des
onen verbinden kann. LaG-Newsletters stellen wir einige unserer
Im internationalen Austausch ist dies nur Projekte ausführlich vor, andere sollen hier
möglich, wenn die Solidarität von allen Ak- beispielhaft erwähnt werden.
teuren als Grundprinzip akzeptiert ist. Die Um auf dem nicht selten verminten Feld
solidarische Verbundenheit verweist auf der Erinnerungskultur auf gesicherter
eine ethische Grundhaltung, auf Mitver- Grundlage wissenschaftsbasiert arbei-
antwortung und Mitverpflichtung für die ten zu können, hatte die Kooperation mit
gemeinsame Gegenwart und Zukunft, ohne Wissenschaftler*innen an Universitäten
die eine dialogische Geschichtsbetrachtung und Forschungsinstituten von Anfang an
nicht gelingen kann. Unterschiedliche histo- zentrale Bedeutung. Diese Kooperation fin-
rische Erfahrungen sollen gerade mit Blick det seit 2012 u.a. im Rahmen des Tagungs-
auf das Schicksal und die Erfahrungen der zyklusses Genealogien der Erinnerung statt,
Anderen wechselseitig einbezogen werden, der Historiker*innen sowie Expert*innen
um den jeweils eigenen Horizont zu erwei- der „Memory Studies“ weltweit zusammen-
tern – dabei geht es nicht um die Herstel- führt; im Jahr 2020 lautet das Thema der
lung eines gemeinsamen normierten Nar- (Online-)Tagung: The Holocaust between
rativs sondern um multiperspektivisches local and global perspectives.
Geschichtswissen und Berücksichtigung der
Ein Format der strukturellen Verbin-
jeweiligen historischen Kontexte.
dung praktischer und wissenschaftlicher
Das ENRS möchte dabei selbst als Forum Arbeit, das sich an Vertreter*innen von
des internationalen Diskurses fungieren, Gedenkstätten, Museen und Geschichts-
um dadurch zur Überwindung der während initiativen wendet, ist das European Re-
des zwanzigsten Jahrhunderts jahrzehn- membrance Symposium, das jährlich in
telang anhaltenden Spaltung des europäi- einer anderen europäischen Großstadt
schen Kontinents beizutragen. veranstaltet wird und an dem sich jeweils
Magazin vom 28.10.2020 7Zur Diskussion
rund 200 Akteur*innen aus etwa 30 Län- Aufbruchs und der Krisen mit ihren in die
dern beteiligen, um über Herausforderun- Gegenwart reichenden Auswirkungen. Sie
gen für die europäischen Gesellschaften an- wurde inzwischen in Prag, Sarajevo, Bratis-
gesichts aktueller Geschichtsdiskurse und lava, Verdun, Berlin, Weimar, Breslau, Kra-
-politik zu diskutieren. Dieses Networking- kau, Warschau gezeigt und steht derzeit (im
Treffen hat sich EU-weit zum größten sei- Oktober 2020) in der Europäischen Kultur-
ner Art entwickelt und bietet Gelegenheit, hauptstadt Rijeka. Im nächsten Jahr sind
Institutionen und Projekte vorzustellen und weitere Stationen Triest, Wien, Wilna, Riga
Kooperationen zu schmieden. Infolge der und Tallin.
Corona-Pandemie musste das 9. Sympo- Das ‚Miteinander-vertraut-werden‘ durch
sium zum Thema Memory and Identity in die direkte Begegnung ist ein Schlüssel zum
Europe: Presence and Future, das im Mai Verstehen. Das ENRS richtet kontinuierlich
2020 in der estnischen Hauptstadt Tallinn Studienreisen unter dem Label In Between?
stattfinden sollte, ausfallen – es soll 2021 aus. Dabei ermöglichen wir den meist jün-
nachgeholt werden. geren Teilnehmenden Kontakte mit Men-
Multilinguale Wanderausstellungen bilden schen, die früher oder heute an nationalen,
einen eigenen Schwerpunkt der Arbeit des sprachlichen oder ethnischen Grenzen leb-
ENRS. Die Ausstellung Zwischen Leben und ten bzw. heute leben und oft selbst kulturell
Tod. Geschichten der Rettung während des mehrfach geprägt sind. Seit 2016 wurden 18
Holocaust wurde bisher in zehn Orten eu- Regionen oder Städte in Mittel-, Ost- und
ropaweit gezeigt (und wird in diesem News- Südeuropa besucht, darunter Schlesien und
letter von Piotr Trojański besprochen). das Lebuser Land im deutsch-polnischen
Zweimal hat das ENRS große Open-Air- Grenzgebiet, Siebenbürgen und die Buko-
Ausstellungen produziert. Dem Ende der wina in Rumänien, die Stadt Pécs im unga-
kommunistischen Herrschaft in Europa war risch-kroatischen Grenzgebiet, die Südstei-
die ab 2014 präsentierte Ausstellung Free- ermark, das polnisch-litauische Grenzland,
dom Express – Roads to 1989 gewidmet. Katalonien und Grenzregionen im westli-
Sie war u.a. mit einer Studienreise für junge chen Balkan. Studierende können hier die
Europäer*innen verbunden, die sie zu den Vielfalt Europas im persönlichen Austausch
Schauplätzen des Zweiten Weltkriegs und nachvollziehen.
des antikommunistischen Freiheitskampfes Sound in the Silence ist ein interdiszipli-
von Danzig über Warschau, Bratislava, Bu- näres Bildungsprojekt. In Gedenkstätten
dapest, Temeschwar und Prag nach Berlin treffen sich Jugendliche, um sich in The-
führte. Derzeit tourt die Ausstellung Nach ater-, Musik- und Tanzworkshops den oft
dem Grossen Krieg. Ein Neues Europa 1918- bedrückenden Erfahrungen der Vergan-
1923 durch Europa. Diese multimediale genheit des jeweiligen Ortes künstlerisch
Installation präsentiert eine Zeit des zuzuwenden. So wird unmittelbar erfahrbar,
Magazin vom 28.10.2020 8Zur Diskussion
dass unser gegenwärtiges Leben in Freiheit
und Demokratie keineswegs selbstverständ- Über die Autoren:
lich und das Engagement für diese Werte Rafał Rogulski leitet seit seiner Gründung 2010
das Sekretariat des Europäischen Netzwerkes
ebenso notwendig wie lohnend ist. Über Erinnerung und Solidarität (ENRS) in Warschau,
die Genese, die Partner und die bisher fünf seit 2015 ist er Direktor des Instytut Europejskiej
Sieci Pamięć i Solidarność.
