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71. Jahrgang, 17–18/2021, 26. April 2021 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE USA Lilliana Mason Laura von Daniels AUF DER SUCHE DIE USA ZURÜCK AUF DER NACH HEILUNG MULTILATERALEN BÜHNE Torben Lütjen Josef Braml WIE POLARISIERUNG DER WAS BEDEUTET DEMOKRATIE SCHADEN KANN BIDENS CHINAPOLITIK FÜR EUROPA? Keneshia N. Grant INNENPOLITISCHE Stephan Bierling HERAUSFORDERUNGEN DIE TRUMP-PRÄSIDENTSCHAFT: FÜR BIDEN UND HARRIS EINE BILANZ ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
USA APuZ 17–18/2021 LILLIANA MASON LAURA VON DANIELS AUF DER SUCHE NACH HEILUNG. DIE USA ZURÜCK AUF DER (WIE) KANN JOE BIDEN DIE GRÄBEN MULTILATERALEN BÜHNE ÜBERBRÜCKEN? Die neue US-Regierung verspricht, auch ihre Au- Bidens einzige Chance, Amerika zu einen, ßenpolitik an den „Interessen der Mittelschicht“ besteht darin, Gesetzesvorhaben konsequent am auszurichten. Entsprechend ist sie darum bemüht, Mehrheitswillen der Amerikaner auszurichten. verlorengegangenes Vertrauen wiederherzustellen Allerdings wird es auch einer ernsthaften Strö- – sowohl bei den internationalen Partnern als mung in der Republikanischen Partei bedürfen, auch bei der US-amerikanischen Mittelschicht. die rassistischen Ressentiments klar entgegentritt. Seite 21–26 Seite 04–08 JOSEF BRAML TORBEN LÜTJEN IN RAUEN GEWÄSSERN. DIE AMERIKANISCHE LEKTION. WAS BEDEUTET BIDENS CHINAPOLITIK WIE POLARISIERUNG DER DEMOKRATIE FÜR EUROPA? SCHADEN KANN In der Amtszeit von US-Präsident Joe Biden ist Trumps Anhänger träumten von keiner neuen mit einem härteren geoökonomischen Vorgehen Ordnung; sie träumten davon, dass Trump die der USA gegenüber China zu rechnen. Die sino- Wahlen gewonnen hat. Mit diesem Paradox wird amerikanische Rivalität wird Europas Wirtschaft auch der neue US-Präsident Joe Biden umgehen und Außenpolitik beeinträchtigen und sollte müssen: Dass die Feinde der Demokratie sich Europäern strategisch zu denken geben. heute für deren wahre Hüter halten. Seite 27–32 Seite 09–14 STEPHAN BIERLING KENESHIA N. GRANT DIE TRUMP-PRÄSIDENTSCHAFT: EINE BILANZ THE HILL THEY CLIMB. DIE GRÖ ẞTEN Unter seinen Anhängern gilt Donald Trump als INNENPOLITISCHEN HERAUSFORDERUNGEN erfolgreicher Präsident: Immerhin hat er Steuern FÜR JOE BIDEN UND KAMALA HARRIS gesenkt, wichtige Richterposten besetzt und Die neue Regierung muss von Anfang an aufs die Einwanderung gedrosselt. Übersehen wird Tempo drücken, da etliche innenpolitische Pro- dabei, dass die von ihm angerichteten Schäden bleme dringend zu bearbeiten sind. Neben der deutlich schwerer wiegen. Pandemie und ihren wirtschaftlichen Folgen sind Seite 33–38 dies vor allem Bürgerrechtsthemen, Rassismus und gewaltbereiter inländischer Extremismus. Seite 15–20
EDITORIAL Als Joe Biden am 20. Januar 2021 als 46. Präsident der USA vereidigt wurde, war die friedliche Machtübergabe von einer Regierung zur nächsten endlich vollzogen. Dass dies erwähnenswert ist, sagt viel über die vier Jahre davor und das Wirken von Bidens Vorgänger aus. Nur zwei Wochen zuvor hatte ein vom abgewählten Präsidenten aufgestachelter Mob das Kapitol gestürmt, um diesen mit Gewalt im Amt zu halten. Die Ereignisse führten noch einmal überdeutlich vor Augen, wie tief die Gräben zwischen den Anhänger:innen der Demokraten und der Republikaner mittlerweile sind. Biden ließ bereits in den ersten Tagen seiner Amtszeit keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit, die drängendsten Probleme seines Landes unverzüglich anzugehen. So wurden die Impfkampagne zur Bekämpfung der Covid-19-Pan- demie mit Tempo vorangetrieben, ein billionenschweres Konjunkturprogramm verabschiedet, sämtliche umwelt- und klimapolitischen Maßnahmen der vergan- genen Jahre auf den Prüfstand gestellt und die Priorität von Bürgerrechtsthemen klar herausgestellt. Vieles davon konnte Biden indes nur per Exekutivverord- nung durchsetzen. Auch dies zeigt: Die größte Herausforderung seiner Amtszeit dürfte darin liegen, die parteipolitische Polarisierung zu überbrücken und die amerikanische Gesellschaft mit sich selbst zu versöhnen. Auch international ist die neue US-Regierung darum bemüht, beschädigtes Vertrauen wiederherzustellen und die USA als verlässlichen Partner zu reetab- lieren. Davon zeugen etwa die Rückkehr in das Pariser Klimaabkommen und die Rücknahme des angekündigten Austritts aus der Weltgesundheitsorganisation. Gemütlicher dürfte es für Verbündete wie Deutschland dennoch nicht werden: Das Weiße Haus wird sie auch künftig daran erinnern, dass in einer grundlegend veränderten Weltlage mehr ziviles und militärisches Engagement von ihnen erwartet wird – vielleicht nur etwas freundlicher als zuletzt. Johannes Piepenbrink 03
APuZ 17–18/2021 ESSAY AUF DER SUCHE NACH HEILUNG (Wie) kann Joe Biden die Gräben überbrücken? Lilliana Mason In meinem Buch „Uncivil Agreement“ beschrei- „Konservativen“ progressive politische Haltungen be ich ein seltsames Phänomen der US-amerikani- einnehmen.05 Schlimmer noch: Republikanische schen Politik.01 So unwahrscheinlich es sich anhö- Abgeordnete sind nicht bereit, Gesetzesvorlagen ren mag, ist sich die Wählerschaft doch weitgehend zuzustimmen, die diesen breiten Konsens wider- einig darüber, welche politischen Maßnahmen er- spiegeln. Den Grund hierfür werde ich noch erläu- griffen werden müssen, um das übergeordnete tern; wichtig ist zunächst, klarzustellen, dass Prä- Wohl der Nation zu fördern. Mehrheiten sowohl sident Joe Biden es mit höchst unterschiedlichen bei den Wähler:innen der Demokraten als auch Auffassungen zu tun hat, was darunter zu verste- bei denen der Republikaner befürworten erheb- hen sei, wenn er zur „Einheit“ der Nation aufruft. liche Ausgaben, um die wirtschaftlichen Auswir- Die erste Art von „Einheit“, die Biden herstellen kungen der Covid-19-Pandemie abzumildern und soll und die in der aktuellen Politik am häufigsten neue Verkehrsinfrastrukturprojekte anzustoßen.02 diskutiert wird, ist bipartisanship, womit Überpar- 93 Prozent der Anhänger:innen der Demokraten teilichkeit beziehungsweise eine von beiden Par- und 82 Prozent der Anhänger:innen der Republi- teien getragene Politik gemeint ist. Dies ist es, was kaner befürworten Hintergrundprüfungen bei pri- zahlreiche republikanische Mandatsträger:innen vaten Waffenkäufen und bei Verkäufen auf Waf- einfordern.06 Bei dieser Art von Einheit muss Bi- fenmessen.03 Selbst bei umstrittenen Themen wie den republikanische Abgeordnete dazu bewegen, Abtreibung und gleichgeschlechtlicher Ehe liegen sich seiner progressiven politischen Agenda anzu- die Meinungen der meisten Amerikaner:innen nä- schließen. Dies ist jedoch äußerst unwahrschein- her an der Mitte des Spektrums als an den Rändern. lich, denn je mehr Fortschritte die Regierung dabei In meiner Analyse der Daten aus der American erzielt, auf die Bedürfnisse des amerikanischen Vol- National Election Study von 2016,04 bei der die Be- kes einzugehen, desto populärer wird Biden wer- fragten gebeten wurden, ihre Position zu Einwan- den. Mitch McConnell, der Fraktionsvorsitzen- derung, zum Affordable Care Act (dem Bundes- de der Republikaner im Senat, sagte während der gesetz zu Patientenschutz und „erschwinglicher“ Regierungszeit Obamas bekanntlich einmal: „Das Pflege, häufig „Obamacare“ genannt), zu Abtrei- Wichtigste, das wir erreichen wollen, ist, dass Prä- bung, gleichgeschlechtlicher Ehe, Staatsausgaben sident Obama keine zweite Amtszeit gewinnt.