Kommunale Flüchtlingspolitik in Deutschland - Hannes Schammann, Boris Kühn gute gesellschaft - soziale demokratie

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Kommunale Flüchtlingspolitik in Deutschland - Hannes Schammann, Boris Kühn gute gesellschaft - soziale demokratie
Hannes Schammann, Boris Kühn

Kommunale Flüchtlingspolitik
in Deutschland

  gute gesellschaft –
  soziale demokratie
# 2017 plus
Kommunale Flüchtlingspolitik in Deutschland - Hannes Schammann, Boris Kühn gute gesellschaft - soziale demokratie
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG

  gute gesellschaft –
  soziale demokratie
# 2017 plus
 EIN PROJEKT DER FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG
 IN DEN JAHREN 2015 BIS 2017

 Was macht eine Gute Gesellschaft aus? Wir ver­s tehen darunter soziale Gerechtig­keit, ökologische Nachhaltig-
 keit, eine inno­vative und erfolgreiche Wirtschaft und eine Demokratie, an der die Bürger_innen aktiv mit-
 wirken. Diese Gesellschaft wird getragen von den Grundwerten der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.

 Wir brauchen neue Ideen und Konzepte, um die Gute Gesellschaft nicht zur Utopie werden zu lassen.
 Deswegen entwickelt die Friedrich-Ebert-Stiftung konkrete Handlungsempfehlungen für die Politik der
 kommenden Jahre. Folgende Themenbereiche stehen dabei im Mittelpunkt:

 –   Debatte um Grundwerte: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität;
 –   Demokratie und demokratische Teilhabe;
 –   neues Wachstum und gestaltende Wirtschafts- und Finanzpolitik;
 –   Gute Arbeit und sozialer Fortschritt.

 Eine Gute Gesellschaft entsteht nicht von selbst, sie muss kontinuierlich unter Mit­w irkung von uns allen
 gestaltet werden. Für dieses Projekt nutzt die Friedrich-Ebert-Stiftung ihr weltweites Netzwerk, um die
 deutsche, europäische und internationale Perspektive miteinander zu verbinden. In zahlreichen Veröffent-
 lichungen und Veranstaltungen in den Jahren 2015 bis 2017 wird sich die Stiftung dem Thema konti-
 nuierlich widmen, um die Gute Gesellschaft zukunftsfähig zu machen.

 Weitere Informationen zum Projekt erhalten Sie hier:
 www.fes-2017plus.de

 Die Friedrich-Ebert-Stiftung
 Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) wurde 1925 gegründet und ist die traditionsreichste politische Stiftung
 Deutschlands. Dem Vermächtnis ihres Namensgebers ist sie bis heute verpflichtet und setzt sich für die
 Grundwerte der Sozialen Demokratie ein: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Ideell ist sie der Sozial-
 demokratie und den freien Gewerkschaften verbunden.

 Die FES fördert die Soziale Demokratie vor allem durch:

 –   politische Bildungsarbeit zur Stärkung der Zivilgesellschaft;
 –   Politikberatung;
 –   internationale Zusammenarbeit mit Auslandsbüros in über 100 Ländern;
 –   Begabtenförderung;
 –   das kollektive Gedächtnis der Sozialen Demokratie mit u. a. Archiv und Bibliothek.

 Über die Autoren dieser Ausgabe
 Hannes Schammann ist Juniorprofessor für Migrationspolitik an der Universität Hildesheim.
 Boris Kühn ist Flüchtlings- und Integrationsbeauftragter der Stadt Mössingen.

 Für diese Publikation ist in der FES verantwortlich
 Günther Schultze ist in der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik Leiter des Gesprächskreises Migration
 und Integration der Friedrich-Ebert-Stiftung.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG

Hannes Schammann, Boris Kühn

Kommunale Flüchtlingspolitik
in Deutschland

 3            VORBEMERKUNG
 4            ZUSAMMENFASSUNG
 5     1	EINLEITUNG
 6      2     DIE KOMMUNE IM MEHREBENENSYSTEM DER FLÜCHTLINGSPOLITIK
 6     2.1    EU, Bund und Länder
 7     2.2    Kommunen

 9      3     HANDLUNGSFELDER KOMMUNALER FLÜCHTLINGSPOLITIK
 9     3.1    Vollzug des Ausländerrechts
10     3.2    Unterbringung
14     3.3    Gewährung von Sozialleistungen
17     3.4    Gesundheitsversorgung
19     3.5    Frühkindliche und schulische Bildung
22     3.6    Sprachförderung Deutsch
24     3.7    Arbeit und Ausbildung
25     3.8    Zivilgesellschaftliches Engagement
27     3.9    Öffentlichkeitsarbeit
29     3.10   Finanzierung kommunaler Flüchtlingspolitik
32     3.11   Aufbauorganisation kommunaler Flüchtlingspolitik

35      4     FAZIT UND AUSBLICK

38            Abkürzungen
38            Tabellenverzeichnis
39            Literaturverzeichnis
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG   2
KOMMUNALE FLÜCHTLINGSPOLITIK IN DEUTSCHLAND                                                                                      3

VORBEMERKUNG

Die hohen Zuwanderungszahlen in den Jahren 2014 und                leistungsgesetzes haben die Länder und die Kommunen
2015, insbesondere die Zuwanderung von Flüchtlingen, haben         einigen Handlungsspielraum, der, je nach politischer Grund-
vor allem die Kommunen vor große Herausforderungen ge-             überzeugung, entweder zu restriktiven oder liberalen Prakti-
stellt. Innerhalb kürzester Zeit mussten sie Unterbringungs-       ken führt. Das Gutachten liefert auch Argumente, darüber
möglichkeiten, Betreuung und Versorgung für Flüchtlinge            nachzudenken, ob das Asylbewerberleistungsgesetz abge-
organisieren. Gemeinsam mit den ehrenamtlich tätigen Bür-          schafft werden sollte und Asylsuchende die normalen Grund-
ger_innen wurde in vielen Kommunen eine Willkommenskul-            sicherungsleistungen erhalten sollten. Dies würde zu bürokra-
tur mit Leben erfüllt.                                             tischen Erleichterungen und damit zu Einsparungen führen.
    Eine Willkommenskultur braucht aber auch eine Willkom-              Das Gutachten liefert viele Beispiele, wie unterschiedlich
mensstruktur. Dies heißt, dass die organisatorischen und           in den Kommunen die Unterbringung von Flüchtlingen gere-
rechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden müssen,              gelt wird und wie vielfältig die Integrationsangebote, zum
damit die Eingliederung und die Versorgung der Flüchtlinge         Beispiel Sprachkurse für verschiedene Zielgruppen, sind.
gemeistert werden können. Die Klärung und Optimierung              Denn entgegen der vielfach verbreiteten Auffassung gibt es
der Zuständigkeiten und der Aufgabenverteilung zwischen            durchaus Handlungsspielräume auf kommunaler Ebene. Diese
Bund, Ländern und Kommunen ist deshalb die grundlegende            sind selbst bei den sogenannten „weisungsgebundenen
Voraussetzung dafür, die Flüchtlingsaufnahme und -integra-         Pflichtaufgaben“, z. B. dem Vollzug des Ausländerrechts durch
tion zu bewältigen.                                                die Ausländerbehörden, erkennbar. In die Konzepte der inter-
    Der Ort, an dem sich die Integration der Flüchtlinge letzt-    kulturellen Öffnung der kommunalen Verwaltung sollten des-
lich vollzieht, sind die Kommunen und Gemeinden. Hier ent-         halb die Ausländerbehörden unbedingt einbezogen werden.
scheidet sich, ob es zu einem Miteinander und einem friedli-            Das hier vorliegende Gutachten kommt zu dem Ergebnis,
chen Zusammenleben kommt oder ob Ausgrenzung und                   dass sich bei der Bewältigung der Zuwanderung von über
Diskriminierung vorherrschen. Das gesellschaftliche Klima          einer Million Flüchtlingen in den letzten Jahren das föderale
wird maßgeblich durch eine klare Positionierung der Reprä-         System der Bundesrepublik bewährt hat, es aber gerade an
sentant_innen der jeweiligen Kommune für die Integration           den Schnittstellen der Zusammenarbeit von Bund, Ländern
der Flüchtlinge in die Stadtgesellschaft beeinflusst. Besorgnis-   und Kommunen Reibungsverluste gibt, die durch Reformen
erregend sind die zahlreichen gewaltsamen Angriffe auf             behoben werden können. Die Flüchtlingspolitik ist deshalb
Flüchtlinge und die Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünf-       auch ein Katalysator, um das bewährte föderale System der
te, die auch den Tod von Menschenleben in Kauf nehmen.             Bundesrepublik Deutschland weiterzuentwickeln.
Die Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremis-                Bei allen Problemen und Schwierigkeiten, die die Zuwan-
mus und Rassismus ist deshalb eine gemeinsame Aufgabe              derung von Flüchtlingen für Kommunen und Länder mit sich
aller demokratischen Organisationen.                               bringt, dürfen wir aber nicht die Chancen und Potenziale
    Dieses Gutachten beleuchtet die Flüchtlingspolitik in          außer Acht lassen, die sich für unsere Gesellschaft ergeben
Deutschland aus einer kommunalpolitischen Perspektive. Es          können. Diese realisieren sich, wenn uns eine frühzeitige und
zeigt, dass trotz einiger Verbesserungen in der Kooperation        nachhaltige Integration von Flüchtlingen in die Stadtteile und
zwischen Bund, Ländern und Kommunen nach wie vor ein               Wohnquartiere, in Schulen und Kindergärten sowie in die
erheblicher Handlungsbedarf besteht. Obwohl sich bei der           Arbeitswelt gelingt.
Finanzierung der Flüchtlingsaufnahme in den vergangenen
Monaten einiges bewegt hat, müssen nach wie vor viele
Kommunen erhebliche Eigenmittel aufwenden, um die Auf-             GÜNTHER SCHULTZE
gaben zu stemmen. Zusätzliche, zielgenauere Finanzierungs-         Leiter des Gesprächskreises Migration und Integration der
modelle sind nötig. Bei der Umsetzung des Asylbewerber-            Friedrich-Ebert-Stiftung
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG                                                                                                        4

