AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - POLITISCHE BILDUNG - BPB
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70. Jahrgang, 14–15/2020, 30. März 2020 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Politische Bildung Anja Besand Matthias Busch ZUM UMGANG DEMOKRATIELERNEN MIT RECHTSPOPULISMUS IN DER WEIMARER REPUBLIK IN DER INSTITUTION SCHULE Andrea Szukala Michael Wrase ZUR MORAL- UND WIE POLITISCH DÜRFEN BÜRGERKUNDE LEHRKRÄFTE SEIN? IN FRANKREICH Wolfgang Sander Sérgio Costa BILDUNG: ZUR AKTUALITÄT POLITISCHE BILDUNG EINER TRADITIONSREICHEN NACH DEM RECHTSRUCK LEITIDEE IN BRASILIEN Hendrik Cremer · Mareike Niendorf BILDUNGSAUFTRAG MENSCHENRECHTE ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Politische Bildung APuZ 14–15/2020 ANJA BESAND MATTHIAS BUSCH ZUM UMGANG MIT RECHTSPOPULISMUS DEMOKRATIELERNEN IN IN DER INSTITUTION SCHULE DER WEIMARER REPUBLIK Die Konjunktur rechtspopulistischer Ideen In der Weimarer Republik entwickelte sich hat die politische Bildung in den vergangenen eine demokratieadäquate politische Bildung Jahren vor Herausforderungen gestellt. Wie kann mit vielfältigen Praktiken und professionellen politische Bildung in der Schule auf die steigende Standards. Ihre Rekonstruktion erschließt Aggressivität, sprachliche Enthemmung und vergessene Alternativen und Lösungsvarianten Polarisierung der Auseinandersetzung reagieren? zu strukturellen Problemen politischer Bildung. Seite 04–09 Seite 28–34 MICHAEL WRASE ANDREA SZUKALA WIE POLITISCH DÜRFEN LEHRKRÄFTE SEIN? ZUR MORAL- UND BÜRGERKUNDE Das Erstarken rechtspopulistischer und rechts- IN FRANKREICH extremer Kräfte macht auch vor Schulen nicht In Frankreich ist die Moral- und Bürgerkunde halt. Um gegen Einschüchterungen gewappnet wieder auf die schulpolitische Agenda gerückt. zu sein, müssen sich Lehrer*innen auf einen Die entsprechenden Diskurse und Transfor- rechtlichen Handlungsrahmen verlassen können, mationen des Programms spiegeln die Brüche der ihnen eine klare Orientierung bietet. wider, die die französische Gesellschaft in den Seite 10–15 vergangenen zwei Jahrzehnten durchlief. Seite 35–40 WOLFGANG SANDER BILDUNG: ZUR AKTUALITÄT SÉRGIO COSTA EINER TRADITIONSR EICHEN LEITIDEE POLITISCHE BILDUNG NACH Die Leitidee der Bildung ist ein kulturelles Erbe DEM RECHTSRUCK IN BRASILIEN der Menschheit und mit der Vorstellung von Unter dem Vorwand einer Initiative für eine un- der Bildsamkeit, Unverfügbarkeit, Freiheit und parteiische Schule wird in Brasilien der Weg zu Würde aller Menschen verknüpft. Dieses Erbe einer politischen Bildung geebnet, die autoritäre bietet auch heute für die normative Grundlegung und marktradikale Ideologien verbreiten soll. von politischer Bildung fruchtbare Perspektiven. Die Regierung Bolsonaros hat sich die Interessen Seite 16–21 der Bewegung faktisch zu eigen gemacht. Seite 41–45 HENDRIK CREMER · MAREIKE NIENDORF BILDUNGSAUFTRAG MENSCHENRECHTE Grund- und Menschenrechte geben wesentliche Inhalte und Maßstäbe für politische Bildung vor. Dabei gehört zum Auftrag schulischer und außerschulischer Bildung, auch rassistische und rechtsextreme Positionen von Parteien kritisch zu thematisieren und ihre Auswirkungen aufzuzeigen. Seite 22–27
EDITORIAL Die Konjunktur rechtspopulistischer Ideen und die zunehmend offen vorgetra- genen menschenfeindlichen und revisionistischen Einstellungen haben die politi- sche Bildung in den vergangenen Jahren vor wachsende Herausforderungen gestellt. Was bedeutet die Verschärfung der gesellschaftspolitischen Debatten für Lehrende in Schulen und außerschulischen Bildungseinrichtungen? Wie können und sollen sich Pädagoginnen und Pädagogen zu gesellschaftlichen und politischen Konfliktlagen positionieren? Wann ist Zurückhaltung geboten? Und wann gilt es, eine klare Haltung für oder gegen etwas zu zeigen? Mit den Grund- und Menschenrechten, dem Beamtenrecht sowie den Schulgesetzen aller Bundesländer existiert ein juristischer Handlungsrahmen, der (partei)politische Werbung sowie Indoktrination ausschließt und der politi- schen Bildung zugleich vielfältige Handlungsperspektiven für den Umgang mit rassistischen und populistischen Positionen eröffnet – auch wenn diese in oder von Parteien vertreten werden. Er basiert auf unverhandelbaren, normativen Grundsätzen wie der Menschenwürde, der Meinungsfreiheit und der freiheit- lich-demokratischen Ordnung. Eine wohlfeile Forderung nach vollständiger „Neutralität“ von Lehrenden ist damit nicht in Einklang zu bringen, ein Neut- ralitätsgebot dieser Lesart ein Mythos. Über den Bereich der Rechtsetzung und -sprechung hinaus ist die Frage, mit welchen didaktischen Leitprinzipien, Konzepten und Praktiken Menschen zur Teilhabe an einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft befähigt wer- den können, weder neu noch auf Deutschland beschränkt. Um pädagogisches Handeln auch bei gesellschaftspolitischer Polarisierung zu ermöglichen, müssen Lehrende gegen etwaige Einschüchterungen gewappnet sein. Denn in Schulen und außerschulischen Bildungsinstitutionen werden nicht allein Fähigkeiten, Wissensbestände und Werte vermittelt, sondern zugleich die Grundlagen unse- res zukünftigen Zusammenlebens ausgehandelt. Frederik Schetter 03
APuZ 14–15/2020 POLITISCHE BILDUNG UNTER DRUCK Zum Umgang mit Rechtspopulismus in der Institution Schule Anja Besand Über die Frage, wie die politische Bildung auf litische Kraft nicht nur, aber auch in der Bundes- die Herausforderungen reagieren soll, die sich republik überhaupt als Problem oder Heraus- im Kontext des neu erstarkten Rechtspopulis- forderung der politischen Bildung beschrieben mus in Deutschland ergeben, ist in den vergan- werden? Müssen rechtspopulistische Positio- genen Jahren viel geschrieben worden.01 Die Per- nen angesichts der nicht unerheblichen Zustim- spektive dieser Beiträge ist meist darauf gerichtet, mung, die sie erfahren, nicht vielmehr auch in durch eine genauere Bestimmung von Problem- Bildungskontexten als relevante politische Posi- lagen Handlungsperspektiven abzuleiten.02 Diese tionen neben anderen thematisiert werden? Sind bleiben im Regelfall allerdings sehr allgemein und Lehrkräfte im Bereich der politischen Bildung werden institutionell nicht verortet. Einigkeit be- nicht geradezu verpflichtet, sie als gleichberech- steht dabei darüber, dass der politischen Bildung tigte Positionen in ihren Unterricht zu integrie- im Kontext gegenwärtiger Herausforderungen ren? Nicht wenige Lehrerinnen und Lehrer stel- eine zentrale und förderungswürdige Aufgabe len sich diese Fragen. Eine Antwort darauf zu zukommt. Zugleich ist keineswegs klar, wie die- entwickeln, fällt vielen schwer. Denn es lässt sich se Aufgabe konkret zu verwirklichen wäre.03 Wie nicht leugnen, dass diese Positionen in der Öf- kann und soll politische Bildung in der Schule auf fentlichkeit virulent sind, großen Raum einneh- die steigende Aggressivität, inhaltliche Verrohung