gemeinsamen Ausgaben dieses Projektes
schreibt die Leiterin der Projektabteilung
Prof. Dr. Matthias Weber ist seit 2004 Direktor
im Sekretariat des ENRS, Joanna Orłoś in des Bundesinstitutes für Kultur und Geschichte
der Deutschen im östlichen Europa (BKGE)
diesem Newsletter.
in Oldenburg und deutscher Vertreter im
* * * Lenkungsausschuss des ENRS.
Das ENRS engagiert sich in dem Wissen,
dass Europa dann zusammenwachsen wird,
wenn sich die Europäer*innen der schwieri-
gen Vergangenheit ihres Kontinents souve-
rän, aber auch solidarisch zuwenden. Nicht
zuletzt gilt es, heute die richtigen Lehren aus
der Vergangenheit zu ziehen, um rechtzeitig
aktuellen Tendenzen neuer Unfreiheit zu
begegnen – Tendenzen, die im 20. Jahrhun-
dert zu Kriegen und zur Spaltung Europas
geführt haben. Seien Sie herzlich zur Mitar-
beit im Europäischen Netzwerk Erinnerung
und Solidarität eingeladen! (www.enrs.eu)
Magazin vom 28.10.2020 9Zur Diskussion
Guidelines for international repräsentativen Funktion der Geschichte.
discourse on history and Die dritte Ebene ist die pädagogische, er-
memory zieherische Funktion: Geschichte als Ge-
genstand des Schulunterrichts und in der
Ein Positionspapier des
non-formalen Bildung. Selbstverständlich
Europäischen Netzwerkes
ist die Art und Weise des Geschichtsunter-
Erinnerung und Solidarität zum
richts von der Politik oft stark beeinflusst
internationalen Diskurs über
und so besteht in vielen Fällen eine tiefe
Geschichte und Erinnerung
Kluft zwischen der ersten, der wissenschaft-
Von Attila Pók lichen Ebene, und der zweiten und der drit-
Geschichte als Beschäftigung mit der Ver- ten (repräsentativen und pädagogischen)
gangenheit bedeutet viel mehr als die Funktion. Die vierte Ebene ist das kollektive
Summe der Leistungen der Geschichts- Gedächtnis in seinen zwei Formen, in der
wissenschaft. "Undertaking History", das Terminologie von Jan Assman unterschei-
"Unternehmen Geschichte" vollzieht sich den wir das kommunikative und das kultu-
auf wenigstens vier Ebenen: zuerst auf der relle Gedächtnis. Diese Ebene wird in der
Ebene der "Zunft" (Forschung und Ver- kommunikativen Form von Kontakten in
öffentlichung der Resultate dieses episte- den Familien, unter Freunden und Bekann-
mologischen Prozesses), wobei die Gesetze ten gestaltet, die Bausteine des kulturellen
dieser fachwissenschaftlichen Arbeit nach Gedächtnisses hingegen setzen sich zusam-
internationalen Maßstäben definiert sind. men aus dem in der Schule Erlernten und
Historiker*innen, die diesen Gesetzen nicht den in Museen und Denkmälern überliefer-
folgen, werden von der Zunft ausgeschlossen ten Schätzen der lokalen, nationalen und
(oder gar nicht aufgenommen). Die Situati- allgemein menschlichen Kultur.
on ist völlig anders auf der zweiten Ebene, Das 2005 gegründete und seit 2010 mit vol-
wo es um die repräsentative Funktion der lem Schwung funktionierende ENRS ver-
Geschichte geht. Geschichte als kollektives sucht mit seinen bescheidenen Mitteln alle
historisches Gedächtnis kann die Kohäsion diese Formen des europäischen Gedächt-
einer Gesellschaft verstärken. Diese Funk- nisses, anders gesagt des ‚‚Unternehmens
tion des "Unternehmens Geschichte" ist Geschichte“, auf einer europäischen Ebene
Politiker*innen gut bekannt, denn sie brau- zu analysieren und zu gestalten. Vor fünf
chen und missbrauchen sie allzu oft. Die Ri- Jahren, aufgrund der Erfahrungen vieler
tuale im Zusammenhang mit nationalen Ge- Auseinandersetzungen im Laufe der Vor-
denktagen, die Einweihung und Entfernung bereitung einzelner Projekte, nach langen
öffentlicher Denkmäler, die Umbenennung und spannenden Diskussionen, haben die
von Straßen und Plätzen usw. sind die be- Gremien des ENRS ein Dokument unter
kanntesten Formen dieses Umgangs mit der dem Titel „Guidelines for international
Magazin vom 28.10.2020 10Zur Diskussion
discourse on history and memory” ausge- den Folgen des Ersten Weltkrieges (After
arbeitet und über die sozialen Medien und the Great War. A New Europe 1918 – 1923.
eigene Drucksachen veröffentlicht. Wir Informationen online: https://enrs.eu/af-
wollten mit diesen „Guidelines” uns selbst terthegreatwar) führt aber auch zu einer
Maßstäbe setzen, aber zugleich in der Öf- anderen Lehre: falls die Bereitschaft besteht
fentlichkeit dafür werben, sich diesen Leit- mit den Gesichtspunkten der „Anderen” em-
linien anzuschließen. Bis dato wurde das pathisch umzugehen, kann man sich, trotz
Dokument von etwa 140 Persönlichkeiten grundsätzlich unterschiedlicher nationaler
aus Wissenschaft, Öffentlichkeit und Mu- Standpunkte, auf eine Ausstellung einigen,
seumsarbeit unterschrieben. Aufgrund der die man in den meisten Ländern Europas
Erfahrungen der seitdem vergangenen fünf zeigen kann.