“07 und Waffenkontrolle zu benennen, schlug das Auch wenn er im selben Interview einräumte, dass Meinungspendel bei den Anhänger:innen der Re- man zusammenarbeiten könne, wenn Obama eine publikaner insgesamt nach links von der Mitte aus andere Politik mache, war dies der gemeinsame – ebenso wie bei denen der Demokraten, die noch Ansatz der republikanischen Abgeordneten – Ge- weiter links lagen. Generell vertritt die amerikani- setzgebung eher zu blockieren, als sie mitzugestal- sche Wählerschaft also progressive politische Ein- ten. So wurden richtungsweisende und hilfreiche stellungen – was einen vermeintlich breiten Hand- Gesetzesvorhaben häufig verhindert, um den Ruf lungsspielraum für die Zusammenarbeit bei einer jener demokratischen Spitzenpolitiker:innen zu progressiven Agenda schafft. schädigen, die sich darum bemühten, progressive Zugleich aber hassen sich die Anhänger:innen und populäre Maßnahmen durchzusetzen. der Republikaner und der Demokraten gegensei- Da schon jetzt klar zu sein scheint, dass das tig regelrecht, und diejenigen, die sich als „Konser- republikanische Spitzenpersonal Bidens legis- vative“ bezeichnen, verachten diejenigen, die sich lative Agenda nicht unterstützen wird, kom- als „Liberale“ bezeichnen, selbst dann, wenn diese men wir zur zweiten Art von „Einheit“, die Bi- 04
USA APuZ den derzeit zu favorisieren scheint: nämlich die nische Partei scheint diesem Ziel nahe gekommen Amerikaner:innen zusammenzubringen, indem zu sein – sie hat 2020 eine Präsidentschaftskampa- er politische Maßnahmen verfügt, die weithin gne mit buchstäblich keinem Parteiprogramm ge- Zustimmung finden und in einer Zeit der Kri- führt, und sie hat versucht, einer Pandemie entge- se für dringend benötigte Hilfeleistungen sor- genzutreten, indem sie selbst so gut wie gar nichts gen. Er könnte also den Schwerpunkt auf jene unternommen hat und stattdessen die einzelnen Gesetzesvorhaben legen, die von den meisten Bundesstaaten für sich selbst hat sorgen lassen. Es Amerikaner:innen befürwortet werden, und dies stellt sich daher die Frage: Wie kann diese Art von als Einigung einer breit gefächerten Wählerschaft Nichtregieren Wähler:innen anziehen? betrachten. Diese Art von Einheit wäre ein we- Erstens schenken Republikaner und selbster- sentlich produktiveres Ziel – Biden würde dabei klärte Konservative der Regierung im Allgemeinen diejenigen ignorieren, die jede seiner Anstrengun- weniger Vertrauen. Der republikanische Präsident gen zunichtezumachen suchen, und sich stattdes- Ronald Reagan sagte einmal: „Die neun furchter- sen auf die Amerikaner:innen selbst konzentrie- regendsten Worte in der englischen Sprache sind: ren. Das amerikanische Volk braucht Hilfe, und I’m from the government and I’m here to help.“ die Regierung ist – entgegen aller Beschwörungen („Ich bin von der Regierung, und ich bin hier, um der republikanischen Parteielite – das effizientes- zu helfen.“)09 In den vergangenen Jahrzehnten hat te Werkzeug, sich helfen zu lassen.1234567 sich die Republikanische Partei den Standpunkt zu Will Präsident Biden die Nation einen und die eigen gemacht, der Bundesregierung sei nicht zu tiefen Gräben überbrücken, besteht seine erste trauen, sie mache einen schlechten Job, und sie habe Aufgabe also darin, Gesetze zu verabschieden, die keinen Platz im Leben normaler Amerikaner:innen. bei den Wähler:innen, nicht bei seinen republikani- Dies ist eine schlüssige Folgerung, wenn man be- schen Kolleg:innen beliebt sind. Allerdings steht er denkt, dass die Partei Gesetzesmaßnahmen er- vor einer Reihe beträchtlicher Herausforderungen. lassen hat, aufgrund derer die Bundesregierung tatsächlich kaum eine Rolle mehr im Leben der FEHLENDER ANSPORN Amerikaner:innen spielt, sodass diese sich iso- DER REPUBLIKANER, EFFEKTIV liert und ignoriert fühlen. Wenn Amerikaner:innen ZU REGIEREN dann doch Hilfe von der Bundesregierung benöti- gen, versichert ihnen die Republikanische Partei, Von Grover Norquist, einem einflussreichen repu- diese werde nicht für sie da sein, was die Meinung, blikanischen Berater, stammt der bekannte Aus- die Regierung arbeite ineffektiv, nochmals bestätigt spruch: „Ich will die Regierung nicht abschaffen, – es ist ein Teufelskreis. Je ineffektiver die neue Re- ich will sie lediglich auf solche Größe reduzieren, gierung ist, desto mehr Unterstützung dürfte der dass ich sie ins Badezimmer schleifen und in der Republikanischen Partei also daraus erwachsen. Badewanne ertränken könnte.“08 Die Republika- Zweitens müssen die Republikaner keine Mehrheiten in der Wählerschaft für sich gewin- 01 Lilliana Mason, Uncivil Agreement: How Politics Became nen, um die Regierung zu kontrollieren. Auf- Our Identity, Chicago 2018. grund nichtmehrheitlicher Institutionen wie dem 02 Vgl. American Democracy at the Start of the Biden Pre- Wahlmännergremium und dem Senat, in denen sidency, Bright Line Watch January–February 2021 Surveys, http://brightlinewatch.org/american-democracy-at-the-start-of- die Stimmen ländlicher Amerikaner:innen über- the-biden-presidency. proportional gewichtet sind, muss die Politik 03 Vgl. John Gramlich/Katherine Schaeffer, 7 Facts About der Republikaner nicht auf breiter Front populär Guns in the U. S., 22. 10. 2019, www.pewresearch.org/fact-tank/ sein. Sie muss lediglich die extremen Ränder der 2019/10/22/facts-about-guns-in-united-states. Parteibasis ansprechen, deren Stimmen de facto 04 Für die Daten siehe https://electionstudies.org/data-center. 05 Vgl. Lilliana Mason, Ideologues Without Issues: The Pola mächtiger sind als die Stimmen der Demokraten. rizing Consequences of Ideological Identities, in: Public Opinion Damit kommen wir zur Parteibasis der Republi- Quarterly S1/2018, S. 866–887. kaner – diese ist das nächste Problem, mit dem Bi- 06 Vgl Peter Baker, In Biden’s Washington, Democrats and den konfrontiert ist. Republicans Are Not United on „Unity“, 21. 1. 2021, www.nyti- mes.com/2021/01/21/us/politics/biden-unity-republicans.html. 07 Interview im National Journal, 23. 10. 2010. 09 Auf einer Pressekonferenz, 12. 8. 1986, www.reaganfound- 08 Interview im National Public Radio, Morning Edition, ation.org/ronald-reagan/reagan-quotes-speeches/news-confe- 25. 5. 2001. rence-1. 05