men und von und innerhalb von Parteien ver- und extreme Polarisierung der politischen Aus- treten werden, die in Parlamenten präsent und einandersetzung reagieren, die in jüngster Zeit nicht verboten sind. Zugleich muss allerdings zu beklagen ist? In welcher Weise ist die Schu- auch festgehalten werden, dass sich im Zuge des le von diesen Phänomenen selbst betroffen? Wie Erstarkens rechtspopulistischer Bewegungen in kann und sollte sie sich als staatliche Institution ganz Europa Tendenzen einer Entgrenzung öf- zu gesellschaftlichen und politischen Konfliktla- fentlicher Kommunikation beobachten lassen, gen positionieren, und welche Herausforderun- die fremdenfeindliche Ressentiments, nationa- gen ergeben sich in diesem Zusammenhang? listisch-völkische Konzepte und – insbesonde- Diese Fragen sind der Ausgangspunkt für den re in Deutschland – auch die Relativierung der vorliegenden Beitrag. Im Hinblick auf die Ar- Verantwortung für die Verbrechen des Natio- gumentationsführung ergeben sich vier zentrale nalsozialismus nach sich ziehen.04 Schritte, in denen die Problemlage, ihre sichtba- Die schiere Existenz menschenfeindlicher, ren Auswirkungen in der Institution Schule so- rassistischer und revisionistischer Vorstellungen wie das Verhalten der Lehrerinnen und Lehrer auch in der Mitte der deutschen Gesellschaft ist in der Blick genommen werden und schließlich nicht neu. Sie ist aus einschlägigen Forschungen diskutiert wird, welche Schwierigkeiten und wie der von dem Bielefelder Sozialwissenschaft- Handlungsperspektiven sich im Hinblick auf den ler Wilhelm Heitmeyer geleiteten Langzeitstudie Umgang mit rechtspopulistischen Herausforde- „Deutsche Zustände“ oder den „Mitte-Studien“ rungen in der Schule ergeben. bereits seit geraumer Zeit bekannt.05 Durch das Erstarken rechtspopulistischer Akteure verla- WAS IST gern sich diese Einstellungen und Äußerungen DAS PROBLEM? als konkrete politische Forderungen in den öf- fentlichen Raum und beanspruchen mehr als zu- Wenden wir uns zunächst dem ersten Punkt zu: vor Relevanz und Anerkennung. Forderungen Kann der Rechtspopulismus als erstarkende po- nach einer Wende oder Abkehr zentraler Ele- 04
Politische Bildung APuZ mente der deutschen Erinnerungskultur, die in in Hamburg freigeschalteten) Onlineplattformen der Vergangenheit nur von der NPD vertreten können Schülerinnen und Schüler sowie Eltern wurden, einer Partei mit sichtbar verfassungs- Lehrerinnen und Lehrer anzeigen, die sich kri- feindlichem Profil und großer Nähe zu rechtsex- tisch über die AfD äußern.10 tremen Kadern und Kameradschaften,06 werden Dabei sind die in den Landesverfassungen heute von weniger martialisch auftretenden Po- oder Schulgesetzen formulierten Bildungsauf- litikerinnen und Politikern vorgetragen.07 Das träge eindeutig. So ist dem sächsischen Schul- Problem ist damit nicht die Existenz rechtspo- gesetz, um nur eines der vielen möglichen Bei- pulistischer Akteure oder der Erfolg der ent- spiele zu nennen, mit Verweis auf das deutsche sprechenden Parteien, sondern die Verschiebung Grundgesetz und die Landesverfassung Sach- von Diskursgrenzen, die Enthemmung, mit der sens der Erziehungs- und Bildungsauftrag zu rassistische Vorstellungen verbreitet werden und entnehmen, dass Schülerinnen und Schüler ler- die Normalisierung nationalistischer und revisi- nen sollen, „allen Menschen vorurteilsfrei zu onistischer Konzepte in der alltäglichen Kom- begegnen, unabhängig von ihrer ethnischen und munikation, die durch diese Akteure gezielt vor- kulturellen Herkunft, äußeren Erscheinung, ih- bereitet worden ist. ren religiösen und weltanschaulichen Ansichten und ihrer sexuellen Orientierung sowie für dis- INWIEFERN IST kriminierungsfreies Miteinander einzutreten“ DIE SCHULE BETROFFEN? (§ 1, Absatz 5, Satz 4) und „Ursachen und Ge- fahren der Ideologie des Nationalsozialismus Pädagoginnen und Pädagogen trifft diese Ent- sowie anderer totalitärer und autoritärer Re- wicklung „mit voller Wucht und vielfach unvor- gime zu erkennen und ihnen entgegenzuwir- bereitet“.08 Dies schlägt sich in Verunsicherung ken“ (§ 1, Absatz 5, Satz 8). Die normative Per- nieder, insbesondere bei der Frage, „ob und in spektive schulischer Bildung und Erziehung ist welcher Weise sie sich zu diesen Diskursverschie- damit klar bestimmt: Lehrkräfte sollen sich in bungen positionieren können und dürfen“.09 Die- der Schule nicht neutral verhalten. Ihnen ist viel- se Unsicherheiten werden zusätzlich gefördert mehr die Aufgabe übertragen, junge Menschen durch kampagnenförmige Angriffe der AfD auf für demokratische Werte zu sensibilisieren, für schulische Institutionen, wie sie im Jahr 2018 bei- ein diskriminierungsfreies Miteinander einzu- spielsweise durch die sogenannten Meldeplattfor- treten sowie verantwortungsvolle Wege zu fin- men sichtbar geworden sind. Über diese (zuerst den, sich an die deutsche Geschichte zu erinnern und einen antitotalitären Grundkonsens zu ver- treten. Soweit, so klar. 01 Vgl. u. a. Anja Besand/Bernd Overwien/Peter Zorn (Hrsg.), Politische Bildung mit Gefühl, Bonn 2019; Anja Besand, Therapeutische Zuwendung oder strategische Abwendung? Rechtspopulismus und politische Bildung, in: Politikum 2/2017, 05 Vgl. u. a. Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.) Deutsche Zustände. S. 62–71; Helmut Däuble, In Zeiten digitaler Meldeplattfor- Folge 10, Berlin 2011; ders. (Hrsg.) Deutsche Zustände. Folge 1, men. Der Angriff auf demokratische (politische) Bildung und Frankfurt/M. 2002; Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler, liberales Schulsystem, in: GWP – Gesellschaft. Wirtschaft. Die stabilisierte Mitte: Rechtsextreme Einstellung in Deutschland Politik 4/2019, S. 523–534; Marie Winckler, Zwischen 2014, Leipzig 2014; dies., Die Mitte im Umbruch: Rechtsextreme Kontroversität und Komplexität. Politische Bildung im Kontext Einstellungen in Deutschland 2012, Bonn 2012; Oliver Decker rechtspopulistischer Vereinfachungen, in: Carl Deichmann/ et al., Die Mitte in der Krise: Rechtsextreme Einstellungen in Michael May (Hrsg.), Orientierungen politischer Bildung im Deutschland 2010, Bonn 2010; Das Institut für Markt- und „postfaktischen“ Zeitalter, Berlin 2019, S. 101–114; Laura Möl- Politikforschung (Dimap), Sachsen-Monitor 2018. Ergebnisbe- lers/Sabine Manzel (Hrsg.), Populismus und Politische Bildung, richt, Bonn 2018, www.staatsregierung.sachsen.de/download/ Frankfurt/M. 2018. ergebnisbericht-sachsen-monitor-2018.pdf; dass., Sachsen-Mo- 02 Vgl. Anja Besand, Beutelsbach als Waffe. Über die nitor 2016. Ergebnisbericht, Bonn 2016, www.staatsregierung. Einschüchterungsversuche von ganz Rechts und wie die Schule, sachsen.de/download/staatsregierung/Ergebnisbericht_Sach- Staat und Lehrkräfte darauf reagieren können, 2018, https:// sen-Monitor_2016.pdf. sowi-online.de/kontroverse/beutelsbach_waffe.html. 06 Vgl. u. a. Toralf Staud, Mehr als 50 Jahre rechtsextrem, 03 Vgl. Anja Besand, Vom Nutzen (neuerer) Populismusfor- 7. 3. 2016, www.bpb.de/222499. schung für die politische Bildung. Sachsen als Labor, in: GWP 07 Vgl. Behrens/Besand/Breuer (Anm. 4). – Gesellschaft. Wirtschaft. Politik 3/2019, S. 366–379. 08 Ebd. 04 Vgl. Rico Behrens/Anja Besand/Stefan Breuer, Plädoyer für 09 Ebd. eine standhafte Schule, Frankfurt/M. 2020 (i. E.). 10 Vgl. dazu ausführlich Besand (Anm. 2); Däuble (Anm. 1). 05
