Komplexe Methodendesigns in der multi-, inter und transdisziplinären Nachhaltigkeitsforschung

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Komplexe Methodendesigns in der multi-, inter und
       transdisziplinären Nachhaltigkeitsforschung

      Gemeinsame Frühjahrstagung der DGS-Sektionen „Methoden“ und
                               „Umwelt“
                             18/19.06.2021
                       Forschungszentrum Jülich

                                               Abstracts

Vortrag 1 (Freitag, 18.06.2021, 10:30 Uhr)

Interdisziplinäre Modellierung und Simulation des Energiesystems mittels Simulatorkopplung
Fabian Adelt, Sebastian Hoffmann, Johannes Weyer, TU Dortmund

Die deutsche Energiewende ist durch einen starken Paradigmenwechsel im System der Stromversorgung
charakterisiert (vgl. Fuchs 2019), beispielsweise durch den Zubau von dezentralen, auf erneuerbaren
Energien basierenden Energieumwandlungsanlagen. Um die Gestaltbarkeit sowie verschiedene Szenarien
dieses komplexen soziotechnischen Transformationsprozesses experimentell bzw. simulativ zu
untersuchen, werden Energiesystemmodelle als vielversprechendes und komplementäres Mittel
angesehen (vgl. Holtz et al. 2015, Hesselink/Chappin 2019).

Das Forschungsprojekt MoMeEnT1 verfolgt das Ziel, die Mehrebenen-Struktur der Energieversorgung
mithilfe von disziplinär verorteten (Einzel-)Simulatoren abzubilden, welche über die Co-
Simulationsumgebung mosaik gekoppelt werden.2 Die Simulatorkopplung bringt jedoch inhaltliche,
konzeptionelle und methodische Herausforderungen mit sich: Szenarien (und etwaige Governance-
Maßnahmen) müssen einerseits technisch spezifizierbar sein, damit sie in den Sub-Modellen der
verschiedenen Disziplinen abgebildet werden können. Andererseits sollten Szenarien die qualitative
Komplexität von Transformationsprozessen bzw. -narrativen widerspiegeln (vgl. Geels et al. 2020). Zudem
bedarf die Kopplung einer engen inhaltlichen Abstimmung: Zwar ist für den einzelnen Simulator die je
interne Logik der anderen Simulatoren irrelevant, Syntax und Semantik der übermittelten Ergebnisse
dagegen müssen genau abgestimmt sein, um zu einem inhaltlich wertvollen Gesamtmodell zu kommen.

1
  „Modellierung des sozio-technischen Mehrebenensystems der Energieversorgung und dessen Transformation“
(MoMeEnT), gemeinsam mit dem Institut für Energiesysteme, Energieeffizienz und Energiewirtschaft (TU Dortmund),
dem Lehrstuhl für Human Environment Relations in Urban Systems (EPFL Lausanne), der Abteilung Energieinformatik
(Uni Oldenburg), dem Institut für Automatisierungstechnik (Uni Bremen) und dem Institut für qualifizierende
Innovationsforschung und -beratung (IQIB GmbH). Gefördert durch die DFG (2019-2022).
2
  https://mosaik.offis.de/
Der Vortrag behandelt die (agentenbasierte) Modellierung der Haushalte (3 Simulatoren) sowie deren
Schnittstellen untereinander und mit anderen Simulatoren innerhalb des Gesamtvorhabens (Stromnetz,
Governance). Dabei soll ein Einblick in unterschiedliche konzeptionelle und methodische
Herausforderungen der Modellierung gegeben werden. Erstens hinsichtlich der Verbindung verschiedener
Haushaltsmodelle mit unterschiedlichen Planungs- und Zeithorizonten: nämlich von eher kurzfristigen
(Demand-Side-Management) bis zu mittel- bzw. langfristigen Entscheidungen (Vertragswahl und
Investitionen in Technologien), z. B. unter Einbezug von Handlungsmodellen, die unterschiedliche Modi von
Entscheidungsverhalten berücksichtigen (z. B. subjektiv-rational und automatisch-spontan), wie etwa der
Consumat-Ansatz (vgl. Jager 2000). Zweitens ergeben sich Herausforderungen hinsichtlich der Integration
unterschiedlicher, empirischer Datenbestände, die für die Kalibrierung dieser Haushaltsmodelle benötigt
werden: Eine mögliche Lösung kann hier die Nutzung übergeordneter, idealtypischer Nutzer- bzw.
Haushaltscluster darstellen (z. B. „Materialist:innen“ oder „Idealist:innen“, vgl. Sütterlin et al. 2011).
Vortrag 2 (Freitag, 18.06.2021, 11:00 Uhr)
Verzerrte Informationsverarbeitung und Einstellungspolarisierung im Kontext der Energiedebatte
– Vom soziologischen Experiment zum Agentenbasierten Modell
Sven Banisch, Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften
Hawal Shamon, Forschungszentrum Jülich (IEK-STE)

In diesem Beitrag untersuchen wir den Einfluss der kognitiven Verzerrungen bei der Verarbeitung von
Argumenten, d. h. eines intra-individuellen Mechanismus, auf individuelle sowie kollektive
Einstellungsveränderungen am Beispiel von Argumenten wie sie in Energiedebatten verwendet werden
können. Für unsere Untersuchungszwecke verzahnen wir eine empirisch experimentelle Untersuchung
(Shamon et al. 2019) mit einer Agentenbasierte Simulation, deren Struktur das empirische Experiment
abbildet und die zudem durch die Argumentkommunikationstheorie theoretisch fundiert wird (ACT, Mäs et
al. 2013; Banisch und Olbrich 2021). In diesem Zuge zeigt unser Beitrag einen Weg auf, wie
computergestützte Modelle der sozialen Beeinflussung in konsequenter Weise auf experimentelle Daten
gegründet werden können (vgl. Flache et al. 2017) und erlaubt es uns, Meinungsdynamiken in Abwesenheit
inter-individueller Mechanismen (z. B. Homophilie) der sozialen Beeinflussung zu untersuchen.

