AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - POLITISCHE BILDUNG - BPB

 
WEITER LESEN
70. Jahrgang, 14–15/2020, 30. März 2020

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
  Politische Bildung
           Anja Besand                              Matthias Busch
        ZUM UMGANG                           DEMOKRATIELERNEN
   MIT RECHTSPOPULISMUS                   IN DER WEIMARER REPUBLIK
 IN DER INSTITUTION SCHULE
                                                    Andrea Szukala
          Michael Wrase                         ZUR MORAL- UND
   WIE POLITISCH DÜRFEN                          BÜRGERKUNDE
     LEHRKRÄFTE SEIN?                            IN FRANKREICH
         Wolfgang Sander                             Sérgio Costa
  BILDUNG: ZUR AKTUALITÄT                    POLITISCHE BILDUNG
  EINER TRADITIONSREICHEN                   NACH DEM RECHTSRUCK
           LEITIDEE                             IN BRASILIEN
 Hendrik Cremer · Mareike Niendorf
      BILDUNGSAUFTRAG
      MENSCHENRECHTE

                    ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                         FÜR POLITISCHE BILDUNG
                Beilage zur Wochenzeitung
Politische Bildung
                                   APuZ 14–15/2020
ANJA BESAND                                          MATTHIAS BUSCH
ZUM UMGANG MIT RECHTSPOPULISMUS                      DEMOKRATIELERNEN IN
IN DER INSTITUTION SCHULE                            DER WEIMARER REPUBLIK
Die Konjunktur rechtspopulistischer Ideen            In der Weimarer Republik entwickelte sich
hat die politische Bildung in den vergangenen        eine demokratieadäquate politische Bildung
Jahren vor Herausforderungen gestellt. Wie kann      mit vielfältigen Praktiken und professionellen
politische Bildung in der Schule auf die steigende   Standards. Ihre Rekonstruktion erschließt
Aggressivität, sprachliche Enthemmung und            vergessene Alternativen und Lösungsvarianten
Polarisierung der Auseinandersetzung reagieren?      zu strukturellen Problemen politischer Bildung.
Seite 04–09                                          Seite 28–34

MICHAEL WRASE                                        ANDREA SZUKALA
WIE POLITISCH DÜRFEN LEHRKRÄFTE SEIN?                ZUR MORAL- UND BÜRGERKUNDE
Das Erstarken rechtspopulistischer und rechts-       IN FRANKREICH
extremer Kräfte macht auch vor Schulen nicht         In Frankreich ist die Moral- und Bürgerkunde
halt. Um gegen Einschüchterungen gewappnet           wieder auf die schulpolitische Agenda gerückt.
zu sein, müssen sich Lehrer*innen auf einen          Die entsprechenden Diskurse und Transfor-
rechtlichen Handlungsrahmen verlassen können,        mationen des Programms spiegeln die Brüche
der ihnen eine klare Orientierung bietet.            wider, die die französische Gesellschaft in den
Seite 10–15                                          vergangenen zwei Jahrzehnten durchlief.
                                                     Seite 35–40
WOLFGANG SANDER
BILDUNG: ZUR AKTUALITÄT                              SÉRGIO COSTA
EINER TRADITIONS­R EICHEN LEITIDEE                   POLITISCHE BILDUNG NACH
Die Leitidee der Bildung ist ein kulturelles Erbe    DEM RECHTSRUCK IN BRASILIEN
der Menschheit und mit der Vorstellung von           Unter dem Vorwand einer Initiative für eine un-
der Bildsamkeit, Unverfügbarkeit, Freiheit und       parteiische Schule wird in Brasilien der Weg zu
Würde aller Menschen verknüpft. Dieses Erbe          einer politischen Bildung geebnet, die autoritäre
bietet auch heute für die normative Grundlegung      und marktradikale Ideologien verbreiten soll.
von politischer Bildung fruchtbare Perspektiven.     Die Regierung Bolsonaros hat sich die Interessen
Seite 16–21                                          der Bewegung faktisch zu eigen gemacht.
                                                     Seite 41–45
HENDRIK CREMER · MAREIKE NIENDORF
BILDUNGSAUFTRAG MENSCHENRECHTE
Grund- und Menschenrechte geben wesentliche
Inhalte und Maßstäbe für politische Bildung
vor. Dabei gehört zum Auftrag schulischer und
außerschulischer Bildung, auch rassistische und
rechtsextreme Positionen von Parteien kritisch zu
thematisieren und ihre Auswirkungen aufzuzeigen.
Seite 22–27
EDITORIAL
Die Konjunktur rechtspopulistischer Ideen und die zunehmend offen vorgetra-
genen menschenfeindlichen und revisionistischen Einstellungen haben die politi-
sche Bildung in den vergangenen Jahren vor wachsende Herausforderungen
gestellt. Was bedeutet die Verschärfung der gesellschaftspolitischen Debatten
für Lehrende in Schulen und außerschulischen Bildungseinrichtungen? Wie
können und sollen sich Pädagoginnen und Pädagogen zu gesellschaftlichen und
politischen Konfliktlagen positionieren? Wann ist Zurückhaltung geboten? Und
wann gilt es, eine klare Haltung für oder gegen etwas zu zeigen?
   Mit den Grund- und Menschenrechten, dem Beamtenrecht sowie den
Schulgesetzen aller Bundesländer existiert ein juristischer Handlungsrahmen,
der (partei)politische Werbung sowie Indoktrination ausschließt und der politi-
schen Bildung zugleich vielfältige Handlungsperspektiven für den Umgang mit
rassistischen und populistischen Positionen eröffnet – auch wenn diese in oder
von Parteien vertreten werden. Er basiert auf unverhandelbaren, normativen
Grundsätzen wie der Menschenwürde, der Meinungsfreiheit und der freiheit-
lich-demokratischen Ordnung. Eine wohlfeile Forderung nach vollständiger
„Neutralität“ von Lehrenden ist damit nicht in Einklang zu bringen, ein Neut-
ralitätsgebot dieser Lesart ein Mythos.
   Über den Bereich der Rechtsetzung und -sprechung hinaus ist die Frage, mit
welchen didaktischen Leitprinzipien, Konzepten und Praktiken Menschen zur
Teilhabe an einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft befähigt wer-
den können, weder neu noch auf Deutschland beschränkt. Um pädagogisches
Handeln auch bei gesellschaftspolitischer Polarisierung zu ermöglichen, müssen
Lehrende gegen etwaige Einschüchterungen gewappnet sein. Denn in Schulen
und außerschulischen Bildungsinstitutionen werden nicht allein Fähigkeiten,
Wissensbestände und Werte vermittelt, sondern zugleich die Grundlagen unse-
res zukünftigen Zusammenlebens ausgehandelt.

                                                   Frederik Schetter

                                                                             03
APuZ 14–15/2020

       POLITISCHE BILDUNG UNTER DRUCK
 Zum Umgang mit Rechtspopulismus in der Institution Schule
                                             Anja Besand