ZUSAMMENFASSUNG

Kommunen werden häufig als letztes Glied in der Kette föde-         nen übertragen werden sollte, anstatt dies nur mittels un-
raler Flüchtlingspolitik betrachtet. Sie gelten als Ebene mit mi-   bestimmter Rechtsbegriffe zu tun. Gerade sehr aktive und
nimalem Gestaltungsspielraum, die lediglich ausführt, was           innovative Kommunen begrüßen solche Überlegungen.
Europäische Union, Bund und Land beschließen. Dies ist je-          Allerdings legt die Praxis nahe, dass die Hoffnung auf eine
doch eine Fehlwahrnehmung. Faktisch haben Kreise, Städte            flächendeckend progressive Flüchtlingspolitik, angetrieben
und Gemeinden erhebliche Spielräume in nahezu allen Hand-           durch in jeglicher Hinsicht kompetente Kommunen, etwas
lungsfeldern der Flüchtlingspolitik. In besonderem Maße be-         gedämpft werden muss. Schließlich scheint es angesichts
trifft dies die Selbstverwaltungsaufgaben, beispielsweise die       steigender Skepsis in der Bevölkerung durchaus vorstellbar,
Organisation frühkindlicher Bildung oder die Koordination           dass einige Kommunen eine neu zugestandene Kompetenz
von ehrenamtlichem Engagement. Doch selbst bei weisungs-            nutzen würden, um für Flüchtlinge unattraktiver zu werden.
gebundenen Pflichtaufgaben, wie dem Vollzug des Auslän-             Eine bewusste Delegation von Entscheidungskompetenz auf
derrechts, können Kommunen eigene flüchtlingspolitische             die kommunale Ebene macht durchaus Sinn, muss aber mit
Positionen entwickeln und durchsetzen. Dies liegt vor allem         Anreizen zur aktiven Politikgestaltung sowie der Durchset-
daran, dass sich in den gesetzlichen Regelungen zahlreiche          zung verbindlicher Mindeststandards in Kernbereichen wie
Widersprüche und unbestimmte Rechtsbegriffe finden, die             der Unterbringung einhergehen.
auf ungelöste Konflikte auf Bundes- und Landesebene hin-                Neben der Frage der Dezentralisierung wird in der Fach-
weisen. Die Kommune muss – oder darf – diese mehrdeuti-             debatte auch darüber gestritten, ob Flüchtlingspolitik als fö-
ge Rechtslage in eindeutige Verwaltungspraxis umwandeln.            derale Gemeinschaftsaufgabe im Sinne des Grundgesetzes
Damit wird sie zur eigenständigen Politikgestalterin.               (Art. 91a) ausgestaltet werden sollte. Kommunen aber brau-
     Ein Blick in die flüchtlingspolitische Praxis zeigt, dass      chen keine weiteren Schnittstellen, sondern einen Abbau der-
Kommunen sich dieser Spielräume in sehr unterschiedlichem           selben. Dies betrifft weniger das Verhältnis zum Bund als
Maße bewusst sind. Vielerorts konnte man in den vergange-           das zum Land sowie die Aufgabenteilung zwischen Land-
nen Jahren ein durchaus pragmatisches, aber wenig strate-           kreisen und kreisangehörigen Gemeinden. Auf der föderalen
gisch ausgerichtetes oder auch nur koordiniertes Verwal-            Ebene von Land und Kommune geht es also darum, Kompe-
tungshandeln feststellen. Verstärkt durch einen Mangel an           tenzen klar zuzuordnen und das Schnittstellenmanagement
intra- und interkommunalen Austauschforen führte dies zu            zu optimieren. Regelmäßige Austauschforen sind dafür die
einer enormen Variationsbreite flüchtlingspolitischer Praxis.       Grundvoraussetzung.
Teilweise lassen sich noch heute innerhalb derselben Verwal-            Was kann der Bund tun, um die Kommunen zu unterstüt-
tung diametral entgegengesetzte flüchtlingspolitische Aus-          zen? Erstens muss er seinen eigenen Aufgaben in effizienter
richtungen festmachen. Erst die Flüchtlingszuwanderung des          Weise nachkommen: Schnelle Asylverfahren helfen den Kom-
Jahres 2015 fungierte als Brennglas für diese Widersprüche          munen ganz direkt. Zweitens sollten vorwiegend symboli-
und sorgte dafür, dass sich Kommunen in bislang nicht ge-           sche Regelungen, wie das Asylbewerberleistungsgesetz
kanntem Maße um flüchtlingspolitische Kohärenz bemühen.             oder die Orientierung an einer „guten Bleibeperspektive“,
Dies führt unter anderem dazu, dass die Organisation lokaler        auf ihre Sinnhaftigkeit und Praxistauglichkeit überprüft wer-
Flüchtlings- und Integrationspolitik neu gedacht wird. Gewin-       den. Sie verkomplizieren die Arbeit vor Ort und bewirken
ner dieser Verschiebungen vor Ort sind die Sozialbehörden,          faktisch wenig. Drittens geht es darum, die Integration (auch
während kommunale Integrationsbeauftragte vielerorts an             von anerkannten Flüchtlingen) strukturell und finanziell wei-
Einfluss verlieren.                                                 ter zu unterstützen. Dazu ist eine enge Zusammenarbeit
     Angesichts der ohnehin vorhandenen Spielräume vor Ort          mit den Ländern, aber auch mit den Spitzenverbänden der
stellt sich die Frage, ob Entscheidungskompetenz nicht bes-         Kommunen notwendig.
ser ganz explizit vom Bund über das Land auf die Kommu-
KOMMUNALE FLÜCHTLINGSPOLITIK IN DEUTSCHLAND                                                                                     5