APuZ 17–18/2021 SOZIALE SORTIERUNG Mitglied eines Nachbarschaftsvereins und eines örtli- UND WHITE SUPREMACY chen Fitnessstudios – und die anderen Leute, die man in diesen Kreisen traf, bildeten eine gute Mischung Eines meiner Hauptziele in „Uncivil Agreement“ aus Demokrat:innen und Republikaner:innen. Man bestand darin, zu erklären, wie es sein kann, dass war womöglich selbst Mitglied einer bestimmten Amerikaner:innen einen so großen allgemeinen Partei, aber auf irgendeine Art und Weise gesell- Konsens bezüglich politischer Positionen haben schaftlich mit Mitgliedern der jeweils anderen Par- können, gleichzeitig aber so erbitterte Konflikte tei verbunden. Diese sozialen Vernetzungen mit der zwischen den Parteien ausgetragen werden. Die politischen Konkurrenz kann man als cross-pressures grundlegende Antwort auf diese Frage war eine bezeichnen, und sie führen dazu, dass Polarisierung Kombination aus psychologischer Theorie und und Intoleranz unwahrscheinlicher werden.12 Mit etwas, das ich „soziale Sortierung“ nenne. der Zeit haben diese cross-pressures abgenommen, Das psychologische Element leitet sich von der und Demokrat:innen und Republikaner:innen ent- Theorie der sozialen Identität ab, die Henri Taj- wickelten sich bezüglich Religion, race, Geogra- fel und John Turner in den 1970er und 80er Jahren fie und Kultur auseinander. Durch diese „sozia- entwickelten.10 Demnach gehört jeder Mensch ei- le Sortierung“ bekamen sie weniger Gelegenheiten, ner großen Anzahl sozialer Gruppen an, und die- Parteigänger:innen der anderen Seite zu begegnen, se Gruppenzugehörigkeiten helfen uns dabei, die und sie wurden zunehmend intoleranter und gehäs- Welt und unseren Platz in ihr zu verstehen. Zu- siger gegenüber diesen Outgroup-Parteimitgliedern; gleich sind wir bestrebt, unsere eigene Gruppe Konkurrenzdenken, Vorurteile und Wut nahmen zu. anderen Gruppen gegenüber als überlegen zu be- Insbesondere entlang der Kategorie race ist trachten und entsprechende Maßnahmen zu er- die Kluft zwischen den Parteien tiefer gewor- greifen, um den hohen Status unserer Gruppe zu den. Die Republikanische Partei setzt sich mehr sichern. In den Vereinigten Staaten fungieren die und mehr aus weißen, christlichen und ländlichen Demokratische und die Republikanische Partei Amerikaner:innen zusammen, während die Demo- nicht nur als politische Organisationsinstrumente, kratische Partei ethnisch und religiös zunehmend sondern formen auch soziale Identitäten. Partei- divers geworden ist. Eines der wichtigsten Merk- mitglieder fühlen eine soziale Bindung gegenüber male der parteipolitischen Gräben von heute ist eine ihren jeweiligen Parteien und sind darum bemüht, tiefgehende Uneinigkeit über die Existenz und das den relativen Status dieser Parteien zu verteidi- Fortbestehen der traditionellen sozialen Hierarchie. gen.11 Statuswettbewerbe finden mindestens alle Üben weiße Männer die meiste Macht in der ame- zwei Jahre in Form von Wahlen statt, und diese be- rikanischen Gesellschaft aus? Sollten sie es? Und wirken für gewöhnlich, dass Parteianhänger:innen wenn nicht, was sollte diesbezüglich unternommen aufgehetzt und in eine Wagenburgmentalität von werden? Amerika war noch nie besonders gut da- „Wir gegen die“ verfallen – ein Nullsummenspiel. rin, auf diese Fragen Antworten zu geben, ohne dass Verschlimmert wird alles dadurch, dass es noch es dabei zu heftigen sozialen Verwerfungen kam – eine weitere Entwicklung gibt, die die Bindung der die einmal sogar zum Bürgerkrieg führten. Außer- Amerikaner:innen an ihre jeweilige Partei verstärkt: dem werden viele republikanische Wähler:innen In den zurückliegenden Jahrzehnten hat sich die so- ihre Partei nicht für Regierungsversäumnisse ver- ziale Zusammensetzung bei den Mitgliedern beider antwortlich machen, solange sie in der Lage ist, die Parteien verändert. In den 1970ern wurden die Mit- Aufmerksamkeit ihrer Basis weiterhin auf diese ex- glieder beider Parteien noch von unterschiedlichen trem spaltenden Themen zu fokussieren. sozialen Kräftefeldern beeinflusst. Das heißt, man Dies sind die Probleme, mit denen es Präsident gehörte zum Beispiel irgendeiner Religionsgemein- Biden bei seinem Versuch, ein gespaltenes Land zu schaft und einer ethnischen Gruppe an, war zudem einen, zu tun bekommt. Er steht extremen racial divides gegenüber, einer gegnerischen Partei, die 10 Vgl. Henri Tajfel/John C. Turner, The Social Identity Theory bereit ist, diese Spaltungen auf einem bereits in of Intergroup Behaviour, in: Stephen Worchel/William G. Austin Schieflage geratenen Wählerfeld auszuschlachten, (Hrsg.), Psychology of Intergroup Relations, Chicago 1986, S. 7–24. 11 Vgl. Leonie Huddy/Lilliana Mason/Lene Aarøe, Expressive 12 Vgl. Marilynn B. Brewer/Kathleen P. Pierce, Social Identity Partisanship: Campaign Involvement, Political Emotion, and Parti- Complexity and Outgroup Tolerance, in: Personality and Social san Identity, in: American Political Science Review 1/2015, S. 1–17. Psychology Bulletin 3/2005, S. 428–437. 06
USA APuZ und einer Wählerschaft, der weisgemacht wurde, schanzen, um ihre eigene Gruppe zu verteidigen die Regierung sei unfähig, große Probleme zu lösen. – selbst wenn dies einen persönlichen Preis for- dert. In diesem Szenario hatten Demokraten und GEMEINSAME IDENTITÄT? Republikaner, sobald die Bedrohung durch Co- vid-19 politisiert wurde, nie eine Chance zu ko- Vor der Covid-19-Pandemie scherzte ich mit operieren – ihr politischer Konflikt musste sie Leser:innen, möglicherweise könnte eine Inva- stets in unterschiedliche Richtungen lenken. sion von Außerirdischen Demokrat:innen und Doch vielleicht gibt es eine andere Möglich- Republikaner:innen endlich im Interesse der All- keit, neue Wege zur Überbrückung parteipoliti- gemeinheit vereinen. Das glaube ich heute nicht scher Gräben in der amerikanischen Politik zu mehr. Die globale Verbreitung des Corona-Virus finden. Statt auf aktuelle Herausforderungen zu war das, was einer lebensbedrohlichen Invasion, schauen, könnte es sinnvoll sein, die umgekehr- die alle Menschen gegen eine äußere Bedrohung te Herangehensweise zu wählen und die tieferen vereinen könnte, am nächsten kam. Doch in den Wurzeln dieser Gräben zu betrachten. Vereinigten Staaten wurde die Pandemie prak- tisch sofort politisiert – Republikaner:innen leug- RASSISMUS AUFARBEITEN neten die Schwere (oder gar die Existenz) der Be- drohung, während sich Demokrat:innen Masken In gewisser Hinsicht kann es auch als positive aufsetzten, zueinander Abstand hielten und jene Entwicklung angesehen werden, dass die Parteien Verhaltensregeln einhielten, die wissenschaftlich sich entlang „rassischer“ Grenzen gespalten ha- empfohlen wurden, um das Virus zu bekämpfen. ben. Sicher, diese Art der Spaltung hat einen gro- Der Grund für diese Diskrepanz findet sich ßen Teil der gegenwärtigen Feindseligkeiten und in der wissenschaftlichen Literatur zu Intergrup- des Hasses in der amerikanischen Politik befeu- penkonflikten und Identität. Die Sozialpsycho- ert. Doch das bedeutet nicht, dass die Alternative login Marilynn Brewer legte 1999 in einem Ar- vorzuziehen wäre. tikel die Möglichkeiten und Hindernisse für eine Faktisch begannen weiße Südstaaten-Demo Einigung von Gruppen im Konfliktfall dar. Ein krat:innen nach dem Civil Rights Act