APuZ 14–15/2020 Unsicherheiten entstehen für viele Pädago- ende Schulentwicklungsprojekt startete 2015 und ginnen und Pädagogen erst, wenn sie sich in der hat das Ziel, Lehrkräfte bei der Entwicklung an- alltäglichen Praxis mit der Frage auseinanderset- gemessener Handlungsstrategien in der Auseinan- zen müssen, auf welche Weise diese Bildungszie- dersetzung mit antidemokratischen Tendenzen zu le am sinnvollsten zu verwirklichen wären. Denn unterstützen. Eine der initialen Grundannahmen demokratische Werte können den Schülerinnen bestand darin, dass rassistische und revisionistische und Schülern nicht einfach zum Memorieren Zwischenfälle in schulischen Kontexten als „un- vorgeschrieben werden. Diskriminierungsfrei- reife“ Positionen vor allem von Schülerinnen und heit will geübt werden, und Verantwortung für Schülern in die Schule hineintragen werden. Diese die Gräuel der deutschen Geschichte in der Ge- Annahme hat sich nicht bestätigt. Menschenfeind- genwart zu übernehmen, fällt nicht allen leicht. liche Positionen werden durchaus auch bei Lehr- In der politischen Bildung wird das hier aufschei- kräften, Schulleitungen, Eltern oder schulnahen nende Problem im Regelfall durch einen Verweis Personen wie Hausmeisterinnen und Hausmeis- auf den Beutelsbacher Konsens behoben.11 Die- tern, Verwaltungsangestellten oder Lieferantinnen ser hält Lehrerinnen und Lehrer in der Bundes- und Lieferanten in schulischen Bildungskontexten republik seit vielen Jahren dazu an, im Unter- sichtbar. Gerade dann lassen sie sich pädagogisch richt nicht einseitig über politische Sachverhalte offenbar nur sehr schwer bearbeiten. Im Kontext zu diskutieren und Schülerinnen und Schüler bei des Projekts kam es aus diesem Grund nicht selten der Entwicklung eines selbstbestimmten Urteils zu Treffen mit hochverunsicherten Lehrerinnen zu unterstützen. Kontroverses muss auch im Un- und Lehrern, die sich in ihrem beruflichen Alltags- terricht kontrovers erscheinen. An dieser Stel- handeln stark herausgefordert, um nicht zu sagen le setzen rechtspopulistische Akteure wie die überfordert fühlen. Als Beispiele sollen vier Situa- AfD mit ihren auf Verunsicherung abzielenden tionen skizziert werden:16 Meldeplattformen an. Sie nutzen den Beutelsba- cher Konsens als strategisches Mittel zur Etablie- –– Eine Lehrkraft berichtete vom Eltern- rung umfassender Grenzverschiebungen12 und, abend. Ein anwesender Vater trug an die- so der Politikdidaktiker Helmut Däuble, die „in sem Abend demonstrativ ein T-Shirt der der Tat existierende Neutralitätspflicht (…) als Marke Consdaple und achtete auch darauf, Kampfbegriff gegen das existierende demokrati- dass alle die entsprechende Aufschrift sehen sche Bildungssystem“. Diese Angriffe sind daher konnten. Consdaple ist ein eindeutig rechts- als „Generalangriff auf das liberale Schulsystem“ extremes Kleidungslabel,17 aber wie sollen und nicht als „Ausrutscher“ zu verstehen.13 Lehrkräfte auf Eltern reagieren, die diese Welche Auswirkungen dieser gesellschaftli- Kleidung in der Schule tragen? chen Entwicklungen werden nun in schulischen –– Eine Lehrkraft beobachtete durch das Fens- (Alltags-)Situationen sichtbar? Grundlage für die ter eines Klassenzimmers die Festnahme ei- Beantwortung dieser Frage sind Erkenntnisse aus niger Schülerinnen und Schüler durch ein dem Projekt „Starke Lehrer – Starke Schüler“.14 Sondereinsatzkommando der Polizei. Erst Das auf einer Studie von Rico Behrens15 aufbau- im Kontext der Nachrichtenberichterstat- tung am Abend wurde ihr klar, dass sich 11 Vgl. Wolfgang Sander et al., Was ist gute politische der Einsatz gegen eine mutmaßliche rech- Bildung? Leitfaden für den sozialwissenschaftlichen Unterricht, te Terrorzelle gerichtet hatte. In der Folge Schwalbach/Ts. 2015. übernahm die Bundesanwaltschaft die Er- 12 Vgl. Besand (Anm. 2). mittlungen, es kam zur Anklage und zur 13 Däuble (Anm. 1), S. 524. Verurteilung der festgenommenen Schüle- 14 Das zunächst von der Robert-Bosch-Stiftung sowie dem sächsischen Kultusministerium und heute vom Landesamt für Schule und Bildung Sachsen getragene Projekt ist an der Pro- 16 Für eine ausführliche Beschreibung der Fälle vgl. Behrens/ fessur der Verfasserin an der Technischen Universität Dresden Besand/Breuer (Anm. 4). angesiedelt, vgl. Anja Besand, Starke Lehrer – Starke Schüler, 17 Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.), Rechtsextremis- 6. 1. 2020, https://tu-dresden.de/gsw/phil/powi/dpb/forschung/ mus: Symbole, Zeichen, verbotene Organisationen, Oktober projekte/starke-lehrer. 2018, S. 64, www.verfassungsschutz.de/de/oeffentlichkeits- 15 Vgl. Rico Behrens, Solange die sich im Klassenzimmer anstän- arbeit/publikationen/pb-rechtsextremismus/broschuere- dig benehmen. Politiklehrer/innen und ihr Umgang mit rechtsext- 2018-10-rechtsextremismus-symbole-zeichen-und-verbotene- remer Jugendkultur in der Schule, Schwalbach/Ts. 2014. organisationen. 06
Politische Bildung APuZ rinnen und Schüler, unter anderem wegen Bewusstsein treten lassen. Fremdenfeindlichkeit, der Gründung einer terroristischen Verei- Rassismus und andere Dimensionen gruppenbe- nigung. Die Lehrkraft versuchte mehrmals, zogener Menschenfeindlichkeit oder Ungleich- die Schulleitung dafür zu gewinnen, den wertigkeitsvorstellungen sind keine überwunde- Zwischenfall mit der Schülerschaft zu be- nen Phänomene. Sie drängen sich seit geraumer sprechen – ohne Erfolg. Die Schulleitung Zeit auch durch beobachtbares Verhalten wieder befürchtete möglicherweise, dass sich eine in die öffentliche Aufmerksamkeit. Während die zu offene Thematisierung negativ auf das einen vor der Rückkehr autoritärer, völkischer Image der Schule auswirken könnte. und nationalistischer Ideen erschrecken, sind an- –– Eine Schülerin wehrte sich gegen antisemi- dere ermutigt, im Rahmen neu entstandener Pro- tische Hetze, die wiederholt im Klassenchat testbewegungen und Parteien solche Konzep- sichtbar geworden war, und geriet dadurch te zu aktualisieren und als „normale“ Positionen selbst in den Mittelpunkt der Auseinander- zurück in den Diskurs zu bringen.21 setzungen. Sie suchte erfolglos Unterstüt- Lehrkräfte reagieren auf antidemokratische zung bei Lehrkräften und entschied sich Zwischenfälle oft mit großer Zurückhaltung. schließlich dazu, Mitschüler/innen bei der Das hat verschiedene Gründe. Lehrerinnen und Polizei anzuzeigen.18 Lehrer haben nicht selten Schwierigkeiten, die –– Bei einem Workshop zum Thema Men- entsprechenden Zwischenfälle als solche