AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - USA - Bundeszentrale für ...

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71. Jahrgang, 17–18/2021, 26. April 2021

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
        USA
        Lilliana Mason                           Laura von Daniels
      AUF DER SUCHE                       DIE USA ZURÜCK AUF DER
      NACH HEILUNG                        MULTILATERALEN BÜHNE
        Torben Lütjen                                Josef Braml
   WIE POLARISIERUNG DER                       WAS BEDEUTET
 DEMOKRATIE SCHADEN KANN                    BIDENS CHINAPOLITIK
                                                FÜR EUROPA?
      Keneshia N. Grant
     INNENPOLITISCHE                               Stephan Bierling
   HERAUSFORDERUNGEN                   DIE TRUMP-PRÄSIDENTSCHAFT:
   FÜR BIDEN UND HARRIS                        EINE BILANZ

                  ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                       FÜR POLITISCHE BILDUNG
              Beilage zur Wochenzeitung
USA
                                       APuZ 17–18/2021
LILLIANA MASON                                        LAURA VON DANIELS
AUF DER SUCHE NACH HEILUNG.                           DIE USA ZURÜCK AUF DER
(WIE) KANN JOE BIDEN DIE GRÄBEN                       MULTILATERALEN BÜHNE
ÜBERBRÜCKEN?                                          Die neue US-Regierung verspricht, auch ihre Au-
Bidens einzige Chance, Amerika zu einen,              ßenpolitik an den „Interessen der Mittelschicht“
besteht darin, Gesetzesvorhaben konsequent am         auszurichten. Entsprechend ist sie darum bemüht,
Mehrheitswillen der Amerikaner auszurichten.          verlorengegangenes Vertrauen wiederherzustellen
Allerdings wird es auch einer ernsthaften Strö-       – sowohl bei den internationalen Partnern als
mung in der Republikanischen Partei bedürfen,         auch bei der US-amerikanischen Mittelschicht.
die rassistischen Ressentiments klar entgegentritt.   Seite 21–26
Seite 04–08
                                                      JOSEF BRAML
TORBEN LÜTJEN                                         IN RAUEN GEWÄSSERN.
DIE AMERIKANISCHE LEKTION.                            WAS BEDEUTET BIDENS CHINAPOLITIK
WIE POLARISIERUNG DER DEMOKRATIE                      FÜR EUROPA?
SCHADEN KANN                                          In der Amtszeit von US-Präsident Joe Biden ist
Trumps Anhänger träumten von keiner neuen             mit einem härteren geoökonomischen Vorgehen
Ordnung; sie träumten davon, dass Trump die           der USA gegenüber China zu rechnen. Die sino-
Wahlen gewonnen hat. Mit diesem Paradox wird          amerikanische Rivalität wird Europas Wirtschaft
auch der neue US-Präsident Joe Biden umgehen          und Außenpolitik beeinträchtigen und sollte
müssen: Dass die Feinde der Demokratie sich           Europäern strategisch zu denken geben.
heute für deren wahre Hüter halten.                   Seite 27–32
Seite 09–14
                                                      STEPHAN BIERLING
KENESHIA N. GRANT                                     DIE TRUMP-PRÄSIDENTSCHAFT: EINE BILANZ
THE HILL THEY CLIMB. DIE GRÖ ẞTEN                     Unter seinen Anhängern gilt Donald Trump als
INNENPOLITISCHEN HERAUSFORDERUNGEN                    erfolgreicher Präsident: Immerhin hat er Steuern
FÜR JOE BIDEN UND KAMALA HARRIS                       gesenkt, wichtige Richterposten besetzt und
Die neue Regierung muss von Anfang an aufs            die Einwanderung gedrosselt. Übersehen wird
Tempo drücken, da etliche innenpolitische Pro-        dabei, dass die von ihm angerichteten Schäden
bleme dringend zu bearbeiten sind. Neben der          deutlich schwerer wiegen.
Pandemie und ihren wirtschaftlichen Folgen sind       Seite 33–38
dies vor allem Bürgerrechtsthemen, Rassismus
und gewaltbereiter inländischer Extremismus.
Seite 15–20
EDITORIAL
Als Joe Biden am 20. Januar 2021 als 46. Präsident der USA vereidigt wurde,
war die friedliche Machtübergabe von einer Regierung zur nächsten endlich
vollzogen. Dass dies erwähnenswert ist, sagt viel über die vier Jahre davor und
das Wirken von Bidens Vorgänger aus. Nur zwei Wochen zuvor hatte ein vom
abgewählten Präsidenten aufgestachelter Mob das Kapitol gestürmt, um diesen
mit Gewalt im Amt zu halten. Die Ereignisse führten noch einmal überdeutlich
vor Augen, wie tief die Gräben zwischen den Anhänger:innen der Demokraten
und der Republikaner mittlerweile sind.
   Biden ließ bereits in den ersten Tagen seiner Amtszeit keinen Zweifel an
seiner Entschlossenheit, die drängendsten Probleme seines Landes unverzüglich
anzugehen. So wurden die Impfkampagne zur Bekämpfung der Covid-19-Pan-
demie mit Tempo vorangetrieben, ein billionenschweres Konjunkturprogramm
verabschiedet, sämtliche umwelt- und klimapolitischen Maßnahmen der vergan-
genen Jahre auf den Prüfstand gestellt und die Priorität von Bürgerrechtsthemen
klar herausgestellt. Vieles davon konnte Biden indes nur per Exekutivverord-
nung durchsetzen. Auch dies zeigt: Die größte Herausforderung seiner Amtszeit
dürfte darin liegen, die parteipolitische Polarisierung zu überbrücken und die
amerikanische Gesellschaft mit sich selbst zu versöhnen.
   Auch international ist die neue US-Regierung darum bemüht, beschädigtes
Vertrauen wiederherzustellen und die USA als verlässlichen Partner zu reetab-
lieren. Davon zeugen etwa die Rückkehr in das Pariser Klimaabkommen und die
Rücknahme des angekündigten Austritts aus der Weltgesundheitsorganisation.
Gemütlicher dürfte es für Verbündete wie Deutschland dennoch nicht werden:
Das Weiße Haus wird sie auch künftig daran erinnern, dass in einer grundlegend
veränderten Weltlage mehr ziviles und militärisches Engagement von ihnen
erwartet wird – vielleicht nur etwas freundlicher als zuletzt.

                                                 Johannes Piepenbrink

                                                                             03
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                                                   ESSAY

           AUF DER SUCHE NACH HEILUNG
            (Wie) kann Joe Biden die Gräben überbrücken?
                                            Lilliana Mason