In dem empirischen Experiment wurden 1078 Studienteilnehmer/innen zunächst nach ihren Einstellungen
zu verschiedenen Stromerzeugungstechniken befragt (Kohlekraftwerke, Gaskraftwerke, Windkraftanlagen
an Land, Windkraftanlagen auf dem Meer, Photovoltaik-Freiflächenanlagen, Biomassekraftanlagen) und
ihnen anschließend ein ausgewogenes Set von 14 Argumenten (jeweils sieben Pro-Argumente und sieben
Kontra-Argumente) zu einer der sechs Technologien präsentiert. Die Teilnehmer/innen wurden für jedes
Argument gebeten anzugeben, wie überzeugend es aus ihrer Sicht ist und nach der Präsentation der 14
Argumente erneut um ihre Einstellung zu den Techniken befragt. Die Untersuchung der experimentellen
Studie zeigte u. a. starke Evidenz für eine Kompatibilitätstendenz, d. h., dass Argumente, die mit der
Voreinstellung zu einem Einstellungsobjekt (z. B. Kohlekraftwerk) kompatibel (bzw. inkompatibel) sind,
aufgewertet (bzw. abgewertet) werden. Wir erweitern die Argument-Kommunikationstheorie um diesen
Mechanismus und leiten ein mathematisches Modell ab, das es erlaubt, die Stärke der kognitiven
Verzerrung mit den erwarteten Einstellungsänderungen unter den spezifischen experimentellen
Bedingungen in Beziehung zu setzen.
Das erweiterte theoretische Modell passt signifikant besser zu den experimentell beobachteten
Einstellungsänderungen als die Annahme der neutralen Argumentverarbeitung, die in früheren
Simulationsmodellen getroffen wurde. Zudem liefert unser Ansatz neue Erkenntnisse über die Beziehung
zwischen kognitiven Verzerrungen bei der Verarbeitung von Argumenten und Einstellungspolarisierung. Auf
der individuellen Ebene zeigt unsere Analyse einen relativ starken qualitativen Übergang von
Einstellungsmoderation zu Einstellungspolarisierung. Auf der kollektiven Ebene finden wir, dass (i.)
schwache kognitive Verzerrungen Gruppenentscheidungsprozesse signifikant beschleunigen, während (ii.)
starke kognitive Verzerrungen zu einem anhaltenden Zustand von sozialen Gruppen mit gegensätzlicher
Einstellungen führt (Subgruppenpolarisierung). Somit zeigt sich auch, dass der intra-individuelle
Mechanismus der kognitiven Verzerrung in Abwesenheit sozialer Mechanismen (z. B. Homophilie)
ausreichend ist, um zu Einstellungspolarisierungen zu führen.
Vortrag 3 (Freitag, 18.06.2021, 11:30 Uhr)
Q-Scope: Konzept für eine partizipative, agentenbasierte Modellierungsplattform zur Umsetzung
dezentraler Energiesysteme in Quartieren
Torben Stührmann, Lennart Winkeler, Boris Kuhlmann, David Unland, Mariela Tapia, Universität Bremen

In Deutschland stehen ca. 21,7 Millionen Wohn- und Nichtwohngebäude, auf die ein Drittel des
Energieverbrauchs und der CO2-Emissionen in Deutschland entfallen (dena, 2019 & BMWI, 2015). Sie
stagnieren seit 2010 trotz unterschiedlichster Fördermaßnahmen auf hohem Niveau. Es stellt sich die Frage
wie und bis wann vor diesem Hintergrund ein klimaneutraler Gebäudebestand unter Einhaltung der Ziele
des Pariser Klimabkommens erreicht werden kann. Das Projekt „QUARREE100 - Resiliente, integrierte und
systemdienliche Energieversorgungssysteme im städtischen Bestandsquartier unter vollständiger
Integration erneuerbarer Energien“ erarbeitet hierfür Lösungsansätze.

Das 20 ha große Heider Quartier „Rüsdorfer Kamp“ in Schleswig-Holstein bildet eine typische, heterogen
gewachsene Quartiersstruktur ab, in der sanierte und unsanierte Gebäude ebenso wie Wohnen und
Gewerbe und Bürger:innen mit sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Voraussetzungen nebeneinander
existieren. Ergänzend kommt in Heide hinzu, dass die Region Deutschlands engste Bebauung mit
Windkraftanlagen aufweist und Anlagen regelmäßig aufgrund mangelnder Netzkapazitäten abgeschaltet
werden müssen. Vor diesem Hintergrund ist es Ziel von QUARREE100 so viel wie möglich der Erneuerbaren
Energien aus dem direkten Umfeld im Quartier zu nutzen um das vorgelagerte Energie-system zu
unterstützen. Das im Projekt erarbeitete Energiekonzept von QUARREE 100, stellt dem Status Quo der
energetischen Einzelsanierungen von Bestandsgebäuden, einen dezentralen, zellularen Ansatz gegenüber.
Zum besseren Verständnis der soziotechnischen Erfolgsfaktoren für die konkrete Umsetzung solcher
Quartierskonzepte, wird im Projekt eine interaktiven Reflexionsplattform entwickelt, an der die
Akteursgruppen über Szenarien und ein Agentenbasiertes Modell unterschiedliche Verhaltensweisen
erproben und reflektieren können. Grundlage der Plattform, bildet die vom MIT Medialab entwickelte
CityScope Plattform (Grignard et al., 2018), welche als digitale Plattform mit tangiblen Objekten aufgebaut
ist, und in Kombination mit der Modellierungsumgebung GAMA (Taillandier et al., 2019) eine partizipative
Agentenbasierte Modellierung erlaubt. Ziel ist es, ein besseres Verständnis der Geschwindigkeit von
Transformationsprozessen zu bekommen, sowie geeignete Partizipationsansätze für Bestandsquartiere
weiterzuentwickeln. Gleichzeitig ermöglicht die gemeinsame Arbeit auf der Plattform mit
Stakeholdergruppen die empirische Datenerhebung zu verbessern.
Vortrag 4 (Freitag, 18.06.2021, 13:00 Uhr)
Kausalwald-Modelle im Reich der biologischen Vielfalt: Ein kausales Machine Learning Verfahren
zur Qualitätssicherung bei Befragungsthemen mit ausgeprägter Sozialer Erwünschtheit
Thomas Krause, Universität Stuttgart
Jens Jetzkowitz, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg/Museum für Naturkunde Berlin

„Biologische Vielfalt“ ist ein besonderer Begriff. Zum einen bringt er komplexe Vorstellungen vom
„Reichtum des Lebens“ auf eine vage wissenschaftliche Formel. Zum anderen markiert er besagten
Reichtum als erstrebenswerten Zustand – etwas, das nicht zerstört oder unterminiert werden darf. Der
Mythos (Levi-Strauss 1967) bzw. das Meta-Narrativ (Viehöver 2012) „bedrohte Biodiversität“ fungiert seit
Anfang der 1990er Jahre als sinnstiftendes Moment internationaler Umweltpolitik.