von 1964 Weg, Intergruppenkonflikte zu reduzieren, be- und dem Voting Rights Act von 1965 – mit denen stehe demnach darin, den Fokus auf eine verbin- wesentliche Benachteiligungen für Schwarze und dende, übergeordnete Gruppenidentität für bei- andere Minderheiten abgeschafft wurden – der de Gruppen zu lenken und sich zusammen einer Demokratischen Partei den Rücken zu kehren, gemeinsamen Bedrohung zu stellen. Allerdings um im Laufe einer Generation zu den Republika- beschrieb Brewer auch einige Bedingungen, un- nern zu wechseln. Während dieses Prozesses gab ter denen eine Bedrohung dieser übergeordneten es in der amerikanischen Parteipolitik nur wenig Identität den gegenteiligen Effekt haben könnte, Polarisierung, weil es in beiden Parteien eine ähn- die einzelnen Gruppen also weiter auseinander liche Kombination aus white supremacists, Rassis getrieben werden könnten. Zu diesen Bedingun- musleugner:innen und rassenpolitisch progressi- gen gehörte unter anderem ein politisierter Ver- ven Weißen gab. Solange der Faktor race ignoriert trauensmangel zwischen den konkurrierenden wurde, waren Kompromisse möglich. Gruppen: In diesem Fall „erhöht die wahrgenom- Doch die Vereinigten Staaten sind lange über- mene gemeinsame Bedrohung (…) den Zusam- fällig, was eine Aufarbeitung ihrer langen, bis heu- menhalt und die Loyalität der Ingroup; Appelle te anhaltenden Geschichte rassistischer Gewalt an Ingroup-Interessen haben größere Legitimität und Ungerechtigkeit angeht, insbesondere gegen- als solche an persönliches Eigeninteresse.“13 über Schwarzen. Ein Großteil dieser Geschich- Wenn zwei Gruppen, die derselben Bedro- te wird in amerikanischen Schulen nicht gelehrt: hung ausgesetzt sind, einander nicht vertrauen, Der große Erfolg und das gewaltsame Ende der können sie sich also noch mehr entzweien, da sie Reconstruction, jener Phase der politischen Neu- sich hinter ihrer jeweiligen Ingroup-Identität ver- ordnung nach dem Sezessionskrieg 1861 bis 1865, die ungezwungene und feierliche Art der Lynch- 13 Vgl. Marilynn Brewer, The Psychology of Prejudice: Ingroup morde im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, Love and Outgroup Hate?, in: Journal of Social Issues 3/1999, die Beständigkeit und Effektivität des weißen Ter- S. 429–444, hier S. 438. rorismus gegen die Erfolge der Schwarzen – den 07
APuZ 17–18/2021 meisten amerikanischen Schüler:innen wird dieses wert. Gleichwohl ist es wichtig, sich mit den antide- Wissen vorenthalten. Erst in jüngster Zeit sind wei- mokratischen Kräften auseinanderzusetzen. ße Amerikaner:innen durch zahlreiche „Beweisvi- Dieses Problem ist nicht unabhängig von den deos“ zur Erkenntnis gelangt, dass sich die Polizei angesprochenen Fragen im Zusammenhang mit in Schwarzen Gemeinden nicht so verhält, wie sie race. Tatsächlich ist es wohl ein direktes Ergeb- es in weißen tut.14 So viel von dem Rassismus, den nis der zunehmend rassialisierten Kluft zwischen Schwarze Amerikaner:innen täglich erleben, wird den Parteien. Die Kräfte der white supremacy ha- vor den weißen verborgen beziehungsweise von ben uneingeschränkte Demokratie schon immer ihnen ignoriert. Diese Ignoranz dient dem Erhalt als verhängnisvolle Bedrohung angesehen und der weißen Vorherrschaft und erlaubt es, Amerikas sind weiterhin bestrebt, Schwarzen Amerikanern Geschichte des strukturellen Rassismus fortzufüh- den Wahlgang so schwer und gefährlich zu ma- ren, selbst wenn dessen Existenz von republikani- chen wie möglich.16 Selbst heute noch versuchen schen Wortführer:innen aktiv geleugnet wird.15 republikanische Funktionär:innen im ganzen Zu Bidens Plan, das Problem der Ungleich- Land, das Wählen zu erschweren.17 heit zwischen den „Rassen“ anzugehen, gehört Präsident Biden wird sich auf diejenigen po- die Verpflichtung, Bildungschancen für Schwar- litischen Maßnahmen konzentrieren müssen, die ze Amerikaner:innen zu erhöhen. Das ist wichtig. die Amerikaner:innen brauchen und mehrheit- Für die Einigung der Nation wäre es aber auch lich wollen, um damit allen gleichermaßen zu hel- hilfreich, weiße Amerikaner:innen über die ganze fen. Eine vollständig egalitäre, multiethnische De- Geschichte rassistischer Gewalt und Ungerech- mokratie ist für die USA gegenwärtig nicht in tigkeit in Amerika aufzuklären und sie dazu zu greifbarer Nähe – Bidens einzige Chance, Ame- ermutigen, das vielfach angetane Unrecht wieder rika zu einen, besteht daher darin, seine Geset- gutzumachen. zesvorhaben konsequent am Mehrheitswillen der Amerikaner:innen auszurichten. Sollte er mit sei- NICHT ENTPOLARISIEREN, ner Agenda Erfolg haben, würde er damit nach- SONDERN DEMOKRATISIEREN weisen, dass die Regierung ihren Bürger:innen hel- fen kann und dies auch tut. Potenziell könnte jeder Letztendlich167 wird es für Biden entscheidend sein, Erfolg das allgemeine Vertrauen in die Regierung „Einheit“ nicht als „Entpolarisierung“ zu inter- stärken und auf diese Weise die Gemüter in der pretieren. Als Polarisierungsforscherin glaube ich amerikanischen Politik abkühlen. Allerdings wird nicht, dass Polarisierung selbst das Hauptproblem es dazu auch einer ernsthaften Strömung innerhalb der amerikanischen Politik ist. Polarisierung ist ein der Republikanischen Partei bedürfen, die der Po- Symptom des Hauptproblems, und dieses ist die an- litik rassistischer Ressentiments entschieden ent- tidemokratische Haltung, die sich innerhalb der Re- gegentritt. Solange die Republikaner ihre Basis mit publikanischen Partei zunehmend verbreitet. Wenn rassialisierten Ansprüchen auf eine eigene weiße sich eine Partei in Richtung Faschismus bewegt, soll- Opferrolle ablenken, könnte die republikanische ten wir nicht erwarten, dass die andere im Interesse Wählerschaft jeden Erfolg der Biden-Administra- einer Entpolarisierung das gleiche tut. Im Gegenteil: tion ignorieren – oder sogar mit noch mehr Hass Polarisierung ist in diesem Fall sogar wünschens- darauf reagieren, da viele offenbar weniger am übergeordneten Wohl der Nation orientiert sind, 14 Vgl. Joe Soss/Vesla Weaver, Police Are Our Govern- sondern vielmehr darauf, „wer was bekommt“. ment: Politics, Political Science, and the Policing of Race–Class Subjugated Communities, in: Annual Review of Political Science Übersetzung aus dem Amerikanischen: Peter Beyer, 1/2017, S. 565–591. Bonn. 15 Vgl. Devan Cole, Top Trump Officials Claim There’s No Systemic Racism in US Law Enforcement Agencies, 11. 6. 2020, www.cnn.com/2020/06/07/politics/systemic-racism-trump-ad- LILLIANA MASON ministration-officials-barr-carson-wolf/index.html. ist Professorin am Department of Government 16 Vgl. Keith G. Bentele/Erin E. O’Brien, Jim Crow 2.0? Why and Politics der University of Maryland, College States Consider and Adopt Restrictive Voter Access Policies, in: Park. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Perspectives on Politics 4/2013, S. 1088–1116. 17 Vgl. Jane C. Timm, Republicans Advance More than 100 politische Psychologie, Parteizugehörigkeit und Bills That Would Restrict Voting in Wake of Trump’s Defeat, Identität sowie Religion und Politik. 6. 2. 2021, www.nbcnews.com/politics/elections/n1256821. lmason@umd.edu 08