Jahre ist das Anliegen berechtigt, die Um-
2. Avoid deterministic expressions
setzung dieser Leitlinien in der Realität un-
serer eigenen Arbeit im ENRS zu bewerten. Sich an den zweiten Punkt zu halten ist
Ich möchte versuchen alle acht Punkte die- schwieriger. Unsere Erfahrung ist, dass Ge-
ses Papiers aufgrund unserer Erfahrungen schichte ohne Gegenwartsbezogenheit unin-
zu beleuchten. Ich nehme jeweils den Titel teressant bleibt, die Grenze zwischen Kontext
der Leitlinien auf, wobei diese Thesen im und Determiniertheit ist schwer einzuschät-
Dokument ausführlicher begründet werden. zen. Wie könnte man das heutige Verhältnis
Hier verweise ich auf die Internetseite des zwischen Russland und Polen oder zwischen
ENRS. Serb*innen und Kroat*innen, sogar zwi-
schen Ungar*innen und Österreicher*innen
1. Present varied viewpoints
als von der Geschichte nicht determiniert
Eines der wichtigsten Themen unserer Tä- betrachten? ABER warum diese Leitlinie
tigkeit im Laufe der letzten fünf Jahre war dennoch ihre Berechtigung hat, das liegt an
die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Es ihrer Zukunftsorientierung. Beziehungen
ist unwahrscheinlich und gar nicht realis- können verändert werden, denken wir nur
tisch daran zu glauben, dass die russische, an das heutige Verhältnis zwischen Deut-
deutsche, polnische, slowakische, ungari- schen und Franzosen oder an das ungarisch-
sche usw. Erinnerung an die Ursachen und serbische Verhältnis, das sich im Laufe der
Folgen dieses Weltkrieges sich einmal über- letzten Jahre trotz der historischen Belas-
lappen werden. Die Meinung, dass Kriege tungen gesellschaftlich und politisch auch
keinesfalls die optimale Lösung internatio- sehr positiv entwickelt hat.
naler Konflikte sind und für die Sieger und
3. Avoid generalisations
die Verlierer auch viel Leid mit sich bringen
kann aber von allen Betroffenen geteilt wer- Das ist eine sehr schwierige Aufgabe, denn
den. Unsere Erfahrung mit der Zusammen- wenn wir in guter Absicht (z. B. das Be-
stellung einer grossen Wanderaustellung zu gehen von Jahrestagen tragischer oder
Magazin vom 28.10.2020 11Zur Diskussion
erfreulicher Ereignisse) das jeweils nationa- ausgewählte einzelne Quellen gebaut wer-
le und europäische öffentliche Interesse we- den.
cken wollen, sind Verallgemeinerungen über 6. Clearly define the nature
das „Gute“ und das „Böse“ kaum zu vermei- of each initiative
den. Kollektive Schuld und Unschuld sind
Das ist ein zentraler Bestandteil unserer
und werden ein endloser Diskussionsge-
Arbeit: fiktive historische Narrative in Fil-
genstand bleiben. Durch einen fortgesetzten
men, literarischen Werken oder politi-
und tiefgehenden Gedankenaustausch unter
schen Reden dürfen mit Wissenschaft nicht
Politiker*innen, Wissenschaftler*innen und
verwechselt werden. Darstellungen von
Medienexpert*innen über die sozialen Fol-
Künstler*innen (besonders Spielfilme, You-
gen politischer Umwälzungen können wir
Tube-Materialen) oder Reden charismati-
dem Anspruch dieser Leitlinie näher kom-
scher Politiker*innen erreichen meistens
men.
viel Publikum, sind leicht zu verstehen und
4. Treat historical figures können so die öffentliche Meinung in gewis-
as individuals se Richtungen orientieren und manipulie-
Unsere Veranstaltungen und Veröffentli- ren. Die wissenschatliche Bearbeitung eines
chungen versuchen dieser Erwartung entge- Problems zeigt selten ein Bild in schwarz-
genzukommem, indem wir die individuelle weiss und erreicht viel weniger Menschen.
Komplexität historischer Persönlichkeiten Beide Formen sind wichtig und nötig, aber,
darstellen, seien es leitende Figuren wie und das ist unsere Warnung, dürfen einan-
Beneš, Horthy oder Piłsudski oder einfache der nicht ersetzen!
Bürger*innen, die die Überlebensmöglich- 7. Use academic knowledge
keiten in totalitären Regimen durch Kol- as your source
laboration oder Widerstand (oder beides)
Zur Beurteilung (besonders politisch mo-
ausgeschöpft haben.
tivierter) historischer Ereignisse sollte nur
5. Ensure a genuine historical basis systematisch geprüftes akademisches Wis-
Das ist besonders schwierig, wenn wir z B. sen dienen, aber es ist natürlich klar, dass
an die Darstellung solcher wichtigen Er- in der Politik oder in der Bildungsarbeit die
eignisse wie den Molotow-Ribbentrop Pakt akademische Komplexität der vergangenen
oder die Zahl der Opfer des Stalinismus und Geschehnisse nicht immer dargestellt wer-
des Kommunismus denken. Nie werden den kann. Unsere Erfahrung mit jungen
wir hundertprozentig eindeutige Quellen Menschen unterschiedlicher Nationalität,
zu allen Details haben, aber gerade wegen die in unseren Projekten zusanmenarbeiten
dieser Ambivalenz sollten aktuelle politi- zeigt, dass der Abbau von Vorurteilen auch
sche Entscheidungen keinesfalls nur auf ohne vollständiges akademisches Wissen
angenommene Opferzahlen oder willkürlich möglich ist, aber bei den Dozent*innen oder
Magazin vom 28.10.2020 12Zur Diskussion
Trainer*innen akademisches Wissen vor- Ich bin der Meinung, dass die „Guidelines“
aussetzt. für die Planung und Verwirklichung unserer
8. Apply up-to-date didactical Aktivitäten gut gedient haben und die tiefe-
concepts and technical standards re Klärung ihrer Inhalte zu weiteren span-
nenden Diskussionen führen kann.