In meinem Buch „Uncivil Agreement“ beschrei-            „Konservativen“ progressive politische Haltungen
be ich ein seltsames Phänomen der US-amerikani-         einnehmen.05 Schlimmer noch: Republikanische
schen Politik.01 So unwahrscheinlich es sich anhö-      Abgeordnete sind nicht bereit, Gesetzesvorlagen
ren mag, ist sich die Wählerschaft doch weitgehend      zuzustimmen, die diesen breiten Konsens wider-
einig darüber, welche politischen Maßnahmen er-         spiegeln. Den Grund hierfür werde ich noch erläu-
griffen werden müssen, um das übergeordnete             tern; wichtig ist zunächst, klarzustellen, dass Prä-
Wohl der Nation zu fördern. Mehrheiten sowohl           sident Joe Biden es mit höchst unterschiedlichen
bei den Wähler:innen der Demokraten als auch            Auffassungen zu tun hat, was darunter zu verste-
bei denen der Republikaner befürworten erheb-           hen sei, wenn er zur „Einheit“ der Nation aufruft.
liche Ausgaben, um die wirtschaftlichen Auswir-              Die erste Art von „Einheit“, die Biden herstellen
kungen der Covid-19-Pandemie abzumildern und            soll und die in der aktuellen Politik am häufigsten
neue Verkehrsinfrastrukturprojekte anzustoßen.02        diskutiert wird, ist bipartisanship, womit Überpar-
93 Prozent der Anhänger:innen der Demokraten            teilichkeit beziehungsweise eine von beiden Par-
und 82 Prozent der Anhänger:innen der Republi-          teien getragene Politik gemeint ist. Dies ist es, was
kaner befürworten Hintergrundprüfungen bei pri-         zahlreiche republikanische Mandatsträger:innen
vaten Waffenkäufen und bei Verkäufen auf Waf-           einfordern.06 Bei dieser Art von Einheit muss Bi-
fenmessen.03 Selbst bei umstrittenen Themen wie         den republikanische Abgeordnete dazu bewegen,
Abtreibung und gleichgeschlechtlicher Ehe liegen        sich seiner progressiven politischen Agenda anzu-
die Meinungen der meisten Amerikaner:innen nä-          schließen. Dies ist jedoch äußerst unwahrschein-
her an der Mitte des Spektrums als an den Rändern.      lich, denn je mehr Fortschritte die Regierung dabei
    In meiner Analyse der Daten aus der American        erzielt, auf die Bedürfnisse des amerikanischen Vol-
National Election Study von 2016,04 bei der die Be-     kes einzugehen, desto populärer wird Biden wer-
fragten gebeten wurden, ihre Position zu Einwan-        den. Mitch McConnell, der Fraktionsvorsitzen-
derung, zum Affordable Care Act (dem Bundes-            de der Republikaner im Senat, sagte während der
gesetz zu Patientenschutz und „erschwinglicher“         Regierungszeit Obamas bekanntlich einmal: „Das
Pflege, häufig „Obamacare“ genannt), zu Abtrei-         Wichtigste, das wir erreichen wollen, ist, dass Prä-
bung, gleichgeschlechtlicher Ehe, Staatsausgaben        sident Obama keine zweite Amtszeit gewinnt.“07
und Waffenkontrolle zu benennen, schlug das             Auch wenn er im selben Interview einräumte, dass
Meinungspendel bei den Anhänger:innen der Re-           man zusammenarbeiten könne, wenn Obama eine
publikaner insgesamt nach links von der Mitte aus       andere Politik mache, war dies der gemeinsame
– ebenso wie bei denen der Demokraten, die noch         Ansatz der republikanischen Abgeordneten – Ge-
weiter links lagen. Generell vertritt die amerikani-    setzgebung eher zu blockieren, als sie mitzugestal-
sche Wählerschaft also progressive politische Ein-      ten. So wurden richtungsweisende und hilfreiche
stellungen – was einen vermeintlich breiten Hand-       Gesetzesvorhaben häufig verhindert, um den Ruf
lungsspielraum für die Zusammenarbeit bei einer         jener demokratischen Spitzenpolitiker:innen zu
progressiven Agenda schafft.                            schädigen, die sich darum bemühten, progressive
    Zugleich aber hassen sich die Anhänger:innen        und populäre Maßnahmen durchzusetzen.
der Republikaner und der Demokraten gegensei-                Da schon jetzt klar zu sein scheint, dass das
tig regelrecht, und diejenigen, die sich als „Konser-   republikanische Spitzenpersonal Bidens legis-
vative“ bezeichnen, verachten diejenigen, die sich      lative Agenda nicht unterstützen wird, kom-
als „Liberale“ bezeichnen, selbst dann, wenn diese      men wir zur zweiten Art von „Einheit“, die Bi-

04
USA APuZ

den derzeit zu favorisieren scheint: nämlich die                       nische Partei scheint diesem Ziel nahe gekommen
Amerikaner:innen zusammenzubringen, indem                              zu sein – sie hat 2020 eine Präsidentschaftskampa-
er politische Maßnahmen verfügt, die weithin                           gne mit buchstäblich keinem Parteiprogramm ge-
Zustimmung finden und in einer Zeit der Kri-                           führt, und sie hat versucht, einer Pandemie entge-
se für dringend benötigte Hilfeleistungen sor-                         genzutreten, indem sie selbst so gut wie gar nichts
gen. Er könnte also den Schwerpunkt auf jene                           unternommen hat und stattdessen die einzelnen
Gesetzesvorhaben legen, die von den meisten                            Bundesstaaten für sich selbst hat sorgen lassen. Es
Amerikaner:innen befürwortet werden, und dies                          stellt sich daher die Frage: Wie kann diese Art von
als Einigung einer breit gefächerten Wählerschaft                      Nichtregieren Wähler:innen anziehen?
betrachten. Diese Art von Einheit wäre ein we-                             Erstens schenken Republikaner und selbster-
sentlich produktiveres Ziel – Biden würde dabei                        klärte Konservative der Regierung im Allgemeinen
diejenigen ignorieren, die jede seiner Anstrengun-                     weniger Vertrauen. Der republikanische Präsident
gen zunichtezumachen suchen, und sich stattdes-                        Ronald Reagan sagte einmal: „Die neun furchter-
sen auf die Amerikaner:innen selbst konzentrie-                        regendsten Worte in der englischen Sprache sind:
ren. Das amerikanische Volk braucht Hilfe, und                         I’m from the government and I’m here to help.“
die Regierung ist – entgegen aller Beschwörungen                       („Ich bin von der Regierung, und ich bin hier, um
der republikanischen Parteielite – das effizientes-                    zu helfen.“)09 In den vergangenen Jahrzehnten hat
te Werkzeug, sich helfen zu lassen.1234567                             sich die Republikanische Partei den Standpunkt zu
    Will Präsident Biden die Nation einen und die                      eigen gemacht, der Bundesregierung sei nicht zu
tiefen Gräben überbrücken, besteht seine erste                         trauen, sie mache einen schlechten Job, und sie habe
Aufgabe also darin, Gesetze zu verabschieden, die                      keinen Platz im Leben normaler Amerikaner:innen.
bei den Wähler:innen, nicht bei seinen republikani-                    Dies ist eine schlüssige Folgerung, wenn man be-
schen Kolleg:innen beliebt sind. Allerdings steht er                   denkt, dass die Partei Gesetzesmaßnahmen er-
vor einer Reihe beträchtlicher Herausforderungen.                      lassen hat, aufgrund derer die Bundesregierung
                                                                       tatsächlich kaum eine Rolle mehr im Leben der
              FEHLENDER ANSPORN                                        Amerikaner:innen spielt, sodass diese sich iso-
           DER REPUBLIKANER, EFFEKTIV                                  liert und ignoriert fühlen. Wenn Amerikaner:innen
                  ZU REGIEREN                                          dann doch Hilfe von der Bundesregierung benöti-
                                                                       gen, versichert ihnen die Republikanische Partei,
Von Grover Norquist, einem einflussreichen repu-                       diese werde nicht für sie da sein, was die Meinung,
blikanischen Berater, stammt der bekannte Aus-                         die Regierung arbeite ineffektiv, nochmals bestätigt
spruch: „Ich will die Regierung nicht abschaffen,                      – es ist ein Teufelskreis. Je ineffektiver die neue Re-
ich will sie lediglich auf solche Größe reduzieren,                    gierung ist, desto mehr Unterstützung dürfte der
dass ich sie ins Badezimmer schleifen und in der                       Republikanischen Partei also daraus erwachsen.
Badewanne ertränken könnte.“08 Die Republika-                              Zweitens müssen die Republikaner keine
                                                                       Mehrheiten in der Wählerschaft für sich gewin-
01 Lilliana Mason, Uncivil Agreement: How Politics Became              nen, um die Regierung zu kontrollieren. Auf-
Our Identity, Chicago 2018.                                            grund nichtmehrheitlicher Institutionen wie dem
02 Vgl. American Democracy at the Start of the Biden Pre-
                                                                       Wahlmännergremium und dem Senat, in denen
sidency, Bright Line Watch January–February 2021 Surveys,
http://brightlinewatch.org/american-​democracy-​at-​the-​start-​of-​
                                                                       die Stimmen ländlicher Amerikaner:innen über-
the-​biden-​presidency.                                                proportional gewichtet sind, muss die Politik
03 Vgl. John Gramlich/Katherine Schaeffer, 7 Facts About               der Republikaner nicht auf breiter Front populär
Guns in the U. S., 22. 10. 2019, www.pewresearch.org/fact-​tank/​      sein. Sie muss lediglich die extremen Ränder der
2019/​10/​22/facts-​about-​guns-​in-​united-​states.
                                                                       Parteibasis ansprechen, deren Stimmen de facto
04 Für die Daten siehe https://electionstudies.org/data-​center.
05 Vgl. Lilliana Mason, Ideologues Without Issues: The Po­la­
                                                                       mächtiger sind als die Stimmen der Demokraten.
riz­ing Consequences of Ideological Identities, in: Public Opinion     Damit kommen wir zur Parteibasis der Republi-
Quarterly S1/2018, S. 866–887.                                         kaner – diese ist das nächste Problem, mit dem Bi-
06 Vgl Peter Baker, In Biden’s Washington, Democrats and               den konfrontiert ist.
Republicans Are Not United on „Unity“, 21. 1. 2021, www.nyti-
mes.com/​2021/​01/​21/us/politics/biden-​unity-​republicans.html.
07 Interview im National Journal, 23. 10. 2010.                        09 Auf einer Pressekonferenz, 12. 8. 1986, www.reaganfound-
08 Interview im National Public Radio, Morning Edition,                ation.org/ronald-​reagan/reagan-​quotes-​speeches/news-​confe-
25. 5. 2001.                                                           rence-​1.