USA APuZ DIE AMERIKANISCHE LEKTION Wie Polarisierung der Demokratie schaden kann Torben Lütjen Auf den ersten Blick scheint die Sache einfach: hin im Normalmodus. Und auch wenn es an die- Das Schicksal von Demokratien entscheidet sich sem Tag und danach noch glimpflich ausging und an der Frage, von wie vielen überzeugten Demo- das gelang, was mehr als zweihundert Jahre lan- kraten sie getragen werden. Natürlich spielen die ge in Washington noch immer funktioniert hat – institutionelle Ordnung und die Struktur der Ver- ein friedlicher Wechsel der Regierung – ist die Le- fassung eine Rolle, ebenso wie plötzlich auftre- gitimationskrise der amerikanischen Demokratie tende innere wie äußere Krisen. Am Ende lautet nicht ausgestanden: Die Mehrzahl jener, die ihr die einfachste Gleichung: Wo die Mehrheit einer Kreuz nicht bei Joe Biden, sondern bei Donald Gesellschaft sich gegen die Demokratie als Staats- Trump gemacht haben, hält die Präsidentschafts- form entscheidet, da wird sie über kurz oder lang wahl 2020 weiterhin für gefälscht und damit, in scheitern. Besonders vertraut ist diese Gleichung bitterer, aber durchaus unbestechlicher Logik, den Deutschen. Schließlich bleibt hier das Schei- den neuen Mann im Weißen Haus für einen ille- tern der Weimarer Republik der zentrale Bezugs- gitimen Präsidenten. punkt in allen Diskussionen um eine vermeintli- Wie aber passt das zusammen: die grundsätz- che „Krise der Demokratie“.01 Die Befürworter liche Befürwortung der Demokratie als beste Re- der Republik gerieten seit 1930 immer stärker un- gierungsform einerseits, und die Ablehnung einer ter Druck, rechts vor allem von der NSDAP, links nach allen logischen Kriterien und Meinung al- von der KPD. Am Ende war es einer schrump- ler Wahlbeobachter rechtmäßigen Wahl anderer- fenden politischen Mitte quasi unmöglich, noch seits? Offensichtlich kommt man der Krise der Mehrheiten zu organisieren. Nazis und Kom- amerikanischen Demokratie mit den analytischen munisten waren Todfeinde, sich in ihrer offenen Mustern des 20. Jahrhunderts nicht bei. Selbst bei Ablehnung der ersten deutschen Demokratie al- jenen, die sich am 6. Januar vor dem US-Kapi- lerdings einig. So ging Weimar als „Demokratie tol versammelt haben, dürfte es sich in der Mehr- ohne Demokraten“ in die Geschichtsbücher ein. zahl nicht um dezidierte Antidemokraten gehan- Die Sache ist nur: Aus dieser Perspektive be- delt haben. Vielmehr verstanden sie sich gerade trachtet, müsste man sich um die USA eigentlich als die Hüter und Wächter der Demokratie, als keine großen Sorgen machen. Denn als politische letztes Aufgebot zu ihrer Verteidigung gegen ein Idee ist die Demokratie dort weithin akzeptiert. aus ihrer Sicht korruptes System. Natürlich ist Zwar äußern viele US-Amerikaner – nicht anders auch das brandgefährlich. Und doch unterschei- als die Bürger vieler anderer westlicher Demo- den sich Trumps Republikaner von jenen Partei- kratien – Unzufriedenheit darüber, wie die De- en, die der Politikwissenschaftler Giovanni Sarto- mokratie praktiziert wird und beklagen die Dis- ri in seinem Konzept des polarized pluralism als krepanz zwischen Ideal und Realität. Alternative „Anti-System-Parteien“ bezeichnet und als die Formen der Ausübung und Legitimation von potenziellen Totengräber der Demokratie iden- Herrschaft spielen in ihren Vorstellungswelten tifiziert hat: Parteien mit einem revolutionären aber nur eine untergeordnete Rolle.02 Plan zur Überwindung der bestehenden Ord- Ist also alles gut? Die Frage ist natürlich rhe- nung.03 Trumps Anhänger träumten von keiner torisch, denn auch der abgebrühteste Anti-Alar- neuen Ordnung; sie träumten davon, dass Trump mist kann nach dem 6. Januar 2021, als ein von die Wahlen gewonnen hat. Präsident Donald Trump angestachelter Mob Das also ist der Widerspruch, der im Folgen- das US-Kapitol stürmte, nicht mehr ernstlich der den aufgelöst werden soll: Dass die Feinde der Meinung sein, die US-Politik befinde sich weiter- Demokratie sich heute für deren wahre Hüter 09
APuZ 17–18/2021 halten. Man kann das – vorsichtig ausgedrückt nandersetzung und verdankt ihren immer noch – für eine Fehlwahrnehmung halten. Aber man fortwährenden Erfolg ihrer Fähigkeit, funda- sollte es dennoch ernst nehmen, wenn man ver- mentale Auseinandersetzungen auszuhalten und stehen will, wes Geistes Kind sie sind. Im Grun- friedlich zu regeln. In der Politikwissenschaft – de erklären drei miteinander verbundene Fakto- in der das Thema gerade verstärkt empirisch er- ren diesen Widerspruch: erstens die extreme und forscht wird, es aber nur wenige theoretische Re- spezifische Natur der Polarisierung der US-Poli- flexionen darüber gibt – wird Polarisierung als tik, die zur Erosion von Werten geführt hat, ohne wachsende ideologische Distanz definiert: zwi- die jedes Bekenntnis zur Demokratie im Grunde schen den politischen Positionen relevanter Par- wertlos ist; zweitens das Gefühl unter Amerikas teien oder aber in den Einstellungen der Bürger. Konservativen, dass alle Entwicklungen im Land Beides aber ist unabdingbar, weil Demokratie gegen sie laufen und daher auch grenzwertige vom Wettbewerb lebt und dafür Alternativen Mittel den Zweck der kulturellen und politischen braucht. Selbstbehauptung rechtfertigen; und drittens die Oft trifft Polarisierung im Zuge gesellschaft- Fragmentierung der Öffentlichkeit, die zu einer lichen Wandels auf, vor allem, wenn neue oder völligen Erosion gemeinsamer Realitätswahrneh- bisher ausgeschlossene gesellschaftliche Gruppen mungen geführt hat.123 mehr Teilhaberechte einfordern. Die Geschichte der Polarisierung der US-amerikanischen Poli- WARUM DEMOKRATIE tik und Gesellschaft ist dafür das beste Beispiel. POLARISIERUNG BRAUCHT Schließlich ging die bis Anfang der 1960er Jahre herrschende Konsenskultur auch darauf zurück, Dass die amerikanische Gesellschaft und Politik dass man das wohl drängendste Problem des polarisiert sind, ist mittlerweile ein Gemeinplatz, Landes parteiübergreifend ignorierte: die ka ta so wie auch die Ursachen dafür mittlerweile zur strophalen Zustände im Süden der USA, wo auch Genüge dargelegt wurden.04 Weniger Platz hat hundert Jahre nach dem Ende der Sklaverei von bisher die Frage eingenommen, und das gilt nicht Gleichberechtigung keine Rede sein konnte und nur für die USA, inwiefern Polarisierung eigent- wo weiterhin de facto ein System der Rassentren- lich ein Problem für die Demokratie ist. Im öf- nung herrschte. Erst unter dem Druck der Bür- fentlichen Diskurs wird sie überwiegend negativ gerrechtsbewegung Martin Luther Kings begann wahrgenommen, etwa wenn sie im Zusammen- die Demokratische Partei, zögerlich noch unter hang mit Befürchtungen vor einer „tiefen gesell- Präsident John F. Kennedy, energisch dann un- schaftlichen Spaltung“ genannt wird. Polarisie- ter seinem Nachfolger