Das ist eine zentrale Lehre aus unserer bis-
herigen Tätigkeit: unterschiedliche soziale
Ziel- und Altersgruppen können nur durch
Über den Autor:
den Gebrauch der ihnen verständlichen Be-
Professor Attila Pók ist stellvertretender
griffe und Methoden erreicht werden. Dazu Direktor des Instituts für Geschichte des
brauchen wir Offenheit und die Bereitschaft geisteswissenschaftlichen Forschungszentrums
an der Ungarischen Akademie der
zum Erlernen neuer Methoden der Kom- Wissenschaften; stellvertretender Vorsitzender
munikation, sofern wir in der Gestaltung des Ungarischen Historiker-Verbands
und Wissenschaftler am Institute of Advanced
des „Unternehmens Geschichte” mitspielen Study in Kőszeg. Pók arbeitet zur Europäischen
wollen. Das ENRS versucht dies durch die Politik- und Geistesgeschichte, zur Geschichte
europäischer Geschichtsschreibung im 19. und 20.
Einbindung von Mitarbeiter*innen unter- Jahrhundert und zur Theorie und Methodik der
schiedlicher Generationen zu fördern. Geschichtswissenschaft.
Prof. Pók ist seit vielen Jahren in den Gremien
Als eine allgemeine Erfahrung können wir des Europäischen Netzwerkes Erinnerung und
darauf hinweisen, dass zu viel Geschichte im Solidarität vertreten und aktuell Vorsitzender des
Wissenschaftlichen Beirates.
politischen Diskurs leicht zur Wiederkehr al-
ter Zerwürfnisse und überwunden geglaub-
ter feindlicher Stereotypen führen kann und
damit die Aufmerksamkeit von zukunftsori-
entierten Themen ablenkt. Es ist bestimmt
einfacher für Politiker*innen größerer und
kleinerer Länder ihre Unterstützung in der
Bevölkerung durch die Verbreitung erprob-
ter historisch verwurzelter Stereotypen zu
stärken. Es ist aber auch unsere Erfahrung,
dass Umbruchzeiten (wie z. B. die Perioden
nach den beiden Weltkriegen oder nach
1989-90) das Neudenken historischer Nar-
rative verlangen. Neue historische Narrati-
ve sind ein unentbehrlicher Bestandteil im
Prozess des Aufbaus neuer Legitimation von
politischer Herrschaft.
Magazin vom 28.10.2020 13Zur Diskussion
Erinnerungskriege: Der Zweite Akzeptanz der historischen Wahrheit beige-
Weltkrieg in der aktuellen tragen. Erst seit den späten 1980er Jahren
europäischen Politik zum Beispiel wird die Verantwortung der
sowjetischen Führung für die Ermordung
Von Richard Overy
der polnischen Offiziere im Wald von Katyń
Heute lebt die dritte oder vierte Generati- von allen, die sich für diese Geschichte inter-
on nach Ende des Zweiten Weltkriegs und essieren, als Tatsache anerkannt. Die Aufde-
dennoch hört auch 75 Jahre später die Aus- ckung von Mitverantwortung für die Beteili-
einandersetzung um viele der damaligen gung am Völkermord an den europäischen
Schlüsselfragen nicht auf. Die jeweils nati- Juden*Jüdinnen hat gezeigt, in welchem
onale Meistererzählung über die Ursachen Maß der Genozid genauso ein europäisches
und den Verlauf des Krieges unterscheidet wie ein deutsches Phänomen war. Nationa-
sich offenkundig selbst dort, wo man heute le und politisch-ideologische Motive haben
einen europäischen Konsens über die Frage lange dafür gesorgt, dass diese Realitäten
von Verantwortung und Konsequenzen vor- vertuscht wurden, aber sie sind inzwischen
aussetzen sollte. offengelegt, auch wenn das Wissen darum
Die Erinnerung an den Krieg ist immer noch nicht zu einer allgemeinen Versöhnung ge-
keine gemeinsame Erinnerung, da nationale führt hat.
Narrative über den Krieg für Fragen der na- Historiker*innen haben ebenfalls einen
tionalen Identität im weiteren Sinne wichtig wichtigen Beitrag zur Untersuchung des
sind. In bestimmten Gesellschaften ist die Totalitarismus geleistet als gemeinsames
Zeit des Zweiten Weltkrieges immer noch Merkmal sowohl der nationalsozialistischen
eine umkämpfte Vergangenheit. Italieni- wie der faschistischen neuen Ordnung in
sche Neo-Faschist*innen und Nachkommen Europa und der sowjetischen Dominanz in
von Partisan*innen demonstrieren auf den Osteuropa nach 1945. In den Gebieten un-
Straßen als Wiederbelebung der früheren ter sowjetischer Vorherrschaft erlebten die
bitteren Spaltung; das Gegenüber von “Kol- Menschen den Wechsel von einem strengen
laboration” und “Widerstand” aus der Zeit Autoritarismus zum nächsten, wenn auch
des Krieges führt immer noch zu schrillen die Form eine andere war.
Auseinandersetzungen zwischen denen, die Zwei jüngere Beispiele zeigen das Ausmaß,
verstehen wollen, und denen, die verurtei- in dem die Geschichte immer noch für po-
len wollen. litische Zwecke ausgespielt werden kann.