Seit 2009 lässt das „Bundesamt für Naturschutz“ in zweijährigem Turnus eine „seinen Markenkern
definierende“ (Graner 2013) Studie durchführen, in der Einstellungen, Wissen und Verhaltensabsichten der
bundesdeutschen Bevölkerung in Bezug auf Natur und biologische Vielfalt erhoben werden. Ein
wesentlicher Bestandteil der Studie sind Einstellungsmessungen, die Aussagen zum gesellschaftlichen
Bewusstsein über biologische Vielfalt ermöglichen sollen. Ist es sinnvoll, ein normativ aufgeladenes
abstraktes Konzept mittels Survey-Indikatoren zu messen? Um diese Frage zu beantworten, nutzen wir den
Teil-Indikator „Einstellungen zur biologischen Vielfalt“ und eine Skala zur „Soziale Erwünschtheit“. Anhand
von Causal Forest-Modellen wird untersucht, inwieweit der Effekt von Sozialer Erwünschtheit auf diese
Einstellungen von Effektheterogenität betroffen ist und welche Größen diese Heterogenität beeinflussen.

Causal Forests (CF) sind eine explorativ angelegte nonparametrische kausale Inferenz-Lernmethode. Mit
ihnen kann aufgedeckt werden, wie kausale Effekte variieren und welche Größen mit dieser Variation im
Zusammenhang stehen. Die Zieldimension der rekursiven Partitionierung des CF-Modells sind dabei weder
manifeste noch latente Variablen, sondern durchschnittliche individuelle Effektschätzungen zwischen
einem Outcome und einer exogenen Determinante. Per lokalisierter/individualisierter Residuen-auf-
Residuen-Regression werden im Rahmen der Partitionierung des CF-Modells Determinanten für
Effektdifferenzen bestimmt. In unserem Anwendungsfall untersuchen wir damit systematisch, ob der
Einfluss von Sozialer Erwünschtheit auf Einstellungsmuster zur biologischen Vielfalt zwischen
(identifizierbaren) Gruppen variiert. Lassen sich deutliche Unterschiede bezüglich des Einflusses von
Sozialer Erwünschtheit aufdecken und auf identifizierbare Größen zurückführen, mehrt dies die Zweifel an
zuverlässigen und validen Vergleichen von Einstellungen zu Biodiversität. Empirische Grundlage sind die
Daten der Naturbewusstseinsstudie 2015, ggf. auch der Folgestudien, heran.
Vortrag 5 (Freitag, 18.06.2021, 13:30 Uhr)

Do Design Features of a Factorial Survey Experiment Affect the Support of a City Toll?
Reconsidering the Effects of Presentation Format, Number of Levels, and Dimension Order
Fabian Thiel, Sabine Düval, Katrin Auspurg, LMU München

Faktorielle Survey Experimente haben sich in den Sozialwissenschaften zunehmend etabliert. Sie kom-
binieren die Vorteile experimenteller Verfahren mit den Vorteilen breiter Bevölkerungsbefragungen. Dabei
variiert die konkrete Ausgestaltung zwischen den einzelnen Fachdisziplinen. Während in der Soziologie
häufig im Fließtext dargestellte Vignetten eingesetzt werden, sind etwa in der Politikwissenschaft eher
tabellarisch dargestellte Conjoint-Experimente verbreitet. Methodenforschung zu Effekten der gewählten
Darstellungsweise scheint also gerade für interdisziplinäre Forschungsfelder wie die Umwelt- und
Nachhaltigkeitsforschung bedeutsam: Variieren Effekte womöglich über Studien, weil andere Designs
verwendet wurden? Liegen zum Teil verzerrte Schätzungen vor, weil Methodeneffekte eine große Rolle
spielen?

Unsere Studie setzt genau hier an. Sie zeichnet aus, dass sie die Effekte von gleich mehreren Darstel-
lungsweisen an einer Zufallsstichprobe der Allgemeinbevölkerung untersucht. Bisherige Untersuchungen
haben nicht-zufällige Samples von Studierenden (Sauer et al. 2020) oder online Quotenstichproben
(Shamon et al. 2019) betrachtet. Zusätzlich zum Effekt der Darstellungsweise (Fließtext mit/ohne
Hervorhebungen/Tabelle) fokussiert unsere Untersuchung auf die Anzahl der Ausprägungen („Levels“)
einzelner Dimensionen (wenige/viele Ausprägungen) und die Reihenfolge von Dimensionen. Die drei
Design-Aspekte sind experimentell vollständig gekreuzt, was es erlaubt bislang untererforschte Wech-
selwirkungen zwischen diesen Designaspekten zu erforschen. Ist etwa eine tabellarische Darstellung
aufgrund der hohen Übersichtlichkeit weniger anfällig für Reihenfolgeeffekte? Hängt das von der Dar-
stellungsweise oder der kognitiven Leistungsfähigkeit der Befragten ab? Sollten solche Effekte existieren
sind Einflussfaktoren in der bisherigen Forschung womöglich verzerrt.

Unsere Datengrundlage bildet ein Faktorieller Survey zu Einstellungen gegenüber einer City-Maut, der im
Frühsommer 2018 im Rahmen einer Bevölkerungsbefragung in München durchgeführt wurde. Mehr als
1300 Befragte bewerteten insgesamt über 5300 hypothetische Mautmodelle. Übereinstimmend mit
existierenden Studien erweisen sich Ergebnisse gegenüber Variationen der Darstellungs-weise als sehr
robust. Aufschlussreich ist dabei vor allem, dass dieser Befund auch für das Zusammen-spiel verschiedener
Design-Aspekte zu halten scheint. Damit bietet unsere Studie wichtige Hinweise für den adäquaten Einsatz
von mehrfaktoriellen Survey-Experimenten und ihrem interdisziplinären Vergleich.
Vortrag 6 (Freitag, 18.06.2021, 14:00 Uhr)
Kompartmentalisierung oder Kongruenz? Eine empirische Analyse der Bündelung (nicht-)
nachhaltiger Alltagspraktiken
Marco Sonnberger1,2, Matthias Leger1
1
  Universität Stuttgart, 2 Friedrich-Schiller-Universität Jena

Angesichts sich verschärfender sozial-ökologischer Krisenphänomene hat sich ein öffentlicher und
akademischer Dringlichkeitsdiskurs im Hinblick auf die nachhaltige Transformation von Lebensstilen
entwickelt und etabliert. Allerdings erweisen sich in der Realität Individuen insofern als widerständig
gegenüber der normativen Aufforderung der „Begrünung“ von Alltagshandeln, als dass ihr Handeln aus
ökologischer Perspektive oftmals über unterschiedliche Handlungsdomänen hinweg inkonsistent bleibt.
Hierfür existieren eine Vielzahl relativ gut untersuchter Ursachen (z.B. handlungsbezogene Lock-Ins oder
motivationale Zielkonflikte). Dennoch stellt sich nach wie vor die empirische Frage, zwischen welche
Alltagsdomänen Beziehungen der Kongruenz bzw. Inkongruenz besonders stark ausgeprägt sind und wie
diese Ausprägungen entlang soziodemographischer Variablen variieren.