Über die Frage, wie die politische Bildung auf         litische Kraft nicht nur, aber auch in der Bundes-
die Herausforderungen reagieren soll, die sich         republik überhaupt als Problem oder Heraus-
im Kontext des neu erstarkten Rechtspopulis-           forderung der politischen Bildung beschrieben
mus in Deutschland ergeben, ist in den vergan-         werden? Müssen rechtspopulistische Positio-
genen Jahren viel geschrieben worden.01 Die Per-       nen angesichts der nicht unerheblichen Zustim-
spektive dieser Beiträge ist meist darauf gerichtet,   mung, die sie erfahren, nicht vielmehr auch in
durch eine genauere Bestimmung von Problem-            Bildungskontexten als relevante politische Posi-
lagen Handlungsperspektiven abzuleiten.02 Diese        tionen neben anderen thematisiert werden? Sind
bleiben im Regelfall allerdings sehr allgemein und     Lehrkräfte im Bereich der politischen Bildung
werden institutionell nicht verortet. Einigkeit be-    nicht geradezu verpflichtet, sie als gleichberech-
steht dabei darüber, dass der politischen Bildung      tigte Positionen in ihren Unterricht zu integrie-
im Kontext gegenwärtiger Herausforderungen             ren? Nicht wenige Lehrerinnen und Lehrer stel-
eine zentrale und förderungswürdige Aufgabe            len sich diese Fragen. Eine Antwort darauf zu
zukommt. Zugleich ist keineswegs klar, wie die-        entwickeln, fällt vielen schwer. Denn es lässt sich
se Aufgabe konkret zu verwirklichen wäre.03 Wie        nicht leugnen, dass diese Positionen in der Öf-
kann und soll politische Bildung in der Schule auf     fentlichkeit virulent sind, großen Raum einneh-
die steigende Aggressivität, inhaltliche Verrohung     men und von und innerhalb von Parteien ver-
und extreme Polarisierung der politischen Aus-         treten werden, die in Parlamenten präsent und
einandersetzung reagieren, die in jüngster Zeit        nicht verboten sind. Zugleich muss allerdings
zu beklagen ist? In welcher Weise ist die Schu-        auch festgehalten werden, dass sich im Zuge des
le von diesen Phänomenen selbst betroffen? Wie         Erstarkens rechtspopulistischer Bewegungen in
kann und sollte sie sich als staatliche Institution    ganz Europa Tendenzen einer Entgrenzung öf-
zu gesellschaftlichen und politischen Konfliktla-      fentlicher Kommunikation beobachten lassen,
gen positionieren, und welche Herausforderun-          die fremdenfeindliche Ressentiments, nationa-
gen ergeben sich in diesem Zusammenhang?               listisch-völkische Konzepte und – insbesonde-
    Diese Fragen sind der Ausgangspunkt für den        re in Deutschland – auch die Relativierung der
vorliegenden Beitrag. Im Hinblick auf die Ar-          Verantwortung für die Verbrechen des Natio-
gumentationsführung ergeben sich vier zentrale         nalsozialismus nach sich ziehen.04
Schritte, in denen die Problemlage, ihre sichtba-           Die schiere Existenz menschenfeindlicher,
ren Auswirkungen in der Institution Schule so-         rassistischer und revisionistischer Vorstellungen
wie das Verhalten der Lehrerinnen und Lehrer           auch in der Mitte der deutschen Gesellschaft ist
in der Blick genommen werden und schließlich           nicht neu. Sie ist aus einschlägigen Forschungen
diskutiert wird, welche Schwierigkeiten und            wie der von dem Bielefelder Sozialwissenschaft-
Handlungsperspektiven sich im Hinblick auf den         ler Wilhelm Heitmeyer geleiteten Langzeitstudie
Umgang mit rechtspopulistischen Herausforde-           „Deutsche Zustände“ oder den „Mitte-Studien“
rungen in der Schule ergeben.                          bereits seit geraumer Zeit bekannt.05 Durch das
                                                       Erstarken rechtspopulistischer Akteure verla-
                    WAS IST                            gern sich diese Einstellungen und Äußerungen
                  DAS PROBLEM?                         als konkrete politische Forderungen in den öf-
                                                       fentlichen Raum und beanspruchen mehr als zu-
Wenden wir uns zunächst dem ersten Punkt zu:           vor Relevanz und Anerkennung. Forderungen
Kann der Rechtspopulismus als erstarkende po-          nach einer Wende oder Abkehr zentraler Ele-

04
Politische Bildung APuZ

mente der deutschen Erinnerungskultur, die in                     in Hamburg freigeschalteten) Onlineplattformen
der Vergangenheit nur von der NPD vertreten                       können Schülerinnen und Schüler sowie Eltern
wurden, einer Partei mit sichtbar verfassungs-                    Lehrerinnen und Lehrer anzeigen, die sich kri-
feindlichem Profil und großer Nähe zu rechtsex-                   tisch über die AfD äußern.10
tremen Kadern und Kameradschaften,06 werden                           Dabei sind die in den Landesverfassungen
heute von weniger martialisch auftretenden Po-                    oder Schulgesetzen formulierten Bildungsauf-
litikerinnen und Politikern vorgetragen.07 Das                    träge eindeutig. So ist dem sächsischen Schul-
Problem ist damit nicht die Existenz rechtspo-                    gesetz, um nur eines der vielen möglichen Bei-
pulistischer Akteure oder der Erfolg der ent-                     spiele zu nennen, mit Verweis auf das deutsche
sprechenden Parteien, sondern die Verschiebung                    Grundgesetz und die Landesverfassung Sach-
von Diskursgrenzen, die Enthemmung, mit der                       sens der Erziehungs- und Bildungsauftrag zu
rassistische Vorstellungen verbreitet werden und                  entnehmen, dass Schülerinnen und Schüler ler-
die Normalisierung nationalistischer und revisi-                  nen sollen, „allen Menschen vorurteilsfrei zu
onistischer Konzepte in der alltäglichen Kom-                     begegnen, unabhängig von ihrer ethnischen und
munikation, die durch diese Akteure gezielt vor-                  kulturellen Herkunft, äußeren Erscheinung, ih-
bereitet worden ist.                                              ren religiösen und weltanschaulichen Ansichten
                                                                  und ihrer sexuellen Orientierung sowie für dis-
                  INWIEFERN IST                                   kriminierungsfreies Miteinander einzutreten“
             DIE SCHULE BETROFFEN?                                (§ 1, Absatz 5, Satz 4) und „Ursachen und Ge-
                                                                  fahren der Ideologie des Nationalsozialismus
Pädagoginnen und Pädagogen trifft diese Ent-                      sowie anderer totalitärer und autoritärer Re-
wicklung „mit voller Wucht und vielfach unvor-                    gime zu erkennen und ihnen entgegenzuwir-
bereitet“.08 Dies schlägt sich in Verunsicherung                  ken“ (§ 1, Absatz 5, Satz 8). Die normative Per-
nieder, insbesondere bei der Frage, „ob und in                    spektive schulischer Bildung und Erziehung ist
welcher Weise sie sich zu diesen Diskursverschie-                 damit klar bestimmt: Lehrkräfte sollen sich in
bungen positionieren können und dürfen“.09 Die-                   der Schule nicht neutral verhalten. Ihnen ist viel-
se Unsicherheiten werden zusätzlich gefördert                     mehr die Aufgabe übertragen, junge Menschen
durch kampagnenförmige Angriffe der AfD auf                       für demokratische Werte zu sensibilisieren, für
schulische Institutionen, wie sie im Jahr 2018 bei-               ein diskriminierungsfreies Miteinander einzu-
spielsweise durch die sogenannten Meldeplattfor-                  treten sowie verantwortungsvolle Wege zu fin-
men sichtbar geworden sind. Über diese (zuerst                    den, sich an die deutsche Geschichte zu erinnern
                                                                  und einen antitotalitären Grundkonsens zu ver-
                                                                  treten. Soweit, so klar.
01 Vgl. u. a. Anja Besand/Bernd Overwien/Peter Zorn
(Hrsg.), Politische Bildung mit Gefühl, Bonn 2019; Anja Besand,
Therapeutische Zuwendung oder strategische Abwendung?
Rechtspopulismus und politische Bildung, in: Politikum 2/2017,    05 Vgl. u. a. Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.) Deutsche Zustände.
S. 62–71; Helmut Däuble, In Zeiten digitaler Meldeplattfor-       Folge 10, Berlin 2011; ders. (Hrsg.) Deutsche Zustände. Folge 1,
men. Der Angriff auf demokratische (politische) Bildung und       Frank­furt/M. 2002; Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler,
liberales Schulsystem, in: GWP – Gesellschaft. Wirtschaft.        Die stabilisierte Mitte: Rechtsextreme Einstellung in Deutschland
Politik 4/2019, S. 523–534; Marie Winckler, Zwischen              2014, Leipzig 2014; dies., Die Mitte im Umbruch: Rechtsextreme
Kontroversität und Komplexität. Politische Bildung im Kontext     Einstellungen in Deutschland 2012, Bonn 2012; Oliver Decker
rechtspopulistischer Vereinfachungen, in: Carl Deichmann/         et al., Die Mitte in der Krise: Rechtsextreme Einstellungen in
Michael May (Hrsg.), Orientierungen politischer Bildung im        Deutschland 2010, Bonn 2010; Das Institut für Markt- und
„postfaktischen“ Zeitalter, Berlin 2019, S. 101–114; Laura Möl-   Politikforschung (Dimap), Sachsen-Monitor 2018. Ergebnisbe-
lers/Sabine Manzel (Hrsg.), Populismus und Politische Bildung,    richt, Bonn 2018, www.staatsregierung.sachsen.de/download/
Frank­furt/M. 2018.                                               ergebnisbericht-sachsen-monitor-2018.pdf; dass., Sachsen-Mo-
02 Vgl. Anja Besand, Beutelsbach als Waffe. Über die              nitor 2016. Ergebnisbericht, Bonn 2016, www.staatsregierung.
Einschüchterungsversuche von ganz Rechts und wie die Schule,      sachsen.de/download/staatsregierung/Ergebnisbericht_Sach-
Staat und Lehrkräfte darauf reagieren können, 2018, https://      sen-Monitor_2016.pdf.
sowi-online.de/kontroverse/beutelsbach_waffe.html.                06 Vgl. u. a. Toralf Staud, Mehr als 50 Jahre rechtsextrem,
03 Vgl. Anja Besand, Vom Nutzen (neuerer) Populismusfor-          7. 3. 2016, www.bpb.de/222499.
schung für die politische Bildung. Sachsen als Labor, in: GWP     07 Vgl. Behrens/Besand/Breuer (Anm. 4).
– Gesellschaft. Wirtschaft. Politik 3/2019, S. 366–379.           08 Ebd.
04 Vgl. Rico Behrens/Anja Besand/Stefan Breuer, Plädoyer für      09 Ebd.
eine standhafte Schule, Frank­furt/M. 2020 (i. E.).               10 Vgl. dazu ausführlich Besand (Anm. 2); Däuble (Anm. 1).