Die Versuche zur Manipulation der Erinne- Die vielen Auseinandersetzungen zwischen
rung an den Zweiten Weltkrieg sind nicht Unterstützer*innen und Gegner*innen des
unwidersprochen geblieben. Die historische Brexit im Vorfeld des Referendums 2016 so-
Forschung der letzten zwei oder drei Jahr- wie in der Debatte der drei darauf folgenden
zehnte hat viel zur Konfrontation mit und Jahre, stützten sich stark auf eine Rhetorik,
Magazin vom 28.10.2020 14Zur Diskussion
die auf den Zweiten Weltkrieg verweist. zeigt. Churchill und sein Vermächtnis hal-
Befürworter*innen der Mitgliedschaft in der ten das Ideal der britischen Isolation vom
Europäischen Union sahen darin eine lange Rest des Kontinents aufrecht. Boris John-
Geschichte, die bis 1945 zurückreicht und son, der Politiker, der den Brexit durch das
in der die Zusammenarbeit jahrzehntelan- Parlament gelenkt (oder eher mit der Pla-
ge Konflikte ersetzte, das Engagement für nierraupe durchgedrückt) hat, ist zugleich
einen engstirnigen Nationalismus und die der Autor einer anbiedernden Biographie
Souveränitätsbesessenheit beendete und über Winston Churchill, wodurch er sein ei-
zu wachsender Sicherheit und wachsendem genes Image als Bulldogge unter seinen An-
Wohlstand führte, die sich so sehr von der hängern gestärkt hat. Die Begeisterung für
Zwischenkriegszeit und der unmittelbaren Churchill ist in gewisser Weise der Prüfstein
Nachkriegszeit unterschieden. Diese Ein- der patriotischen Brexit-Anhänger*innen,
schätzung stand stellvertretend für ein phi- die feindlich gegenüber Europa (und insbe-
losophisches Bekenntnis zu den Tugenden sondere gegenüber Deutschland) eingestellt
einer rational begründeten Zusammenar- sind, den bürokratischen Eingriffen Brüssels
beit und für einen europäischen Frieden. misstrauen (sich aber anscheinend nicht be-
Die Rolle Großbritanniens für die Befreiung wusst sind, wie bürokratisch der britische
Europas kann als der Anfang vom Ende der Staat geworden ist), und darauf hoffen, das
jahrzehntelangen nationalen Rivalität, von Commonwealth als Großbritanniens na-
Intoleranz und Rassismus und des Milita- türlichen Partner (und früheres Britisches
rismus gesehen werden. Befürworter*innen Weltreich) wieder zu beleben.
des Brexit, auf der anderen Seite, sahen die Die Brexit-Krise zeigt wie sehr der Zweite
Europäische Union als eine Bedrohung der Weltkrieg ein relevanter Bezugspunkt bleibt
britischen nationalen Souveränität, ihrer und wie schwierig es deshalb ist, ein mo-
kulturellen Identität und vorgeblich ein- dernes rationales Verständnis der mit der
maliger Werte, für die während des Krie- Geschichte des Krieges verbundenen Fra-
ges gekämpft wurde und die langsam durch gen von den tief verwurzelten Vorurteilen
die “Europäisierung” des Landes seit den zu trennen, die in den Stoff der nationalen
1970er Jahren ausgehöhlt wurden. Nicht Meistererzählung eingewoben sind. Die
ohne Grund waren die zwei beliebtesten Gegner*innen des Brexit haben in der Regel
Kinofilme in Großbritannien im Jahr 2017 ein kritisches historisches Bewusstsein, was
zwei Titel über das Jahr 1940: Dunkirk, der allerdings am Ergebnis wenig geändert hat.
symbolisch ein Kontinentaleuropa verlas- Die Rede von der Befreiung aus dem Griff
sendes Großbritannien zeigt und Darkest Europas spiegelt die Sprache der Befrei-
Hour, das einen der neuen europäischen ung 1945, aber ob ein ‘Greater Britain’, wie
Ordnung trotzenden Churchill mit einem Johnson es versprochen hat, in irgendei-
britischen “Wir allein” losgelöst von Europa ner sinnvollen Form entstehen wird, hängt
Magazin vom 28.10.2020 15Zur Diskussion
von aktuellen Umständen ab und nicht vom Zeitschrift zu Gegenwartsfragen The Natio-
Nachdenken über die Vergangenheit. Eine nal Interest (herausgegeben durch das Cen-
Abgrenzung Großbritanniens von der EU ter for the National Interest, 1994 gegründet
wird wahrscheinlich keinen internationalen durch den früheren Präsidenten Richard
Konflikt in Europa hervorrufen, aber es be- Nixon). Er argumentierte, dass der morali-
deutet in der Konsequenz, dass die Großbri- sche Anspruch, am meisten zur Niederlage
tannien eigene sehr ausgeprägte nationale des Faschismus beigetragen zu haben, eine
Erzählung als Schutzschild dienen wird, um wichtigere Referenz für das Verständnis der
zu verhindern, dass die britische Erfahrung Vergangenheit sei als die Betroffenheit über
sich in einer umfassenden europäischen die sowjetische Entscheidung, einen Pakt
Auseinandersetzung mit der Geschichte mit Hitler zu unterzeichnen, Polen zu tei-
auflöst. Unter den Anhänger*innen des Bre- len, die baltischen Staaten zu besetzen und
xit ist die Einschätzung verbreitet, dass die in Finnland einzumarschieren. Genau so
Geschichte Großbritanniens sich in einzig- konnte der Westen die sowjetische Teilnah-
artiger Weise von der Kontinentaleuropas me an den Nürnberger Prozessen 1945-46
unterscheidet und deshalb das Land von akzeptieren, nämlich die Politik der Sowjet-
jeder gemeinsamen "europäischen" Vergan- union in Osteuropa herunter zu spielen und
genheit trennt. stattdessen den sowjetischen Beitrag zur
Ähnliches könnte man von Russland un- Niederschlagung Hitlers hervorzuheben.
ter der Herrschaft von Wladimir Putin sa- Anhänger*innen des Kommunismus jener
gen. Hier gibt es eine ausgeprägte nationale Zeit, sowohl innerhalb und außerhalb der
Meistererzählung des Zweiten Weltkriegs, Sowjetunion, hatten einige Schwierigkeiten
die sich seit der späten Sowjetzeit bemer- damit, die kommunistische Rhetorik mit der
kenswert wenig verändert hat. Die Sichtwei- sowjetischen Realität zu versöhnen, aber die
se, dass die Sowjetunion die Hauptlast der neue Linie wurde akzeptiert als notwendiges
Kämpfe gegen Deutschland trug, und dass Element einer kommunistischen Realpoli-
diese Tatsache im Westen kaum zur Kennt- tik. Putin scheint dieselbe Argumentations-
nis genommen wurde, ist vielleicht durch linie zu verfolgen, die Stalin damals etabliert
den großen Reichtum an nicht-russischer hat. Der Deutsch-Sowjetische Pakt vom 23.