Ausgehend von einer praxistheoretischen Perspektive auf Alltagshandeln stellen wir im Rahmen des
Vortrages empirische Erkenntnisse zur Bündelung von (nicht-)nachhaltigen Alltagspraktiken und deren
Assoziation mit Merkmalen der sozialen Lage vor. Mit Hilfe einer korrespondenzanalytischen Auswertung
von bevölkerungsrepräsentativen Umfragedaten aus den Städten Münster und Stuttgart (n = 2.005) zeigen
wir, dass empirisch eher von Kompartmentalisierung als von Kongruenz (nicht-)nachhaltiger
Alltagspraktiken auszugehen ist. Insbesondere Mobilitätspraktiken scheinen eine distinkte Alltagsdomäne
zu bilden, die stärker mit soziodemographischen Variablen assoziiert ist als beispielsweise häusliche
Suffizienzaktivitäten im Hinblick auf Energie- oder Wasserverbrauch. Der praxistheoretische Zugang erlaubt
es dabei, diese Kompartmentalisierung zu plausibilisieren.
Vortrag 7 (Freitag, 18.06.2021, 15:00 Uhr)
Environmental Inequality in Four European Cities. A Study Combining Household Survey and Geo-
Referenced Data analyzed by spatial regression models
Andreas Diekmann1,2, Heidi Bruderer Enzler3, Jörg Hartmann4, Karin Kurz4, Ulf Liebe5,6, Peter Preisendörfer7
1
  ETH Zurich, 2 University of Leipzig, 3 University of Zurich, 4 University of Göttingen, 5 University of Bern, 6
University of Warwick, 7 University of Mainz

Combining individual-level survey data and geo-referenced administrative noise data for four European
cities (Bern, Zurich, Hanover, Mainz; n=7,450), we test the well-known social gradient hypothesis which
states that exposure to residential noise is higher for households in lower socioeconomic positions. In
addition, we introduce and test the “environmental shielding hypothesis” which states that if there are
environmental bads in the neighborhood, privileged social groups have more and better opportunities to
shield themselves against them. Our results show that for many residents of the four cities, observed road
traffic and aircraft noise levels are above WHO limits. Yet estimates of spatial error regression models only
partly support the social gradient hypothesis. For example, the proposed negative relationship between
income and noise exposure is rather weak. Albeit socioeconomic groups tend to be equally confronted with
road traffic and aircraft noise, high-income households are still more able to evade environmental noise.
We compare OLS regressions and spatial regression models and we explore on how alternative model
specifications might have an impact on statistical estimations. We also demonstrate how to combine geo-
referenced data with household data analyzed by using Geo-Information System (GIS) software.
Vortrag 8 (Freitag, 18.06.2021, 15:30 Uhr)

Wie beeinflussen Geschlechter- und Fairnessnormen die Akzeptanz von
Outsourcing-Entscheidungen?
Hanna Walch, Martin Abraham, Anja Wunder, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg

Studien zeigen, dass haushaltsnahe Tätigkeiten (z. B. Reinigung, Kinderbetreuung) größtenteils von Frauen
übernommen werden. Trotz der steigenden Erwerbstätigkeit findet keine gleichläufige Entlastung von
Hausarbeit statt. Der Einsatz von beispielsweise Haushaltshilfen kann dazu beitragen die durch Erwerbs-
und Hausarbeit entstehende Doppelbelastung von Frauen zu reduzieren. Damit wäre ein Wandel bei der in
der Hausarbeitsaufteilung bestehenden Ungleichheit möglich. Grundvoraussetzung für einen derartigen
Wandel wäre aber, dass die in der Hausarbeitsaufteilung bestimmenden Geschlechternormen nicht auch
den Einsatz von Haushaltshilfen in Paarbeziehungen bestimmen. Darüber hinaus kann ein solcher Wandel
dazu beitragen, bestehende Potentiale bei der Frauenerwerbstätigkeit zu aktivieren, wenn gewonnene Zeit
in Erwerbsarbeit investiert wird.

Basierend auf einem experimentellen Design zielt diese Studie auf die Analyse zwei verschiedener Normen:
Einerseits Fairnessnormen, da bekannt ist, dass Akteure in Verteilungskonflikten dazu tendieren, faire
Verteilungen zu produzieren. Andererseits Geschlechternormen, da in Studien zur Aufteilung von
Hausarbeit (sozialisierte) Geschlechterrollen einen großen Einfluss haben. Auf Basis dieser beiden Normen
werden in dem Vignetten-Experiment das Geschlecht und die Arbeitszeit variiert. Die Befragten werden
gebeten, die Entlastungshöhe in Stunden von Hausarbeit anzugeben.

Die Ergebnisse zeigen eine signifikant geringere Entlastung von Frauen von Hausarbeit durch Auslagerung
im Vergleich zu Männern: Die Befragten entlasten Frauen durchschnittlich 20% weniger als Männer. Dieser
Geschlechterunterschied am größten, wenn die Personen in der Vignette Teilzeit arbeiten und zeigt sich
nicht bei Vollzeitbeschäftigten. Insgesamt steigt mit Erhöhung der Arbeitszeit auch die Höhe der Entlastung.
Somit kann geschlussfolgert werden, dass sich Geschlechternormen auch im Einsatz von Haushaltshilfen
widerspiegeln und zwar insbesondere dann, wenn Frauen bereits eine klassische Geschlechterrolle
repräsentieren. Erst, wenn sie diesem Standard nicht entsprechen, treten gleichstellende Fairnessnormen
in den Vordergrund. Somit scheint sich bestehende Ungleichheit in der Hausarbeitsaufteilung bei Teilzeit-
Frauen zu reproduzieren während Vollzeit-Frauen profitieren. Arbeitskraftpotentiale Teilzeit-arbeitender
Frauen können somit nicht aktiviert werden.
Vortrag 9 (Freitag, 18.06.2021, 16:00 Uhr)
Aufnahmevortrag Sektion “Methoden der empirischen Sozialforschung”