                                                                                                                                05
APuZ 14–15/2020

    Unsicherheiten entstehen für viele Pädago-                    ende Schulentwicklungsprojekt startete 2015 und
ginnen und Pädagogen erst, wenn sie sich in der                   hat das Ziel, Lehrkräfte bei der Entwicklung an-
alltäglichen Praxis mit der Frage auseinanderset-                 gemessener Handlungsstrategien in der Auseinan-
zen müssen, auf welche Weise diese Bildungszie-                   dersetzung mit antidemokratischen Tendenzen zu
le am sinnvollsten zu verwirklichen wären. Denn                   unterstützen. Eine der initialen Grundannahmen
demokratische Werte können den Schülerinnen                       bestand darin, dass rassistische und revisionistische
und Schülern nicht einfach zum Memorieren                         Zwischenfälle in schulischen Kontexten als „un-
vorgeschrieben werden. Diskriminierungsfrei-                      reife“ Positionen vor allem von Schülerinnen und
heit will geübt werden, und Verantwortung für                     Schülern in die Schule hineintragen werden. Diese
die Gräuel der deutschen Geschichte in der Ge-                    Annahme hat sich nicht bestätigt. Menschenfeind-
genwart zu übernehmen, fällt nicht allen leicht.                  liche Positionen werden durchaus auch bei Lehr-
In der politischen Bildung wird das hier aufschei-                kräften, Schulleitungen, Eltern oder schulnahen
nende Problem im Regelfall durch einen Verweis                    Personen wie Hausmeisterinnen und Hausmeis-
auf den Beutelsbacher Konsens behoben.11 Die-                     tern, Verwaltungsangestellten oder Lieferantinnen
ser hält Lehrerinnen und Lehrer in der Bundes-                    und Lieferanten in schulischen Bildungskontexten
republik seit vielen Jahren dazu an, im Unter-                    sichtbar. Gerade dann lassen sie sich pädagogisch
richt nicht einseitig über politische Sachverhalte                offenbar nur sehr schwer bearbeiten. Im Kontext
zu diskutieren und Schülerinnen und Schüler bei                   des Projekts kam es aus diesem Grund nicht selten
der Entwicklung eines selbstbestimmten Urteils                    zu Treffen mit hochverunsicherten Lehrerinnen
zu unterstützen. Kontroverses muss auch im Un-                    und Lehrern, die sich in ihrem beruflichen Alltags-
terricht kontrovers erscheinen. An dieser Stel-                   handeln stark herausgefordert, um nicht zu sagen
le setzen rechtspopulistische Akteure wie die                     überfordert fühlen. Als Beispiele sollen vier Situa-
AfD mit ihren auf Verunsicherung abzielenden                      tionen skizziert werden:16
Meldeplattformen an. Sie nutzen den Beutelsba-
cher Konsens als strategisches Mittel zur Etablie-                  –– Eine Lehrkraft berichtete vom Eltern-
rung umfassender Grenzverschiebungen12 und,                            abend. Ein anwesender Vater trug an die-
so der Politikdidaktiker Helmut Däuble, die „in                        sem Abend demonstrativ ein T-Shirt der
der Tat existierende Neutralitätspflicht (…) als                       Marke Consdaple und achtete auch darauf,
Kampfbegriff gegen das existierende demokrati-                         dass alle die entsprechende Aufschrift sehen
sche Bildungssystem“. Diese Angriffe sind daher                        konnten. Consdaple ist ein eindeutig rechts-
als „Generalangriff auf das liberale Schulsystem“                      extremes Kleidungslabel,17 aber wie sollen
und nicht als „Ausrutscher“ zu verstehen.13                            Lehrkräfte auf Eltern reagieren, die diese
    Welche Auswirkungen dieser gesellschaftli-                         Kleidung in der Schule tragen?
chen Entwicklungen werden nun in schulischen                        –– Eine Lehrkraft beobachtete durch das Fens-
(Alltags-)Situationen sichtbar? Grundlage für die                      ter eines Klassenzimmers die Festnahme ei-
Beantwortung dieser Frage sind Erkenntnisse aus                        niger Schülerinnen und Schüler durch ein
dem Projekt „Starke Lehrer – Starke Schüler“.14                        Sondereinsatzkommando der Polizei. Erst
Das auf einer Studie von Rico Behrens15 aufbau-                        im Kontext der Nachrichtenberichterstat-
                                                                       tung am Abend wurde ihr klar, dass sich
11 Vgl. Wolfgang Sander et al., Was ist gute politische
                                                                       der Einsatz gegen eine mutmaßliche rech-
Bildung? Leitfaden für den sozialwissenschaftlichen Unterricht,        te Terrorzelle gerichtet hatte. In der Folge
Schwalbach/Ts. 2015.                                                   übernahm die Bundesanwaltschaft die Er-
12 Vgl. Besand (Anm. 2).                                               mittlungen, es kam zur Anklage und zur
13 Däuble (Anm. 1), S. 524.
                                                                       Verurteilung der festgenommenen Schüle-
14 Das zunächst von der Robert-Bosch-Stiftung sowie dem
sächsischen Kultusministerium und heute vom Landesamt für
Schule und Bildung Sachsen getragene Projekt ist an der Pro-      16 Für eine ausführliche Beschreibung der Fälle vgl. Behrens/
fessur der Verfasserin an der Technischen Universität Dresden     Besand/Breuer (Anm. 4).
angesiedelt, vgl. Anja Besand, Starke Lehrer – Starke Schüler,    17 Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.), Rechtsextremis-
6. 1. 2020, https://tu-dresden.de/gsw/phil/powi/dpb/forschung/    mus: Symbole, Zeichen, verbotene Organisationen, Oktober
projekte/starke-lehrer.                                           2018, S. 64, www.verfassungsschutz.de/de/oeffentlichkeits-
15 Vgl. Rico Behrens, Solange die sich im Klassenzimmer anstän-   arbeit/publikationen/pb-rechtsextremismus/broschuere-
dig benehmen. Politiklehrer/innen und ihr Umgang mit rechtsext-   2018-10-rechtsextremismus-symbole-zeichen-und-verbotene-
remer Jugendkultur in der Schule, Schwalbach/Ts. 2014.            organisationen.