Forschung über die Bedeutung der sowje- August 1939 war der Sowjetunion durch den
tischen Kriegsanstrengungen in den letzten Westen aufgenötigt worden, der nicht bereit
25 Jahren untergraben worden, aber das gewesen war, mit Moskau einen Militärpakt
Vorurteil auf post-sowjetischer Seite bleibt zu zementieren, der den deutschen Angriff
bestehen. auf Polen unmöglich gemacht hätte. Das
Geheime Zusatzprotokoll über die Interes-
Zuletzt wiederholte Putin diesen Vorwurf in
sensphären der beiden Staaten, dem Hitler
seinem im Juni 2020 veröffentlichten Arti-
als Bedingung für den Nicht-Angriffs-Pakt
kel in der US-amerikanischen konservativen
Magazin vom 28.10.2020 16Zur Diskussion
zustimmen musste, lässt sich schon schwie- Enttäuschung über die gescheiterten mili-
riger auf die sowjetische Gutgläubigkeit zu- tärischen Verhandlungen mit dem Westen.
rückführen. Aber das Argument, dass dies Allerdings spielt dieses Argument den rea-
wiederum der Sicherung der sowjetischen len Wunsch auf der Seite Stalins runter, in
strategischen Sicherheit diente, kann nicht den Jahren 1938 und 1939 Krieg zu vermei-
provozierte Aggression in eine unvermeidli- den, für den die Sowjetunion nach der Krise
che strategische Notwendigkeit verwandeln. des Großen Terrors noch nicht bereit war.
Putins Behauptung, dass Polen in gewisser Schon zu Beginn des Jahres 1939 wurde die
Weise durch seine Besetzung tschechischen Idee eines Abkommens mit den Deutschen
Territoriums 1938 verdient habe, was spä- nicht ausgeschlossen. Die Bewahrung des
ter geschah, ist kaum mehr als die moralisch revolutionären Staates war für Stalin weit-
fragwürdige Position, dass zwei Mal Un- aus wichtiger; ein Krieg gegen Deutschland,
recht Recht ergibt. bei dem die Briten und die Franzosen vor-
Es gibt einen offensichtlichen Grund, der aussichtlich wenig Unterstützung anbieten
die gegenwärtige russische Position – und würden, war eine sehr unattraktive Pers-
Putin ist sicherlich nicht der einzige, der sie pektive. Tatsächlich hoffte Stalin, dass die
aufrechterhält – zu rechtfertigen scheint. “imperialistischen” Mächte gegeneinander
Großbritannien und Frankreich waren halb- kämpfen würden und damit dem Kommu-
herzig, gelinde gesagt, angesichts eines Mi- nismus seine Chance bieten, sobald ihr er-
litärabkommens mit dem sowjetischen Re- schöpfender Krieg beendet sein würde. Die
volutionsstaat, aber sie konnten sicherlich Aufrechterhaltung der vorgetäuschten mi-
ebenso wenig Polen überzeugen, der Ro- litärischen Diskussionen bedeutete, dass
ten Armee zu gestatten, polnischen Boden man dem Westen die Schuld geben konnte
zu betreten, weder im September 1938 zur für ihr Scheitern, und der Pakt damit gegen-
Verteidigung der Tschechoslowakei noch über der kommunistischen Welt gerechtfer-
im Sommer 1939 als Mittel zur Abschre- tigt war. Außerdem konnte die Sowjetunion
ckung Hitlers. Die polnische Regierung ohne Kosten einige der verlorenen Gebiete
hatte keinerlei Vertrauen in sowjetische des Zarenreichs zurückgewinnen, während
Deklarationen über Zusammenarbeit, und sie die Annexion als “Befreiung” der Bau-
tatsächlich hatte auch Stalin keine Sympa- ern und Arbeiter von den sie ausbeutenden
thien für das damalige polnische Regime. Kapitalisten und Landbesitzern darstellte,
In der Argumentation Putins war der Pakt selbst wenn dies zur Ermordung und De-
mit Hitler ein Mittel zur Verhinderung des portation von Millionen von Menschen aus
böswilligen Bemühens – wovon Stalin aus- Ostpolen und den baltischen Staaten führ-
ging – Chamberlains und Daladiers, Hitler te; die Sowjetunion profitierte außerdem
gegen die Sowjetunion zu hetzen. Zugleich von einem umfangreichen Handelsver-
war der Pakt mit Hitler ein Ausdruck der trag, wodurch deutsche Industriegüter und
Magazin vom 28.10.2020 17Zur Diskussion
moderne Waffen die sowjetische Industrie dienen einem ähnlichen politischen Zweck.
und Armee förderten, und sicherlich profi- Die Schatten von Churchill und Stalin dro-
tierte auch Deutschland umgekehrt davon. hen nun größer zu werden, als sich einer der
Die Feinheiten der historischen Erklärung beiden jemals hätte vorstellen können.
spielen selbstverständlich keine Rolle für
das aktuelle Anliegen Russlands, Schuld-
zuweisungen zu vermeiden. Das politische
Ziel hinter dem Bemühen, das untaugliche
und unehrenhafte Verhalten des Westens
zu zeigen, besteht darin, dass russische na-
tionale Selbstverständnis als wahren Sieger
über Hitler zu stärken und den Krieg und Über den Autor:
die Erinnerung daran für eine Bereinigung Prof. Richard Overy arbeitet als
Historiker an der University of Exeter. Seine
der stalinistischen Vergangenheit von al- Forschungsinteressen umfassen viele Aspekte der
len ihren offenkundigen Fehlern zu nutzen. Geschichte des „Dritten Reichs“ und des Zweiten
Weltkriegs, der Sowjetunion unter Stalin und den
In mancher Hinsicht haben die britische sowjetischen Kriegseinsatz. Zu seinen zahlreichen
und die russische Instrumentalisierung des Publikationen zählen „The Bombing War:
Europe 1939–1945 (2013) (Deutsche Ausgabe:
Krieges für aktuelle Ziele etwas gemeinsam. Der Bombenkrieg. Europa 1939–1945. Berlin
Beide Länder stehen jetzt außerhalb des ge- 2014), The Third Reich: A Chronicle (2010),
The Morbid Age: Britain between the Wars
einten Europas; beide haben ein heroisches (2009), 1939: Count Down to War (2009), Times
Bild von ihrem Land als Befreier in Kriegs- History of the World (2004), Dictators: Hitler’s
and Stalin’s Russia (2004) (Deutsche Ausgabe:
zeiten; beide definieren das Narrativ über Die Diktatoren. Hitlers Deutschland,
die Kriegsjahre auf eine Weise, die das nati- Stalins Rußland. München 2005).
onale Interesse stärkt.