                                                                                                                                   05
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               SOZIALE SORTIERUNG                                      Mitglied eines Nachbarschaftsvereins und eines örtli-
              UND WHITE SUPREMACY                                      chen Fitnessstudios – und die anderen Leute, die man
                                                                       in diesen Kreisen traf, bildeten eine gute Mischung
Eines meiner Hauptziele in „Uncivil Agreement“                         aus Demokrat:innen und Republikaner:innen. Man
bestand darin, zu erklären, wie es sein kann, dass                     war womöglich selbst Mitglied einer bestimmten
Amerikaner:innen einen so großen allgemeinen                           Partei, aber auf irgendeine Art und Weise gesell-
Konsens bezüglich politischer Positionen haben                         schaftlich mit Mitgliedern der jeweils anderen Par-
können, gleichzeitig aber so erbitterte Konflikte                      tei verbunden. Diese sozialen Vernetzungen mit der
zwischen den Parteien ausgetragen werden. Die                          politischen Konkurrenz kann man als cross-­pressures
grundlegende Antwort auf diese Frage war eine                           bezeichnen, und sie führen dazu, dass Polarisierung
Kombination aus psychologischer Theorie und                             und Intoleranz unwahrscheinlicher werden.12 Mit
etwas, das ich „soziale Sortierung“ nenne.                              der Zeit haben diese cross-pressures abgenommen,
    Das psychologische Element leitet sich von der                      und Demokrat:innen und Republikaner:innen ent-
Theorie der sozialen Identität ab, die Henri Taj-                       wickelten sich bezüglich Religion, race, Geogra-
fel und John Turner in den 1970er und 80er Jahren                       fie und Kultur auseinander. Durch diese „sozia-
entwickelten.10 Demnach gehört jeder Mensch ei-                         le Sortierung“ bekamen sie weniger Gelegenheiten,
ner großen Anzahl sozialer Gruppen an, und die-                         Parteigänger:innen der anderen Seite zu begegnen,
se Gruppenzugehörigkeiten helfen uns dabei, die                         und sie wurden zunehmend intoleranter und gehäs-
Welt und unseren Platz in ihr zu verstehen. Zu-                         siger gegenüber diesen Outgroup-Parteimitgliedern;
gleich sind wir bestrebt, unsere eigene Gruppe                          Konkurrenzdenken, Vorurteile und Wut nahmen zu.
anderen Gruppen gegenüber als überlegen zu be-                              Insbesondere entlang der Kategorie race ist
trachten und entsprechende Maßnahmen zu er-                            die Kluft zwischen den Parteien tiefer gewor-
greifen, um den hohen Status unserer Gruppe zu                         den. Die Republikanische Partei setzt sich mehr
sichern. In den Vereinigten Staaten fungieren die                      und mehr aus weißen, christlichen und ländlichen
Demokratische und die Republikanische Partei                           Amerikaner:innen zusammen, während die Demo-
nicht nur als politische Organisationsinstrumente,                     kratische Partei ethnisch und religiös zunehmend
sondern formen auch soziale Identitäten. Partei-                       divers geworden ist. Eines der wichtigsten Merk-
mitglieder fühlen eine soziale Bindung gegenüber                       male der parteipolitischen Gräben von heute ist eine
ihren jeweiligen Parteien und sind darum bemüht,                       tiefgehende Uneinigkeit über die Existenz und das
den relativen Status dieser Parteien zu verteidi-                      Fortbestehen der traditionellen sozialen Hierarchie.
gen.11 Statuswettbewerbe finden mindestens alle                        Üben weiße Männer die meiste Macht in der ame-
zwei Jahre in Form von Wahlen statt, und diese be-                     rikanischen Gesellschaft aus? Sollten sie es? Und
wirken für gewöhnlich, dass Parteianhänger:innen                       wenn nicht, was sollte diesbezüglich unternommen
aufgehetzt und in eine Wagenburgmentalität von                         werden? Amerika war noch nie besonders gut da-
„Wir gegen die“ verfallen – ein Nullsummenspiel.                       rin, auf diese Fragen Antworten zu geben, ohne dass
    Verschlimmert wird alles dadurch, dass es noch                     es dabei zu heftigen sozialen Verwerfungen kam –
eine weitere Entwicklung gibt, die die Bindung der                     die einmal sogar zum Bürgerkrieg führten. Außer-
Amerikaner:innen an ihre jeweilige Partei verstärkt:                   dem werden viele republikanische Wähler:innen
In den zurückliegenden Jahrzehnten hat sich die so-                    ihre Partei nicht für Regierungsversäumnisse ver-
ziale Zusammensetzung bei den Mitgliedern beider                       antwortlich machen, solange sie in der Lage ist, die
Parteien verändert. In den 1970ern wurden die Mit-                     Aufmerksamkeit ihrer Basis weiterhin auf diese ex-
glieder beider Parteien noch von unterschiedlichen                     trem spaltenden Themen zu fokussieren.
sozialen Kräftefeldern beeinflusst. Das heißt, man                          Dies sind die Probleme, mit denen es Präsident
gehörte zum Beispiel irgendeiner Religionsgemein-                      Biden bei seinem Versuch, ein gespaltenes Land zu
schaft und einer ethnischen Gruppe an, war zudem                       einen, zu tun bekommt. Er steht extremen ­racial
                                                                       ­divides gegenüber, einer gegnerischen Partei, die
10 Vgl. Henri Tajfel/John C. Turner, The Social Identity Theory        bereit ist, diese Spaltungen auf einem bereits in
of Intergroup Behaviour, in: Stephen Worchel/William G. Austin         Schieflage geratenen Wählerfeld auszuschlachten,
(Hrsg.), Psychology of Intergroup Relations, Chicago 1986,
S. 7–24.
11 Vgl. Leonie Huddy/Lilliana Mason/Lene Aarøe, Expressive             12 Vgl. Marilynn B. Brewer/Kathleen P. Pierce, Social Identity
Partisanship: Campaign Involvement, Political Emotion, and Parti-      Complexity and Outgroup Tolerance, in: Personality and Social
san Identity, in: American Political Science Review 1/2015, S. 1–17.   Psychology Bulletin 3/2005, S. 428–437.