1

EINLEITUNG

Der Terminus der „kommunalen Flüchtlingspolitik“ ist spätes-       wegs den Anspruch, ein vollständiges und repräsentatives
tens seit dem Jahr 2015, als deutsche Städte und Gemeinden         Bild kommunaler Flüchtlingspolitik in Deutschland zu zeich-
Tausende von Asylsuchenden unterzubringen und zu versor-           nen. Doch sie hat das Ziel, eine gewisse Orientierung im
gen hatten, aus medialen und politischen Debatten nicht mehr       Dschungel kommunaler Praxis zu bieten, aktuelle Entwicklun-
wegzudenken. Doch eigentlich ist es mit Blick auf die Aufga-       gen zu beleuchten und Anstöße für die Diskussion zu geben.
benverteilung im Mehrebenensystem der Flüchtlingspolitik                Die Studie beginnt in Kapitel 2 mit einer Verortung der
gar nicht so selbstverständlich, von einer eigenständigen kom-     Kommune im (europäischen) Mehrebenensystem der Migra-
munalen Flüchtlingspolitik zu sprechen. Ein Dickicht an inter-     tions- und Flüchtlingspolitik. Im Zuge dessen werden auch
nationalen und nationalen Richtlinien, Gesetzen und Verord-        die drei kommunalen Aufgabenarten – weisungsgebundene
nungen scheint Städte, Kreise und Gemeinden regelrecht             Pflichtaufgaben, pflichtige und freiwillige Selbstverwaltungs-
einzuschnüren. In den vergangenen Jahren wurden die Kom-           aufgaben – eingeführt. Dies dient als konzeptionelle Grund-
munen daher sowohl von der flüchtlingspolitischen Praxis als       lage zum institutionell geprägten Verständnis kommunaler
auch von wissenschaftlicher Seite meist als mal gewissenhaf-       Flüchtlingspolitik. Auf dieser Basis werden in Kapitel 3 neun
te, mal etwas unwillige Befehlsempfänger von Bund und Län-         konkrete Handlungsfelder kommunaler Flüchtlingspolitik so-
dern wahrgenommen. Bestenfalls konnten sie als „Orte der           wie zwei übergeordnete Themenbereiche näher betrachtet.
Integration“ reüssieren. Eine eigenständige Politikgestaltung      Darunter sind vier „klassische“ Pflichtaufgaben: Vollzug des
wurde ihnen jedoch kaum zugetraut.                                 Ausländerrechts, Unterbringung, Gewährung sozialer Leis-
    Ein Blick auf die kommunale Praxis zeigt allerdings, dass      tungen und Gesundheitsversorgung. Als pflichtige Selbstver-
Städte, Kreise und Gemeinden weitreichende Gestaltungs-            waltungsaufgabe wird das Handlungsfeld „Bildung“ betrach-
spielräume haben, die sie seit Jahren in sehr unterschiedli-       tet. Die untersuchten vier freiwilligen Aufgaben umfassen
cher Weise nutzen. Das führte dazu, dass Flüchtlingspolitik        Sprachförderung, Arbeit und Ausbildung, zivilgesellschaftliches
im deutschen Föderalismus heute keineswegs als kohärentes          Engagement und Öffentlichkeitsarbeit. Als übergeordnete
Gesamtkunstwerk, sondern eher als eine Art „Flickenteppich“        Themenbereiche werden Fragen der Finanzierung sowie –
bezeichnet werden muss. Um zu verstehen, wie eine solche           aufgrund aktueller Entwicklungen in zahlreichen Kommunen
Varianz zustande kommen kann und wo die Ermessensspiel-            – auch Verschiebungen in der Aufbauorganisation kommu-
räume der Kommunen ganz grundsätzlich liegen, lohnt es             naler Flüchtlingspolitik angesprochen. Die Studie schließt in
sich, eine institutionell geprägte Perspektive auf die Rolle der   Kapitel 4 mit zentralen Thesen für die Diskussion in und zwi-
Kommunen im Mehrebenensystem der Flüchtlingspolitik ein-           schen Kommunen, aber auch zwischen Kommunen und Län-
zunehmen. Kurz gesagt: Was und wie viel dürfen, können,            dern bzw. dem Bund.
sollen und müssen Kommunen eigentlich in welchen Fragen
der Flüchtlingspolitik tun und entscheiden?
    Die vorliegende Studie betrachtet aus diesem Blickwinkel
zentrale Handlungsfelder kommunaler Flüchtlingspolitik so-
wie deren Ausgestaltung in Abhängigkeit von Ländern und
Bund. Beispiele aus der wissenschaftlichen Literatur und der
aktuellen Praxis illustrieren, wie Kommunen ihre Spielräume
nutzen – und wie sie sich diese zum Teil auch erkämpfen.
Methodisch basiert die Untersuchung sowohl auf einer um-
fangreichen Literatur- und Desktoprecherche als auch auf
mehreren Experteninterviews mit Vertreter_innen kommuna-
ler Praxis. Vor diesem Hintergrund erhebt die Studie keines-
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG                                                                                                            6

2

DIE KOMMUNE IM
MEHREBENENSYSTEM DER
FLÜCHTLINGSPOLITIK1

2.1	  EU, BUND UND LÄNDER                                            gen ist derzeit noch am ehesten hinsichtlich der Abkommen
                                                                     mit Drittstaaten zu erreichen, die eine Reduzierung der Flücht-
Europäische Union                                                    lingszuwanderung zum Ziel haben (u. a. Türkei, Marokko).