wahr- schenrechte reagierten die teilnehmenden zunehmen, weil sie diese nicht als menschen- Schülerinnen und Schüler stark ablehnend feindlich erkennen und/oder sie sich oft außer- auf das Lernangebot. Am Ende der Veran- halb von Unterrichtssituationen ereignen, etwa staltung empfahlen sie der Workshoplei- im Klassenchat, auf dem Schulhof, im Lehrerzim- terin, doch selbst einmal ins Konzentra- mer oder beim Elternabend. Daher ergibt sich für tionslager zu gehen und die Gaskammer sie die problematische Frage, wer sich für die Be- anzumachen.19 arbeitung oder Lösung der entsprechenden Kon- flikte zuständig erklärt. So fühlen sich Lehrerin- WIE REAGIEREN LEHRERINNEN nen und Lehrer beispielsweise häufig nicht dazu UND LEHRER? berufen, das Verhalten von Eltern oder Kolle- ginnen und Kollegen im schulischen Kontext zu Von den gesellschaftlichen Auseinandersetzun- kommentieren. Zudem erleben sie Zwischenfäl- gen bleiben Schulen und außerschulische Bil- le wie die vorgestellten Beispiele nicht selten als dungseinrichtungen also nicht verschont. Auch in Bewährungsproben, in denen sie Handlungsfä- Bildungskontexten sind Konzepte mit Anschluss higkeit beweisen und die Auseinandersetzung zur extremen Rechten sagbar geworden, ohne dass „gewinnen“ müssen.22 Der Stress, der damit ver- deshalb sofort Konsequenzen drohen. Populisti- bunden ist, führt häufig dazu, dass sich Lehrerin- sche Sprache, inszenierte politische Tabubrüche nen und Lehrer gar nicht erst auf die Herausfor- zusammen mit gesellschaftlichen Herausforde- derungen einlassen. Selbstverständlich ist damit rungen wie Flucht- und Migrationsbewegungen nicht gesagt, dass ausweichendes Verhalten in haben das, was Studien zu rechtsextremen bezie- allen pädagogischen Kontexten in gleicher Bri- hungsweise menschenfeindlichen Einstellungen sanz sichtbar wird. Viele Lehrerinnen und Leh- schon seit langer Zeit als Phänomen aus der Mitte rer, Schulleitungen und pädagogische Fachkräfte der Gesellschaft beschreiben,20 in das öffentliche arbeiten nicht nur engagiert, sondern auch pro- fessionell und erfolgreich in ihrem jeweiligen pä- dagogischen Umfeld. Nichtsdestotrotz werden 18 Vgl. dazu: 15-Jährige zeigt Mitschüler an – und gewinnt Preis, 7. 11. 2017, www.spiegel.de/a-1176932.html. bei einer eingehenderen Analyse doch regelmäßig 19 Siehe auch Tobias Wilke, Update: Anti-Rassismus-Workshop mögliche didaktische Klippen und Handlungs- im Erzgebirge geht schief, 24. 5. 2019, www.mdr.de/sachsen/ empfehlungen sichtbar, die sich in der Auseinan- chemnitz/annaberg-aue-schwarzenberg/schule-skandal-nazipa- dersetzung mit menschenfeindlichen Positionen rolen-erzgebirge-100.html. in der Schule ergeben. 20 Vgl. u. a. Andreas Zick/Beate Küpper/Wilhelm Berghan, Verlorene Mitte. Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstel- lungen in Deutschland 2018/19, Bonn 2019 und die Studien von 21 Vgl. Behrens/Besand/Breuer (Anm. 4). Dimap (Anm. 5) und Heitmeyer (Anm. 5). 22 Vgl. Behrens (Anm. 15). 07
APuZ 14–15/2020 HANDLUNGSPERSPEKTIVEN sollen keine unpolitischen Orte sein. Pauscha- lisierte Abwertungskonstruktionen und men- Das Ignorieren herausfordernder Situationen schenfeindliche Aussagen – auch in symboli- ist die schlechteste Möglichkeit, auf menschen- schen Formen – sind allerdings zu vermeiden. verachtende Aussagen und Verhaltensweisen im Ein Peace-Sticker ist in diesem Sinne eben et- schulischen Kontext zu reagieren. In der poli- was anderes als ein geschichtsrevisionistischer tikdidaktischen Literatur wird diese Problema- Spruch auf einem T-Shirt. tik auch als „Indifferenzfalle“ beschrieben.23 Das In der politischen Bildung existiert mit dem heißt: In jeder Bildungssituation sollte die kla- Beutelsbacher Konsens eine gut verankerte und re demokratisch-menschenrechtsorientierte Hal- klar konturierte Vorstellung davon, wie dabei tung von Lehrkräften erkennbar sein. Dies gilt politische Indoktrination zu vermeiden ist, Kon- insbesondere dann, wenn Akteure menschen- troversität gewährleistet werden kann und Schü- verachtende oder geschichtsrevisionistische Äu- lerorientierung realisiert werden kann. Leider er- ßerungen normalisieren und damit „Grenzen geben sich in diesem Zusammenhang aber auch des Sagbaren“ zu verschieben versuchen. Daran Missverständnisse. Daher ist es wichtig zu beto- dürfen sich Lehrkräfte im Kontext politischer nen, dass der Beutelsbacher Konsens nicht mit Bildung keinesfalls beteiligen. Legalistische Ar- politischer Neutralität gleichzusetzen ist. Viel- gumentationsweisen, in denen Lehrkräfte oder mehr ist er im Sinne des Grundgesetzes wertge- pädagogisches Fachpersonal darauf verweisen, bunden. Er mahnt dazu, demokratische Werte auch in schulischen Bildungskontexten nur dann wie Pluralismus und Menschenrechte in den Mit- zum Handeln aufgefordert zu sein, wenn im ju- telpunkt von Bildungsprozessen zu nehmen. An- ristischen Sinne fassbare Rechtsverstöße sicht- tiplurale, menschenfeindliche oder rassistische bar werden,24 sind dabei unangemessen. In Bil- Positionen dürfen deshalb nicht als gleichberech- dungsinstitutionen lassen sich Handlungsimpulse tigte Kontroversen behandelt werden. Sehr pro- nicht erst durch strafrechtlich relevantes Verhal- blematisch wäre es etwa, wenn Lehrkräfte sich in ten legitimieren. Bildungssituationen daran beteiligten, bestimm- Zugleich ist es wichtig, nicht überzureagie- te Gruppen als fremd oder anders zu markieren. ren und damit Provokationen, die in Form von Diese als othering bezeichneten Prozesse zeigen menschenfeindlichen Äußerungen vorgetra- sich offen oder verdeckt und haben sowohl in- gen werden, nicht auf den Leim zu gehen. Das dividuelle als auch strukturelle Konsequenzen kann leicht passieren. Auch ein Einordnen in durch die Konstruktion vermeintlicher Minder- „Freund-Feind“-Kategorien ist in diesem Zu- wertigkeit und Überlegenheit. Othering wird auf sammenhang wenig hilfreich. In pädagogi- unterschiedlichen Ebenen sichtbar: in struktu- schen Situationen bleibt es wichtig, wo möglich reller Ausbeutung und Benachteiligung, in Zei- den Kontakt zu Menschen zu halten. So kön- chen oder Objekten, in Witzen oder bestimmten nen etwa Hausordnungen, schulische Leitbilder Begriffen, aber auch in Vorannahmen oder Vor- und ein institutionelles Selbst- beziehungswei- urteilen gegenüber bestimmten Personen oder se Leitbildverständnis in Konfliktfällen Ori- Gruppen. entierung bieten und helfen, zu abgestimmten Das Selbstbewusstsein und die emotionale Handlungsweisen zu kommen. Sie sollten aber Wucht, mit der breite Bevölkerungsgruppen quasi nicht so eng formuliert werden, dass Einzelfall- über Nacht ihre politische Frustration sichtbar entscheidungen nicht mehr möglich sind. In die- gemacht haben, haben nicht nur auf politischer sem Sinne ist es beispielsweise wenig ratsam, die Ebene vielfältige neue Formate für Dialogveran- Kommentierung politischer Fragen oder Pro- staltungen und Bürgergespräche entstehen lassen. bleme über Kleidungsstücke umfassend zu ver- Weniger in den Blick geraten sind in diesem Zu- bieten. Kleidung, Frisuren und Habitus drücken sammenhang die Opfer rassistischer, sexistischer, immer auch Haltungen aus. Sie können nicht homophober oder menschenverachtender An- aus Bildungsinstitutionen herausgehalten wer- feindungen. Ähnliches gilt für schulische Kon- den. Schulen und andere Bildungseinrichtungen texte. Die Aufmerksamkeit von Lehrerinnen und Lehrern ist bei der Auseinandersetzung mit ex- 23 Besand (Anm. 3), S. 377. tremistischem und revisionistischem Gedanken- 24 Vgl. Behrens (Anm. 15). gut häufig stark auf präventive Ansätze gerich- 08