06
USA APuZ

und einer Wählerschaft, der weisgemacht wurde,                  schanzen, um ihre eigene Gruppe zu verteidigen
die Regierung sei unfähig, große Probleme zu lösen.             – selbst wenn dies einen persönlichen Preis for-
                                                                dert. In diesem Szenario hatten Demokraten und
            GEMEINSAME IDENTITÄT?                               Republikaner, sobald die Bedrohung durch Co-
                                                                vid-19 politisiert wurde, nie eine Chance zu ko-
Vor der Covid-19-Pandemie scherzte ich mit                      operieren – ihr politischer Konflikt musste sie
Leser:innen, möglicherweise könnte eine Inva-                   stets in unterschiedliche Richtungen lenken.
sion von Außerirdischen Demokrat:innen und                          Doch vielleicht gibt es eine andere Möglich-
Repu­bli­kaner:innen endlich im Interesse der All-              keit, neue Wege zur Überbrückung parteipoliti-
gemeinheit vereinen. Das glaube ich heute nicht                 scher Gräben in der amerikanischen Politik zu
mehr. Die globale Verbreitung des Corona-Virus                  finden. Statt auf aktuelle Herausforderungen zu
war das, was einer lebensbedrohlichen Invasion,                 schauen, könnte es sinnvoll sein, die umgekehr-
die alle Menschen gegen eine äußere Bedrohung                   te Herangehensweise zu wählen und die tieferen
vereinen könnte, am nächsten kam. Doch in den                   Wurzeln dieser Gräben zu betrachten.
Vereinigten Staaten wurde die Pandemie prak-
tisch sofort politisiert – Republikaner:innen leug-                       RASSISMUS AUFARBEITEN
neten die Schwere (oder gar die Existenz) der Be-
drohung, während sich Demokrat:innen Masken                     In gewisser Hinsicht kann es auch als positive
aufsetzten, zueinander Abstand hielten und jene                 Entwicklung angesehen werden, dass die Parteien
Verhaltensregeln einhielten, die wissenschaftlich               sich entlang „rassischer“ Grenzen gespalten ha-
empfohlen wurden, um das Virus zu bekämpfen.                    ben. Sicher, diese Art der Spaltung hat einen gro-
    Der Grund für diese Diskrepanz findet sich                  ßen Teil der gegenwärtigen Feindseligkeiten und
in der wissenschaftlichen Literatur zu Intergrup-               des Hasses in der amerikanischen Politik befeu-
penkonflikten und Identität. Die Sozialpsycho-                  ert. Doch das bedeutet nicht, dass die Alternative
login Marilynn Brewer legte 1999 in einem Ar-                   vorzuziehen wäre.
tikel die Möglichkeiten und Hindernisse für eine                     Faktisch begannen weiße Südstaaten-De­mo­
Einigung von Gruppen im Konfliktfall dar. Ein                   krat:innen nach dem Civil Rights Act von 1964
Weg, Intergruppenkonflikte zu reduzieren, be-                   und dem Voting Rights Act von 1965 – mit denen
stehe demnach darin, den Fokus auf eine verbin-                 wesentliche Benachteiligungen für Schwarze und
dende, übergeordnete Gruppenidentität für bei-                  andere Minderheiten abgeschafft wurden – der
de Gruppen zu lenken und sich zusammen einer                    Demokratischen Partei den Rücken zu kehren,
gemeinsamen Bedrohung zu stellen. Allerdings                    um im Laufe einer Generation zu den Republika-
beschrieb Brewer auch einige Bedingungen, un-                   nern zu wechseln. Während dieses Prozesses gab
ter denen eine Bedrohung dieser übergeordneten                  es in der amerikanischen Parteipolitik nur wenig
Identität den gegenteiligen Effekt haben könnte,                Polarisierung, weil es in beiden Parteien eine ähn-
die einzelnen Gruppen also weiter auseinander                   liche Kombination aus white supremacists, Ras­sis­
getrieben werden könnten. Zu diesen Bedingun-                   mus­leug­ner:innen und rassenpolitisch progressi-
gen gehörte unter anderem ein politisierter Ver-                ven Weißen gab. Solange der Faktor race ignoriert
trauensmangel zwischen den konkurrierenden                      wurde, waren Kompromisse möglich.
Gruppen: In diesem Fall „erhöht die wahrgenom-                       Doch die Vereinigten Staaten sind lange über-
mene gemeinsame Bedrohung (…) den Zusam-                        fällig, was eine Aufarbeitung ihrer langen, bis heu-
menhalt und die Loyalität der Ingroup; Appelle                  te anhaltenden Geschichte rassistischer Gewalt
an Ingroup-Interessen haben größere Legitimität                 und Ungerechtigkeit angeht, insbesondere gegen-
als solche an persönliches Eigeninteresse.“13                   über Schwarzen. Ein Großteil dieser Geschich-
    Wenn zwei Gruppen, die derselben Bedro-                     te wird in amerikanischen Schulen nicht gelehrt:
hung ausgesetzt sind, einander nicht vertrauen,                 Der große Erfolg und das gewaltsame Ende der
können sie sich also noch mehr entzweien, da sie                ­Reconstruction, jener Phase der politischen Neu-
sich hinter ihrer jeweiligen Ingroup-Identität ver-              ordnung nach dem Sezessionskrieg 1861 bis 1865,
                                                                 die ungezwungene und feierliche Art der Lynch-
13 Vgl. Marilynn Brewer, The Psychology of Prejudice: Ingroup
                                                                 morde im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert,
Love and Outgroup Hate?, in: Journal of Social Issues 3/1999,    die Beständigkeit und Effektivität des weißen Ter-
S. 429–444, hier S. 438.                                         rorismus gegen die Erfolge der Schwarzen – den

                                                                                                                 07
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meisten amerikanischen Schüler:innen wird dieses                    wert. Gleichwohl ist es wichtig, sich mit den antide-
Wissen vorenthalten. Erst in jüngster Zeit sind wei-                mokratischen Kräften auseinanderzusetzen.
ße Amerikaner:innen durch zahlreiche „Beweisvi-                          Dieses Problem ist nicht unabhängig von den
deos“ zur Erkenntnis gelangt, dass sich die Polizei                 angesprochenen Fragen im Zusammenhang mit
in Schwarzen Gemeinden nicht so verhält, wie sie                    race. Tatsächlich ist es wohl ein direktes Ergeb-
es in weißen tut.14 So viel von dem Rassismus, den                  nis der zunehmend rassialisierten Kluft zwischen
Schwarze Amerikaner:innen täglich erleben, wird                     den Parteien. Die Kräfte der white supremacy ha-
vor den weißen verborgen beziehungsweise von                        ben uneingeschränkte Demokratie schon immer
ihnen ignoriert. Diese Ignoranz dient dem Erhalt                    als verhängnisvolle Bedrohung angesehen und
der weißen Vorherrschaft und erlaubt es, Amerikas                   sind weiterhin bestrebt, Schwarzen Amerikanern
Geschichte des strukturellen Rassismus fortzufüh-                   den Wahlgang so schwer und gefährlich zu ma-
ren, selbst wenn dessen Existenz von republikani-                   chen wie möglich.16 Selbst heute noch versuchen
schen Wortführer:innen aktiv geleugnet wird.15                      republikanische Funktionär:innen im ganzen
    Zu Bidens Plan, das Problem der Ungleich-                       Land, das Wählen zu erschweren.17
heit zwischen den „Rassen“ anzugehen, gehört                             Präsident Biden wird sich auf diejenigen po-
die Verpflichtung, Bildungschancen für Schwar-                      litischen Maßnahmen konzentrieren müssen, die
ze Amerikaner:innen zu erhöhen. Das ist wichtig.                    die Amerikaner:innen brauchen und mehrheit-
Für die Einigung der Nation wäre es aber auch                       lich wollen, um damit allen gleichermaßen zu hel-
hilfreich, weiße Amerikaner:innen über die ganze                    fen. Eine vollständig egalitäre, multiethnische De-
Geschichte rassistischer Gewalt und Ungerech-                       mokratie ist für die USA gegenwärtig nicht in
tigkeit in Amerika aufzuklären und sie dazu zu                      greifbarer Nähe – Bidens einzige Chance, Ame-
ermutigen, das vielfach angetane Unrecht wieder­                    rika zu einen, besteht daher darin, seine Geset-
gutzu­machen.                                                       zesvorhaben konsequent am Mehrheitswillen der
                                                                    Amerikaner:innen auszurichten. Sollte er mit sei-
           NICHT ENTPOLARISIEREN,                                   ner Agenda Erfolg haben, würde er damit nach-
          SONDERN DEMOKRATISIEREN                                   weisen, dass die Regierung ihren Bürger:innen hel-
                                                                    fen kann und dies auch tut. Potenziell könnte jeder
Letztendlich167 wird es für Biden entscheidend sein,                Erfolg das allgemeine Vertrauen in die Regierung
„Einheit“ nicht als „Entpolarisierung“ zu inter-                    stärken und auf diese Weise die Gemüter in der
pretieren. Als Polarisierungsforscherin glaube ich                  amerikanischen Politik abkühlen. Allerdings wird
nicht, dass Polarisierung selbst das Hauptproblem                   es dazu auch einer ernsthaften Strömung innerhalb
der amerikanischen Politik ist. Polarisierung ist ein               der Republikanischen Partei bedürfen, die der Po-
Symptom des Hauptproblems, und dieses ist die an-                   litik rassistischer Ressentiments entschieden ent-
tidemokratische Haltung, die sich innerhalb der Re-                 gegentritt. Solange die Republikaner ihre Basis mit
publikanischen Partei zunehmend verbreitet. Wenn                    rassialisierten Ansprüchen auf eine eigene weiße
sich eine Partei in Richtung Faschismus bewegt, soll-               Opferrolle ablenken, könnte die republikanische
ten wir nicht erwarten, dass die andere im Interesse                Wählerschaft jeden Erfolg der Biden-Administra-
einer Entpolarisierung das gleiche tut. Im Gegenteil:               tion ignorieren – oder sogar mit noch mehr Hass
Polarisierung ist in diesem Fall sogar wünschens-                   darauf reagieren, da viele offenbar weniger am
                                                                    übergeordneten Wohl der Nation orientiert sind,
14 Vgl. Joe Soss/Vesla Weaver, Police Are Our Govern-               sondern vielmehr darauf, „wer was bekommt“.
ment: Politics, Political Science, and the Policing of Race–Class
Subjugated Communities, in: Annual Review of Political Science      Übersetzung aus dem Amerikanischen: Peter Beyer,
1/2017, S. 565–591.
                                                                    Bonn.
15 Vgl. Devan Cole, Top Trump Officials Claim There’s No
Systemic Racism in US Law Enforcement Agencies, 11. 6. 2020,
www.cnn.com/​2020/​06/​07/politics/systemic-​racism-​trump-​ad-     LILLIANA MASON
ministration-​officials-​barr-​carson-​wolf/index.html.             ist Professorin am Department of Government
16 Vgl. Keith G. Bentele/Erin E. O’Brien, Jim Crow 2.0? Why         and Politics der University of Maryland, College
States Consider and Adopt Restrictive Voter Access Policies, in:
                                                                    Park. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen
Perspectives on Politics 4/2013, S. 1088–1116.
17 Vgl. Jane C. Timm, Republicans Advance More than 100
                                                                    politische Psychologie, Parteizugehörigkeit und
Bills That Would Restrict Voting in Wake of Trump’s Defeat,         Identität sowie Religion und Politik.
6. 2. 2021, www.nbcnews.com/politics/elections/n1256821.            lmason@umd.edu