Asyl- und Flüchtlingspolitik ist zumindest in ihren Grundlini-       Bund
en durchaus europäisiert (Bendel 2015). Dies wird deutlich,
wenn man auf das 2013 verabschiedete Gemeinsame Euro-                Doch bei all der berechtigten Sorge um die Zukunft einer ge-
päische Asylsystem (CEAS) blickt, das zahlreiche rechtliche          meinsamen europäischen Flüchtlingspolitik wird häufig ver-
Mindeststandards eingeführt bzw. aktualisiert und zusam-             gessen, dass auch einige Nationalstaaten innerhalb der EU
mengefasst hat. Dazu gehören beispielsweise die Qualifikati-         eine Binnenstruktur haben, die eine zusätzliche Herausforde-
onsrichtlinie zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, die       rung für flüchtlingspolitische Kohärenz darstellt. Dies gilt ins-
Verfahrensrichtlinie zur Durchführung des Asylverfahrens             besondere für Deutschland. Migrationspolitik ist hierzulande
oder die Aufnahmerichtlinie zur menschenwürdigen Unter-              in wesentlichen Teilen durch Bundesgesetze geregelt, wobei
bringung und Behandlung von Asylsuchenden. Hinzu kom-                für Flüchtlingspolitik überwiegend die konkurrierende Ge-
men zahlreiche Verordnungen, von denen insbesondere die              setzgebung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 4 und 6 GG) gilt. In der Folge
Dublin-III-Verordnung eine gewisse Prominenz besitzt, da sie         ist nach Maßgabe des Asylgesetzes (§ 5 Abs. 1 AsylG) aus-
regelt, welche Staaten für die Bearbeitung von Asylanträgen          schließlich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
zuständig sind. Aber auch per Verordnung eingerichtete Ins-          (BAMF) für das Asylverfahren zuständig. Kommen Asylsu-
titutionen wie das European Asylum Support Office (EASO)             chende nach Deutschland, wird ihr Antrag also auf der Bun-
auf Malta, das zur Harmonisierung der Umsetzungspraxis in            desebene in den Außenstellen des BAMF bearbeitet. Die
den Mitgliedstaaten beitragen soll, sind Teil des CEAS. Ge-          Asylsuchenden werden einer landesbetriebenen Erstaufnah-
rade die Existenz des EASO zeigt auch, dass es den Mitglied-         mestelle in räumlicher Nähe zur jeweiligen Außenstelle des
staaten und vor allem der EU-Kommission durchaus bewusst             BAMF zugewiesen und nach einigen Tagen oder Wochen auf
ist, dass alleine das Vorliegen gemeinsamer Regelungen noch          die Kommunen verteilt. An den ihnen zugewiesenen Orten
keinen faktischen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des         müssen sie mindestens für die Dauer des Verfahrens wohnen.
Rechts“ (Art. 67 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise               Zusätzlich zur eigenständigen Durchführung des Asylver-
der Europäischen Union) bedeuten. Ob dessen Verwirklichung           fahrens legt die Bundesebene auch die Rahmenbedingungen
in absehbarer Zeit gelingt, darf mit gutem Grund bezweifelt          für den Zugang von Asylsuchenden zu weiten Teilen des ge-
werden. Schließlich ist europäische Flüchtlingspolitik aktuell       sellschaftlichen Lebens fest, beispielsweise zum Arbeitsmarkt
vor allem durch nationalstaatliche Alleingänge geprägt, etwa         oder zu Integrationskursen. Außerdem regelt das Asylbewer-
durch die mehrfach praktizierte, einseitige Schließung der           berleistungsgesetz (AsylbLG), welche Leistungen Asylsuchen-
Schengen-Grenzen (u. a. Schweden, Österreich), die anhalten-         den in den ersten 15 Monaten für „Ernährung, Unterkunft, Hei-
de Weigerung einiger Staaten, beispielsweise Polens, über-           zung, Kleidung, Gesundheitspflege und Gebrauchs- und
haupt Flüchtlinge aufzunehmen, oder die „Brexit“-Entschei-           Verbrauchsgütern des Haushalts“ (§ 3) oder für die „Behand-
dung Großbritanniens. Auch eine konsensfähige Lösung, die            lung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände“ (§ 4) zuste-
das faktisch gescheiterte Dublin-III-System zur Verteilung der       hen. Zudem trifft es Aussagen über den Zugang zu Arbeits-
Schutzsuchenden ersetzen könnte, ist weiter nicht in Sicht.          gelegenheiten (§ 5).
Die Zustimmung der Mitgliedstaaten zu europäischen Lösun-                Die Federführung für das AsylbLG hat das Bundesminis-
                                                                     terium für Arbeit und Soziales. Die Verantwortung für asyl-
1 Die Darstellung kommunaler Aufgaben im Mehrebenensystem folgt im   und aufenthaltsrechtliche Fragen sowie die Fachaufsicht über
Wesentlichen Schammann (2015a, 2016).                                das BAMF liegen dagegen beim Bundesministerium des In-
KOMMUNALE FLÜCHTLINGSPOLITIK IN DEUTSCHLAND                                                                                               7

nern (BMI). In dieser Ressortzuständigkeit manifestiert sich       aufgaben“ 2 delegiert werden. Dabei werden Aufgabeninhalt
ein Spannungsverhältnis zwischen einem wohlfahrtsstaatli-          und -durchführung detailliert durch das Land vorgegeben.
chen Ansatz (Versorgung und arbeitsmarktorientierte Inte-          Ein Ermessensspielraum ist eigentlich nicht vorgesehen, da
gration) und einem ordnungsrechtlichen (Migrationskontrolle).      die Ministerien des Landes das Ob und Wie der Aufgabener-
Dieser Konflikt prägt die Flüchtlingspolitik auf Bundesebene       füllung grundsätzlich im Detail steuern können.
und setzt sich, da er dort institutionell nicht gelöst wird, als       Eine vom Land delegierte Pflichtaufgabe der Kommunen
ständiges Ringen um Kohärenz auf Ebene der Länder und              ist der Vollzug des Aufenthaltsrechts (siehe Kapitel 3.1). Ins-
Kommunen fort. Dies wird in den folgenden Kapiteln noch            besondere im Falle der Ablehnung eines Asylantrags stellen
des Öfteren deutlich werden.                                       kommunale Ausländerbehörden fest, ob Abschiebungshin-
                                                                   dernisse vorliegen und für wie lange ggf. eine „Duldung“, also
Bundesländer                                                       die Aussetzung einer Abschiebung, ausgestellt werden kann.
                                                                   Sie entscheiden auch darüber, ob Asylsuchende ihrer „Mitwir-
Bundesländer haben trotz der beschriebenen Regelungskom-           kungspflicht“, beispielsweise bei der Passbeschaffung, nachge-
petenz des Bundes erhebliche Spielräume in der Flüchtlings-        kommen sind. Erkennen sie hier Versäumnisse, kann etwa der
politik, sowohl in Fragen der gesellschaftlichen Teilhabe als      Zugang zu Arbeit, Ausbildung oder Studium versagt werden.
auch im primär aufenthaltsrechtlichen Bereich. Eine wichtige           Ein zweiter Komplex an Pflichtaufgaben umfasst die Ge-
aufenthaltsrechtliche Kompetenz ist, dass die obersten Lan-        währung sozialer Leistungen (siehe Kapitel 3.3), die Gesund-
desbehörden humanitäre Aufenthaltstitel vergeben können.           heitsversorgung (siehe Kapitel 3.4) und zumeist auch die
Dies erfolgt für konkrete Einzelfälle eigenständig über die        Unterbringung (siehe Kapitel 3.2). Hier agieren die Kommu-
Einsetzung von sogenannten Härtefallkommissionen und für           nen in direktem Auftrag der Länder. Bundesländer können
Gruppen in Abstimmung mit dem BMI (SVR 2012). Ferner               die Ausgabenausführung auch hier grundsätzlich sehr eng
führen sie die Fachaufsicht über die Ausländerbehörden der         steuern. Allerdings ergeben sich erhebliche Gestaltungsmög-
Kommunen, die für die Umsetzung des Aufenthaltsgesetzes            lichkeiten in der Praxis – einerseits im Zuge der Implementation
während und vor allem nach Beendigung des Asylverfahrens           andererseits durch die Überschneidung von Pflichtaufgabe
zuständig sind. Deren Entscheidungsspielraum können die            und freiwilliger Selbstverwaltungsaufgabe. Auch wenn bei-
Bundesländer über Landesaufnahmegesetze und Erlasse ein-           spielsweise die Standards einer Sammelunterkunft landessei-
schränken.                                                         tig vorgegeben werden, liegt es im Ermessen der Kommune,
    Daneben hat der Bund die Zuständigkeit für „Aufnahme,          ob sie noch während der Such- und Bauphase zivilgesell-
Unterbringung und Gewährung […] existenzsichernder Leis-           schaftliche Akteure einbezieht und/oder informiert. Dies kann
tungen“ (Müller 2013: 13) und damit vor allem für die Umset-       geboten erscheinen, da die Suche nach geeigneten Standor-
zung des AsylbLG an die Bundesländer delegiert. In der Pra-        ten oder die Entscheidung für ein zentrales oder dezentrales
xis reichen die meisten Bundesländer diese Aufgaben – mit          Unterbringungskonzept nicht selten die Bevölkerung ent-
Ausnahme der Erstaufnahme – ganz oder teilweise an die             zweien und zu intensiven, teils emotionalen Debatten in den
kommunale Ebene weiter und regeln diese durch Landesauf-           Gemeinderäten und Kreistagen führen können. Unterbrin-
nahmegesetze.                                                      gung und Versorgung sind somit ein Quell öffentlichen Drucks
                                                                   auf die örtliche Verwaltung, bei der aus Pflichtaufgaben di-
                                                                   rekter Handlungsdruck für das Initiieren freiwilliger Selbstver-
2.2 KOMMUNEN                                                       waltungsaufgaben erwachsen kann. Kommunalpolitische
                                                                   Konzepte zur Flüchtlingsarbeit sind daher häufig erweiterte
Möglich ist die Delegation von Aufgaben von Bundesland auf         Unterbringungskonzepte.
Kommune, da Kommunen staatsrechtlich gesehen keine eige-
ne föderale Ebene, sondern Teil des jeweiligen Bundeslandes        Pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben
sind (Wehling 2009: 9). Je nach Bundesland kann die Aufga-
benteilung zwischen Kommune und Land in der Flüchtlings-           Mehr Freiheit in der Umsetzung haben Kommunen im Rah-
politik unterschiedlich ausgestaltet sein. Die Spielräume der      men der „pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben“. Hier be-
Kommune lassen sich dabei nach drei Aufgabenarten unter-           steht eine Verpflichtung zum kommunalen Handeln. Zusätz-
scheiden, die sich auch in anderen Politikfeldern finden (grund-   lich sind Zielrichtung und Umsetzung der Maßnahmen durch
sätzlich dazu u. a. Bieker 2006; Dahme/Wohlfahrt 2013): wei-       Landesgesetze oder Verordnungen vorgegeben. Allerdings
sungsgebundene Pflichtaufgaben, pflichtige Selbstverwal-           sind Eingriffe in die Umsetzung per Weisung ausgeschlossen.
tungsaufgaben und freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben.               Im Rahmen der pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben
Um kommunalpolitisches Handeln in einem flüchtlingspolitisch       sind Kommunen unter anderem Träger von Grund-, Haupt-,
relevanten Feld – wie beispielsweise Bildung oder Sprache –        Berufs- und Volkshochschulen oder übernehmen Aufgaben
verstehen zu können, ist es ratsam, die im Folgenden skizzier-     der Jugendhilfe (siehe Kapitel 3.5). Dies ist unter anderem in-
ten drei Aufgabenarten im Hinterkopf zu behalten. Sie bieten       sofern relevant, als auch für Asylsuchende die Schulpflicht
auch das Raster für die Vorstellung der Handlungsfelder.