Politische Bildung APuZ tet. Diese Konzepte greifen vor dem Hintergrund tig, wenn pädagogisches Personal zum Objekt eines erstarkenden Rechtspopulismus aber nicht politischer Angriffe wird. In allen Bundeslän- selten zu kurz. Deshalb müssen Betroffenenpers- dern gibt es mobile schulische Beratung oder de- pektiven bei der Reflexion pädagogischer Strate- mokratiepädagogische Initiativen, die in diesem gien immer mit in den Blick genommen werden. Zusammenhang unterstützen können. Oft befürchten Lehrkräfte, dass sie etwa durch Insbesondere in Zeiten, in denen die liberale die Thematisierung rassistischer und revisionis- Demokratie vor Herausforderungen steht, gerät tischer Zwischenfälle in der Schule ihren Schü- die politische Bildung oft schnell in die Defensive lerinnen und Schülern die entsprechenden Kon- und versteigt sich in der Legitimation bestehen- zepte erst zugänglich und bekannt machen. Mit der Strukturen und Verfahren. Lehrkräfte könn- dieser Vorstellung ist häufig zugleich die Hoff- ten sich in diesem Sinne angesichts rechtspo- nung verbunden, die Mehrzahl der Schülerin- pulistischer Entwicklungen, einer umfassenden nen und Schüler hätte von dem als problematisch Kritik an Medien und Expertinnen und Exper- empfundenen Sachverhalt noch nichts mitbe- ten sowie einer nicht unerheblichen Europaskep- kommen. Erfahrungsgemäß sind sowohl diese sis (um nur einige Aspekte zu nennen) genötigt Ängste als auch diese Hoffnungen unbegründet. sehen, in ihrem Unterricht die Leistungsfähig- Schülerinnen und Schüler sind meist lange vor ih- keit des politischen Systems zu betonen, öffent- ren Lehrkräften über die entsprechenden „Pro- lich rechtliche Medien zu preisen und ein hohes bleme“ oder Phänomene im Bilde und verfallen Lied über Europa zu singen. Legitimation ist ihnen deshalb nicht umstandslos. Gerade die Ent- aber nicht die Aufgabe politischer Bildung in der wicklungen im Web 2.0 und den digitalen Medien Demokratie. Sie sollte deshalb nie im Bestehen- machen hier eher einen problemorientierten Um- den verhaftet bleiben, sondern immer offen sein, gang nötig. sich neuen gesellschaftlichen Herausforderungen Überaus verbreitet und wenig hilfreich ist wertgebunden zu stellen und nach neuen Lösun- auch die Vorstellung, dass rassistische, sexisti- gen zu suchen. sche oder menschenfeindliche Äußerungen in pädagogischen Situationen grundsätzlich nur durch Unterricht zu bearbeiten sind. Argumen- tationsweisen wie diese dienen zuweilen auch als Entlastungsstrategie. Schließlich könne man, so eine gern genutzte Argumentationsweise, „nach einem bestimmten Zwischenfall im schulischen Kontext doch nicht regelmäßig den Stundenplan umwerfen“. So wird pädagogisches Handeln un- möglich gemacht. Statt alles im Unterricht lösen zu wollen, sind Einzelgespräche mit Schülerin- nen und Schülern sowie weitergehende Bear- beitungssettings möglich und sinnvoll. Auch sie gehören in den Instrumentenkasten von Lehr- kräften und sind nicht exklusiv an die Schulso- zialarbeiterinnen und Sozialarbeiter zu delegie- ren. Lehrkräfte neigen zudem zu einer Kultur von Einzelkämpferinnen und -kämpfern. Sie su- chen in der Auseinandersetzung mit herausfor- dernden Fällen oft erst spät kollegialen Beistand. Dies ist aus zwei Perspektiven problematisch. Zum einen müssen Auseinandersetzungen mit diesen Herausforderungen oft systemisch be- arbeitet werden. Zum anderen sind Netzwerke ANJA BESAND zwischen Kolleginnen und Kollegen, aber auch ist Professorin für Didaktik der politischen Bildung zwischen Lehrkräften und Akteuren der außer- an der Technischen Universität Dresden. schulischen Präventionsarbeit immer dann wich- anja.besand@tu-dresden.de 09
APuZ 14–15/2020 WIE POLITISCH DÜRFEN LEHRKRÄFTE SEIN? Rechtliche Rahmenbedingungen und Perspektiven Michael Wrase Das Erstarken rechtspopulistischer und auch lichen Handlungsrahmen verlassen können, der rechtsextremer Kräfte, das zuvor bereits in vielen ihnen eine möglichst klare Orientierung bietet. europäischen Nachbarländern beobachtet werden Dabei muss eine politische Werbung oder gar In- konnte, hat in Deutschland zu einer Verschärfung doktrinierung in der Schule, vor allem mit Blick gesellschaftlicher und politischer Debatten ge- auf populistische und extremistische Positionen, führt.01 Diese Entwicklung macht auch vor Schu- ausgeschlossen sein.06 Gerade in der politischen len nicht halt.02 Als Orte der gesellschaftlich-poli- Bildung ist ein weiter Spielraum eröffnet, um das tischen Bildung, Erziehung und Wertevermittlung Eintreten für Menschenrechtsbildung und gegen stehen diese nicht abseits gesellschaftlicher Kon- rassistische und (rechts)populistische Tendenzen troversen, sondern mitten darin. in Gesellschaft und Politik zu ermöglichen.07 Wie Kontroversen haben auch in verschiedenen gezeigt werden soll, ist dies ein zentrales, durch Bundesländern eingerichtete Online-Meldepor- den staatlichen Bildungs- und Erziehungsauf- tale der AfD mit dem Titel „Neutrale Schulen“ trag im Sinne von Artikel 7 Absatz 1 Grundge- ausgelöst. Dort sollen Schüler*innen und Eltern setz (GG) vorgegebenes Ziel schulischer Bildung. angeblich AfD-feindliche Äußerungen oder Ak- Die Frage, wie politisch Lehrende in Schule sein tionen von Lehrkräften oder andere „Missstän- dürfen, wird in diesem Beitrag auf Grundlage de“ an Schulen anzeigen.03 Der Staatsrechtler der geltenden Regelungen und Rechtsprechung Christoph Degenhart sprach in diesem Zusam- diskutiert. menhang von einem „Pranger“ für Lehrkräfte, die Baden-Württembergische Kultusministerin GEBOT POLITISCHER Susanne Eisenmann (CDU) – ähnlich wie andere NEUTRALITÄT Minister*innen auf Bundes- und Landesebene – von einer „Denunziationsplattform“.04 Die AfD Ein Gebot vollständiger politischer Neutralität selbst will den Vorwurf der Einschüchterung von Lehrer*innen (oder auch anderen pädago- nicht gelten lassen. Vielmehr sieht sie sich von gisch Mitarbeitenden) in der Schule gibt es nicht. vielen Pädagog*innen zu Unrecht einseitig ange- Der Rechtswissenschaftler Joachim Wieland griffen und ihr Recht auf chancengleiche Teilha- spricht mit Recht von einem „Mythos“.08 Im Be- be am politischen Prozess verletzt. In Hamburg amtenrecht verankert ist vielmehr der Grund- soll die Schulbehörde auf