08
USA APuZ

              DIE AMERIKANISCHE LEKTION
           Wie Polarisierung der Demokratie schaden kann
                                            Torben Lütjen

Auf den ersten Blick scheint die Sache einfach:        hin im Normalmodus. Und auch wenn es an die-
Das Schicksal von Demokratien entscheidet sich         sem Tag und danach noch glimpflich ausging und
an der Frage, von wie vielen überzeugten Demo-         das gelang, was mehr als zweihundert Jahre lan-
kraten sie getragen werden. Natürlich spielen die      ge in Washington noch immer funktioniert hat –
institutionelle Ordnung und die Struktur der Ver-      ein friedlicher Wechsel der Regierung – ist die Le-
fassung eine Rolle, ebenso wie plötzlich auftre-       gitimationskrise der amerikanischen Demokratie
tende innere wie äußere Krisen. Am Ende lautet         nicht ausgestanden: Die Mehrzahl jener, die ihr
die einfachste Gleichung: Wo die Mehrheit einer        Kreuz nicht bei Joe Biden, sondern bei Donald
Gesellschaft sich gegen die Demokratie als Staats-     Trump gemacht haben, hält die Präsidentschafts-
form entscheidet, da wird sie über kurz oder lang      wahl 2020 weiterhin für gefälscht und damit, in
scheitern. Besonders vertraut ist diese Gleichung      bitterer, aber durchaus unbestechlicher Logik,
den Deutschen. Schließlich bleibt hier das Schei-      den neuen Mann im Weißen Haus für einen ille-
tern der Weimarer Republik der zentrale Bezugs-        gitimen Präsidenten.
punkt in allen Diskussionen um eine vermeintli-             Wie aber passt das zusammen: die grundsätz-
che „Krise der Demokratie“.01 Die Befürworter          liche Befürwortung der Demokratie als beste Re-
der Republik gerieten seit 1930 immer stärker un-      gierungsform einerseits, und die Ablehnung einer
ter Druck, rechts vor allem von der NSDAP, links       nach allen logischen Kriterien und Meinung al-
von der KPD. Am Ende war es einer schrump-             ler Wahlbeobachter rechtmäßigen Wahl anderer-
fenden politischen Mitte quasi unmöglich, noch         seits? Offensichtlich kommt man der Krise der
Mehrheiten zu organisieren. Nazis und Kom-             amerikanischen Demokratie mit den analytischen
munisten waren Todfeinde, sich in ihrer offenen        Mustern des 20. Jahrhunderts nicht bei. Selbst bei
Ablehnung der ersten deutschen Demokratie al-          jenen, die sich am 6. Januar vor dem US-Kapi-
lerdings einig. So ging Weimar als „Demokratie         tol versammelt haben, dürfte es sich in der Mehr-
ohne Demokraten“ in die Geschichtsbücher ein.          zahl nicht um dezidierte Antidemokraten gehan-
    Die Sache ist nur: Aus dieser Perspektive be-      delt haben. Vielmehr verstanden sie sich gerade
trachtet, müsste man sich um die USA eigentlich        als die Hüter und Wächter der Demokratie, als
keine großen Sorgen machen. Denn als politische        letztes Aufgebot zu ihrer Verteidigung gegen ein
Idee ist die Demokratie dort weithin akzeptiert.       aus ihrer Sicht korruptes System. Natürlich ist
Zwar äußern viele US-Amerikaner – nicht anders         auch das brandgefährlich. Und doch unterschei-
als die Bürger vieler anderer westlicher Demo-         den sich Trumps Republikaner von jenen Partei-
kratien – Unzufriedenheit darüber, wie die De-         en, die der Politikwissenschaftler Giovanni Sarto-
mokratie praktiziert wird und beklagen die Dis-        ri in seinem Konzept des polarized pluralism als
krepanz zwischen Ideal und Realität. Alternative       „Anti-System-Parteien“ bezeichnet und als die
Formen der Ausübung und Legitimation von               potenziellen Totengräber der Demokratie iden-
Herrschaft spielen in ihren Vorstellungswelten         tifiziert hat: Parteien mit einem revolutionären
aber nur eine untergeordnete Rolle.02                  Plan zur Überwindung der bestehenden Ord-
    Ist also alles gut? Die Frage ist natürlich rhe-   nung.03 Trumps Anhänger träumten von keiner
torisch, denn auch der abgebrühteste Anti-Alar-        neuen Ordnung; sie träumten davon, dass Trump
mist kann nach dem 6. Januar 2021, als ein von         die Wahlen gewonnen hat.
Präsident Donald Trump angestachelter Mob                   Das also ist der Widerspruch, der im Folgen-
das US-Kapitol stürmte, nicht mehr ernstlich der       den aufgelöst werden soll: Dass die Feinde der
Meinung sein, die US-Politik befinde sich weiter-      Demokratie sich heute für deren wahre Hüter

                                                                                                       09
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halten. Man kann das – vorsichtig ausgedrückt                      nandersetzung und verdankt ihren immer noch
– für eine Fehlwahrnehmung halten. Aber man                        fortwährenden Erfolg ihrer Fähigkeit, funda-
sollte es dennoch ernst nehmen, wenn man ver-                      mentale Auseinandersetzungen auszuhalten und
stehen will, wes Geistes Kind sie sind. Im Grun-                   friedlich zu regeln. In der Politikwissenschaft –
de erklären drei miteinander verbundene Fakto-                     in der das Thema gerade verstärkt empirisch er-
ren diesen Widerspruch: erstens die extreme und                    forscht wird, es aber nur wenige theoretische Re-
spezifische Natur der Polarisierung der US-Poli-                   flexionen darüber gibt – wird Polarisierung als
tik, die zur Erosion von Werten geführt hat, ohne                  wachsende ideologische Distanz definiert: zwi-
die jedes Bekenntnis zur Demokratie im Grunde                      schen den politischen Positionen relevanter Par-
wertlos ist; zweitens das Gefühl unter Amerikas                    teien oder aber in den Einstellungen der Bürger.
Konservativen, dass alle Entwicklungen im Land                     Beides aber ist unabdingbar, weil Demokratie
gegen sie laufen und daher auch grenzwertige                       vom Wettbewerb lebt und dafür Alternativen
Mittel den Zweck der kulturellen und politischen                   braucht.
Selbstbehauptung rechtfertigen; und drittens die                       Oft trifft Polarisierung im Zuge gesellschaft-
Fragmentierung der Öffentlichkeit, die zu einer                    lichen Wandels auf, vor allem, wenn neue oder
völligen Erosion gemeinsamer Realitätswahrneh-                     bisher ausgeschlossene gesellschaftliche Gruppen
mungen geführt hat.123                                             mehr Teilhaberechte einfordern. Die Geschichte
                                                                   der Polarisierung der US-amerikanischen Poli-
              WARUM DEMOKRATIE                                     tik und Gesellschaft ist dafür das beste Beispiel.
            POLARISIERUNG BRAUCHT                                  Schließlich ging die bis Anfang der 1960er Jahre
                                                                   herrschende Konsenskultur auch darauf zurück,
Dass die amerikanische Gesellschaft und Politik                    dass man das wohl drängendste Problem des
polarisiert sind, ist mittlerweile ein Gemeinplatz,                Landes parteiübergreifend ignorierte: die ka­   ta­
so wie auch die Ursachen dafür mittlerweile zur                    stro­pha­len Zustände im Süden der USA, wo auch
Genüge dargelegt wurden.04 Weniger Platz hat                       hundert Jahre nach dem Ende der Sklaverei von
bisher die Frage eingenommen, und das gilt nicht                   Gleichberechtigung keine Rede sein konnte und
nur für die USA, inwiefern Polarisierung eigent-                   wo weiterhin de facto ein System der Rassentren-
lich ein Problem für die Demokratie ist. Im öf-                    nung herrschte. Erst unter dem Druck der Bür-
fentlichen Diskurs wird sie überwiegend negativ                    gerrechtsbewegung Martin Luther Kings begann
wahrgenommen, etwa wenn sie im Zusammen-                           die Demokratische Partei, zögerlich noch unter
hang mit Befürchtungen vor einer „tiefen gesell-                   Präsident John F. Kennedy, energisch dann un-
schaftlichen Spaltung“ genannt wird. Polarisie-                    ter seinem Nachfolger Lyndon B. Johnson, sich
rung klingt nach Streit und Konflikt statt nach                    des Problems anzunehmen. Das aber veränder-
Konsens, nach Ideologie statt Vernunft, nach ei-                   te fortan die Statik der amerikanischen Politik.
ner aufgewühlten Gesellschaft, die mit sich selbst                 Nachdem die Wähler im konservativen Süden,
nicht im Reinen ist.                                               bis dahin eine Hochburg der Partei, aus Protest
    Aus demokratietheoretischer Sicht wäre dem                     die Demokratische Partei verließen und zu den
zu entgegnen: Was sollte daran schlecht sein? Die                  Republikanern wechselten, homogenisierten sich
Demokratie lebt vom Streit und von der Ausei-                      beide Parteien, die Republikaner wurden rechter,
                                                                   die Demokraten linker – und race schließlich zur
01 Vgl. Frank Bösch, Sehnsucht nach Einheit. Weimars Erbe in       großen spaltenden Konfliktlinie der US-Politik.05
der politischen Kultur der Bundesrepublik, in: Hanno Hochmuth/     Völlig zu Recht gilt das Ringen der Bürgerrechts-
Martin Sabrow/Tilmann Siebeneichner (Hrsg.), Weimars Wir-          bewegung heute als heroischer Freiheitskampf,
kung. Das Nachleben der ersten deutschen Republik, Göttingen
                                                                   aber man könnte auch sagen: Mit ihm begann
2020, S. 197–211.
02 Vgl. Lee Drutman/Joe Goldman/Larry Diamond, Democra-
                                                                   sich das Land zu polarisieren. Doch wer würde
cy Maybe. Attitudes on Authoritarianism in America, Juni 2020,     das heute schon für falsch halten wollen? Aus die-
www.voterstudygroup.org/publication/democracy-​maybe.              ser Perspektive ist Polarisierung einfach der Preis,
03 Vgl. Giovanni Sartori, Parties and Party Systems: A Frame-      der von Zeit zu Zeit für den gesellschaftlichen
work for Analysis, London 2005.
                                                                   Fortschritt zu entrichten ist, die unvermeidliche
04 Vgl. Torben Lütjen, Amerika im Kalten Bürgerkrieg. Wie ein
Land seine Mitte verliert, Darmstadt 2020; Ezra Klein, Der große
                                                                   Folge neuer Emanzipationsschübe.
Graben. Die Geschichte der gespaltenen Staaten von Amerika,
Hamburg 2020.                                                      05 Vgl. Lütjen (Anm. 4).