Keine der politischen Klassen, die zur Zeit in
Großbritannien und Russland an der Macht
sind, würden verstehen, warum es lohnt und
notwendig ist, nach ehrlicher Versöhnung
zwischen der Vergangenheit und der Ge-
genwart zu streben. Geschichte kann in den
Dienst der Gegenwart gestellt werden, wenn
sie in einer Weise verpackt wird, die aktu-
elle Sorgen um die nationale Identität und
den globalen Rang untermauert. Die beiden
Versionen über die Kriegsjahre sind nicht
identisch, da die Dimensionen der Kriegs-
opfer sehr unterschiedlich sind, aber sie
Magazin vom 28.10.2020 18Zur Diskussion
27. Januar und 23. August: Welt“ und vor allem des westlichen Europas
Zwei Gedenktage – verdiente.
eine Erinnerung? Im Jahr 2004 erreichte diese euphorische
Die EU-Osterweiterung als Freiheitsbewegung einen vorläufigen Hö-
Herausforderung für das hepunkt, als unter anderen die baltischen
europäische Geschichtsbild Staaten und Polen zu einem Teil der euro-
päischen Gemeinschaft wurden. Doch in
Von Anke Hilbrenner
diesem historischen Moment machte sich
Die Osterweiterung der Europäischen Uni- sogleich Erstaunen breit. Für die neuen Mit-
on in den Jahren 2004 und 2007 stellte die glieder der Europäischen Union schienen
Gemeinschaft nicht nur vor wirtschaftliche die Selbstverständlichkeiten der europäi-
Probleme. Die Erfahrungen, die die Men- schen Erinnerungspolitik keine Gültigkeit
schen in den neuen Mitgliedstaaten bis 1991 zu haben: Schon vor dem feierlichen Beitritt
„hinter dem Eisernen Vorhang“ gemacht am 1. Mai 2004 hatte es Anzeichen für die-
hatten, waren und sind eine Herausforde- sen Konflikt gegeben. Im März 2004 hatte
rung für das „alte Europa“, die bis heute die zukünftige lettische EU-Kommissarin
nicht als eine gemeinsame Aufgabe ange- Sandra Kalniete bei der Eröffnung der Leip-
nommen worden ist. ziger Buchmesse für einen Eklat gesorgt. Sie
Als die Menschen in Estland, Lettland und bezeichnete in ihrer Rede Stalinismus und
Litauen sich am 23. August 1989 zu einer Nationalsozialismus als „gleichermaßen
650 km langen Menschenkette – zum „Bal- verbrecherisch“. Salomon Korn, der damali-
tischen Weg“ – zusammenfanden, schlugen ge Vize-Präsident des Zentralrats der Juden
ihnen weltweit Sympathien entgegen. Vor in Deutschland, verließ daraufhin den Fest-
allem in der Bundesrepublik wurde dieser akt unter Protest.
friedliche und völkerverbindende Protest Sandra Kalniete war nicht nur Politikerin,
emphatisch begleitet. Nur wenige Tage zu- sondern auch Autorin. In ihrem Buch „Mit
vor, am 19. August, hatte in Sopron, an der Ballettschuhen im Sibirischen Schnee“
ungarisch-österreichischen Grenze ein „pan- schildert sie das Schicksal ihrer nach Sibiri-
europäisches Picknick“ stattgefunden, dass en deportierten Familie. Der Bericht wurde
mehr als 600 DDR-Bürger*innen zur Flucht in 13 Sprachen übersetzt und erschien im
durch den damals noch „eisernen Vorhang“ Jahr 2005 in deutscher Sprache. Die Gewal-
genutzt hatten. In dieser Stimmung wurde terfahrungen ihrer Familie, die in Lettland
die Massenbewegung „Baltischer Weg“ als Teil einer kollektiven Erinnerung sind und
ein sympathisches Symbol für das Ringen die Frau Kalniete anlässlich des europäi-
der Menschen in den baltischen Sowjetre- schen Neubeginns von 2004 in ein politi-
publiken um Selbstbestimmung wahrge- sches Statement verwandelt hatte, rührte
nommen, das die Unterstützung der „freien und rührt bis heute in Deutschland – und in
Magazin vom 28.10.2020 19Zur Diskussion
weiten Teilen des westlichen Europas – an Die Repressionsgeschichte des Mädchens
ein Tabu. Die Probleme damit, die Erfah- mit den Ballettschuhen war allerdings kein
rung der Familie Kalniete in die europäische Einzelfall, sondern konstituierend für die
Erinnerung zu integrieren, prägen die EU, Erinnerungsgemeinschaften in vielen ost-
ihre Konflikte und die Beziehung zu anderen mitteleuropäischen Staaten. Seit dem EU-
Ländern, z.B. zu Russland bis in die Gegen- Beitritt der Neumitglieder im Jahr 2004
wart. rangen diese um eine europäische Ge-
schichtspolitik, welche die Gewalterfahrung
Denn bis 2004 galt innerhalb der EU unein-
der Menschen in Ostmitteleuropa, sowohl
geschränkt:
Opfer des Nationalsozialismus, als auch des
Die Erinnerung an den Holocaust und sei- Stalinismus geworden zu sein, ernst nimmt.
ne Überwindung sind das, was Europa im Diese Bemühungen gipfelten schließlich in
Innersten zusammenhält. Bereits im Jahr der Entscheidung des Europäischen Parla-
1995 hatte das EU Parlament einen gemein- ments im April 2009, den 23. August zum
samen Gedenktag zur Erinnerung an die europäischen Gedenktag zu erklären. Am 23.