Lyndon B. Johnson, sich rung klingt nach Streit und Konflikt statt nach des Problems anzunehmen. Das aber veränder- Konsens, nach Ideologie statt Vernunft, nach ei- te fortan die Statik der amerikanischen Politik. ner aufgewühlten Gesellschaft, die mit sich selbst Nachdem die Wähler im konservativen Süden, nicht im Reinen ist. bis dahin eine Hochburg der Partei, aus Protest Aus demokratietheoretischer Sicht wäre dem die Demokratische Partei verließen und zu den zu entgegnen: Was sollte daran schlecht sein? Die Republikanern wechselten, homogenisierten sich Demokratie lebt vom Streit und von der Ausei- beide Parteien, die Republikaner wurden rechter, die Demokraten linker – und race schließlich zur 01 Vgl. Frank Bösch, Sehnsucht nach Einheit. Weimars Erbe in großen spaltenden Konfliktlinie der US-Politik.05 der politischen Kultur der Bundesrepublik, in: Hanno Hochmuth/ Völlig zu Recht gilt das Ringen der Bürgerrechts- Martin Sabrow/Tilmann Siebeneichner (Hrsg.), Weimars Wir- bewegung heute als heroischer Freiheitskampf, kung. Das Nachleben der ersten deutschen Republik, Göttingen aber man könnte auch sagen: Mit ihm begann 2020, S. 197–211. 02 Vgl. Lee Drutman/Joe Goldman/Larry Diamond, Democra- sich das Land zu polarisieren. Doch wer würde cy Maybe. Attitudes on Authoritarianism in America, Juni 2020, das heute schon für falsch halten wollen? Aus die- www.voterstudygroup.org/publication/democracy-maybe. ser Perspektive ist Polarisierung einfach der Preis, 03 Vgl. Giovanni Sartori, Parties and Party Systems: A Frame- der von Zeit zu Zeit für den gesellschaftlichen work for Analysis, London 2005. Fortschritt zu entrichten ist, die unvermeidliche 04 Vgl. Torben Lütjen, Amerika im Kalten Bürgerkrieg. Wie ein Land seine Mitte verliert, Darmstadt 2020; Ezra Klein, Der große Folge neuer Emanzipationsschübe. Graben. Die Geschichte der gespaltenen Staaten von Amerika, Hamburg 2020. 05 Vgl. Lütjen (Anm. 4). 10
USA APuZ Schließlich ist Polarisierung aus demokratie- Konfliktdimension einordnen lassen, einfacher theoretischer Sicht auch deswegen grundsätz- zu lösen, als solche, die entlang einer kulturel- lich positiv zu beurteilen, weil sie oft breitere len oder auch identitären Konfliktlinie verlaufen. Bevölkerungsschichten politisiert und mit er- Fraglos können auch erstere als materielle Ver- höhter Partizipation einhergeht. Interessant ist teilungskonflikte extreme Feindseligkeiten aus- in der Tat, dass vor nicht allzu langer Zeit Pola- lösen, und natürlich wird auch bei ihnen teilwei- risierung eben gerade nicht das Kardinalproblem se Identität mitverhandelt. Dennoch entstehen westlicher Demokratien zu sein schien. Stattdes- hieraus Kämpfe, die als „teilbare Konflikte“ be- sen wurde viel über das Konzept der „Postdemo- zeichnet werden, weil man den Streitgegenstand kratie“ debattiert: eine nur noch vermeintliche aufteilen kann: etwas mehr oder weniger Steuern Demokratie, deren sämtliche Kulissen (Parteien, für die einen, etwas mehr oder weniger staatliche Parlamente, Wahlen) zwar weiterhin stünden, die Leistungen für die anderen, und so weiter. Eine in der Substanz aber längst ausgehöhlt sei durch Geschichte der teilbaren Konflikte ist zum Bei- eine Allianz multinationaler Wirtschaftsunter- spiel die Geschichte der Domestizierung der re- nehmen und anderer global agierender Akteure.06 volutionären Arbeiterparteien durch die Schaf- Diese bestimmten in Wahrheit den Takt der Poli- fung von Wohlfahrtsstaaten.08 tik – während der eigentliche Souverän, das Volk, Anders sieht es aus bei Fragen von Identität sich von der Politik mit Desinteresse und in Apa- oder kultureller Zugehörigkeit, die „unteilbare thie abgewandt habe. Polarisierung wirkt solchen Konflikte“ produzieren. Bei ihnen ist es sehr viel Tendenzen entgegen, denn sie stärkt das Bürger schwieriger, eine „Mitte“ zu finden, geht es doch, engagement und auch das Interesse an der Politik, etwa bei religiösen und ethnischen Konflikten, da sie durch scharfe politische Kontraste verdeut- um die Frage, wer überhaupt rechtmäßiger Teil licht, was auf dem Spiel steht und damit für alle einer Gemeinschaft ist und wer nicht. Das gilt den Einsatz erhöht. auch für Konflikte, bei denen grundsätzliche und aus Sicht der Betroffenen unverhandelbare, weil WANN POLARISIERUNG SCHADET moralisch absolute Werte verhandelt werden: Wer glaubt, dass Homosexualität eine Todsünde Polarisierung muss also nicht per se ein Pro- ist, für den gibt es keinen Kompromiss mit der blem für die Demokratie sein. Im Gegenteil: Ein Gegenseite. Und die USA sind zweifelsohne be- Mindestmaß an Polarisierung ist sogar notwen- reits seit Jahrzehnten kulturell polarisiert. Nicht dig. Doch kann sie zum Problem werden, wenn dass Fragen sozialer Ungleichheit dort keine Rol- sie bestimmte Verlaufsformen annimmt, und sich le spielen würden – aber Fragen von race, Religi- zu dem entwickelt, was die Politikwissenschaft- on und Einwanderung sind bereits seit Langem lerinnen Jennifer McCoy, Tamina Rahman und bedeutender. Murat Somer als pernicious polarization bezeich- Noch etwas anderes signalisiert, dass die Po- nen: eine „bösartige“ Form der Polarisierung, bei larisierung in den USA in eine gefährliche Phase der die andere Seite nicht mehr als legitimer po- eingetreten ist: Und zwar fusionieren die multip- litischer Gegner gesehen wird, sondern als exis- len kulturellen Konflikte, wie sie alle Gesellschaf- tenzieller Feind, den es bis aufs Blut zu bekämp- ten auszuhalten haben, allmählich zu einem bipo- fen gilt.07 Und leider ist das eben jene Version von laren Großkonflikt.09 Solange das nicht der Fall Polarisierung, die mittlerweile auch die USA be- ist, können Bürger in ihren Grundeinstellungen fallen hat. ambivalent bleiben: so wie der Arbeiter mit Klas- Unter welchen Voraussetzungen aber nimmt senbewusstsein, der aber gleichzeitig seine Iden- Polarisierung diese Formen an? Entscheidend ist tität als Katholik verteidigt. Unter solchen Bedin- vor allem, worüber und in welcher Weise über gungen müssen auch Parteien ein gewisses Maß etwas gestritten wird. Grundsätzlich sind Kon- an Ambivalenz kommunizieren und können sich flikte, die sich entlang einer sozioökonomischen 08 Vgl. Helmut Dubiel, Cultivated Conflicts, in: Political Theory 06 Vgl. Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt/M. 2003. 2/1998, S. 209–220; Albert O. Hirschman, Social Conflicts as 07 Vgl. Jennifer McCoy/Tahmina Rahman/Murat Somer, Pillars of Democratic Market Society, in: Political Theory 2/1994, Polarization and the Global Crisis of Democracy, in: American S. 203–218. Behavioral Scientist 1/2018, S. 16–42. 09 Vgl. McCoy/Rahman/Somer (Anm. 7). 11