10
USA APuZ

    Schließlich ist Polarisierung aus demokratie-               Konfliktdimension einordnen lassen, einfacher
theoretischer Sicht auch deswegen grundsätz-                    zu lösen, als solche, die entlang einer kulturel-
lich positiv zu beurteilen, weil sie oft breitere               len oder auch identitären Konfliktlinie verlaufen.
Bevölkerungsschichten politisiert und mit er-                   Fraglos können auch erstere als materielle Ver-
höhter Partizipation einhergeht. Interessant ist                teilungskonflikte extreme Feindseligkeiten aus-
in der Tat, dass vor nicht allzu langer Zeit Pola-              lösen, und natürlich wird auch bei ihnen teilwei-
risierung eben gerade nicht das Kardinalproblem                 se Identität mitverhandelt. Dennoch entstehen
westlicher Demokratien zu sein schien. Stattdes-                hieraus Kämpfe, die als „teilbare Konflikte“ be-
sen wurde viel über das Konzept der „Postdemo-                  zeichnet werden, weil man den Streitgegenstand
kratie“ debattiert: eine nur noch vermeintliche                 aufteilen kann: etwas mehr oder weniger Steuern
Demokratie, deren sämtliche Kulissen (Parteien,                 für die einen, etwas mehr oder weniger staatliche
Parlamente, Wahlen) zwar weiterhin stünden, die                 Leistungen für die anderen, und so weiter. Eine
in der Substanz aber längst ausgehöhlt sei durch                Geschichte der teilbaren Konflikte ist zum Bei-
eine Allianz multinationaler Wirtschaftsunter-                  spiel die Geschichte der Domestizierung der re-
nehmen und anderer global agierender Akteure.06                 volutionären Arbeiterparteien durch die Schaf-
Diese bestimmten in Wahrheit den Takt der Poli-                 fung von Wohlfahrtsstaaten.08
tik – während der eigentliche Souverän, das Volk,                    Anders sieht es aus bei Fragen von Identität
sich von der Politik mit Desinteresse und in Apa-               oder kultureller Zugehörigkeit, die „unteilbare
thie abgewandt habe. Polarisierung wirkt solchen                Konflikte“ produzieren. Bei ihnen ist es sehr viel
Tendenzen entgegen, denn sie stärkt das Bürger­                 schwieriger, eine „Mitte“ zu finden, geht es doch,
engagement und auch das Interesse an der Politik,               etwa bei religiösen und ethnischen Konflikten,
da sie durch scharfe politische Kontraste verdeut-              um die Frage, wer überhaupt rechtmäßiger Teil
licht, was auf dem Spiel steht und damit für alle               einer Gemeinschaft ist und wer nicht. Das gilt
den Einsatz erhöht.                                             auch für Konflikte, bei denen grundsätzliche und
                                                                aus Sicht der Betroffenen unverhandelbare, weil
      WANN POLARISIERUNG SCHADET                                moralisch absolute Werte verhandelt werden:
                                                                Wer glaubt, dass Homosexualität eine Todsünde
Polarisierung muss also nicht per se ein Pro-                   ist, für den gibt es keinen Kompromiss mit der
blem für die Demokratie sein. Im Gegenteil: Ein                 Gegenseite. Und die USA sind zweifelsohne be-
Mindestmaß an Polarisierung ist sogar notwen-                   reits seit Jahrzehnten kulturell polarisiert. Nicht
dig. Doch kann sie zum Problem werden, wenn                     dass Fragen sozialer Ungleichheit dort keine Rol-
sie bestimmte Verlaufsformen annimmt, und sich                  le spielen würden – aber Fragen von race, Religi-
zu dem entwickelt, was die Politikwissenschaft-                 on und Einwanderung sind bereits seit Langem
lerinnen Jennifer McCoy, Tamina Rahman und                      bedeutender.
Murat Somer als pernicious polarization bezeich-                     Noch etwas anderes signalisiert, dass die Po-
nen: eine „bösartige“ Form der Polarisierung, bei               larisierung in den USA in eine gefährliche Phase
der die andere Seite nicht mehr als legitimer po-               eingetreten ist: Und zwar fusionieren die multip-
litischer Gegner gesehen wird, sondern als exis-                len kulturellen Konflikte, wie sie alle Gesellschaf-
tenzieller Feind, den es bis aufs Blut zu bekämp-               ten auszuhalten haben, allmählich zu einem bipo-
fen gilt.07 Und leider ist das eben jene Version von            laren Großkonflikt.09 Solange das nicht der Fall
Polarisierung, die mittlerweile auch die USA be-                ist, können Bürger in ihren Grundeinstellungen
fallen hat.                                                     ambivalent bleiben: so wie der Arbeiter mit Klas-
     Unter welchen Voraussetzungen aber nimmt                   senbewusstsein, der aber gleichzeitig seine Iden-
Polarisierung diese Formen an? Entscheidend ist                 tität als Katholik verteidigt. Unter solchen Bedin-
vor allem, worüber und in welcher Weise über                    gungen müssen auch Parteien ein gewisses Maß
etwas gestritten wird. Grundsätzlich sind Kon-                  an Ambivalenz kommunizieren und können sich
flikte, die sich entlang einer sozioökonomischen

                                                                08 Vgl. Helmut Dubiel, Cultivated Conflicts, in: Political Theory
06 Vgl. Colin Crouch, Postdemokratie, Frank­furt/M. 2003.       2/1998, S. 209–220; Albert O. Hirschman, Social Conflicts as
07 Vgl. Jennifer McCoy/Tahmina Rahman/Murat Somer,              Pillars of Democratic Market Society, in: Political Theory 2/1994,
Polarization and the Global Crisis of Democracy, in: American   S. 203–218.
Behavioral Scientist 1/2018, S. 16–42.                          09 Vgl. McCoy/Rahman/Somer (Anm. 7).