Temporary Disenfranchisement: Negative Side-Effects of Lowering the Voting Age
Arndt Leininger1, Marie-Lou Sohnius2, Thorsten Faas3, Sigrid Roßteutscher4, Armin Schäfer5
1
  Chemnitz University of Technology, 2 University of Mannheim, 3 Freie Universität Berlin, 4 Goethe University
Frankfurt, 5 University of Münster

How does losing one's right to vote after having been able to vote for the first time affect political
fundamentals such as political efficacy? We draw attention to the hitherto neglected phenomenon
`temporary disenfranchisement,' which occurs regularly in states that extended the franchise to underage
citizens in some but not all elections. If, for instance, a state election with voting age 16 is closely followed
by a national election with voting age 18, underage voters eligible for the former will have no right to vote
in the latter. Using an original panel survey of young citizens in Germany and a differences-in-differences
design, we find that temporary disenfranchisement results in a decrease in external efficacy, which remains
negative even after regaining eligibility. Our findings highlight an important side effect of selective voting
rights extensions and bear insights relevant to other cases of temporary disenfranchisement due to
residential mobility or felony disenfranchisement.
Vortrag 10 (Samstag, 19.06.2021, 09:30 Uhr)

Mixed Methods in der Transformationsforschung zu urbanen Mobilitätssystemen am Beispiel
geteilter Mikromobilität: Auswahl, Anwendung und Reflexion
Ann Kathrin Stinder, Nora Schelte, Semih Severengiz, Hochschule Bochum

Urbane Mobilitätssysteme stehen vor tiefgreifenden Strukturtransformationen: Es gilt das wachsende
Verkehrsaufkommen mit den einhergehenden umweltbezogenen und gesellschaftlichen
Problemstellungen zu bewältigen. Insbesondere neuartige Mikromobilitätdienste zeigen einerseits hohes
Potenzial zur Verringerung der Emissionen, z.B. durch gesteigerte Energieeffizienz, andererseits erfordern
diese eine Transformation bestehender urbaner Mobilitätssysteme.

Der Mixed-Methods-Ansatz gilt als vielversprechende Methodik, um die Transformation des urbanen
Mobilitätssystems sowie die Potenziale der Mikromobilität zu erforschen. Mit diesem Beitrag wird eine
kritische Reflexion des Mixed-Methods-Ansatzes am Beispiel von Forschungsprojekten des Labors für
Nachhaltigkeit in der Technik der Hochschule Bochum durchgeführt. Das Labor wendet eine Kombination
aus qualitativen und quantitativen Forschungsmethoden wie Nutzendenbefragungen, Lebenszyklus- und
Szenarienanalysen sowie Erhebungen über die soziale Akzeptanz und von Fahrzeugdaten zur Auswertung
spezifischer Nutzungsmuster an. Anhand dieser werden Konzepte und technische Lösungen im Bereich der
Mikromobilität im Reallabor erprobt und auf ihren Beitrag hin zur Dekarbonisierung sowie zur Gestaltung
nachhaltiger Mobilitätssysteme überprüft.

In diesem Beitrag wird die Auswahl, die Anwendung und das Zusammenwirken dieser Methoden analysiert,
kritisch reflektiert und Chancen und Risiken sowie Stärken und Schwächen für die Integration in einen
erfolgreichen transdisziplinären Forschungsprozess identifiziert. Hierfür dient ein Katalog mit
Qualitätskriterien zur Evaluation der Forschungsarbeiten. Dieser Katalog wurde anhand strukturierter
Interviews mit Projektbeteiligten aus Forschung, Praxis und Zivilgesellschaft angewandt. Die Ergebnisse
zeigen, dass die Kombination der angewandten Methoden eine umfangreiche multiperspektive
Nachhaltigkeitsbewertung von Konzepten für urbane Mikromobilität ermöglicht.

Die durchgeführte Evaluation zeigt aber auch die Notwendigkeit eines frühzeitigen partizipativen
Forschungsdesigns auf. Insbesondere die Transformation des Mobilitätssystems erfordert dynamische
Verhaltensanpassungen. Im Reallabor können dazu Daten valide erzeugt und eine nachhaltige Anwendung
neuartiger Mobilitäts- und Energieversorgungskonzepte gesichert werden. Als Ergebnis entstehen ein
beispielhaftes Forschungsdesign und ein methodischer Leitfaden für die erfolgreiche Anwendung von
Mixed Methods zur Transformationsforschung im Bereich urbaner Mobilitätssysteme.
Vortrag 11 (Samstag, 19.06.2021, 10:00 Uhr)

Nothing but Hot Air? A Multimethod Approach of the Automotive Industry's Sustainability Stand-
points
Imke Rhoden, Christopher Ball, Forschungszentrum Jülich (IEK-STE)

The decarbonization of the transport sector is essential to meeting the goals of the Paris Agreement and
the Net Zero Emissions strategies. In the automotive sector, this has led to increased momentum for sus-
tainability and a recognition of the need to develop sustainable mobility alternatives. In the sector, there
are certain players which appear to be far ahead in the transition, whereas there are others that are con-
sidered "laggards". We consider how the biggest global players in the automotive sector position sustain-
ability and its subtopics on their agenda and the extent to which their actions match their positioning on
sustainability. Moreover, the contrasting of actions with communication on sustainability will highlight
discrepancies between sustainability performance and communication - e.g. are there certain players who
are actually better at sustainability, but not good at communicating what they do?