06
Politische Bildung APuZ

     rinnen und Schüler, unter anderem wegen                    Bewusstsein treten lassen. Fremdenfeindlichkeit,
     der Gründung einer terroristischen Verei-                  Rassismus und andere Dimensionen gruppenbe-
     nigung. Die Lehrkraft versuchte mehrmals,                  zogener Menschenfeindlichkeit oder Ungleich-
     die Schulleitung dafür zu gewinnen, den                    wertigkeitsvorstellungen sind keine überwunde-
     Zwischenfall mit der Schülerschaft zu be-                  nen Phänomene. Sie drängen sich seit geraumer
     sprechen – ohne Erfolg. Die Schulleitung                   Zeit auch durch beobachtbares Verhalten wieder
     befürchtete möglicherweise, dass sich eine                 in die öffentliche Aufmerksamkeit. Während die
     zu offene Thematisierung negativ auf das                   einen vor der Rückkehr autoritärer, völkischer
     Image der Schule auswirken könnte.                         und nationalistischer Ideen erschrecken, sind an-
  –– Eine Schülerin wehrte sich gegen antisemi-                 dere ermutigt, im Rahmen neu entstandener Pro-
     tische Hetze, die wiederholt im Klassenchat                testbewegungen und Parteien solche Konzep-
     sichtbar geworden war, und geriet dadurch                  te zu aktualisieren und als „normale“ Positionen
     selbst in den Mittelpunkt der Auseinander-                 zurück in den Diskurs zu bringen.21
     setzungen. Sie suchte erfolglos Unterstüt-                     Lehrkräfte reagieren auf antidemokratische
     zung bei Lehrkräften und entschied sich                    Zwischenfälle oft mit großer Zurückhaltung.
     schließlich dazu, Mitschüler/innen bei der                 Das hat verschiedene Gründe. Lehrerinnen und
     Polizei anzuzeigen.18                                      Lehrer haben nicht selten Schwierigkeiten, die
  –– Bei einem Workshop zum Thema Men-                          entsprechenden Zwischenfälle als solche wahr-
     schenrechte reagierten die teilnehmenden                   zunehmen, weil sie diese nicht als menschen-
     Schülerinnen und Schüler stark ablehnend                   feindlich erkennen und/oder sie sich oft außer-
     auf das Lernangebot. Am Ende der Veran-                    halb von Unterrichtssituationen ereignen, etwa
     staltung empfahlen sie der Workshoplei-                    im Klassenchat, auf dem Schulhof, im Lehrerzim-
     terin, doch selbst einmal ins Konzentra-                   mer oder beim Elternabend. Daher ergibt sich für
     tionslager zu gehen und die Gaskammer                      sie die problematische Frage, wer sich für die Be-
     anzumachen.19                                              arbeitung oder Lösung der entsprechenden Kon-
                                                                flikte zuständig erklärt. So fühlen sich Lehrerin-
        WIE REAGIEREN LEHRERINNEN                               nen und Lehrer beispielsweise häufig nicht dazu
               UND LEHRER?                                      berufen, das Verhalten von Eltern oder Kolle-
                                                                ginnen und Kollegen im schulischen Kontext zu
Von den gesellschaftlichen Auseinandersetzun-                   kommentieren. Zudem erleben sie Zwischenfäl-
gen bleiben Schulen und außerschulische Bil-                    le wie die vorgestellten Beispiele nicht selten als
dungseinrichtungen also nicht verschont. Auch in                Bewährungsproben, in denen sie Handlungsfä-
Bildungskontexten sind Konzepte mit Anschluss                   higkeit beweisen und die Auseinandersetzung
zur extremen Rechten sagbar geworden, ohne dass                 „gewinnen“ müssen.22 Der Stress, der damit ver-
deshalb sofort Konsequenzen drohen. Populisti-                  bunden ist, führt häufig dazu, dass sich Lehrerin-
sche Sprache, inszenierte politische Tabubrüche                 nen und Lehrer gar nicht erst auf die Herausfor-
zusammen mit gesellschaftlichen Herausforde-                    derungen einlassen. Selbstverständlich ist damit
rungen wie Flucht- und Migrationsbewegungen                     nicht gesagt, dass ausweichendes Verhalten in
haben das, was Studien zu rechtsextremen bezie-                 allen pädagogischen Kontexten in gleicher Bri-
hungsweise menschenfeindlichen Einstellungen                    sanz sichtbar wird. Viele Lehrerinnen und Leh-
schon seit langer Zeit als Phänomen aus der Mitte               rer, Schulleitungen und pädagogische Fachkräfte
der Gesellschaft beschreiben,20 in das öffentliche              arbeiten nicht nur engagiert, sondern auch pro-
                                                                fessionell und erfolgreich in ihrem jeweiligen pä-
                                                                dagogischen Umfeld. Nichtsdestotrotz werden
18 Vgl. dazu: 15-Jährige zeigt Mitschüler an – und gewinnt
Preis, 7. 11. 2017, www.spiegel.de/​a-1176932.html.
                                                                bei einer eingehenderen Analyse doch regelmäßig
19 Siehe auch Tobias Wilke, Update: Anti-Rassismus-Workshop     mögliche didaktische Klippen und Handlungs-
im Erzgebirge geht schief, 24. 5. 2019, www.mdr.de/sachsen/     empfehlungen sichtbar, die sich in der Auseinan-
chemnitz/annaberg-aue-schwarzenberg/schule-skandal-nazipa-      dersetzung mit menschenfeindlichen Positionen
rolen-erzgebirge-100.html.
                                                                in der Schule ergeben.
20 Vgl. u. a. Andreas Zick/Beate Küpper/Wilhelm Berghan,
Verlorene Mitte. Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstel-
lungen in Deutschland 2018/19, Bonn 2019 und die Studien von    21 Vgl. Behrens/Besand/Breuer (Anm. 4).
Dimap (Anm. 5) und Heitmeyer (Anm. 5).                          22 Vgl. Behrens (Anm. 15).

                                                                                                                        07
APuZ 14–15/2020

          HANDLUNGSPERSPEKTIVEN                      sollen keine unpolitischen Orte sein. Pauscha-
                                                     lisierte Abwertungskonstruktionen und men-
Das Ignorieren herausfordernder Situationen          schenfeindliche Aussagen – auch in symboli-
ist die schlechteste Möglichkeit, auf menschen-      schen Formen – sind allerdings zu vermeiden.
verachtende Aussagen und Verhaltensweisen im         Ein Peace-Sticker ist in diesem Sinne eben et-
schulischen Kontext zu reagieren. In der poli-       was anderes als ein geschichtsrevisionistischer
tikdidaktischen Literatur wird diese Problema-       Spruch auf einem T-Shirt.
tik auch als „Indifferenzfalle“ beschrieben.23 Das       In der politischen Bildung existiert mit dem
heißt: In jeder Bildungssituation sollte die kla-    Beutelsbacher Konsens eine gut verankerte und
re demokratisch-menschenrechtsorientierte Hal-       klar konturierte Vorstellung davon, wie dabei
tung von Lehrkräften erkennbar sein. Dies gilt       politische Indoktrination zu vermeiden ist, Kon-
insbesondere dann, wenn Akteure menschen-            troversität gewährleistet werden kann und Schü-
verachtende oder geschichtsrevisionistische Äu-      lerorientierung realisiert werden kann. Leider er-
ßerungen normalisieren und damit „Grenzen            geben sich in diesem Zusammenhang aber auch
des Sagbaren“ zu verschieben versuchen. Daran        Missverständnisse. Daher ist es wichtig zu beto-
dürfen sich Lehrkräfte im Kontext politischer        nen, dass der Beutelsbacher Konsens nicht mit
Bildung keinesfalls beteiligen. Legalistische Ar-    politischer Neutralität gleichzusetzen ist. Viel-
gumentationsweisen, in denen Lehrkräfte oder         mehr ist er im Sinne des Grundgesetzes wertge-
pädagogisches Fachpersonal darauf verweisen,         bunden. Er mahnt dazu, demokratische Werte
auch in schulischen Bildungskontexten nur dann       wie Pluralismus und Menschenrechte in den Mit-
zum Handeln aufgefordert zu sein, wenn im ju-        telpunkt von Bildungsprozessen zu nehmen. An-
ristischen Sinne fassbare Rechtsverstöße sicht-      tiplurale, menschenfeindliche oder rassistische
bar werden,24 sind dabei unangemessen. In Bil-       Positionen dürfen deshalb nicht als gleichberech-
dungsinstitutionen lassen sich Handlungsimpulse      tigte Kontroversen behandelt werden. Sehr pro-
nicht erst durch strafrechtlich relevantes Verhal-   blematisch wäre es etwa, wenn Lehrkräfte sich in
ten legitimieren.                                    Bildungssituationen daran beteiligten, bestimm-
    Zugleich ist es wichtig, nicht überzureagie-     te Gruppen als fremd oder anders zu markieren.
ren und damit Provokationen, die in Form von         Diese als othering bezeichneten Prozesse zeigen
menschenfeindlichen Äußerungen vorgetra-             sich offen oder verdeckt und haben sowohl in-
gen werden, nicht auf den Leim zu gehen. Das         dividuelle als auch strukturelle Konsequenzen
kann leicht passieren. Auch ein Einordnen in         durch die Konstruktion vermeintlicher Minder-
„Freund-Feind“-Kategorien ist in diesem Zu-          wertigkeit und Überlegenheit. Othering wird auf
sammenhang wenig hilfreich. In pädagogi-             unterschiedlichen Ebenen sichtbar: in struktu-
schen Situationen bleibt es wichtig, wo möglich      reller Ausbeutung und Benachteiligung, in Zei-
den Kontakt zu Menschen zu halten. So kön-           chen oder Objekten, in Witzen oder bestimmten
nen etwa Hausordnungen, schulische Leitbilder        Begriffen, aber auch in Vorannahmen oder Vor-
und ein institutionelles Selbst- beziehungswei-      urteilen gegenüber bestimmten Personen oder
se Leitbildverständnis in Konfliktfällen Ori-        Gruppen.
entierung bieten und helfen, zu abgestimmten             Das Selbstbewusstsein und die emotionale
Handlungsweisen zu kommen. Sie sollten aber          Wucht, mit der breite Bevölkerungsgruppen quasi
nicht so eng formuliert werden, dass Einzelfall-     über Nacht ihre politische Frustration sichtbar
entscheidungen nicht mehr möglich sind. In die-      gemacht haben, haben nicht nur auf politischer
sem Sinne ist es beispielsweise wenig ratsam, die    Ebene vielfältige neue Formate für Dialogveran-
Kommentierung politischer Fragen oder Pro-           staltungen und Bürgergespräche entstehen lassen.
bleme über Kleidungsstücke umfassend zu ver-         Weniger in den Blick geraten sind in diesem Zu-
bieten. Kleidung, Frisuren und Habitus drücken       sammenhang die Opfer rassistischer, sexistischer,
immer auch Haltungen aus. Sie können nicht           homophober oder menschenverachtender An-
aus Bildungsinstitutionen herausgehalten wer-        feindungen. Ähnliches gilt für schulische Kon-
den. Schulen und andere Bildungseinrichtungen        texte. Die Aufmerksamkeit von Lehrerinnen und
                                                     Lehrern ist bei der Auseinandersetzung mit ex-
23 Besand (Anm. 3), S. 377.                          tremistischem und revisionistischem Gedanken-
24 Vgl. Behrens (Anm. 15).                           gut häufig stark auf präventive Ansätze gerich-