Hinweis der AfD so- satz, dass Beamt*innen „bei politischer Betäti- gar in einigen Schulen „interveniert“ haben.05 Das gung diejenige Mäßigung und Zurückhaltung zu schafft Verunsicherung. wahren [haben], die sich aus ihrer Stellung ge- Vor diesem Hintergrund ist es umso wich- genüber der Allgemeinheit und aus der Rück- tiger, dass sich Lehrkräfte und Pädagog* innen sicht auf die Pflichten ihres Amtes ergibt“ (§ 33 gerade mit Blick auf die Gefährdung von De- Abs. 2 Beamtenstatusgesetz, BeamtStG). Dieses mokratie und Menschenrechten nicht politisch Gebot gilt in gleicher Weise für angestellte Lehr- indifferent verhalten, sondern sich mit verstärk- personen.09 ter Aufmerksamkeit der politischen Bildung und Die Pflicht zur Wahrung politischer Zurück- Demokratieerziehung widmen. Um gegen Ein- haltung durch Lehrkräfte ist ein wichtiges Prin- schüchterungen, welcher Art auch immer, ge- zip. Es ergibt sich rechtlich aus dem Bildungs- wappnet zu sein, müssen sie sich auf einen recht- und Erziehungsauftrag des Staates, der in Art. 7 10
Politische Bildung APuZ Abs. 1 GG seine Grundlage findet. Wenn der in Form eines „Sich-Heraushaltens“ und des Staat neben den Eltern – wie es die Rechtspre- „Nicht-Flagge-Zeigens“ senden könnte.13 Es ist chung formuliert – „gleichgeordnet“ eine Ver- daher nicht nur zulässig, sondern im Sinne des antwortung für die Bildung und Erziehung von politischen Bildungs- und Erziehungsauftrags Kindern und Jugendlichen übernimmt,10 muss er sinnvoll, dass Pädagog*innen in Diskussionen sicherstellen, dass die unterschiedlichen gesell- auch eigene Positionen vertreten, soweit sie die schaftlichen, religiösen, ethischen und politischen Schüler*innen damit nicht einseitig beeinflus- Anschauungen in der Schule gleichermaßen res- sen.14 Die hohen Anforderungen, welche die pektiert werden und keine einseitige Beeinflus- Rechtsprechung an die parteipolitischen Neu- sung der Schüler*innen stattfindet. Da Lehrkräfte tralitätspflichten von Amtsträger*innen in Mi- diesen Bildungs- und Erziehungsauftrag umset- nisterien und Verwaltungen gestellt hat,15 lassen zen, sind sie in diesem Sinne zur Zurückhaltung sich vor diesem Hintergrund nicht auf das Mä- und Mäßigung verpflichtet.11 ßigungsgebot für Lehrpersonen in der Schule Aber was bedeutet das konkret? Die Recht- übertragen. sprechung hat hierzu jedenfalls wiederholt be- Das Gebot politischer Neutralität wird dann tont, dass damit jedenfalls nicht gemeint ist, verletzt, wenn Lehrkräfte gegenüber den Schü Lehrer* innen dürften eigene politische Über- ler*innen einseitig oder provokativ für eine be- zeugungen im Unterricht nicht äußern oder stimmte politische Auffassung oder eine Partei müssten sie gar verbergen. Sie können sich viel- werben.16 Denn dann nutzen sie ihre Position zur mehr auch in der Schule und im Unterricht aktiven Durchsetzung eigener Anschauungen. auf ihr Recht auf Meinungsfreiheit nach Art. 5 Das gilt auch dann, wenn sie Anti-Werbung ge- Abs. 1 GG berufen.12 In der politikdidaktischen genüber Parteien betreiben, die dem demokrati- Diskussion wird darauf hingewiesen, dass die schen Spektrum angehören, oder diese gezielt dif- „strikte Neutralität“ einer Lehrperson im Sinne famieren. Das Mäßigungsverbot aus § 33 Abs. 2 von gesellschaftspolitischer Indifferenz im Ge- BeamtStG stellt insofern ein allgemeines Gesetz genteil ein fatales Signal an die Schüler*innen als Schranke der Meinungsausübung nach Art. 5 Abs. 2 GG dar, die durch ein solches Verhalten überschritten wird. 01 Dieser Beitrag beruht auf einem Vortrag, den der Verfasser In deutlich abgeschwächter Form gilt das Mä- auf der Veranstaltung „Allianzen für Demokratie in der Schule“ des Zentrums für Bildungsintegration (ZfB) am 7. 2. 2019 an der ßigungsverbot auch außerhalb der Schule.17 Es Universität Hildesheim gehalten hat. wird verletzt, wenn Lehrkräfte menschenverach- 02 Zur außerschulischen Bildungsarbeit vgl. Friedhelm Hufen, tende und verfassungsfeindliche Positionen ver- Politische Jugendbildung und Neutralitätsgebot, in: Recht der treten oder demokratische Institutionen verun- Jugend und des Bildungswesens 2/2018, S. 216–221. Siehe auch glimpfen. Ein solches Verhalten hat, auch wenn den Beitrag von Hendrik Cremer und Mareike Niendorf in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). es außerhalb des Dienstes stattfindet, disziplinar- 03 Vgl. Hendrik Cremer, Das Neutralitätsgebot in der Bildung. beziehungsweise arbeitsrechtliche Folgen und Neutral gegenüber rassistischen und rechtsextremen Positionen von Parteien?, Deutsches Institut für Menschenrechte, Berlin 2019, S. 10. 10 Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 04 Zit. nach Tilman Steffen/Judith Luig, Verpetz deine Lehrer, (BVerfGE), 34, 165 (183); 41, 29 (44); 98, 218 (244); 108, 282 12. 10. 2018, www.zeit.de/gesellschaft/schule/2018-10/afd- (301); ständige Rechtsprechung. lehrerpranger-url-afd-lehrerpranger-online-denunziation-eltern- 11 Vgl. zusammenfassend Hermann Avenarius/Felix Hansch- schueler. mann, Schulrecht, Köln 20199, S. 640 ff. mit weiteren Nachweisen. 05 Hanna Knuth, Dürfen Lehrer ihre Meinung sagen?, 12 Vgl. Bundesarbeitsgericht (Anm. 6), S. 2889 f.; Verwaltungs- 23. 6. 2018, www.zeit.de/2018/26/afd-lehrer-neutralitaetsge- gericht Berlin, Disz. 99/80, NJW 1982, 30. 9. 1981, S. 1113. bot-beschwerde. 13 Bernd Overwien, Politische Bildung ist nicht neutral, in: 06 Vgl. Bundesarbeitsgericht, 1 AZR 694/79, NJW 1982, Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit 1/2019, S. 26–38, hier 2. 3. 1982, S. 2888 ff. S. 29. 07 Joachim Wieland, Was man sagen darf: Mythos Neutralität 14 Vgl. ausführlich ebd., S. 28 ff. in Schule und Unterricht, Hintergrundpapier der Friedrich-Ebert- 15 Siehe nur BVerfGE, 148, 11–40, 27. 2. 2018, S. 485–492; Stiftung zu „Politische Bildung in der Schule“, April 2019, S. 2, Verwaltungsgericht Köln, 4 L 750/17, 30. 3. 2017. http://library.fes.de/pdf-files/studienfoerderung/15341.pdf; 16 Vgl. Avenarius/Hanschmann (Anm. 11), S. 641; Bundesar- Cremer (Anm. 3), S. 12 ff. beitsgericht (Anm. 6), S. 2889. 08 Wieland (Anm. 7), S. 1. 17 Vgl. Avenarius/Hanschmann (Anm. 11), S. 640 f. mit weite- 09 Vgl. Bundesarbeitsgericht (Anm. 6), S. 2889. ren Nachweisen. 11