We adopt a multimethod approach, using a topic model which is complemented by a multi equation re-
gression model. The topic model is applied to sustainability reports, using natural language processing to
identify the focus of each manufacturer's sustainability strategies. The results from this model are then used
to form the outcome variables in a seemingly unrelated regression model (SUR model). Further variables in
the model are derived from quantitative data relating to e.g. proportion of zero-emission vehicles or
indicators of sustainable production like energy consumption etc. This way, the model can compare the
actual sustainability performance of the manufacturers to their communication. In combining both the topic
model based on automated language processing techniques with a more traditional quantitative SUR
model, this paper combines two different research approaches in a complementary way to address a
complex research problem which has not been empirically investigated like this before.
Vortrag 12 (Samstag, 19.06.2021, 10:30 Uhr)

Potenziale und Schwierigkeiten innovativer          Methodendesigns:      Einsichten   aus   einem
Mobilitätsexperiment im Ruhrgebiet
Christiane Lübke, Universität Duisburg-Essen

Die Verkehrswende ist ein wichtiger Baustein für den Klimaschutz. Sie kann jedoch nur gelingen, wenn
möglichst viele Menschen ihr Verhalten ändern, zukünftig häufiger auf das Auto verzichten und dafür
die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen. Bisher ist eine solche Verhaltensänderung breiter
Bevölkerungsgruppen jedoch nicht abzusehen; das Auto ist weiterhin das meistgenutzte
Verkehrsmittel in Deutschland. Die bestehenden Studien zur individuellen Verkehrsmittelwahl weisen
auf eine Fülle an unterschiedlichen Gründen für diese Persistenz, haben jedoch Schwierigkeiten die
genauen Bestimmungsgründe der individuellen Verkehrsmittelwahl aufzuzeigen. Neue Erkenntnisse
versprechen zunehmend beliebtere Feldexperimente, mit deren Hilfe die Barrieren beim Umstieg auf
öffentliche Verkehrsmittel unter realen Bedingungen erforscht werden können. Dieses innovative
Methodendesign verspricht großes Potenzial, ist jedoch auch mit einigen Schwierigkeiten verbunden.

Die methodischen Potenziale und Schwierigkeiten von Feldexperimenten zur Verkehrsmittelwahl
sollen anhand eines Beispiels vorgestellt werden. Es werden methodische und inhaltliche Einsichten
eines Feldexperimentes im Ruhrgebiet berichtet, das sich an Berufspendler/innen richtete, die bisher
ausschließlich mit dem eigenen Auto zur Arbeit gefahren sind. Diesen Autopendler/innen wurde ein
Ticket für den öffentlichen Personennahverkehr im Ruhrgebiet zur Verfügung gestellt, mit dem sie die
Strecke zwischen ihrem Wohnort und ihrer Arbeitsstätte einen Monat lang kostenlos zurücklegen
konnten. Die Erfahrungen der Teilnehmer/ innen vor, während und nach dem Experiment wurden
durch mehrere kurze Onlinebefragungen erfasst. Die Umfragen umfassten Abfragen zur Ticketnutzung
in den letzten Tagen sowie wechselnde Fragen zu unterschiedlichen Themen rund um den ÖPNV. Ab-
schließend gab es zudem eine Gruppendiskussion. Zusätzlich wurde eine repräsentative
Telefonumfrage im Ruhrgebiet mit ähnlichen Fragen durchgeführt. Im Vortrag werden Erfahrungen zu
Teilnehmerakquise, Gestaltung und Durchführung der begleitenden Befragungen sowie Potenzial und
Grenzen der gewonnenen Ergebnisse diskutiert.
Vortrag 13 (Samstag, 19.06.2021, 11:00 Uhr)

Beforschen oder Mitforschen? – Herausforderungen von Citizen Science in der soziologischen
Nachhaltigkeitsforschung
Melanie Jaeger-Erben, TU Berlin

Citizen Science, das heißt der Einbezug von Lai*innen-Forschung in wissenschaftliches Arbeiten, reicht weit
in die Wissenschaftsgeschichte zurück und hat bis zum 18. Jahrhundert vor allem die Geistes- und
Kulturwissenschaften geprägt (Mahr 2014, Smolarski 2016). Im Zuge der dann erfolgenden
Institutionalisierung von Wissenschaft zunächst in Verruf geraten, erlebt Citizen Science (CS) seit den
1990er Jahre eine Renaissance und wird mit der programmatischen Forderung nach einer gesellschaftlichen
Öffnung der Wissenschaft verbunden. Protogonist*innen der so genannten Modus 2-Debatte forderten
unter anderem die Teilhabe gesellschaftlicher Gruppen außerhalb der Wissenschaft an
wissensproduzierenden Prozessen. Die Modus 2-Debatte hat vor allem die Entstehung der
transdisziplinären Nachhaltigkeitsforschung geprägt, wird aber oft zur Begründung der Relevanz von CS
genutzt und es wird auf Ähnlichkeiten im Problemhintergrund und in der Zielstellung von CS und
transdisziplinärer Forschung verwiesen (Pettibone et al. 2018). Auch wenn sich CS prinzipiell für alle
Disziplinen eignen, sind die Naturwissenschaften in der Citizen Science-Landschaft am stärksten vertreten
(Finke 2016), während die Sozialwissenschaften eher unterrepräsentiert sind (Kullenberg und Kasperowski
2016). Das ist vor allem deswegen erstaunlich, da beteiligende Methoden wie Aktions- oder partizipative
Forschung zum erweiterten sozialwissenschaftlichen Repertoire gehören und in der Geschichte der
Soziologie eine bedeutende Rolle spielten (Jaeger-Erben 2021). In Anbetracht der gegenwärtigen Öffnung
der Soziologie für Themen der Nachhaltigkeitsforschung erscheint es sinnvoll, die Potentiale von Citizen
Science stärker zu reflektieren und zu heben.

Der Beitrag diskutiert die Herausforderungen und Potentiale von Citizen Science für soziologische
Nachhaltigkeitsforschung am Beispiel des Projekts Repara/kul/tur, das im Rahmen des BMBF-Schwerpunkts
„Bürgerwissenschaften“ gefördert wurde. Fokus des Projekts war die Untersuchung der Aneignung und
Alltagsintegration sozialer Praktiken des Reparierens und Selbermachens. Zu den besonderen
Herausforderungen gehörten der Umgang mit Normativität, die Kombination transdisziplinärer Forschung
mit Citizen Science und die Aufgabe, ein methodisches Design zu finden, das die Mitforschungen zur
Introspektion und Selbstreflektion motiviert und gleichzeitig wissenschaftlichen Standards qualitativer
Sozialforschung entspricht.
Vortrag 14 (Samstag, 19.06.2021, 11:30 Uhr)

Baustellen disziplinenübergreifender Kooperation in der transnationalen Nachhaltigkeitsforschung
am Beispiel der Kontroversen über Umweltflüchtlinge
Marie Mualem Sultan, Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR)

Um Handlungsoptionen zur Bearbeitung globaler Umwelt- und Nachhaltigkeitsprobleme zu entwickeln,
werden transnational-disziplinenübergreifende Forschungskooperationen erforderlich. Die hierzu
einerseits erwünschten multi-, inter- und transdisziplinären Methodendesigns sind andererseits
wissenschaftlich in besonderem Maße angreifbar: 1) weil sie disziplinäres Spezialwissen neu gewichten und
etablierte Methoden infrage stellen können; 2) weil die Problembeschreibungen und Modelle
transnationaler Nachhaltigkeitsforschung potenziell als Vorlage für politische Entscheidungen genutzt
werden; 3) weil das Ziel transnationaler Anschlussfähigkeit in ein Spannungsverhältnis mit dem
lebensweltlichen Pluralismus geraten kann.