08
Politische Bildung APuZ

tet. Diese Konzepte greifen vor dem Hintergrund      tig, wenn pädagogisches Personal zum Objekt
eines erstarkenden Rechtspopulismus aber nicht       politischer Angriffe wird. In allen Bundeslän-
selten zu kurz. Deshalb müssen Betroffenenpers-      dern gibt es mobile schulische Beratung oder de-
pektiven bei der Reflexion pädagogischer Strate-     mokratiepädagogische Initiativen, die in diesem
gien immer mit in den Blick genommen werden.         Zusammenhang unterstützen können.
Oft befürchten Lehrkräfte, dass sie etwa durch           Insbesondere in Zeiten, in denen die liberale
die Thematisierung rassistischer und revisionis-     Demokratie vor Herausforderungen steht, gerät
tischer Zwischenfälle in der Schule ihren Schü-      die politische Bildung oft schnell in die Defensive
lerinnen und Schülern die entsprechenden Kon-        und versteigt sich in der Legitimation bestehen-
zepte erst zugänglich und bekannt machen. Mit        der Strukturen und Verfahren. Lehrkräfte könn-
dieser Vorstellung ist häufig zugleich die Hoff-     ten sich in diesem Sinne angesichts rechtspo-
nung verbunden, die Mehrzahl der Schülerin-          pulistischer Entwicklungen, einer umfassenden
nen und Schüler hätte von dem als problematisch      Kritik an Medien und Expertinnen und Exper-
empfundenen Sachverhalt noch nichts mitbe-           ten sowie einer nicht unerheblichen Europaskep-
kommen. Erfahrungsgemäß sind sowohl diese            sis (um nur einige Aspekte zu nennen) genötigt
Ängste als auch diese Hoffnungen unbegründet.        sehen, in ihrem Unterricht die Leistungsfähig-
Schülerinnen und Schüler sind meist lange vor ih-    keit des politischen Systems zu betonen, öffent-
ren Lehrkräften über die entsprechenden „Pro-        lich rechtliche Medien zu preisen und ein hohes
bleme“ oder Phänomene im Bilde und verfallen         Lied über Europa zu singen. Legitimation ist
ihnen deshalb nicht umstandslos. Gerade die Ent-     aber nicht die Aufgabe politischer Bildung in der
wicklungen im Web 2.0 und den digitalen Medien       Demokratie. Sie sollte deshalb nie im Bestehen-
machen hier eher einen problemorientierten Um-       den verhaftet bleiben, sondern immer offen sein,
gang nötig.                                          sich neuen gesellschaftlichen Herausforderungen
     Überaus verbreitet und wenig hilfreich ist      wertgebunden zu stellen und nach neuen Lösun-
auch die Vorstellung, dass rassistische, sexisti-    gen zu suchen.
sche oder menschenfeindliche Äußerungen in
pädagogischen Situationen grundsätzlich nur
durch Unterricht zu bearbeiten sind. Argumen-
tationsweisen wie diese dienen zuweilen auch als
Entlastungsstrategie. Schließlich könne man, so
eine gern genutzte Argumentationsweise, „nach
einem bestimmten Zwischenfall im schulischen
Kontext doch nicht regelmäßig den Stundenplan
umwerfen“. So wird pädagogisches Handeln un-
möglich gemacht. Statt alles im Unterricht lösen
zu wollen, sind Einzelgespräche mit Schülerin-
nen und Schülern sowie weitergehende Bear-
beitungssettings möglich und sinnvoll. Auch sie
gehören in den Instrumentenkasten von Lehr-
kräften und sind nicht exklusiv an die Schulso-
zialarbeiterinnen und Sozialarbeiter zu delegie-
ren. Lehrkräfte neigen zudem zu einer Kultur
von Einzelkämpferinnen und -kämpfern. Sie su-
chen in der Auseinandersetzung mit herausfor-
dernden Fällen oft erst spät kollegialen Beistand.
Dies ist aus zwei Perspektiven problematisch.
Zum einen müssen Auseinandersetzungen mit
diesen Herausforderungen oft systemisch be-
arbeitet werden. Zum anderen sind Netzwerke          ANJA BESAND
zwischen Kolleginnen und Kollegen, aber auch         ist Professorin für Didaktik der politischen Bildung
zwischen Lehrkräften und Akteuren der außer-         an der Technischen Universität Dresden.
schulischen Präventionsarbeit immer dann wich-       anja.besand@tu-dresden.de

                                                                                                            09
APuZ 14–15/2020

                       WIE POLITISCH DÜRFEN
                         LEHRKRÄFTE SEIN?
          Rechtliche Rahmenbedingungen und Perspektiven
                                            Michael Wrase

Das Erstarken rechtspopulistischer und auch             lichen Handlungsrahmen verlassen können, der
rechtsextremer Kräfte, das zuvor bereits in vielen      ihnen eine möglichst klare Orientierung bietet.
europäischen Nachbarländern beobachtet werden           Dabei muss eine politische Werbung oder gar In-
konnte, hat in Deutschland zu einer Verschärfung        doktrinierung in der Schule, vor allem mit Blick
gesellschaftlicher und politischer Debatten ge-         auf populistische und extremistische Positionen,
führt.01 Diese Entwicklung macht auch vor Schu-         ausgeschlossen sein.06 Gerade in der politischen
len nicht halt.02 Als Orte der gesellschaftlich-poli-   Bildung ist ein weiter Spielraum eröffnet, um das
tischen Bildung, Erziehung und Wertevermittlung         Eintreten für Menschenrechtsbildung und gegen
stehen diese nicht abseits gesellschaftlicher Kon-      rassistische und (rechts)populistische Tendenzen
troversen, sondern mitten darin.                        in Gesellschaft und Politik zu ermöglichen.07 Wie
    Kontroversen haben auch in verschiedenen            gezeigt werden soll, ist dies ein zentrales, durch
Bundesländern eingerichtete Online-Meldepor-            den staatlichen Bildungs- und Erziehungsauf-
tale der AfD mit dem Titel „Neutrale Schulen“           trag im Sinne von Artikel 7 Absatz 1 Grundge-
ausgelöst. Dort sollen Schüler*­innen und Eltern        setz (GG) vorgegebenes Ziel schulischer Bildung.
angeblich AfD-feindliche Äußerungen oder Ak-            Die Frage, wie politisch Lehrende in Schule sein
tionen von Lehrkräften oder andere „Missstän-           dürfen, wird in diesem Beitrag auf Grundlage
de“ an Schulen anzeigen.03 Der Staatsrechtler           der geltenden Regelungen und Rechtsprechung
Christoph Degenhart sprach in diesem Zusam-             diskutiert.
menhang von einem „Pranger“ für Lehrkräfte,
die Baden-Württembergische Kultusministerin                          GEBOT POLITISCHER
Susanne Eisenmann (CDU) – ähnlich wie andere                            NEUTRALITÄT
Minister*­innen auf Bundes- und Landesebene –
von einer „Denunziationsplattform“.04 Die AfD           Ein Gebot vollständiger politischer Neutralität
selbst will den Vorwurf der Einschüchterung             von Lehrer*­innen (oder auch anderen pädago-
nicht gelten lassen. Vielmehr sieht sie sich von        gisch Mitarbeitenden) in der Schule gibt es nicht.
vielen Pädagog*­innen zu Unrecht einseitig ange-        Der Rechtswissenschaftler Joachim Wieland
griffen und ihr Recht auf chancengleiche Teilha-        spricht mit Recht von einem „Mythos“.08 Im Be-
be am politischen Prozess verletzt. In Hamburg          amtenrecht verankert ist vielmehr der Grund-
soll die Schulbehörde auf Hinweis der AfD so-           satz, dass Beamt*­innen „bei politischer Betäti-
gar in einigen Schulen „interveniert“ haben.05 Das      gung diejenige Mäßigung und Zurückhaltung zu
schafft Verunsicherung.                                 wahren [haben], die sich aus ihrer Stellung ge-
    Vor diesem Hintergrund ist es umso wich-            genüber der Allgemeinheit und aus der Rück-
tiger, dass sich Lehrkräfte und Pädagog*­      innen    sicht auf die Pflichten ihres Amtes ergibt“ (§ 33
gerade mit Blick auf die Gefährdung von De-             Abs. 2 Beamtenstatusgesetz, BeamtStG). Dieses
mokratie und Menschenrechten nicht politisch            Gebot gilt in gleicher Weise für angestellte Lehr-
indifferent verhalten, sondern sich mit verstärk-       personen.09
ter Aufmerksamkeit der politischen Bildung und              Die Pflicht zur Wahrung politischer Zurück-
Demokratieerziehung widmen. Um gegen Ein-               haltung durch Lehrkräfte ist ein wichtiges Prin-
schüchterungen, welcher Art auch immer, ge-             zip. Es ergibt sich rechtlich aus dem Bildungs-
wappnet zu sein, müssen sie sich auf einen recht-       und Erziehungsauftrag des Staates, der in Art. 7