Weisungsgebundene Pflichtaufgaben                                  2 Neben dem Terminus der „weisungsgebundenen Pflichtaufgaben“
                                                                   existieren die Formulierungen „Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Wei-
                                                                   sung“ und „staatliche Auftragsangelegenheiten“. Diese implizieren jeweils
Besonders stark ist die formale Abhängigkeit der Kommune           ein leicht differierendes Verständnis der Aufgabenteilung, werden in die-
vom Land, wenn Aufgaben als „weisungsgebundene Pflicht-            ser Studie jedoch gemeinsam betrachtet.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG                                                                                                          8

im Primar- und Sekundarbereich I gilt (Weiser 2014). Wie die         auch die Einbindung von Wirtschaft und Zivilgesellschaft in
staatlichen Schulämter des Landes gemeinsam mit kommu-               die flüchtlingspolitische Strategie der Kommune. Die Kapitel
nalen Stellen diese Schulpflicht durch- und umsetzen, kann           3.6 bis 3.9 werden illustrieren, wie unterschiedliche Kommu-
sehr unterschiedlich sein: Werden Schüler_innen mit Flucht-          nen die freiwilligen Aufgaben interpretieren und welche
erfahrung beispielsweise in einem inklusiven Ansatz auf be-          Schwerpunkte gelegt werden.
stehende Klassen verteilt, oder werden gesonderte „Willkom-
mensklassen“ eingerichtet? Ähnliches gilt für Maßnahmen              Die vierte Ebene? Interaktion zwischen Landkreis und
der Jugendhilfe: Werden spezielle Angebote für Asylsuchen-           kreisangehöriger Gemeinde
de geschaffen, oder werden bestehende Einrichtungen für
Flüchtlinge geöffnet? Bestehen Kooperationen mit Akteuren            Dieses Kapitel wirbt für eine stärkere Differenzierung der
aus den Bereichen der weisungsgebundenen Pflichtaufgaben             Aufgabenarten, die der Kommune zufallen. Dabei sollte aber
und der freiwilligen Aufgaben? In solchen Fragen spiegelt            nicht übersehen werden, dass Kommune nicht gleich Kom-
sich die Diskussion um eine interkulturelle Öffnung kommu-           mune ist. Zum Teil unterscheiden sich die Kommunen erheb-
naler Einrichtungen. Diese Debatte ist für kommunale Inte-           lich in Größe und Zuschnitt. Spricht man über kommunale
grationspolitik geradezu paradigmatisch und wird je nach             Flüchtlingspolitik, so verbergen sich dahinter sowohl große
Standort bereits unterschiedlich lange, unterschiedlich inten-       kreisfreie Städte als auch Landkreise, kreisangehörige Städte
siv und mit unterschiedlichem Ausgang geführt (dazu u. a.            und kleine Gemeinden. In den folgenden Kapiteln wird deut-
Reichwein und Rashid 2012).                                          lich werden, dass besonders die Interaktion zwischen Land-
    Die Grenze zwischen Pflichtaufgabe und freiwilliger Leis-        kreis und kreisangehöriger Gemeinde faktisch eine weitere
tung der Kommune ist im Bereich pflichtiger Selbstverwal-            Ebene im Mehrebenensystem der Flüchtlingspolitik bedeuten
tungsaufgaben noch schwerer zu ziehen als im Bereich der             kann – mit ähnlichen Konflikten wie zwischen Land und der
weisungsgebundenen Pflichtaufgaben. So kann beispielswei-            „ersten“ kommunalen Ebene. Die Aufgabenteilung zwischen
se die Einrichtung einer Stelle für die sozialpädagogische Be-       Landkreis und kreisangehöriger Gemeinde kann dabei sehr
gleitung von schulpflichtigen Asylsuchenden einerseits als           unterschiedlich sein und hängt stark von der Einwohnerzahl
notwendige Maßnahme zur Durchsetzung der Schulpflicht                der Gemeinde ab. Gerade größere kreisangehörige Städte ste-
begründet werden. Sie kann aber auch als freiwillige Leis-           hen häufig in einer Art Konkurrenzsituation zum Landkreis.
tung zur Steigerung der Teilhabechancen dieser Zielgruppe
begriffen werden.                                                    Unterschiede zwischen Stadt und Land

Freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben                                Neben der Differenzierung nach unterschiedlichen adminis-
                                                                     trativen Zuschnitten lassen sich auch weitere strukturelle Un-
Den größten Gestaltungsspielraum haben Kommunen im Be-               terschiede zwischen Kommunen ausmachen. Besonders
reich der „freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben“. Hier kann        wichtig für das Verständnis der kommunalen Praxis ist die
lokale Politik entscheiden, ob sie überhaupt tätig wird und wie      Differenzierung zwischen Städten und ländlich geprägten
sie dabei vorgeht. Die Landesministerien wachen lediglich            Kommunen. So erreicht die Anzahl der Asylsuchenden in Mit-
über die Einhaltung bestehender Gesetze.                             tel- und Großstädten schneller eine kritische Masse. Auch
    Unter die freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben fällt           die Entfernung zwischen Unterkünften und Angeboten ist
beispielsweise, ob Deutschkurse oder Migrationsberatungs-            kürzer als auf dem Land. Außerdem haben Städte in der Re-
stellen auch für Asylsuchende mit unklarer Bleibeperspektive         gel häufig lange und kontinuierliche Erfahrung mit den The-
bereitgestellt werden (siehe Kapitel 3.6). Die Kommune hat           men Migration und Integration und verfügen meist über ge-
in einem solchen Fall keinen Anspruch darauf, die benötigten         wachsene institutionelle Strukturen – manifestiert etwa im
Mittel vom Bund oder vom Land zu erhalten, denn zumin-               Amt eines kommunalen Integrationsbeauftragten oder in
dest die bundesgeförderten Maßnahmen (§§ 43–44 Auf-                  der regelmäßigen Erhebung statistischer Daten zur Bevölke-
enthG) stehen bislang nur Personen mit einer „guten Blei-            rung mit Migrationshintergrund. Auch zivilgesellschaftliche
beperspektive“ offen. Dies gilt auch für bundesgeförderte            Initiativen der Integrations- und Flüchtlingsarbeit sowie
Projekte zur Herstellung des gesellschaftlichen Zusammen-            Migrantenorganisationen sind in großen Städten zahlreicher
halts vor Ort, also beispielsweise Begegnungsprojekte zwi-           und kontinuierlicher präsent. Ihre Interessenartikulation ist
schen Einheimischen und Asylsuchenden. Die Landesregierun-           meist über Integrationsbeiräte oder runde Tische institutio-
gen können hier zwar Anreize schaffen, indem Landesmittel            nalisiert. All dies sorgt für eine kontinuierliche Präsenz des
zur Verfügung gestellt werden, sie sind dazu aber nicht ver-         Themas Migration in der Stadtpolitik, an die in der Flücht-
pflichtet. Aumüller (2009: 115) betont daher die häufig prak-        lingspolitik, die von starken Schwankungen gekennzeichnet
tizierte, pragmatische Nutzung europäischer Fördergelder             ist, angeknüpft werden kann. In ländlicheren Regionen ver-
durch Kommunen seit Ende der 1990er Jahre. Die Beispiele             schwindet das Thema Migration dagegen häufig für längere
in Kapitel 3.6 zeigen, aus welch unterschiedlichen Finanzie-         Zeit von der Agenda und wird in Zeiten großer (Flucht-)Zu-
rungsquellen sich gerade die Sprachförderung speist.                 wanderung jeweils wieder neu als lokalpolitisches Thema
    Art und Umfang der freiwilligen Leistungen einer Kommu-          „entdeckt“. Diese strukturellen Unterschiede zwischen Stadt
ne hängen besonders stark von der kommunalen Finanzlage              und Land führen dazu, dass man sowohl für die Erledigung
ab. Doch mindestens ebenso entscheidend ist der kommunal-            von Pflichtaufgaben als auch für die Initiierung freiwilliger
politische Wille, in dem Feld tätig zu werden. Dies betrifft nicht   Aufgaben unterschiedliche Erfahrungs- und Handlungskon-
nur eine Umverteilung von Mitteln, sondern beispielsweise            texte annehmen muss.
KOMMUNALE FLÜCHTLINGSPOLITIK IN DEUTSCHLAND                                                                                   9

3

HANDLUNGSFELDER
KOMMUNALER FLÜCHTLINGS-
POLITIK

3.1 VOLLZUG DES AUSLÄNDERRECHTS                                 gar den Sachbearbeitenden – überlassen, die Auslegung des
                                                                Bundesgesetzes und der landesgesetzlichen Bestimmungen
Das eigentliche Asylverfahren ist im Asylgesetz (AsylG) gere-   vorzunehmen. Empirische Studien zeigen, dass diese Delega-
gelt und wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge       tionskette dazu führt, dass die aufenthaltsrechtliche Praxis in
durchgeführt (siehe Kapitel 2). Doch für nahezu alle anderen    Deutschland erheblich variiert (Ellermann 2009; Eule 2014).
ausländerrechtlichen Fragen im Alltag der Geflüchteten wäh-     Eule argumentiert, dass die Entscheidungsfindung der Sach-
rend und nach dem Verfahren gelten das Aufenthaltsgesetz        bearbeitenden neben dem Gesetzestext weitere Quellen
(AufenthG) und damit zusammenhängende Gesetze und Ver-          habe: den organisatorischen Kontext der Behörde, die politi-
ordnungen. Diese führen die Länder in weiten Teilen als ei-     sche Lobbyarbeit durch externe Akteure wie Flüchtlingshilfs-
gene Angelegenheit aus und betreiben dafür Ausländerbe-         organisationen sowie die Orientierung an der Auslegungs-
hörden. Dabei kann die „Landesregierung oder die von ihr        praxis von Kolleg_innen. In der Konsequenz wird, etwas
bestimmte Stelle [bestimmen], dass für einzelne Aufgaben        überspitzt ausgedrückt, das Aufenthaltsrecht vor Ort neu ge-
nur eine oder mehrere bestimmte Ausländerbehörden zu-           schrieben.
ständig sind“ (§ 71 Abs. 1 AufenthG). In der Regel sind Aus-        Trotz dieser Bedeutung der Ausländerbehörden für die
länderbehörden direkt Kreisen, kreisfreien Städten oder auch    kommunale Flüchtlingspolitik ist die Ansicht weit verbreitet,
größeren kreisangehörigen Städten zugeordnet. Sie sind also     dass sich aufenthaltsrechtliche Belange nicht in kommunaler
meist kommunale Behörden, die ihre Aufgaben als weisungs-       Verantwortung befänden. Dies zeigt sich auch mit Blick auf
gebundene Pflichtaufgaben ausführen.                            einschlägige Umfragen zur Situation der Kommunen während
    Vor diesem Hintergrund lässt sich festhalten, dass in der   der Flüchtlingszuwanderung des Jahres 2015/16, bei denen
Praxis nahezu alle aufenthaltsrechtlichen Regelungen, die       die Aufgaben der Ausländerbehörde weder in den Fragebö-
Ausländer_innen jenseits der Asylentscheidung direkt oder       gen auftauchen noch durch die Kommunen gesondert als
indirekt betreffen, in einer kommunalen Behörde umgesetzt       Handlungsfeld oder Herausforderung benannt wurden (z. B.
werden. Dies betrifft etwa Entscheidungen über die Verlän-      Gesemann/Roth 2016; vhw 2016).
gerung oder Verfestigung von Aufenthaltstiteln, aber auch
die Verpflichtung zu Integrationskursen des Bundes, die Mit-    Beispiel: Projekt für geduldete Jugendliche in Köln
wirkung bei Visaerteilungen zum Familiennachzug, zur Ar-
beitsaufnahme oder die Zuständigkeit für Einbürgerungen.        Nichtsdestotrotz füllen einige Ausländerbehörden ihre Rolle
Die Ausländerbehörde muss aber teilweise auch beteiligt         aktiv und durchaus strategisch aus. Besonders offensiv und
werden, wenn Asylsuchende eine Arbeit oder ein Studium          öffentlichkeitswirksam geht die Ausländerbehörde Kölns mit
aufnehmen wollen. Diagnostiziert eine Behörde Verstöße ge-      ihren eigenen Gestaltungsspielräumen um. Sie interpretiert
gen die „Mitwirkungspflicht“ der Geflüchteten – beispiels-      ihr Aufgabenspektrum sehr weit und beansprucht eine akti-
weise bei der Passbeschaffung – kann ein Arbeits- oder Stu-     ve Rolle in der Integrationsarbeit. Ein Beispiel ist die Ausle-
dienverbot ausgesprochen werden.                                gung des § 25a AufenthG. Dieser sieht vor, dass geduldeten
                                                                Jugendlichen eine reguläre Aufenthaltserlaubnis ausgestellt
Unterschätzte Gestaltungsspielräume                             werden kann, wenn sie sich vier Jahre ununterbrochen legal
                                                                in Deutschland befinden und bestimmte Integrationsleistun-
Da das Ausländerrecht Deutschlands zahlreiche unbestimm-        gen nachweisen. Darunter fällt insbesondere eine schulische
te Rechtsbegriffe und Ermessensspielräume beinhaltet, die       oder/und berufliche Ausbildung, aber auch eine wesentlich
das zuständige Landesministerium nicht vollständig durch        unbestimmtere Formulierung. So muss die Ausländerbehörde
Landesgesetze und Weisungen konkretisieren kann (oder will),    beurteilen, ob „es gewährleistet erscheint, dass [der Gedul-
bleibt es den lokalen Ausländerbehörden – und oftmals so-       dete] sich auf Grund seiner bisherigen Ausbildung und Le-
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG                                                                                                        10

bensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepu-        rechtlichen Regelungen aus. Zwar existieren einige entspre-
blik Deutschland einfügen kann“ (§25a Abs. 1 Nr. 4 AufenthG).     chende Gremien, insbesondere der bundesweite Erfahrungs-
Die Konkretisierung dieser Bestimmungen erfolgt in der Aus-       austausch der Ausländerbehörden großer Städte. Allerdings
länderbehörde Köln, wie in zahlreichen anderen Kommunen           ist dies keineswegs der Regelfall. Gerade bei Landkreisen
auch, im Wesentlichen über die Feststellung eines Schulab-        und kleineren Städten scheint der Wille, voneinander zu ler-
schlusses, zu dem wiederum Sprachkenntnisse als notwendi-         nen, geringer ausgeprägt zu sein als in anderen Bereichen
ge Voraussetzung angesehen werden (Stadt Köln 2014). Um           der Flüchtlingspolitik. Das gilt gerade für die freiwilligen Auf-
diese zu erreichen, hat die Ausländerbehörde Köln erfolgreich     gaben. Dort gehen beispielsweise Integrationsbeauftragte
Drittmittel eingeworben, mit denen Jugendintegrationskurse        häufig regionale, landes- oder sogar bundesweite Koopera-
und Maßnahmen zur Überleitung in Berufskollegs finanziert         tionen ein. Zwar lässt sich keine abschließende Aussage da-
werden können. Die Behörde spricht Jugendliche, die auf-          rüber treffen, woher diese Zurückhaltung der Ausländerbe-
grund ihrer Aufenthaltsdauer grundsätzlich infrage kommen,        hörden rührt. Allerdings wird in Einzelgesprächen unter an-
gezielt an und versucht, sie gemeinsam mit Kooperations-          derem eine als zu hoch empfundene Arbeitsbelastung durch
partner_innen an einen Punkt zu bringen, an dem sie die           Alltagsaufgaben als Grund angegeben. Darüber hinaus scheint
Voraussetzungen des §25a AufenthG erfüllen. Damit erreicht        in manchen Kommunen die interkommunale Varianz auslän-
die Behörde nicht nur ihre explizit formulierten, integrations-   derrechtlicher Praxis wenig bekannt und somit das Problem-
politischen Ziele, sondern implizit auch ganz pragmatische,       bewusstsein wenig entwickelt zu sein.
auf die eigenen Abläufe bezogene Vereinfachungen: Schließ-
lich müssen auch Geduldete, die auf absehbare Zeit nicht ab-      Komplexitätsdichte vor Ort nimmt zu
schiebbar sind, spätestens alle drei Monate ihre Duldung ver-
längern lassen. Dies verursacht Verwaltungsaufwand in den         Auch ohne kontinuierlichen Austausch besteht unter kom-
Ausländerbehörden, der durch die Überführung in einen re-         munalen Ausländerbehörden jedoch meist Einigkeit darü-
gulären Aufenthalt im Rahmen des Projektes perspektivisch         ber, dass ihr Aufgabenspektrum in den letzten Jahren deut-
deutlich vermindert wird. Durch das Projekt kombiniert die        lich gewachsen ist. Dies ging auch mit einer vergrößerten
Ausländerbehörde Kölns die Pflichtaufgaben mit zusätzlichen       Anzahl an Ermessensspielräumen einher. Selbst bundesge-
freiwilligen Aufgaben. Dies ist in der lokalen Fachdebatte,       setzliche Regelungen, die während der „Flüchtlingskrise“ des
gerade bei „klassischen“ Integrationsakteuren, nicht immer        Jahres 2015/16 erlassen wurden und eigentlich das Ziel ei-
unumstritten. Doch es zeigt, dass Ausländerbehörden keines-       ner Beschleunigung bürokratischer Vorgänge hatten, haben
wegs nur als restriktive Erfüllungsgehilfen des Landes gese-      eher für steigende Komplexität bei der Aufgabenwahrneh-
hen werden müssen.                                                mung vor Ort gesorgt. Beispielsweise bedeutet die Verkür-
                                                                  zung der maximalen Geltungsdauer einer Duldung von
Gewandeltes Selbstverständnis?                                    sechs auf drei Monate (§ 60a Abs. 1 AufenthG) in der Praxis,
                                                                  dass bei langfristig Geduldeten doppelt so viele Vorsprachen
Auf welche Weise eine Ausländerbehörde ihren Ermessens-           anfallen müssten. Einige Ausländerbehörden berichteten uns
spielraum nutzt, hat auch viel mit ihrem Selbstverständnis        jedoch in Hintergrundgesprächen, dass sie diese Regelung
zu tun. Sahen sich Ausländerbehörden bis zum Zuwande-             in ihrer Praxis bislang nicht umsetzen. Auch das im Sommer
rungsgesetz 2005 nahezu ausschließlich als Ordnungsbe-            2016 vom Bundestag verabschiedete „Integrationsgesetz“
hörden, hat sich dies mit einem um Integrationsaufgaben           enthält Passagen, die deutliche Mehrarbeit für die Auslän-
erweiterten Aufgabenspektrum geändert. Hinzu kommt die            derbehörden erwarten lassen. So sollen anerkannte Flücht-
Wahrnehmung von Ausländerbehörden als „Visitenkarte“              linge künftig nicht mehr nach drei Jahren, sondern erst nach
einer Kommune gegenüber neu zuwandernden Fachkräften              frühestens fünf Jahren und bei Vorliegen von Integrations-
(SVR 2011). Dieser gewandelte Blick auf die eigenen Aufga-        leistungen eine unbefristete Niederlassungserlaubnis erhal-
ben führte in einigen Kommunen zu Prozessen der Organi-           ten. Für die Ausländerbehörden bedeutet dies erstens, dass
sationsentwicklung, so beispielsweise in München, Freiberg        sie länger mit Menschen zu tun haben, die bei jedem Be-
(Sachsen) oder auch im Landkreis Düren (NRW). Die Ent-            such in der Ausländerbehörde hoch emotionalisiert sind
wicklung von Ausländerbehörden zu einem „Service-Center“          und eine Ausweisung befürchten. Zweitens müssen sie auf-
oder gar einer „Willkommensbehörde“ wurde zudem in                wändig prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Niederlas-
den letzten Jahren durch bundesweite Modellvorhaben               sungserlaubnis vorliegen. Dies geht erneut mit Ermessens-
(BAMF 2015; Ramm 2012), aber auch auf Initiative von Bun-         spielräumen einher.
desländern (z. B. gemeinsames Projekt von Rheinland-Pfalz             Vor diesem Hintergrund spricht vieles dafür, dass der kom-
und Niedersachsen) verstärkt. Die beteiligten Ausländer-          munalen Ausländerbehörde auch weiterhin große Bedeutung
behörden suchen meist intensiv den Kontakt zu anderen             zukommt. Trotz vereinzelter Harmonisierungsbemühungen
Kooperationspartner_innen vor Ort. Der Fokus lag dabei in         wird dies vermutlich mit einer ungebrochen breiten Varianz
den vergangenen Jahren auf der Zuwanderung von Fach-              ausländerrechtlicher Praxis einhergehen.
kräften, eine verstärkte Kooperationsbereitschaft ist aber
auch in der aktuellen Situation bezogen auf Geflüchtete
feststellbar.                                                     3.2 UNTERBRINGUNG
    Im Gegensatz zu solchen überregionalen und eher strate-
gischen Vorhaben tauschen sich Ausländerbehörden nur              Mit der Weiterverteilung der Geflüchteten aus den Erstauf-
punktuell über Auslegungsfragen zu bestimmten ausländer-          nahmeeinrichtungen wechselt die Zuständigkeit für die Un-
KOMMUNALE FLÜCHTLINGSPOLITIK IN DEUTSCHLAND                                                                                                           11