Der Vortrag behandelt die Folgen dieser gesteigerten Konflikthaftigkeit für die wissenschaftliche Praxis und
fragt: Wie erhöhen wir die Chance, dass Modelle der multi-, inter- und trans-disziplinären
Nachhaltigkeitsforschung trotz ihrer großen Angriffsfläche wissenschaftlich Geltung beanspruchen können?
Die empirische Basis für eine Auseinandersetzung mit der Frage, was wissenschaftlichen Fort-schritt in den
konflikthaften Settings transnational-disziplinenübergreifender Nachhaltigkeits-forschung gefährdet und
wie gegengesteuert werden kann, bilden Befunde aus einer Analyse der langjährig ungelösten Definitions-
und Erhebungsprobleme in der Umweltmigrationsforschung. Hierfür wurden 120 vorwiegend
englischsprachige,     wissenschaftliche    Publikationen    über    die      Zusammenhänge        zwischen
Umweltzerstörungen, Klimawandel und erzwungener Migration ausgewertet. 90 davon konnten durch eine
qualitativ-bibliometrische     Analyse     der     wechselseitigen     Rezeption      als     transnational-
disziplinenübergreifende Forschungskontroverse über die Definition und zahlenmäßige Erhebung von
umweltbedingter Flucht und Migration identifiziert und die Debattendynamik seit Aufkommen des Begriffs
„Umweltflüchtling“ in den 1980er Jahren bis zum Jahr 2012 nachgezeichnet werden.

Im Vortrag werden verschiedene hierbei identifizierte wissenschaftssoziologische Effekte zur Diskussion
gestellt, die zum Verständnis dysfunktionaler Debattendynamiken in der transnationalen
Nachhaltigkeitsforschung relevant erscheinen, z. B.:
    - Deskriptive Komplexitätsfallen als Ergebnis einer diskursiven Gleichsetzung von Methoden- und
         Anwendungsfragen;
    - Modellplatonismus als Ergebnis Transdisziplinärer Dekonstruktionsfallen;
    - Verwechslung von Ausgangs- und Standpunkten, u. a. durch lebensweltlichen Pluralismus und eine
         zirkuläre Plausibilität der Idee disziplinärer Klüfte.

Die Kenntnis dieser Effekte trägt dazu bei, die Geltungsfähigkeit disziplinenübergreifender Ge-
genstandserfassung zu erhöhen und liefert konkrete Aufmerksamkeitsregeln, um in transnational-
disziplinenübergreifenden Forschungszusammenhängen zwischen berechtigter und unberechtigter Kritik
zu unterscheiden.
Vortrag 15 (Samstag, 19.06.2021, 13:00 Uhr)

Kollaboratives Design Prototyping in der transdisziplinären Forschung: Eine Annäherung an
Heterogenität und das Unbekannte
Daniela Peukert, Leuphana University Lueneburg

Transdisziplinäre Forschungsansätze in der Nachhaltigkeitswissenschaft befassen sich mit komplexen
Themen, indem sie verschiedene Perspektiven, Formen der Erkenntnis und Wissensproduktion sowie
unterschiedliche Wissensbestände einbeziehen. Dieser Beitrag gibt Einblicke in die Praxis designbasierter
Methoden in der transdisziplinären Forschung und zeigt, wie Design Prototyping in Prozessen der
kollaborativen Wissensproduktion fruchtbar gemacht werden kann, in dem es diese unterstützt und die
damit verbundenen Herausforderungen adressiert. Es wird gezeigt, wie durch die Arbeit mit prototypischen
Entwürfen und deren Übersetzungsleistung heterogene Perspektiven und Wissensbestände aufeinander
bezogen und Momente der Integration erzeugt werden können. Aufgrund ihres offenen Charakters werden
Designmethoden als besonders erfolgversprechend im Umgang mit Problemen, die ein hohes Maß an
Komplexität, Unsicherheit und Unbekanntheit beinhalten, diskutiert. Nach einer Charakterisierung von
Designforschung und Prototyping werden gemeinsame Strategien der Designforschung und der
transdisziplinären Forschung im Umgang mit Heterogenität und Unbekannten erörtert. Dies dient dazu, den
Transfer von Designpraktiken zur Unterstützung von Integrationsprozessen in transdisziplinären Teams zu
rahmen. Am Beispiel einer transdisziplinären Fallstudie mit vier Workshops, die sich auf verschiedene
Phasen eines transdisziplinären Forschungsprozesses beziehen und typische kollaborative
Forschungsaktivitäten repräsentieren, wird die Umsetzung von Design Prototyping demonstriert und erste
empirische Ergebnisse vorgestellt. Die Analyse veranschaulicht, wie Design Prototyping dazu beiträgt, die
Herausforderungen kollaborativer Forschung zu bewältigen, in dem es hilft Bedingungen für
zukunftsorientierte Transformationen und deren Voraussetzungen, wie Vertrauen, gemeinsames
Verständnis und Wertschätzung des Anderen, zu schaffen. Verschiedene Integrationsdimensionen aus der
transdisziplinären Nachhaltigkeitsforschung dienen als Grundlage, um die epistemische, sozial-
organisatorische und kommunikative Integrationsleistung von Design Prototyping zu untersuchen. Dabei
werden auch Parallelen zur Zukunftsforschung und Anwendung von Szenariotechniken aufgezeigt. In der
transdisziplinären Forschung erweitert die Designpraxis den Methodenkanon für die Wissensintegration
und Arbeit in heterogenen Teams und ermöglicht eine schrittweise und offene Annäherung an das
Ungewisse und Unbekannte nachhaltiger Zukünfte.
Vortrag 16 (Samstag, 19.06.2021, 13:30 Uhr)

Analyse historischer Transformationen sozial-ökologischer Systeme anhand heterogener
Datenquellen – eine Fallstudie aus Nord-Ost Deutschland
Matthias Roth 1,2,4, Miklós Bálint 2,3, Thomas Kastner ², Marion Mehring 2,4
1
  GESIS - Leibniz Institute for the Social Sciences in Mannheim, 2 Senckenberg Biodiverstiy and Climate
Research Centre SBiK-F, 3 LOEWE Centre for Translational Biodiversity Genomics (LOEWE-TBG), 4 ISOE -
Institute for Social-Ecological Research