10
Politische Bildung APuZ

Abs. 1 GG seine Grundlage findet. Wenn der                          in Form eines „Sich-Heraushaltens“ und des
Staat neben den Eltern – wie es die Rechtspre-                      „Nicht-Flagge-Zeigens“ senden könnte.13 Es ist
chung formuliert – „gleichgeordnet“ eine Ver-                       daher nicht nur zulässig, sondern im Sinne des
antwortung für die Bildung und Erziehung von                        politischen Bildungs- und Erziehungsauftrags
Kindern und Jugendlichen übernimmt,10 muss er                       sinnvoll, dass Pädagog*­innen in Diskussionen
sicherstellen, dass die unterschiedlichen gesell-                   auch eigene Positionen vertreten, soweit sie die
schaftlichen, religiösen, ethischen und politischen                 Schüler*­innen damit nicht einseitig beeinflus-
Anschauungen in der Schule gleichermaßen res-                       sen.14 Die hohen Anforderungen, welche die
pektiert werden und keine einseitige Beeinflus-                     Rechtsprechung an die parteipolitischen Neu-
sung der Schüler*­innen stattfindet. Da Lehrkräfte                  tralitätspflichten von Amtsträger*­innen in Mi-
diesen Bildungs- und Erziehungsauftrag umset-                       nisterien und Verwaltungen gestellt hat,15 lassen
zen, sind sie in diesem Sinne zur Zurückhaltung                     sich vor diesem Hintergrund nicht auf das Mä-
und Mäßigung verpflichtet.11                                        ßigungsgebot für Lehrpersonen in der Schule
    Aber was bedeutet das konkret? Die Recht-                       übertragen.
sprechung hat hierzu jedenfalls wiederholt be-                          Das Gebot politischer Neutralität wird dann
tont, dass damit jedenfalls nicht gemeint ist,                      verletzt, wenn Lehrkräfte gegenüber den Schü­
Lehrer*­ innen dürften eigene politische Über-                      ler*­innen einseitig oder provokativ für eine be-
zeugungen im Unterricht nicht äußern oder                           stimmte politische Auffassung oder eine Partei
müssten sie gar verbergen. Sie können sich viel-                    werben.16 Denn dann nutzen sie ihre Position zur
mehr auch in der Schule und im Unterricht                           aktiven Durchsetzung eigener Anschauungen.
auf ihr Recht auf Meinungsfreiheit nach Art. 5                      Das gilt auch dann, wenn sie Anti-Werbung ge-
Abs. 1 GG berufen.12 In der politikdidaktischen                     genüber Parteien betreiben, die dem demokrati-
Diskussion wird darauf hingewiesen, dass die                        schen Spektrum angehören, oder diese gezielt dif-
„strikte Neutralität“ einer Lehrperson im Sinne                     famieren. Das Mäßigungsverbot aus § 33 Abs. 2
von gesellschaftspolitischer Indifferenz im Ge-                     BeamtStG stellt insofern ein allgemeines Gesetz
genteil ein fatales Signal an die Schüler*­innen                    als Schranke der Meinungsausübung nach Art. 5
                                                                    Abs. 2 GG dar, die durch ein solches Verhalten
                                                                    überschritten wird.
01 Dieser Beitrag beruht auf einem Vortrag, den der Verfasser
                                                                        In deutlich abgeschwächter Form gilt das Mä-
auf der Veranstaltung „Allianzen für Demokratie in der Schule“
des Zentrums für Bildungsintegration (ZfB) am 7. 2. 2019 an der
                                                                    ßigungsverbot auch außerhalb der Schule.17 Es
Universität Hildesheim gehalten hat.                                wird verletzt, wenn Lehrkräfte menschenverach-
02 Zur außerschulischen Bildungsarbeit vgl. Friedhelm Hufen,        tende und verfassungsfeindliche Positionen ver-
Politische Jugendbildung und Neutralitätsgebot, in: Recht der       treten oder demokratische Institutionen verun-
Jugend und des Bildungswesens 2/2018, S. 216–221. Siehe auch
                                                                    glimpfen. Ein solches Verhalten hat, auch wenn
den Beitrag von Hendrik Cremer und Mareike Niendorf in dieser
Ausgabe (Anm. d. Red.).
                                                                    es außerhalb des Dienstes stattfindet, disziplinar-
03 Vgl. Hendrik Cremer, Das Neutralitätsgebot in der Bildung.       beziehungsweise arbeitsrechtliche Folgen und
Neutral gegenüber rassistischen und rechtsextremen Positionen
von Parteien?, Deutsches Institut für Menschenrechte, Berlin
2019, S. 10.                                                        10 Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
04 Zit. nach Tilman Steffen/Judith Luig, Verpetz deine Lehrer,      (BVerfGE), 34, 165 (183); 41, 29 (44); 98, 218 (244); 108, 282
12. 10. 2018, www.zeit.de/gesellschaft/schule/2018-10/afd-          (301); ständige Rechtsprechung.
lehrerpranger-url-afd-lehrerpranger-online-denunziation-eltern-     11 Vgl. zusammenfassend Hermann Avenarius/Felix Hansch-
schueler.                                                           mann, Schulrecht, Köln 20199, S. 640 ff. mit weiteren Nachweisen.
05 Hanna Knuth, Dürfen Lehrer ihre Meinung sagen?,                  12 Vgl. Bundesarbeitsgericht (Anm. 6), S. 2889 f.; Verwaltungs-
23. 6. 2018, www.zeit.de/2018/26/afd-lehrer-neutralitaetsge-        gericht Berlin, Disz. 99/80, NJW 1982, 30. 9. 1981, S. 1113.
bot-beschwerde.                                                     13 Bernd Overwien, Politische Bildung ist nicht neutral, in:
06 Vgl. Bundesarbeitsgericht, 1 AZR 694/79, NJW 1982,               Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit 1/2019, S. 26–38, hier
2. 3. 1982, S. 2888 ff.                                             S. 29.
07 Joachim Wieland, Was man sagen darf: Mythos Neutralität          14 Vgl. ausführlich ebd., S. 28 ff.
in Schule und Unterricht, Hintergrundpapier der Friedrich-Ebert-    15 Siehe nur BVerfGE, 148, 11–40, 27. 2. 2018, S. 485–492;
Stiftung zu „Politische Bildung in der Schule“, April 2019, S. 2,   Verwaltungsgericht Köln, 4 L 750/17, 30. 3. 2017.
http://library.fes.de/pdf-files/studienfoerderung/15341.pdf;        16 Vgl. Avenarius/Hanschmann (Anm. 11), S. 641; Bundesar-
Cremer (Anm. 3), S. 12 ff.                                          beitsgericht (Anm. 6), S. 2889.
08 Wieland (Anm. 7), S. 1.                                          17 Vgl. Avenarius/Hanschmann (Anm. 11), S. 640 f. mit weite-
09 Vgl. Bundesarbeitsgericht (Anm. 6), S. 2889.                     ren Nachweisen.