                                                                                                                               11
APuZ 17–18/2021

nicht zur eindeutigen Vertreterin einer bestimm-                 bei vielen republikanischen Wählern aber die An-
ten Identität machen. Anders sieht es aus, sobald                sicht verstärkt, sich in einer existenziellen Kon-
es zu einem eindeutigen Dualismus zweier klar                    fliktsituation zu befinden, die den Einsatz de-
abgegrenzter Lager kommt, die alle Identitäts-                   mokratisch grenzwertiger Mittel rechtfertigt.
kategorien wie Klasse oder Religion auf sich ver-                Letztlich werden dabei die eigenen demokra-
einen. Die jeweiligen Identitäten verstärken sich                tischen Grundsätze, zu denen man sich verbal
dann gegenseitig, und statt Ambivalenz produ-                    leicht bekennen kann, gegen Vorteile für die eige-
zieren sie Radikalität.                                          ne Gruppe eingetauscht. Plastischer ausgedrückt:
    Dies beschreibt exakt die Entwicklung in den                 Auch wenn vielen Republikanern klar war, dass
USA.10 Hier ist im Laufe der vergangenen Jahr-                   2017 bis 2021 ein Demokratieverächter im Wei-
zehnte partisanship selbst, also Parteizugehörig-                ßen Haus saß – so war er aus Sicht des konser-
keit, zum eigentlichen Trennungsfaktor gewor-                    vativen Amerika doch immerhin ihr Demokra-
den, zu einer Art „Super-Identität“, der sich alles              tieverächter und gewiss besser als alles, was die
nachordnet. Natürlich bleiben race und Religion                  Gegenseite aufzubieten hatte, die das Land durch
und auch der Stadt-Land-Gegensatz wirkmächtig,                   „offene Grenzen“ und die „Einführung des So-
aber die Parteien verkörpern nun jeweils einen Pol               zialismus“ mutwillig in den Ruin treiben würde
dieser Identitäten: die Republikaner als Partei des              und selbst daran arbeite, die Demokratie durch
religiösen, weißen und ländlichen Amerikas; die                  Wahlbetrug auszuhebeln. Denn auch das gehört
Demokraten als Partei des säkularen, multiethni-                 zu den Kennzeichen dieser Polarisierung: dass die
schen und urbanen Amerikas. Dadurch aber sind                    Positionen der Gegenseite von Anhängern beider
sich die Wähler beider Seiten fremd geworden und                 Parteien stets radikal überschätzt werden.13
sehen sich eben nicht mehr länger nur als Bürger                     Die Abwesenheit einer offen antidemokrati-
mit unterschiedlichen Meinungen, sondern als ra-                 schen Ideologie ist der Grund, warum historische
dikal andere, mit denen keine Lebensrealität mehr                Analogien zum Europa der Zwischenkriegszeit nie
geteilt wird. Interessant ist, dass diese Polarisie-             überzeugend waren. Die merkwürdige Melange
rung nicht einmal primär von wachsenden Ein-                     aus Akzeptanz der Demokratie bei gleichzeitiger
stellungsunterschieden zu bestimmten Sachfragen                  Nicht-Akzeptanz ihrer zentralen Spielregeln (wie
getrieben wird. US-Politologen sprechen stattdes-                etwa das Eingeständnis einer offenkundigen Wahl-
sen von einer „affektiven Polarisierung“ – einer                 niederlage), ist tatsächlich sehr viel näher dran an
tiefen, emotional verankerten Aversion gegen die                 der politischen Konstellation in Ländern wie Po-
jeweils andere Seite.11 In solcherlei polarisierten              len und Ungarn mit ihren starken rechtspopulis-
Gesellschaften erodiert irgendwann zwangsläu-                    tischen Parteien, Venezuela oder der neo-autori-
fig das Vertrauen nicht nur in die Institutionen des             tären Türkei. Dort sind Politikwissenschaftler wie
Staates, sondern auch zwischen den Mitbürgern,                   Milan Svolik schon vor einiger Zeit auf den glei-
die sich gegenseitig mitunter die finstersten Ab-                chen scheinbaren Widerspruch gestoßen: dass die
sichten ­unterstellen.12                                         Demokratie demontiert wird, obwohl sich in Um-
                                                                 fragen überwältigende Mehrheiten zu ihr beken-
        „RIGHT OR WRONG, MY PARTY“                               nen.14 Vorangetrieben wird diese Demontage von
                                                                 legitim gewählten Regierungschefs, deren Akti-
Damit sind wir zum Ausgangspunkt unserer                         vitäten eigentlich relativ einfach gestoppt werden
Überlegungen zurückgekehrt. Die lang anhalten-                   könnten, indem ihnen an der Wahlurne von ih-
de Polarisierung der US-Politik hat aus der Re-                  ren Anhängern das Vertrauen entzogen wird. Wie
publikanischen Partei zwar weiterhin keine dezi-                 Svoliks Studien jedoch zeigen, ist gerade das häufig
dierte Anti-System-Partei gemacht – dafür fehlt                  nicht der Fall: In seinen Experimenten straften nur
ihr ein intellektuell konsistenter Gegenentwurf –,               die Wenigsten ihre eigenen Kandidaten für Verstö-
                                                                 ße gegen demokratische Spielregeln ab.
10 Vgl. Lilliana Mason, Uncivil Agreement: How Politics Became
our Identity, Chicago 2018.
11 Vgl. Shanto Iyengar/Sean J. Westwood, Fear and Loathing       13 Vgl. Matthew S. Levendusky/Neil Malhotra, (Mis)percep-
Across Party Lines: New Evidence on Group Polarization, in:      tions of Partisan Polarization in the American Public, in: Public
American Journal of Political Science 3/2015, S. 690–707.        Opinion Quarterly 1/2016, S. 378–391.
12 Vgl. Kevin Vallier, Trust in a Polarized Age, New York–       14 Vgl. Milan W. Svolik, Polarization Versus Democracy, in:
Oxford 2021.                                                     Journal of Democracy 3/2019, S. 20–32.

12
USA APuZ

    Gemeinsam mit Matthew Graham hat Svo-                             Auch wenn extreme Polarisierung grund-
lik diese Studien für die USA repliziert und da-                  sätzlich auf allen Seiten den demokratischen
bei seine Erkenntnisse bestätigt: Je stärker die                  Charakter verderben kann, gibt es offensichtli-
Parteiidentifikation, desto stärker ist auch die Be-              che Gründe, warum die Wähler der Republika-
reitschaft, über eindeutige Norm- und Regelver-                   nischen Partei besonders anfällig dafür sind. Das
stöße hinwegzuschauen.15 Übrigens galt dies für                   hat erstens mit dem objektiv durchaus berechtig-
die Anhänger beider Parteien: Auch Demokraten                     ten Gefühl zu tun, ohnehin auf der Verlierersei-
waren bereit, einem Kandidaten, der die eigenen                   te der Geschichte zu stehen. Es gehört ja zu den
Werte verkörperte, vieles durchgehen zu lassen.                   Paradoxien der vergangenen Jahrzehnte, dass die
Tatsächlich waren es auf beiden Seiten nur scho-                  „Grand Old Party“ zwar an der Wahlurne im-
ckierende 3,5 Prozent der potenziellen Wählerin-                  mer wieder erfolgreich war, konservative Politik
nen, die undemokratische Verfehlungen mit dem                     betrieb und konservative Richter ernannte – sich
Entzug ihrer Stimme sanktioniert hätten. Die ein-                 gesellschaftlich aber eigentlich in einem einzigen
zigen, die relativ eindeutig auf undemokratisches                 Rückzugsgefecht befand. Nach vier Jahrzehnten
Verhalten reagierten, waren moderate und unab-                    des culture war ist das Land nicht etwa religiö-
hängige Wähler, und das vermutlich nicht, weil                    ser geworden, sondern hat sich stetig säkularisiert
sie gründlicher über die Prinzipien der Demokra-                  und liberalisiert.
tie reflektiert hätten. Wahrscheinlicher ist, dass                    Zweitens ist die US-Gesellschaft ethnisch di-
die Polarisierung sie einfach (noch) nicht in be-                 verser geworden, und obgleich es auch andere
dingungslose Anhänger verwandelt hatte, die für                   Quellen für Trumps Popularität gab (wie nicht
einen Triumph über die andere Seite bereit sind,                  zuletzt der Umstand zeigt, dass er 2020 überra-
ihre Prinzipien zu opfern. Wer das tut, der lan-                  schende Zugewinne bei ethnischen Minderhei-
det irgendwann bei jener bedingungslosen Lo-                      ten verbuchen konnte), so ist sein Aufstieg nicht
yalität, die sich früher in dem Satz ausdrückte:                  ohne die Statusängste des weißen Amerikas zu
„Right or wrong, my country!“, dessen zeitge-                     verstehen: Denn Weiße werden in absehbarer Zeit
mäße Entsprechung wohl wäre: „Right or wrong,                     nicht mehr die Mehrheit im Land stellen, sondern
my p­arty!“                                                       nur noch die größte Minderheit sein. Es ist ein
                                                                  Gefühl der kulturellen Belagerung, das bei vie-
                 STATUSVERLUST                                    len die Schmerzgrenze für Angriffe auf die de-
               UND ECHOKAMMERN                                    mokratische Ordnung extrem erhöht hat – wenn
                                                                  sie denn überhaupt noch vorhanden ist. Studien
Bei allem Respekt für den Wert von Experimenten                   zeigen, dass die Präferenz für antidemokratische
in der Politikwissenschaft: In der Realität spie-                 Verhaltensweisen bei weißen und konservativen
gelt sich die hier angenommene Wesensgleichheit                   Amerikanern stark mit rassistischen Vorurteilen
zwischen den Anhängern beider Parteien nicht                      korreliert.16
wirklich wider. Zwar sind sowohl Demokraten                           Dass Republikaner für Legenden vom Wahl-
als auch Republikaner in ideologischer Hinsicht                   betrug empfänglicher sind, hat drittens auch da-
zu ihren Polen gewandert (diesbezüglich ist die                   mit zu tun, dass inzwischen jedes Korrektiv fehlt.
Behauptung einer „asymmetrischen Polarisie-                       Das Vertrauen in die politische Klasse, auch in die
rung“, der zufolge sich lediglich die Republikaner                Politiker der eigenen Partei, ist seit Langem ero-
radikalisiert hätten, nicht sehr überzeugend). In                 diert. Und da ist außerdem, natürlich, die Frag-
Bezug auf den Angriff auf die demokratischen In-                  mentierung der amerikanischen Öffentlichkeit,
stitutionen im Lande allerdings sollte man keine                  die Echokammern und Filterblasen eines ideolo-
falsche Neutralität an den Tag legen: Denn diese                  gisch segmentierten Mediensystems. Dessen Ein-
gingen fast ausschließlich auf das Konto Donald                   fluss auf die Polarisierung wird tendenziell über-
Trumps und seiner willigen Ermöglicher in der                     schätzt, aber es ist keine Frage, dass insbesondere
Republikanischen Partei.                                          die sozialen Medien einen beispiellosen Reso-
                                                                  nanzraum für alle Arten von Verschwörungsthe-
15 Vgl. Matthew Graham/Milan W. Svolik, Democracy in
America? Partisanship, Polarization, and the Robustness of Sup-   16 Vgl. Larry M. Bartels, Ethnic Antagonism Erodes Repu-
port for Democracy in the United States, in: American Political   blicans’ Commitment to Democracy, in: Proceedings of the
Science Review 2/2020, S. 392–409.                                National Academy of Sciences 37/2020, S. 22752–22759.