terbringung auf die kommunale Ebene. 3 Durch Bundes- und                      rade in Ballungsräumen häufig der Fall ist, werden sie nach
Landesgesetz sind die Kommunen verpflichtet, die ihnen zu-                    einem landkreisinternen Schlüssel auf die Städte und Ge-
gewiesenen Flüchtlinge aufzunehmen, unterzubringen und                        meinden verteilt, die eine „Anschlussunterbringung“ zur Ver-
zu versorgen, wofür sie auf unterschiedliche Weise vom Land                   fügung stellen. Dieser Zuständigkeitswechsel kann einen
finanzielle Erstattungen erhalten (siehe Kapitel 3.10). Ausnah-               Ortswechsel gegen den Willen der Geflüchteten (und oft
men bilden die Stadtstaaten Berlin und Hamburg, wo auch                       auch der örtlichen Unterstützerkreise) bedeuten und erste
für die weitere Unterbringung und Versorgung die Landesre-                    Integrationsschritte gefährden. Die meisten Kreise bemühen
gierung verantwortlich bleibt, sowie Bayern, wo die Verant-                   sich, dies in Zusammenarbeit mit ihren Gemeinden zu ver-
wortlichkeit (zunächst) bei den Regierungsbezirken liegt (Au-                 meiden – was jedoch nicht immer gelingt (Gemeindetag
müller et al. 2015: 22; zu Bayern siehe STMAS 2016).                          Baden-Württemberg 2015: 5–6).
    Welche Kommune wie viele Flüchtlinge erhält, regeln die
Länder in eigenen Gesetzen oder Verordnungen, zumeist                         Sammelunterkünfte vs. dezentrale Unterbringung
orientiert sich der Verteilungsschlüssel ausschließlich an der
Einwohnerzahl (eine tabellarische Übersicht der Landesrege-                   Eine dezentrale Unterbringungspraxis – hier verstanden als
lungen findet sich bei Geis/Orth 2016: 7). Bei der Zuweisung                  (private) Wohneinheiten, die sich möglichst breit im Kreis-
von Flüchtlingen haben weder diese selbst noch die Kommu-                     und Stadtgebiet verteilen – wird im wissenschaftlichen Dis-
nen ein Mitspracherecht. Die Unterbringung und Versorgung                     kurs, von Flüchtlingsräten und Integrationsfachleuten nahezu
wird ihnen als Pflichtaufgabe zur Erfüllung nach Weisung                      einhellig als erstrebenswerte Option gesehen (Wendel 2014;
(siehe Kapitel 2) übertragen. Teilweise erfragen die Landes-                  Köhnke 2014; Flüchtlingsrat Brandenburg 2016; Diakonie
behörden jedoch vorab die Kapazitäten und Wünsche der                         Deutschland 2014). Humanitäre und integrationspolitische
Kommunen und richten die Zuweisungen (z. B. in Bezug auf                      Überlegungen gehen mit finanziellen Argumenten Hand in
Familiengröße und Umzugszeitpunkte) daran aus. Dies be-                       Hand, denn tendenziell ist eine dezentrale Unterbringung
richtet beispielsweise die zuständige Sachgebietsleiterin von                 auch die kostengünstigere Variante (Aumüller et al. 2015:
Brandenburg an der Havel. Die Zuweisungen durch das Land                      41–43). 4 Dennoch gibt es unter landes- und kommunalpoliti-
Brandenburg erfolgen dort in der Regel nach „Freimeldung“                     schen Entscheidungsträger_innen nach wie vor unterschiedli-
durch die Kommune. Auch, ob Einzelpersonen oder Familien                      che Überzeugungen und Ansätze. Als Argumente für größere,
kommen, wird zwischen Stadt und Land abgestimmt.                              zentrale Gemeinschaftsunterkünfte (GU) werden die bessere
    In der Mehrzahl der Bundesländer ist nur eine kommuna-                    Erreichbarkeit für die Sozialbetreuung, eine leichtere Orientie-
le Verwaltungsebene für die weitere Unterbringung zustän-                     rung im „geschützten Raum“ (Schöbe 2016) und eine (ange-
dig: In Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen werden die                      nommene) Überforderung mancher Flüchtlinge mit dem
Flüchtlinge direkt den Gemeinden zugewiesen, in neun wei-                     selbstständigen Wohnen gesehen (Aumüller et al. 2015: 35–
teren Ländern geht die Zuständigkeit auf die Landkreise und                   38). Bisweilen besteht das Hauptargument für Sammelunter-
kreisfreien Städte über und verbleibt dort. In Ermangelung                    künfte aber schlicht darin, dass die Gebäude – infolge der
einer eigenen Gemarkung bringen natürlich auch die Land-                      Unterbringungspraxis der 1980er und 1990er Jahre – „nun
kreise die Menschen in Städten und Gemeinden unter. Diese                     einmal da sind und dafür auch gebaut wurden“. 5
haben aber keine formelle Zuständigkeit für die Unterbrin-
gung, Versorgung oder Sozialbetreuung der Geflüchteten.                       Was sagt das Asylgesetz? Gemeinschaftsunterkünfte
Hier entsteht bisweilen eine Diskrepanz zwischen faktischer                   als Soll-Vorschrift
Betroffenheit der Gemeinde, deren Mitarbeitende Schwierig-
keiten vor Ort zum Teil direkt rückgemeldet bekommen, und                     Im Asylgesetz heißt es in § 53 Abs. 1: „Ausländer, die einen
formeller Zuständigkeit der Landratsämter.                                    Asylantrag gestellt haben und nicht oder nicht mehr verpflich-
    In Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein werden                        tet sind, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, sollen in
Asylbewerber_innen zunächst auf die Landkreise verteilt,                      der Regel in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht wer-
später geht die Verantwortlichkeit für die Unterbringung auf                  den. Hierbei sind sowohl das öffentliche Interesse als auch
die kreisangehörigen Gemeinden über. In Baden-Württem-                        Belange des Ausländers zu berücksichtigen.“ Weitere Rahmen-
berg endet die sogenannte vorläufige Unterbringung durch                      bedingungen, z. B. Mindeststandards, wie eine Unterkunft
die Kreise mit der Anerkennung oder nach spätestens zwei                      beschaffen sein soll, werden vom Gesetz nicht definiert. Die
Jahren. Danach dürfen und sollen sich die Flüchtlinge eine ei-                meisten Bundesländer haben daher Aufnahmegesetze erlas-
gene Wohnung (bei Bedarf finanziert durch die Jobcenter                       sen, in denen die Verteilung, Unterbringung und Versorgung
nach den Regeln des SGB) suchen. Gelingt das nicht, was ge-                   von Geflüchteten näher geregelt wird. 6 Dabei schreiben eini-
                                                                              ge Länder die (zumindest vorläufige) Unterbringung in GU
                                                                              vor, andere machen dahingehend keine Vorgaben.
3 Im Laufe des Jahres 2015 wurden zahlreiche neue, landesbetriebene
Erstaufnahmeeinrichtungen (EAE) eingerichtet. Das heißt in einer gewach-
senen Zahl von Kommunen befindet sich eine große Anzahl von Flüchtlin-
                                                                              4 Dies gilt allerdings nicht pauschal, sondern hängt von verschiedenen
gen, die voraussichtlich nur zwischen einigen Tagen und einigen Monaten
                                                                              Faktoren ab. Insbesondere in Städten mit angespanntem Wohnungsmarkt
vor Ort bleiben. Auch wenn die Kommunen für die Erstunterbringung in
                                                                              dürfte die Kalkulation anders ausfallen. Näheres bei Aumüller et al. (2015:
den landeseigenen EAE nicht zuständig sind, leben ihre Bewohner_innen
                                                                              41–43).
vorübergehend in der jeweiligen Stadt oder Gemeinde, werden zur Ziel-
gruppe von ehrenamtlichem Engagement und nutzen ggf. kommunale In-            5   So eine baden-württembergische Entscheidungsträgerin im Interview.
frastruktur. Dies kann eine faktische Herausforderung sein, der Fokus liegt   6 Mit Ausnahme von Berlin und Hamburg. Dort existieren Verordnun-
hier jedoch auf der kommunalen Unterbringung.                                 gen und Durchführungsvorschriften.
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