APuZ 14–15/2020 führt in der Regel zur Kündigung beziehungs- Bundesländer.20 Sie sind die Grundlage entspre- weise Entfernung aus dem Dienst.18 chender Beschlüsse der Kultusministerkonferenz (KMK) zur Demokratieerziehung und zur Men- BILDUNGS- UND schenrechtsbildung in der Schule.21 ERZIEHUNGSAUFTRAG Es kann kein Zweifel bestehen, dass ein klares Bekenntnis gegen Rechtsextremismus, Rassismus Eine kritische Auseinandersetzung mit politi- und Fremdenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft schen Positionen hingegen ist nicht nur zuläs- einer solchen Erziehung im Sinne der Werteord- sig, sondern wird durch den Bildungsauftrag der nung des Grundgesetzes sowie der Landesverfas- Schule nach den Landesschulgesetzen ausdrück- sungen und Schulgesetze entspricht.22 Würden lich gefordert. Das gilt zweifellos auch und be- sich die Lehrkräfte etwa gegenüber Hass, Aus- sonders für die Beschäftigung mit rechtspo- grenzung, Diskriminierung und Hetze indiffe- pulistischen, diskriminierenden und mitunter rent verhalten, so gäbe dies mit Blick auf die ge- rassistischen Positionen, die teilweise auf simp- nannten verfassungsmäßigen Werte Anlass zu len, aber wirkmächtigen Parolen fußen, etwa vor erheblicher Sorge. Dann müsste gefragt werden, einer „Überfremdung“ Deutschlands warnen, ob der Bildungs- und Erziehungsauftrag (noch) türkischstämmigen Menschen einen geringeren ausreichend verwirklicht und gelebt wird. Es ist „Intelligenz-Quotienten“ zusprechen oder „den“ daher geboten, die Gefahren von populistischen Islam pauschal für mit einer „deutschen Kultur“ und nationalistischen Bewegungen, von Rassis- nicht vereinbar erklären. mus, gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit Der staatliche Bildungs- und Erziehungs- und Diskriminierung im Unterricht zu themati- auftrag fordert ausdrücklich eine Erziehung sieren.23 Insoweit formuliert der Politikdidakti- im Sinne demokratischer Grundsätze und der ker Bernd Overwien treffend, dass politische Bil- Werte des Grundgesetzes.19 So heißt es bei- dung in der Schule nicht „neutral“ ist – und es spielsweise im Niedersächsischen Schulgesetz nicht sein darf.24 (NSchG), Schüler*innen sollen unter anderem In diesem Zusammenhang ist darauf hinzu- „fähig werden, die Grundrechte für sich und je- weisen, dass Demokratie- und Menschenrechts- den anderen wirksam werden zu lassen, die sich erziehung nicht auf den Unterricht in gesell- daraus ergebende staatsbürgerliche Verantwor- schaftswissenschaftlichen Fächern beschränkt tung zu verstehen und zur demokratischen Ge- bleiben dürfen, sondern als „Querschnittsauf- staltung der Gesellschaft beizutragen, (…) re- gabe“ das gesamte Schulleben betreffen.25 So ist ligiöse und kulturelle Werte zu erkennen und es nach Maßgabe der KMK-Beschlüsse Aufgabe zu achten, (…) ihre Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Gerech- 20 Vgl. § 1 Schulgesetz Baden-Württemberg; Art. 2 Bayeri- tigkeit, der Solidarität und der Toleranz sowie sches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesesen; der Gleichberechtigung der Geschlechter zu ge- § 3 Schulgesetz Berlin; § 4 Brandenburgisches Schulgesetz; § 5 stalten, den Gedanken der Völkerverständigung Bremisches Schulgesetz; § 2 Hamburgisches Schulgesetz; § 2 (…) zu erfassen und zu unterstützen und mit Hessisches Schulgesetz; § 2 Schulgesetz für das Land Mecklen- burg-Vorpommern; § 2 Schulgesetz Nordrhein-Westfalen; § 1 Menschen anderer Nationen und Kulturkreise Schulgesetz Rheinland-Pfalz, § 1 Schulordnungsgesetz Saarland; zusammenzuleben“ sowie „sich umfassend zu § 1 Sächsisches Schulgesetz; § 1 Schulgesetz des Landes informieren und die Informationen kritisch zu Sachsen-Anhalt; § 4 Schleswig-Holsteinisches Schulgesetz; § 2 nutzen“ (§ 2 NSchG). Diese rechtlich binden- Thüringer Schulgesetz. den Bildungs- und Erziehungsziele finden sich 21 KMK (Anm. 19); dies., Menschenrechtsbildung in der Schule, Beschluss der KMK vom 4. 12. 1980 i. d. F. vom 11. 10. 2018, in ähnlicher Form in den Schulgesetzen aller www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_ beschluesse/1980/1980_12_04-Menschenrechtserziehung.pdf. 18 Vgl. Arbeitsgericht Berlin, 60 Ca 7170/18, 16. 1. 2019, 22 Vgl. u. a. Kerstin Pohl, Kontroversität: Wie weit geht das in: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht – Rechtsprechungsreport Kontroversitätsgebot für die politische Bildung?, 19. 3. 2015, 8/2019, S. 414–423. www.bpb.de/193225. 19 Vgl. Kultusministerkonferenz, Demokratie als Ziel, Gegen- 23 Vgl. ausführlich unter Bezugnahme auf Grund- und Men- stand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung schenrechte Cremer (Anm. 3), S. 12 ff.; Wieland (Anm. 7), S. 4 f.; in der Schule, Beschluss der KMK vom 6. 3. 2009 i. d. F. vom KMK (Anm. 19), S. 8 f. 11. 10. 2018, S. 3 f., www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/Pres- 24 Vgl. Overwien (Anm. 13), S. 28 ff. seUndAktuelles/2018/Beschluss_Demokratieerziehung.pdf. 25 Vgl. KMK (Anm. 19), S. 8. 12
Politische Bildung APuZ der Schule insgesamt, „zu einer menschenrechts- Zurückhaltung und Chancengleichheit bedeutet sensiblen und -fördernden Haltung zu erziehen, nämlich nicht, dass alle im demokratischen Par- das erforderliche Wissen und geeignete Urteils-, teienspektrum vertretenen Auffassungen bis zur Handlungs- und Gestaltungskompetenzen zu Grenze der Verfassungsfeindlichkeit im Sinne des vermitteln sowie zu offenem und aktivem Enga- Art. 21 Abs. 2 GG gleichermaßen als legitim dar- gement zu ermutigen“.26 Der Politikunterricht zustellen sind. Das gilt insbesondere in der Aus- hat dabei allerdings eine hervorgehobene Aufga- einandersetzung mit rechtspopulistischen Partei- be, die „Schülerinnen und Schüler zur politischen en wie der AfD. Mündigkeit zu befähigen“.27 Während in der Gründungszeit der AfD um das Jahr 2013 in ihrer Programmatik vor allem THEMATISIERUNG VON europaskeptische Positionen vorherrschend wa- RECHTSPOPULISMUS, RASSISMUS ren, rückten kritische Positionen gegenüber Zu- UND DISKRIMINIERUNG wanderung, Integration und Diversität immer mehr in den Vordergrund. Die ursprünglich als Für die Bildungsarbeit in den Schulen ist vor eher „gemäßigt“ einzustufende Parteiführung diesem Hintergrund nicht ein Prinzip der Neu- verlor immer mehr an Rückhalt bei der Mehr- tralität im Sinne der Nicht-Thematisierung po- heit der Funktionäre und Mitglieder.31 Gleich- litischer Positionen durch Pädagog* innen das zeitig gewannen Strömungen „mit Ausläufern in Leitbild – eine Laizität in Bildungsfragen sozusa- den Rechtsextremismus“ in der AfD zunehmend gen, die versucht, politische Fragen aus der Schu- an Einfluss.32 Teile der Partei stehen heute auf- le auszuklammern.28 Vielmehr ist der wichtigste grund von migrations- und muslimfeindlichen Prüfungsmaßstab das Prinzip der Gleichbehand- Positionierungen im Fokus des Verfassungs- lung und Chancengleichheit der politischen Par- schutzes.33 Die AfD-Teilorganisation „Der Flü- teien und Strömungen.29 Lehrkräfte müssen po- gel“ wird von diesem als „gesichert rechtsextre- litische Sachverhalte ausgewogen und sachlich mistische Bestrebung“ eingestuft.34 Nach einer behandeln. Es wurde bereits darauf hingewiesen, Analyse von Hendrik Cremer vom Deutschen dass sie dabei ihre eigenen Überzeugungen nicht Institut für Menschenrechte sind „rassistische zu verbergen brauchen – und dies auch nicht sol- Positionierungen Bestandteil ihres Programms, len. Sie dürfen diese jedoch den Schüler*innen ihrer Strategie sowie von Positionierungen nicht aufdrängen, und sie haben dafür Sorge zu durch Führungspersonen und Mandatsträger_ tragen, dass andere Auffassungen ausreichend innen bis hin zu offen ausgesprochenen Dro- zur Geltung kommen: „Das Klassenzimmer darf hungen, in denen sie einer gewaltsamen Macht- nicht zur Arena politischer Auseinandersetzun- ergreifung zur Erreichung ihrer politischen Ziele gen umfunktioniert werden.