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APuZ 17–18/2021

orien bieten. Die Lüge vom Wahlbetrug wäre in                          Doch funktioniert das natürlich nur, wenn
der Zeit vor Fox News, Facebook und Twitter ge-                    man auf richtige Art und Weise streitet. Die Po-
wiss nicht auf ähnlich fruchtbaren Boden gefal-                    larisierung der US-Politik aber bringt schon
len. Am 6. Januar 2021 kollidierte daher auch eine                 längst keinen produktiven Streit mehr hervor.
mediale Fantasiewelt mit der Realität.                             Sie findet überdies unter Bedingungen statt, die
                                                                   einen Dialog zwischen den politischen Lagern
              SCHLUSSBETRACHTUNG                                   extrem erschweren. Unterschiedliche Realitäts-
                                                                   wahrnehmungen führen zudem dazu, dass der
Nach 1945 lag der Fokus vieler Sozialwissenschaft-                 Streit zwischen den Anhängern von Demokraten
ler für lange Zeit auf den Bedingungen für das Ge-                 und Republikanern sich nicht mehr nur um Fra-
deihen stabiler Demokratien. Die Politikwissen-                    gen von Identität und Zugehörigkeit dreht – was
schaftler Gabriel Almond und Sydney Verba etwa                     schon schwer genug aufzulösen wäre –, sondern
gingen in den 1960er Jahren in ihrer „Civic Cul-                   um die Existenz grundsätzlicher Tatsachen.
ture Study“ der Frage nach, welche historischen                        Deswegen ist es auch so schwierig, eine Pro-
und kulturellen Grundlagen notwendig sind, da-                     gnose über die Zukunft der amerikanischen De-
mit sich demokratische Werte in einer Gesellschaft                 mokratie abzugeben. Auf die Mischung aus dem
durchsetzen.17 Nach den totalitären Versuchen der                  Bekenntnis der Demokratie und der gleichzei-
Zwischenkriegszeit und in der Ära der Systemri-                    tigen Missachtung vieler Normen, die für eine
valität mit der So­wjet­union (deren Gesellschafts-                funktionierende Demokratie notwendig sind,
modell zumindest für eine Minderheit im Westen                     lässt sich mit etablierten Deutungsmustern nur
einen Reiz besaß), waren das vielleicht die richti-                schwer ein Reim machen. Immerhin: Das Feh-
gen Fragen. Heute aber produzieren diese Fragen                    len einer offen antidemokratischen Ideologie hat
nur mehr Antworten, die uns nicht mehr viel ver-                   die USA vor Schlimmeren bewahrt. Trump war
raten über den Zustand der Demokratie.                             eben kein faschistischer Parteiführer, der am ers-
     Zugespitzt ausgedrückt: Das Bekenntnis zur                    ten Tag der Machtübernahme den US-Staatsap-
Demokratie ist letztlich relativ wertlos, sofern                   parat mit den eigenen Leuten hätte bestücken
man sich nicht an einige ihrer elementaren Spiel-                  können, rekrutiert aus einer straff organisierten
regeln hält. Was derzeit in den USA passiert, gibt                 Kaderpartei mit ideologisch geschulten Anhän-
all jenen Recht, die immer schon davon ausgin-                     gern. Da war wenig, was über ihn als Person hi-
gen, dass Demokratie nicht etwa deswegen funk-                     nauswies. So blieb der Angriff auf die Institutio-
tioniert, weil die Mitglieder eines Gemeinwesens                   nen erratisch, wenig planvoll, getrieben stets nur
sich im Vorhinein über deren abstrakte Prinzipien                  von den Befindlichkeiten und Instinkten Donald
verständigt und einem Sozialvertrag zugestimmt                     Trumps. Das war Amerikas Glück. Allerdings:
hätten.18 Wichtig19 ist in Wahrheit die Praxis, nicht              Dass sich nun mit Joe Biden als Präsident etwas
die Theorie der Demokratie. Und da diese Pra-                      Grundlegendes an der Polarisierung des Landes
xis vor allem auch Streit umfasst, ist es gerade der               ändern wird, ist wohl nur bedingt zu erwarten –
Konflikt, der konstitutiv für die Demokratie ist:                  auch wenn offensichtlich ist, dass der neue Mann
Durch ständige Konfrontation, bei der mal die                      im Weißen Haus anders als sein Vorgänger kein
eine und dann wieder die andere Seite gewinnt,                     Demagoge ist. Doch was strukturell angelegt und
akzeptiert man ihre Spielregeln. Und was immer                     historisch gewachsen ist, das kann kein Einzelner
auch sonst politische Gegner trennen mag: Die                      aus der Welt schaffen. Überhaupt ist die Formel
Akzeptanz dieser Spielregeln bedeutet immer                        von der großen Versöhnung in gewisser Weise
auch die Anerkennung, dass man zum gleichen                        auch unaufrichtig, denn die Frage ist, ob irgend-
Gemeinwesen gehört.                                                wer diese überhaupt jenseits von Lippenbekennt-
                                                                   nissen wirklich anstrebt.19
17 Vgl. Gabriel A. Almond/Sidney Verba, The Civic Culture: Po-
litical Attitudes and Democracy in Five Nations, Princeton 1963.   TORBEN LÜTJEN
18 Am pointiertesten vielleicht Marcel Gauchet, Tocqueville,       ist Professor für Vergleichende Politikwissenschaft
Amerika und wir. Über die Entstehung der demokratischen
                                                                   an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 2020
Gesellschaften, in: Ulrich Rödel (Hrsg.), Autonome Gesellschaft
und libertäre Demokratie, Frank­furt/M. 1990. S. 123–206.
                                                                   erschien sein Buch „Amerika im Kalten Bürgerkrieg.
19 Vgl. Torben Lütjen, Die Versöhnung fällt aus, in: Die Tages-    Wie ein Land seine Mitte verliert“.
zeitung, 14. 11. 2020.                                             tluetjen@politik.uni-​kiel.de

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