Opfer des Holocaust gefordert. 1996 hatte August 1939 wurde der Hitler-Stalin-Pakt
Bundespräsident Roman Herzog den 27. Ja- unterzeichnet. Das nationalsozialistische
nuar, den Jahrestag der Befreiung des Ver- Deutschland und die stalinistische Sowje-
nichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch tunion versicherten sich in diesem Vertrag
die Rote Armee, zum „Tag des Gedenkens gegenseitig, dass sie sich im Kriegsfalle
an die Opfer des Nationalsozialismus“ er- nicht angreifen würden. In einem geheimen
klärt. In Israel wird der Befreiung der Lager Zusatzprotokoll teilten sie Ostmitteleuropa
von Auschwitz schon seit 1951 jeweils am untereinander auf. Die Sowjetunion rekla-
27. Nisan des jüdischen Kalenders gedacht. mierte die drei baltischen Staaten für sich,
2005 einigten die Vereinten Nationen sich Polen wurde, wie schon im 18. Jahrhundert,
gemeinsam mit dem Europäischen Parla- zwischen den beiden Aggressoren aufgeteilt.
ment auf den 27. Januar als den „Interna- Eine Woche nach der Unterzeichnung des
tionalen Tag des Gedenkens an die Opfer Hitler-Stalin-Paktes überfiel Deutschland
des Holocaust“. Seitdem wird dieser Tag in Polen und der Zweite Weltkrieg begann.
vielen Ländern Europas und der Welt be- Als die Menschen in den Sowjetrepubli-
gangen. Auf den Konsens der Holocaust-Er- ken Estland, Lettland und Litauen sich am
innerungsgemeinschaft berief sich Salomon 23. August 1989 zum „Baltischen Weg“ zu-
Korn, als er seinem Protest Ausdruck gab: sammenschlossen, erinnerten sie daran,
Die individuelle Erfahrung von Repression, dass durch die Einigung Hitlers und Stalins
welche die Familie Kalnietes gemacht habe, ihre Souveränität verloren ging und bis zu
ließe sich nicht gegen das singuläre Mensch- diesem Zeitpunkt nicht wiedererlangt wur-
heitsverbrechen des Holocaust aufrechnen. de. In dieser Hinsicht dauerte das Unrecht
Magazin vom 28.10.2020 20Zur Diskussion
des Hitler-Stalin-Paktes noch bis 1991 fort. Nationalsozialismus und Stalinismus als
Die Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt „gleichermaßen verbrecherisch“ bezeichnet.
impliziert also eine Erinnerung an die Ge- Beide Gruppen existieren nebeneinander
walterfahrung von Nationalsozialismus und her, ebenso wie die Gedenktage, die je von
Stalinismus zusammen. Das Erbe des Stali- der einen oder von der anderen Gruppe be-
nismus habe dabei, so die Botschaft, noch gangen werden.
bis 1989 bzw. 1991 weitergewirkt. Manchmal beendet eine geschichtspoliti-
Die Repressionserfahrung, die durch die sche Initiative die Stille – zumindest für kur-
sowjetische Dominanz im östlichen Europa ze Zeit. Die Resolution des EU Parlaments
ausgelöst wurde, gab es auch in Deutschland vom 19. September 2019 „zur Bedeutung
bei denjenigen, die in der einen oder ande- des europäischen Geschichtsbewusstseins
ren Weise Opfer der DDR-Diktatur gewor- für die Zukunft Europas“ war ein solcher
den waren. Deshalb schloss sich auch der Moment. Die Nähe zum 80. Jahrestag des
spätere Bundespräsident Joachim Gauck Kriegsbeginns am 1. September 1939 war
– gemeinsam mit dem ehemaligen tschechi- nicht zufällig. In dieser Entschließung findet
schen Präsidenten Václav Havel – im Jahr sich die Position derer, die Nationalsozialis-
2008 der Prager Erklärung an, mit der der mus und Stalinismus unter dem Schlagwort
23. August als „Europäischer Tag des Ge- „Totalitarismus“ für die zentralen Säulen
denkens an die Opfer von Stalinismus und europäischer Geschichte halten. Zwar war
Nationalsozialismus“ gefordert wurde. So- der Text aufgrund seiner Form außerhalb
wohl Gauck als auch Havel hatten in ihren der Kreise der EU-Politiker*innen kaum
Ländern gegen den Staatssozialismus oppo- vermittelbar, dennoch erregte er Aufmerk-
niert. Als ehemalige Dissidenten, die in der samkeit. So verstand Vladimir Putin die-
Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs se Resolution als Angriff auf Russland und
einflussreiche Persönlichkeiten geworden nahm sie zum Anlass, seine Sicht auf die
waren, verliehen sie der Prager Erklärung Geschichte des Zweiten Weltkriegs einer in-
ein gehöriges Maß Legitimität. Auch des- ternationalen Öffentlichkeit zur Kenntnis zu
halb folgte das Europäische Parlament ihrer bringen. Die europäischen „Memory Wars“,
Forderung im Jahr 2009. Seitdem ist dieser die normalerweise im Verborgenen toben,
Tag europaweit ein Gedenktag, der aller- wurden kurz für die interessierte Öffentlich-
dings fast ausschließlich in Ostmitteleuropa keit sichtbar.
Beachtung findet. Doch jenseits dieser Konflikte gibt es auch
Es gibt also seit 2004 auf europäischer Ebe- immer wieder Initiativen, die sich bemü-
ne geschichtspolitische Protagonist*innen hen, die beiden hermetischen Erinnerungs-
für zwei Erinnerungsgemeinschaften, von gemeinschaften miteinander ins Gespräch
denen die eine sich auf die Singularität zu bringen. Eine davon ist das Haus der
des Holocaust beruft, während die andere Europäischen Geschichte, das 2007 auf
Magazin vom 28.10.2020 21Sie können auch lesen