“30 das Wort reden“.35 Eine kritische Auseinandersetzung mit politi- Diese Positionierungen innerhalb der AfD schen Inhalten und Positionen, wie sie nach dem und anderen rechtspopulistischen Parteien Bildungsauftrag geboten ist, kann indes zu Fest- können und sollten von Lehrkräften themati- stellungen oder Einschätzungen führen, die für siert und mit den Schüler*innen kritisch reflek- bestimmte politische Richtungen oder Parteien tiert werden. Darin liegt nach der Rechtspre- nachteilig sind. Das Gebot der (partei)politischen chung keine Verletzung der Chancengleichheit 26 KMK (Anm. 21), S. 3. 31 Wolfgang Schroeder/Bernhard Weßels, Rechtspopulisti- 27 Andreas Brunold, Wie tragfähig ist der Beutelsbacher sche Landnahme in der Öffentlichkeit, im Elektorat und in den Konsens heute? Ein Statement, in: Siegfried Frech/Dagmar Parlamenten, in: dies. (Hrsg.), Smarte Spalter. Die AfD zwischen Richter (Hrsg.), Der Beutelsbacher Konsens. Bedeutung, Wirkung, Bewegung und Parlament, Bonn 2019, S. 9–43. Kontroversen, Schwalbach/Ts. 2017, S. 87–103, hier S. 88. 32 Ebd. S. 26. 28 Zur umstrittenen Frage der religiösen „Neutralität“ der Schule 33 Vgl. etwa zur „Jungen Alternative“ ebd., S. 32 f. siehe Michael Wrase, Die Kontroverse um das Kopftuch der musli- 34 Bundesamt für Verfassungsschutz, Fachinformation: Einstu- mischen Lehrerin – religiös-kultureller Pluralismus als Verfassungs- fung des „Flügels“ als erwiesen rechtsextremistische Bestrebung, problem, in: Hans G. Kippenberg/Astrid Reuter (Hrsg.), Religions- 12. 3. 2020, www.verfassungsschutz.de/de/aktuelles/zur-sache/ kontroversen im Verfassungsstaat, Göttingen 2010, S. 360–393. zs-2020-002-fachinformation-einstufung-des-fluegel-als- 29 Vgl. Hufen (Anm. 2), S. 2; Wieland (Anm. 7), S. 1. erwiesen-extremistische-bestrebung. 30 Avenarius/Hanschmann (Anm. 11), S. 641. 35 Cremer (Anm. 3), S. 26. 13
APuZ 14–15/2020 nach Art. 21 GG und somit des beamten- bezie- terricht kontrovers erscheinen muss, was „in hungsweise arbeitsrechtlichen Zurückhaltungs- Wissenschaft und Politik kontrovers ist“, und die gebots.36 Es muss allerdings die Sachlichkeit der Lernendenorientierung, nach der Schüler*innen Diskussion gewahrt werden und jegliche di- in die Lage versetzt werden sollen, „eine politi- rekte Beeinflussung der Schüler*innen unter- sche Situation und [die] eigene Interessenslage zu bleiben. Pädagog*innen können ihre Haltung analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu deutlich machen, indem sie sich auch auf ei- suchen, die vorgefundene politische Lage im Sin- ner persönlichen Ebene klar gegen Rassismus ne [eigener] Interessen zu beeinflussen“.40 und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit Zwar hat die Rechtsprechung bislang nicht und damit zugleich gegen bestimmte Partei- unmittelbar auf die genannten drei Grundsätze en oder Bewegungen wie Pegida („Patriotische des Beutelsbacher Konsenses Bezug genommen. Europäer gegen die Islamisierung des Abend- Allerdings lässt sich anhand der vorliegenden landes“), von beziehungsweise in denen derarti- Entscheidungen die folgende Regel aufstellen: Je ge Inhalte vertreten werden, aussprechen. 37 Ein weniger die genannten Prinzipien beachtet wer- Satz wie: „Aus meiner Sicht sind rechtspopu- den, desto sicherer kann von einer einseitigen Be- listische Parteien wie die AfD rassistisch und einflussung und damit von einer Verletzung des nicht wählbar“ würde folglich trotz seines stark Gebots der politischen Mäßigung und Zurück- wertenden Charakters den Spielraum zulässiger haltung im Rechtssinn ausgegangen werden. Meinungsäußerungen durch Lehrkräfte nicht Das ist zum Beispiel für das Überwältigungs- überschreiten und den Grundsatz der parteipo- verbot einleuchtend. So wurde es von der Recht- litischen Chancengleichheit nicht verletzen. 38 sprechung als Verstoß gegen das Zurückhaltungs- gebot bewertet, wenn Lehrkräfte im Unterricht BEUTELSBACHER KONSENS Ansteck-Buttons mit eindeutigen politischen AUS RECHTLICHER PERSPEKTIVE Aussagen zu gesellschaftlich umstrittenen The- men tragen. Die grundlegende Entscheidung des Wo aber verläuft genau die Grenze zwischen ei- Bundesarbeitsgerichts stammt aus dem Jahr 1982 ner notwendigen kritischen Auseinandersetzung und betraf die Plakette „Atomkraft: nein dan- mit fremdenfeindlichen, diskriminierenden oder ke!“.41 Die friedliche Nutzung der Atomener- rassistischen Positionen, die im demokratischen gie war damals ein politisch hochumstrittenes Spektrum vertreten werden, und einer unzulässi- Thema, und die Plakette wurde vom Gericht als gen (partei)politischen Einflussnahme? einseitiges „politisches Propagandamittel“ be- Im „Beutelsbacher Konsens“, der auf eine Ta- wertet.42 Dies erscheint mit Blick auf das Über- gung von Politikdidaktiker*innen 1976 im Ort wältigungsverbot plausibel, auch wenn sich der Beutelsbach zurückgeht, wurden vom Politikwis- politische Mainstream zu diesem Thema grund- senschaftler Hans-Georg Wehling drei Prinzipien legend geändert hat und heute – nach beschlosse- formuliert, die heute als didaktische Leitgedanken nem Atomausstieg – wohl kaum mehr von einer politischer Bildung weitestgehend etabliert sind hochumstrittenen Frage der Tagespolitik auszu- und auch von der KMK übernommen wurden:39 gehen ist. Überzeugend aber ist die Wertung des Das Überwältigungsverbot, das es nicht erlaubt, Gerichts, wonach die Plakette ein „betontes und Schüler*innen „im Sinne erwünschter Meinun- ständiges Herausstellen der eigenen politischen gen zu überrumpeln und damit an der ‚Gewin- Auffassung“ darstellt, dem die Schüler*innen un- nung eines selbstständigen Urteils‘ zu hindern“, ausweichlich ausgesetzt sind.43 das Kontroversitätsgebot, nach dem auch im Un- Folgerichtig wäre der Fall anders zu bewer- ten, wenn die Lehrperson die Plakette lediglich 36 Vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, 24 CE 96.162, temporär dafür eingesetzt hätte, eine Diskussion 17. 6. 1996, S. 286 f. 37 Vgl. Ansgar Drücker, Der Beutelsbacher Konsens und die 40 Hans-Georg Wehling, Konsens à la Beutelsbach? Nachlese politische Bildung in der schwierigen Abgrenzung zum Rechtspo- zu einem Expertengespräch, in: Siegfried Schiele/Herbert pulismus, in: Benedikt Widmaier/Peter Zorn (Hrsg.), Brauchen Schneider (Hrsg.), Das Konsensproblem in der politischen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung, Stuttgart 1977, S. 173–184, hier S. 178 f. Bildung, Bonn 2016, S. 123–130. 41 Bundesarbeitsgericht (Anm. 6), S. 2888 ff. 38 Vgl. Cremer (Anm. 3), S. 26–32; Hufen (Anm. 2). 42 Ebd., S. 2889. 39 Vgl. Pohl (Anm. 23); Brunold (Anm. 27). 43 Ebd. 14
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