                                                                                                                                  11
APuZ 14–15/2020

führt in der Regel zur Kündigung beziehungs-                     Bundesländer.20 Sie sind die Grundlage entspre-
weise Entfernung aus dem Dienst.18                               chender Beschlüsse der Kultusministerkonferenz
                                                                 (KMK) zur Demokratieerziehung und zur Men-
                  BILDUNGS- UND                                  schenrechtsbildung in der Schule.21
               ERZIEHUNGSAUFTRAG                                     Es kann kein Zweifel bestehen, dass ein klares
                                                                 Bekenntnis gegen Rechtsextremismus, Rassismus
Eine kritische Auseinandersetzung mit politi-                    und Fremdenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft
schen Positionen hingegen ist nicht nur zuläs-                   einer solchen Erziehung im Sinne der Werteord-
sig, sondern wird durch den Bildungsauftrag der                  nung des Grundgesetzes sowie der Landesverfas-
Schule nach den Landesschulgesetzen ausdrück-                    sungen und Schulgesetze entspricht.22 Würden
lich gefordert. Das gilt zweifellos auch und be-                 sich die Lehrkräfte etwa gegenüber Hass, Aus-
sonders für die Beschäftigung mit rechtspo-                      grenzung, Diskriminierung und Hetze indiffe-
pulistischen, diskriminierenden und mitunter                     rent verhalten, so gäbe dies mit Blick auf die ge-
rassistischen Positionen, die teilweise auf simp-                nannten verfassungsmäßigen Werte Anlass zu
len, aber wirkmächtigen Parolen fußen, etwa vor                  erheblicher Sorge. Dann müsste gefragt werden,
einer „Überfremdung“ Deutschlands warnen,                        ob der Bildungs- und Erziehungsauftrag (noch)
türkischstämmigen Menschen einen geringeren                      ausreichend verwirklicht und gelebt wird. Es ist
„Intelligenz-Quotienten“ zusprechen oder „den“                   daher geboten, die Gefahren von populistischen
Islam pauschal für mit einer „deutschen Kultur“                  und nationalistischen Bewegungen, von Rassis-
nicht vereinbar erklären.                                        mus, gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit
    Der staatliche Bildungs- und Erziehungs-                     und Diskriminierung im Unterricht zu themati-
auftrag fordert ausdrücklich eine Erziehung                      sieren.23 Insoweit formuliert der Politikdidakti-
im Sinne demokratischer Grundsätze und der                       ker Bernd Overwien treffend, dass politische Bil-
Werte des Grundgesetzes.19 So heißt es bei-                      dung in der Schule nicht „neutral“ ist – und es
spielsweise im Niedersächsischen Schulgesetz                     nicht sein darf.24
(NSchG), Schüler*­innen sollen unter anderem                         In diesem Zusammenhang ist darauf hinzu-
„fähig werden, die Grundrechte für sich und je-                  weisen, dass Demokratie- und Menschenrechts-
den anderen wirksam werden zu lassen, die sich                   erziehung nicht auf den Unterricht in gesell-
daraus ergebende staatsbürgerliche Verantwor-                    schaftswissenschaftlichen Fächern beschränkt
tung zu verstehen und zur demokratischen Ge-                     bleiben dürfen, sondern als „Querschnittsauf-
staltung der Gesellschaft beizutragen, (…) re-                   gabe“ das gesamte Schulleben betreffen.25 So ist
ligiöse und kulturelle Werte zu erkennen und                     es nach Maßgabe der KMK-Beschlüsse Aufgabe
zu achten, (…) ihre Beziehungen zu anderen
Menschen nach den Grundsätzen der Gerech-
                                                                 20 Vgl. § 1 Schulgesetz Baden-Württemberg; Art. 2 Bayeri-
tigkeit, der Solidarität und der Toleranz sowie                  sches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesesen;
der Gleichberechtigung der Geschlechter zu ge-                   § 3 Schulgesetz Berlin; § 4 Brandenburgisches Schulgesetz; § 5
stalten, den Gedanken der Völkerverständigung                    Bremisches Schulgesetz; § 2 Hamburgisches Schulgesetz; § 2
(…) zu erfassen und zu unterstützen und mit                      Hessisches Schulgesetz; § 2 Schulgesetz für das Land Mecklen-
                                                                 burg-Vorpommern; § 2 Schulgesetz Nordrhein-Westfalen; § 1
Menschen anderer Nationen und Kulturkreise
                                                                 Schulgesetz Rheinland-Pfalz, § 1 Schulordnungsgesetz Saarland;
zusammenzuleben“ sowie „sich umfassend zu                        § 1 Sächsisches Schulgesetz; § 1 Schulgesetz des Landes
informieren und die Informationen kritisch zu                    Sachsen-Anhalt; § 4 Schleswig-Holsteinisches Schulgesetz; § 2
nutzen“ (§ 2 NSchG). Diese rechtlich binden-                     Thüringer Schulgesetz.
den Bildungs- und Erziehungsziele finden sich                    21 KMK (Anm. 19); dies., Menschenrechtsbildung in der Schule,
                                                                 Beschluss der KMK vom 4. 12. 1980 i. d. F. vom 11. 10. 2018,
in ähnlicher Form in den Schulgesetzen aller
                                                                 www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_
                                                                 beschluesse/1980/1980_12_04-Menschenrechtserziehung.pdf.
18 Vgl. Arbeitsgericht Berlin, 60 Ca 7170/18, 16. 1. 2019,       22 Vgl. u. a. Kerstin Pohl, Kontroversität: Wie weit geht das
in: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht – Rechtsprechungsreport    Kontroversitätsgebot für die politische Bildung?, 19. 3. 2015,
8/2019, S. 414–423.                                              www.bpb.de/193225.
19 Vgl. Kultusministerkonferenz, Demokratie als Ziel, Gegen-     23 Vgl. ausführlich unter Bezugnahme auf Grund- und Men-
stand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung    schenrechte Cremer (Anm. 3), S. 12 ff.; Wieland (Anm. 7), S. 4 f.;
in der Schule, Beschluss der KMK vom 6. 3. 2009 i. d. F. vom     KMK (Anm. 19), S. 8 f.
11. 10. 2018, S. 3 f., www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/Pres-   24 Vgl. Overwien (Anm. 13), S. 28 ff.
seUndAktuelles/2018/Beschluss_Demokratieerziehung.pdf.           25 Vgl. KMK (Anm. 19), S. 8.

12
Politische Bildung APuZ

der Schule insgesamt, „zu einer menschenrechts-                        Zurückhaltung und Chancengleichheit bedeutet
sensiblen und -fördernden Haltung zu erziehen,                         nämlich nicht, dass alle im demokratischen Par-
das erforderliche Wissen und geeignete Urteils-,                       teienspektrum vertretenen Auffassungen bis zur
Handlungs- und Gestaltungskompetenzen zu                               Grenze der Verfassungsfeindlichkeit im Sinne des
vermitteln sowie zu offenem und aktivem Enga-                          Art. 21 Abs. 2 GG gleichermaßen als legitim dar-
gement zu ermutigen“.26 Der Politikunterricht                          zustellen sind. Das gilt insbesondere in der Aus-
hat dabei allerdings eine hervorgehobene Aufga-                        einandersetzung mit rechtspopulistischen Partei-
be, die „Schülerinnen und Schüler zur politischen                      en wie der AfD.
Mündigkeit zu befähigen“.27                                                Während in der Gründungszeit der AfD um
                                                                       das Jahr 2013 in ihrer Programmatik vor allem
           THEMATISIERUNG VON                                          europaskeptische Positionen vorherrschend wa-
       RECHTSPOPULISMUS, RASSISMUS                                     ren, rückten kritische Positionen gegenüber Zu-
           UND DISKRIMINIERUNG                                         wanderung, Integration und Diversität immer
                                                                       mehr in den Vordergrund. Die ursprünglich als
Für die Bildungsarbeit in den Schulen ist vor                          eher „gemäßigt“ einzustufende Parteiführung
diesem Hintergrund nicht ein Prinzip der Neu-                          verlor immer mehr an Rückhalt bei der Mehr-
tralität im Sinne der Nicht-Thematisierung po-                         heit der Funktionäre und Mitglieder.31 Gleich-
litischer Positionen durch Pädagog*­    innen das                      zeitig gewannen Strömungen „mit Ausläufern in
Leitbild – eine Laizität in Bildungsfragen sozusa-                     den Rechtsextremismus“ in der AfD zunehmend
gen, die versucht, politische Fragen aus der Schu-                     an Einfluss.32 Teile der Partei stehen heute auf-
le auszuklammern.28 Vielmehr ist der wichtigste                        grund von migrations- und muslimfeindlichen
Prüfungsmaßstab das Prinzip der Gleichbehand-                          Positionierungen im Fokus des Verfassungs-
lung und Chancengleichheit der politischen Par-                        schutzes.33 Die AfD-Teilorganisation „Der Flü-
teien und Strömungen.29 Lehrkräfte müssen po-                          gel“ wird von diesem als „gesichert rechtsextre-
litische Sachverhalte ausgewogen und sachlich                          mistische Bestrebung“ eingestuft.34 Nach einer
behandeln. Es wurde bereits darauf hingewiesen,                        Analyse von Hendrik Cremer vom Deutschen
dass sie dabei ihre eigenen Überzeugungen nicht                        Institut für Menschenrechte sind „rassistische
zu verbergen brauchen – und dies auch nicht sol-                       Positionierungen Bestandteil ihres Programms,
len. Sie dürfen diese jedoch den Schüler*­innen                        ihrer Strategie sowie von Positionierungen
nicht aufdrängen, und sie haben dafür Sorge zu                         durch Führungspersonen und Mandatsträger_­
tragen, dass andere Auffassungen ausreichend                           innen bis hin zu offen ausgesprochenen Dro-
zur Geltung kommen: „Das Klassenzimmer darf                            hungen, in denen sie einer gewaltsamen Macht-
nicht zur Arena politischer Auseinandersetzun-                         ergreifung zur Erreichung ihrer politischen Ziele
gen umfunktioniert werden.“30                                          das Wort reden“.35
     Eine kritische Auseinandersetzung mit politi-                         Diese Positionierungen innerhalb der AfD
schen Inhalten und Positionen, wie sie nach dem                        und anderen rechtspopulistischen Parteien
Bildungsauftrag geboten ist, kann indes zu Fest-                       können und sollten von Lehrkräften themati-
stellungen oder Einschätzungen führen, die für                         siert und mit den Schüler*­innen kritisch reflek-
bestimmte politische Richtungen oder Parteien                          tiert werden. Darin liegt nach der Rechtspre-
nachteilig sind. Das Gebot der (partei)politischen                     chung keine Verletzung der Chancengleichheit