APuZ 17–18/2021 nicht zur eindeutigen Vertreterin einer bestimm- bei vielen republikanischen Wählern aber die An- ten Identität machen. Anders sieht es aus, sobald sicht verstärkt, sich in einer existenziellen Kon- es zu einem eindeutigen Dualismus zweier klar fliktsituation zu befinden, die den Einsatz de- abgegrenzter Lager kommt, die alle Identitäts- mokratisch grenzwertiger Mittel rechtfertigt. kategorien wie Klasse oder Religion auf sich ver- Letztlich werden dabei die eigenen demokra- einen. Die jeweiligen Identitäten verstärken sich tischen Grundsätze, zu denen man sich verbal dann gegenseitig, und statt Ambivalenz produ- leicht bekennen kann, gegen Vorteile für die eige- zieren sie Radikalität. ne Gruppe eingetauscht. Plastischer ausgedrückt: Dies beschreibt exakt die Entwicklung in den Auch wenn vielen Republikanern klar war, dass USA.10 Hier ist im Laufe der vergangenen Jahr- 2017 bis 2021 ein Demokratieverächter im Wei- zehnte partisanship selbst, also Parteizugehörig- ßen Haus saß – so war er aus Sicht des konser- keit, zum eigentlichen Trennungsfaktor gewor- vativen Amerika doch immerhin ihr Demokra- den, zu einer Art „Super-Identität“, der sich alles tieverächter und gewiss besser als alles, was die nachordnet. Natürlich bleiben race und Religion Gegenseite aufzubieten hatte, die das Land durch und auch der Stadt-Land-Gegensatz wirkmächtig, „offene Grenzen“ und die „Einführung des So- aber die Parteien verkörpern nun jeweils einen Pol zialismus“ mutwillig in den Ruin treiben würde dieser Identitäten: die Republikaner als Partei des und selbst daran arbeite, die Demokratie durch religiösen, weißen und ländlichen Amerikas; die Wahlbetrug auszuhebeln. Denn auch das gehört Demokraten als Partei des säkularen, multiethni- zu den Kennzeichen dieser Polarisierung: dass die schen und urbanen Amerikas. Dadurch aber sind Positionen der Gegenseite von Anhängern beider sich die Wähler beider Seiten fremd geworden und Parteien stets radikal überschätzt werden.13 sehen sich eben nicht mehr länger nur als Bürger Die Abwesenheit einer offen antidemokrati- mit unterschiedlichen Meinungen, sondern als ra- schen Ideologie ist der Grund, warum historische dikal andere, mit denen keine Lebensrealität mehr Analogien zum Europa der Zwischenkriegszeit nie geteilt wird. Interessant ist, dass diese Polarisie- überzeugend waren. Die merkwürdige Melange rung nicht einmal primär von wachsenden Ein- aus Akzeptanz der Demokratie bei gleichzeitiger stellungsunterschieden zu bestimmten Sachfragen Nicht-Akzeptanz ihrer zentralen Spielregeln (wie getrieben wird. US-Politologen sprechen stattdes- etwa das Eingeständnis einer offenkundigen Wahl- sen von einer „affektiven Polarisierung“ – einer niederlage), ist tatsächlich sehr viel näher dran an tiefen, emotional verankerten Aversion gegen die der politischen Konstellation in Ländern wie Po- jeweils andere Seite.11 In solcherlei polarisierten len und Ungarn mit ihren starken rechtspopulis- Gesellschaften erodiert irgendwann zwangsläu- tischen Parteien, Venezuela oder der neo-autori- fig das Vertrauen nicht nur in die Institutionen des tären Türkei. Dort sind Politikwissenschaftler wie Staates, sondern auch zwischen den Mitbürgern, Milan Svolik schon vor einiger Zeit auf den glei- die sich gegenseitig mitunter die finstersten Ab- chen scheinbaren Widerspruch gestoßen: dass die sichten unterstellen.12 Demokratie demontiert wird, obwohl sich in Um- fragen überwältigende Mehrheiten zu ihr beken- „RIGHT OR WRONG, MY PARTY“ nen.14 Vorangetrieben wird diese Demontage von legitim gewählten Regierungschefs, deren Akti- Damit sind wir zum Ausgangspunkt unserer vitäten eigentlich relativ einfach gestoppt werden Überlegungen zurückgekehrt. Die lang anhalten- könnten, indem ihnen an der Wahlurne von ih- de Polarisierung der US-Politik hat aus der Re- ren Anhängern das Vertrauen entzogen wird. Wie publikanischen Partei zwar weiterhin keine dezi- Svoliks Studien jedoch zeigen, ist gerade das häufig dierte Anti-System-Partei gemacht – dafür fehlt nicht der Fall: In seinen Experimenten straften nur ihr ein intellektuell konsistenter Gegenentwurf –, die Wenigsten ihre eigenen Kandidaten für Verstö- ße gegen demokratische Spielregeln ab. 10 Vgl. Lilliana Mason, Uncivil Agreement: How Politics Became our Identity, Chicago 2018. 11 Vgl. Shanto Iyengar/Sean J. Westwood, Fear and Loathing 13 Vgl. Matthew S. Levendusky/Neil Malhotra, (Mis)percep- Across Party Lines: New Evidence on Group Polarization, in: tions of Partisan Polarization in the American Public, in: Public American Journal of Political Science 3/2015, S. 690–707. Opinion Quarterly 1/2016, S. 378–391. 12 Vgl. Kevin Vallier, Trust in a Polarized Age, New York– 14 Vgl. Milan W. Svolik, Polarization Versus Democracy, in: Oxford 2021. Journal of Democracy 3/2019, S. 20–32. 12
USA APuZ Gemeinsam mit Matthew Graham hat Svo- Auch wenn extreme Polarisierung grund- lik diese Studien für die USA repliziert und da- sätzlich auf allen Seiten den demokratischen bei seine Erkenntnisse bestätigt: Je stärker die Charakter verderben kann, gibt es offensichtli- Parteiidentifikation, desto stärker ist auch die Be- che Gründe, warum die Wähler der Republika- reitschaft, über eindeutige Norm- und Regelver- nischen Partei besonders anfällig dafür sind. Das stöße hinwegzuschauen.15 Übrigens galt dies für hat erstens mit dem objektiv durchaus berechtig- die Anhänger beider Parteien: Auch Demokraten ten Gefühl zu tun, ohnehin auf der Verlierersei- waren bereit, einem Kandidaten, der die eigenen te der Geschichte zu stehen. Es gehört ja zu den Werte verkörperte, vieles durchgehen zu lassen. Paradoxien der vergangenen Jahrzehnte, dass die Tatsächlich waren es auf beiden Seiten nur scho- „Grand Old Party“ zwar an der Wahlurne im- ckierende 3,5 Prozent der potenziellen Wählerin- mer wieder erfolgreich war, konservative Politik nen, die undemokratische Verfehlungen mit dem betrieb und konservative Richter ernannte – sich Entzug ihrer Stimme sanktioniert hätten. Die ein- gesellschaftlich aber eigentlich in einem einzigen zigen, die relativ eindeutig auf undemokratisches Rückzugsgefecht befand. Nach vier Jahrzehnten Verhalten reagierten, waren moderate und unab- des culture war ist das Land nicht etwa religiö- hängige Wähler, und das vermutlich nicht, weil ser geworden, sondern hat sich stetig säkularisiert sie gründlicher über die Prinzipien der Demokra- und liberalisiert. tie reflektiert hätten. Wahrscheinlicher ist, dass Zweitens ist die US-Gesellschaft ethnisch di- die Polarisierung sie einfach (noch) nicht in be- verser geworden, und obgleich es auch andere dingungslose Anhänger verwandelt hatte, die für Quellen für Trumps Popularität gab (wie nicht einen Triumph über die andere Seite bereit sind, zuletzt der Umstand zeigt, dass er 2020 überra- ihre Prinzipien zu opfern. Wer das tut, der lan- schende Zugewinne bei ethnischen Minderhei- det irgendwann bei jener bedingungslosen Lo- ten verbuchen konnte), so ist sein Aufstieg nicht yalität, die sich früher in dem Satz ausdrückte: ohne die Statusängste des weißen Amerikas zu „Right or wrong, my country!“, dessen zeitge- verstehen: Denn Weiße werden in absehbarer Zeit mäße Entsprechung wohl wäre: „Right or wrong, nicht mehr die Mehrheit im Land stellen, sondern my party!