26 KMK (Anm. 21), S. 3.                                                31 Wolfgang Schroeder/Bernhard Weßels, Rechtspopulisti-
27 Andreas Brunold, Wie tragfähig ist der Beutelsbacher                sche Landnahme in der Öffentlichkeit, im Elektorat und in den
Konsens heute? Ein Statement, in: Siegfried Frech/Dagmar               Parlamenten, in: dies. (Hrsg.), Smarte Spalter. Die AfD zwischen
Richter (Hrsg.), Der Beutelsbacher Konsens. Bedeutung, Wirkung,        Bewegung und Parlament, Bonn 2019, S. 9–43.
Kontroversen, Schwalbach/Ts. 2017, S. 87–103, hier S. 88.              32 Ebd. S. 26.
28 Zur umstrittenen Frage der religiösen „Neutralität“ der Schule      33 Vgl. etwa zur „Jungen Alternative“ ebd., S. 32 f.
siehe Michael Wrase, Die Kontroverse um das Kopftuch der musli-        34 Bundesamt für Verfassungsschutz, Fachinformation: Einstu-
mischen Lehrerin – religiös-kultureller Pluralismus als Verfassungs-   fung des „Flügels“ als erwiesen rechtsextremistische Bestrebung,
problem, in: Hans G. Kippenberg/Astrid Reuter (Hrsg.), Religions-      12. 3. 2020, www.verfassungsschutz.de/de/aktuelles/zur-sache/
kontroversen im Verfassungsstaat, Göttingen 2010, S. 360–393.          zs-2020-002-fachinformation-einstufung-des-fluegel-als-
29 Vgl. Hufen (Anm. 2), S. 2; Wieland (Anm. 7), S. 1.                  erwiesen-extremistische-bestrebung.
30 Avenarius/Hanschmann (Anm. 11), S. 641.                             35 Cremer (Anm. 3), S. 26.

                                                                                                                                     13
APuZ 14–15/2020

nach Art. 21 GG und somit des beamten- bezie-                    terricht kontrovers erscheinen muss, was „in
hungsweise arbeitsrechtlichen Zurückhaltungs-                    Wissenschaft und Politik kontrovers ist“, und die
gebots.36 Es muss allerdings die Sachlichkeit der                Lernendenorientierung, nach der Schüler*­innen
Diskussion gewahrt werden und jegliche di-                       in die Lage versetzt werden sollen, „eine politi-
rekte Beeinflussung der Schüler*­innen unter-                    sche Situation und [die] eigene Interessenslage zu
bleiben. Pädagog*­innen können ihre Haltung                      analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu
deutlich machen, indem sie sich auch auf ei-                     suchen, die vorgefundene politische Lage im Sin-
ner persönlichen Ebene klar gegen Rassismus                      ne [eigener] Interessen zu beeinflussen“.40
und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit                            Zwar hat die Rechtsprechung bislang nicht
und damit zugleich gegen bestimmte Partei-                       unmittelbar auf die genannten drei Grundsätze
en oder Bewegungen wie Pegida („Patriotische                     des Beutelsbacher Konsenses Bezug genommen.
Europäer gegen die Islamisierung des Abend-                      Allerdings lässt sich anhand der vorliegenden
landes“), von beziehungsweise in denen derarti-                  Entscheidungen die folgende Regel aufstellen: Je
ge Inhalte vertreten werden, aussprechen. 37 Ein                 weniger die genannten Prinzipien beachtet wer-
Satz wie: „Aus meiner Sicht sind rechtspopu-                     den, desto sicherer kann von einer einseitigen Be-
listische Parteien wie die AfD rassistisch und                   einflussung und damit von einer Verletzung des
nicht wählbar“ würde folglich trotz seines stark                 Gebots der politischen Mäßigung und Zurück-
wertenden Charakters den Spielraum zulässiger                    haltung im Rechtssinn ausgegangen werden.
Meinungsäußerungen durch Lehrkräfte nicht                            Das ist zum Beispiel für das Überwältigungs-
überschreiten und den Grundsatz der parteipo-                    verbot einleuchtend. So wurde es von der Recht-
litischen Chancengleichheit nicht verletzen. 38                  sprechung als Verstoß gegen das Zurückhaltungs-
                                                                 gebot bewertet, wenn Lehrkräfte im Unterricht
         BEUTELSBACHER KONSENS                                   Ansteck-Buttons mit eindeutigen politischen
        AUS RECHTLICHER PERSPEKTIVE                              Aussagen zu gesellschaftlich umstrittenen The-
                                                                 men tragen. Die grundlegende Entscheidung des
Wo aber verläuft genau die Grenze zwischen ei-                   Bundesarbeitsgerichts stammt aus dem Jahr 1982
ner notwendigen kritischen Auseinandersetzung                    und betraf die Plakette „Atomkraft: nein dan-
mit fremdenfeindlichen, diskriminierenden oder                   ke!“.41 Die friedliche Nutzung der Atomener-
rassistischen Positionen, die im demokratischen                  gie war damals ein politisch hochumstrittenes
Spektrum vertreten werden, und einer unzulässi-                  Thema, und die Plakette wurde vom Gericht als
gen (partei)politischen Einflussnahme?                           einseitiges „politisches Propagandamittel“ be-
    Im „Beutelsbacher Konsens“, der auf eine Ta-                 wertet.42 Dies erscheint mit Blick auf das Über-
gung von Politikdidaktiker*­innen 1976 im Ort                    wältigungsverbot plausibel, auch wenn sich der
Beutelsbach zurückgeht, wurden vom Politikwis-                   politische Mainstream zu diesem Thema grund-
senschaftler Hans-Georg Wehling drei Prinzipien                  legend geändert hat und heute – nach beschlosse-
formuliert, die heute als didaktische Leitgedanken               nem Atomausstieg – wohl kaum mehr von einer
politischer Bildung weitestgehend etabliert sind                 hochumstrittenen Frage der Tagespolitik auszu-
und auch von der KMK übernommen wurden:39                        gehen ist. Überzeugend aber ist die Wertung des
Das Überwältigungsverbot, das es nicht erlaubt,                  Gerichts, wonach die Plakette ein „betontes und
Schüler*­innen „im Sinne erwünschter Meinun-                     ständiges Herausstellen der eigenen politischen
gen zu überrumpeln und damit an der ‚Gewin-                      Auffassung“ darstellt, dem die Schüler*­innen un-
nung eines selbstständigen Urteils‘ zu hindern“,                 ausweichlich ausgesetzt sind.43
das Kontroversitätsgebot, nach dem auch im Un-                       Folgerichtig wäre der Fall anders zu bewer-
                                                                 ten, wenn die Lehrperson die Plakette lediglich
36 Vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, 24 CE 96.162,
                                                                 temporär dafür eingesetzt hätte, eine Diskussion
17. 6. 1996, S. 286 f.
37 Vgl. Ansgar Drücker, Der Beutelsbacher Konsens und die        40 Hans-Georg Wehling, Konsens à la Beutelsbach? Nachlese
politische Bildung in der schwierigen Abgrenzung zum Rechtspo-   zu einem Expertengespräch, in: Siegfried Schiele/Herbert
pulismus, in: Benedikt Widmaier/Peter Zorn (Hrsg.), Brauchen     Schneider (Hrsg.), Das Konsensproblem in der politischen
wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen      Bildung, Stuttgart 1977, S. 173–184, hier S. 178 f.
Bildung, Bonn 2016, S. 123–130.                                  41 Bundesarbeitsgericht (Anm. 6), S. 2888 ff.
38 Vgl. Cremer (Anm. 3), S. 26–32; Hufen (Anm. 2).               42 Ebd., S. 2889.
39 Vgl. Pohl (Anm. 23); Brunold (Anm. 27).                       43 Ebd.

14
Sie können auch lesen