“ nur noch die größte Minderheit sein. Es ist ein Gefühl der kulturellen Belagerung, das bei vie- STATUSVERLUST len die Schmerzgrenze für Angriffe auf die de- UND ECHOKAMMERN mokratische Ordnung extrem erhöht hat – wenn sie denn überhaupt noch vorhanden ist. Studien Bei allem Respekt für den Wert von Experimenten zeigen, dass die Präferenz für antidemokratische in der Politikwissenschaft: In der Realität spie- Verhaltensweisen bei weißen und konservativen gelt sich die hier angenommene Wesensgleichheit Amerikanern stark mit rassistischen Vorurteilen zwischen den Anhängern beider Parteien nicht korreliert.16 wirklich wider. Zwar sind sowohl Demokraten Dass Republikaner für Legenden vom Wahl- als auch Republikaner in ideologischer Hinsicht betrug empfänglicher sind, hat drittens auch da- zu ihren Polen gewandert (diesbezüglich ist die mit zu tun, dass inzwischen jedes Korrektiv fehlt. Behauptung einer „asymmetrischen Polarisie- Das Vertrauen in die politische Klasse, auch in die rung“, der zufolge sich lediglich die Republikaner Politiker der eigenen Partei, ist seit Langem ero- radikalisiert hätten, nicht sehr überzeugend). In diert. Und da ist außerdem, natürlich, die Frag- Bezug auf den Angriff auf die demokratischen In- mentierung der amerikanischen Öffentlichkeit, stitutionen im Lande allerdings sollte man keine die Echokammern und Filterblasen eines ideolo- falsche Neutralität an den Tag legen: Denn diese gisch segmentierten Mediensystems. Dessen Ein- gingen fast ausschließlich auf das Konto Donald fluss auf die Polarisierung wird tendenziell über- Trumps und seiner willigen Ermöglicher in der schätzt, aber es ist keine Frage, dass insbesondere Republikanischen Partei. die sozialen Medien einen beispiellosen Reso- nanzraum für alle Arten von Verschwörungsthe- 15 Vgl. Matthew Graham/Milan W. Svolik, Democracy in America? Partisanship, Polarization, and the Robustness of Sup- 16 Vgl. Larry M. Bartels, Ethnic Antagonism Erodes Repu- port for Democracy in the United States, in: American Political blicans’ Commitment to Democracy, in: Proceedings of the Science Review 2/2020, S. 392–409. National Academy of Sciences 37/2020, S. 22752–22759. 13
APuZ 17–18/2021 orien bieten. Die Lüge vom Wahlbetrug wäre in Doch funktioniert das natürlich nur, wenn der Zeit vor Fox News, Facebook und Twitter ge- man auf richtige Art und Weise streitet. Die Po- wiss nicht auf ähnlich fruchtbaren Boden gefal- larisierung der US-Politik aber bringt schon len. Am 6. Januar 2021 kollidierte daher auch eine längst keinen produktiven Streit mehr hervor. mediale Fantasiewelt mit der Realität. Sie findet überdies unter Bedingungen statt, die einen Dialog zwischen den politischen Lagern SCHLUSSBETRACHTUNG extrem erschweren. Unterschiedliche Realitäts- wahrnehmungen führen zudem dazu, dass der Nach 1945 lag der Fokus vieler Sozialwissenschaft- Streit zwischen den Anhängern von Demokraten ler für lange Zeit auf den Bedingungen für das Ge- und Republikanern sich nicht mehr nur um Fra- deihen stabiler Demokratien. Die Politikwissen- gen von Identität und Zugehörigkeit dreht – was schaftler Gabriel Almond und Sydney Verba etwa schon schwer genug aufzulösen wäre –, sondern gingen in den 1960er Jahren in ihrer „Civic Cul- um die Existenz grundsätzlicher Tatsachen. ture Study“ der Frage nach, welche historischen Deswegen ist es auch so schwierig, eine Pro- und kulturellen Grundlagen notwendig sind, da- gnose über die Zukunft der amerikanischen De- mit sich demokratische Werte in einer Gesellschaft mokratie abzugeben. Auf die Mischung aus dem durchsetzen.17 Nach den totalitären Versuchen der Bekenntnis der Demokratie und der gleichzei- Zwischenkriegszeit und in der Ära der Systemri- tigen Missachtung vieler Normen, die für eine valität mit der Sowjetunion (deren Gesellschafts- funktionierende Demokratie notwendig sind, modell zumindest für eine Minderheit im Westen lässt sich mit etablierten Deutungsmustern nur einen Reiz besaß), waren das vielleicht die richti- schwer ein Reim machen. Immerhin: Das Feh- gen Fragen. Heute aber produzieren diese Fragen len einer offen antidemokratischen Ideologie hat nur mehr Antworten, die uns nicht mehr viel ver- die USA vor Schlimmeren bewahrt. Trump war raten über den Zustand der Demokratie. eben kein faschistischer Parteiführer, der am ers- Zugespitzt ausgedrückt: Das Bekenntnis zur ten Tag der Machtübernahme den US-Staatsap- Demokratie ist letztlich relativ wertlos, sofern parat mit den eigenen Leuten hätte bestücken man sich nicht an einige ihrer elementaren Spiel- können, rekrutiert aus einer straff organisierten regeln hält. Was derzeit in den USA passiert, gibt Kaderpartei mit ideologisch geschulten Anhän- all jenen Recht, die immer schon davon ausgin- gern. Da war wenig, was über ihn als Person hi- gen, dass Demokratie nicht etwa deswegen funk- nauswies. So blieb der Angriff auf die Institutio- tioniert, weil die Mitglieder eines Gemeinwesens nen erratisch, wenig planvoll, getrieben stets nur sich im Vorhinein über deren abstrakte Prinzipien von den Befindlichkeiten und Instinkten Donald verständigt und einem Sozialvertrag zugestimmt Trumps. Das war Amerikas Glück. Allerdings: hätten.18 Wichtig19 ist in Wahrheit die Praxis, nicht Dass sich nun mit Joe Biden als Präsident etwas die Theorie der Demokratie. Und da diese Pra- Grundlegendes an der Polarisierung des Landes xis vor allem auch Streit umfasst, ist es gerade der ändern wird, ist wohl nur bedingt zu erwarten – Konflikt, der konstitutiv für die Demokratie ist: auch wenn offensichtlich ist, dass der neue Mann Durch ständige Konfrontation, bei der mal die im Weißen Haus anders als sein Vorgänger kein eine und dann wieder die andere Seite gewinnt, Demagoge ist. Doch was strukturell angelegt und akzeptiert man ihre Spielregeln. Und was immer historisch gewachsen ist, das kann kein Einzelner auch sonst politische Gegner trennen mag: Die aus der Welt schaffen. Überhaupt ist die Formel Akzeptanz dieser Spielregeln bedeutet immer von der großen Versöhnung in gewisser Weise auch die Anerkennung, dass man zum gleichen auch unaufrichtig, denn die Frage ist, ob irgend- Gemeinwesen gehört. wer diese überhaupt jenseits von Lippenbekennt- nissen wirklich anstrebt.19 17 Vgl. Gabriel A. Almond/Sidney Verba, The Civic Culture: Po- litical Attitudes and Democracy in Five Nations, Princeton 1963. TORBEN LÜTJEN 18 Am pointiertesten vielleicht Marcel Gauchet, Tocqueville, ist Professor für Vergleichende Politikwissenschaft Amerika und wir. Über die Entstehung der demokratischen an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 2020 Gesellschaften, in: Ulrich Rödel (Hrsg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt/M. 1990. S. 123–206. erschien sein Buch „Amerika im Kalten Bürgerkrieg. 19 Vgl. Torben Lütjen, Die Versöhnung fällt aus, in: Die Tages- Wie ein Land seine Mitte verliert“. zeitung, 14. 11. 2020. tluetjen@politik.uni-kiel.de 14
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