Erkenntnisse über historische Entwicklung eines sozial-ökologischer Systems (SES) sind wichtige Grundlagen
für die Konzeption transformativer Prozesse. In einem SES interagieren Institutionen, Akteure und
Ressourcensysteme verschiedener Systemebenen miteinander. Forschende, die die Entwicklung dieser
Systeme analysieren, stehen vor der Herausforderung naturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche
Daten aus heterogenen Quellen zu analysieren und synthetisieren. In diesem Vortrag wird das
transferierbare Forschungsdesign einer Fallstudie vorgestellt, in dem qualitative Daten aus Archiven
gemeinsam mit quantitativen Daten zur Landnutzung integriert wurden, um die Entwicklung eines
landwirtschaftlichen SES in einer Studienregion in Mecklenburg-Vorpommern seit 1871 zu beschreiben.

Um die Entwicklung des SES zu beschreiben, wurde der Fokus auf Institutionen gelegt, die in Perioden von
relativer Stabilität und Zeitpunkte transformativer Änderung eingeordnet wurden. Die anderen Elemente
des SES, Akteure, Ressourcensystem und extrahierte Ressource, sowie deren Interaktion wurden im
Zusammenhang mit institutionellen Änderungen analysiert. Entscheidende Datenquellen waren dabei
Archive, wie beispielsweise das Bundesarchiv oder auch lokale Archive, wie das Studienarchiv
Umweltgeschichte. Die Vielzahl an Archivalien, die zur Digitalisierung freigegeben wurden, ermöglichten es
mit geringem Aufwand eine umfangreiche, studienspezifische Bibliothek zu institutionellem Wandel in der
Studienregion zu erstellen. Die Daten wurden mit einem Literaturverwaltungsprogramm (Citavi) organisiert
und mit geeigneter Software (MAXQDA) theoriegeleitet analysiert. Gemeinsam mit Datenbanken zur
Entwicklung quantitativer wirtschaftlicher Indikatoren (bspw. GESIS Histat oder digizeitschriften) ließen sich
die Daten in das SES-Framework einfügen und miteinander in Beziehung setzen. So konnten Effekte
nationaler institutioneller Änderungen auf Ebene der Studienregion nachvollzogen werden.

Die Ergebnisse der Fallstudie zeigen, dass digitalisierte historische Dokumente aus Archiven vor Ort sowie
online Archiven aufgrund ihrer Zugänglichkeit ein großes Potential für die Beschreibung von sozialen und
ökologischen Transformationen bieten. Da zukünftige Transformationskorridore in nachhaltige
Wirtschaftsformen stark durch Pfadabhängigkeiten vergangener Entscheidungen und Prozesse geformt
werden, kann die Nutzung dieser Datenquellen das dazu wichtige Systemwissen erweitern. Das
Forschungsdesign dieser Fallstudie ist auf weitere Probleme der Nutzung von Ressourcen anwendbar.
Vortrag 17 (Samstag, 19.06.2021, 14:00 Uhr)

Nachhaltigkeit diskutieren mit Lausitzer Kohleazubis – transdisziplinäre Methoden im
Transformationskonflikt
Jeremias Herberg, Radboud Universität Nimwegen
Victoria Luh, Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung

Können Sozialforscher*innen zu einer Transformation der fossilen Industrie und ihrer kulturellen
Vermächtnisse beitragen? Anhand einer Workshopreihe, die wir mit Auszubildenden in der Lausitzer
Braunkohleindustrie durchgeführt haben, diskutieren wir einen interpretativen Ansatz der
transdisziplinären Forschung. Unser Vorschlag lautet: Sozialforscher*innen können kollektive
Transformationsblockaden durch dialogische Momente der Kontrastierung und der intersubjektiven
Perspektivübernahme sichtbar machen.

Die Lausitz ist von einem polarisierenden Transformationskonflikt geprägt, in dem kulturelle Vermächtnisse
der fossilen Industrie fortwirken. Schmerzhafte Transformationserfahrungen in Familie und Betrieb nach
1989/90 und der aktuelle Streit Pro und Contra Kohle bestärken die Erwartung, dass der laufende
Strukturwandel scheitert und dass sich Beschäftigte mit fossilen Industrien solidarisieren. Besonders junge
Beschäftigte in der Kohle sehen sich am Anfang eines langen Wandels. Ihnen fehlen jedoch Möglichkeiten
die eigene Positionierung zu reflektieren und im Diskurs zu erproben. In dieser Lage wirft eine
transdisziplinäre Forschung die Frage eines praktischen und wissenschaftlichen Perspektivwechsels auf: Wie
können sich junge Beschäftigte von intergenerationalen und betrieblich bestärkten
Transformationsnarrativen lösen? Wie können sozialökologisch orientierte Forscher*innen (wir)
Sprechräume in einem Industrieunternehmen eröffnen, das einen Wandel lange verschleppt hat?

Die Workshops im Braunkohleunternehmens LEAG basieren auf der Moderationsmethode Dynamic
Facilitation: Einzelne Sprecher*innen bekommen den Raum, Emotionen, vorgefassten Ideen oder
Lösungsoptionen zu äußern, ohne dass diese von der Gruppe explizit bewertet werden. Ausgehend von
unterschiedlichen Erfahrungen und Erwartungen wird im Kontrast deren Kontingenz erfahrbar und neue
Positionierungen können entstehen. Die Moderierenden (wir) sorgen für eine umfassende Widergabe des
Gesagten und prägen einen Diskussionsraum, in dem kommunikatives Vortasten und Umkehren möglich
sind. Die Moderation und schrittweise Kontrastierung des Gesagten wird von Teilnehmenden beobachtet
und kommentiert. Trotz einer positiven Reaktion der Gruppe auf diesen Ansatz, hinterfragen wir unsere
Autorität als moderierende Wissenschaftler*innen und diskutieren die Grenzen des methodischen
Vorgehens. Wann etwa sind wir in der Verantwortung, Gesagtes (z.B. verschwörungstheoretische
Argumentationen) lediglich zu moderieren oder auch zu kommentieren? Diese Frage und unsere
Erwartungen an transformative Momente wollen wir zur Diskussion stellen.
Vortrag 18 (Samstag, 19.06.2021, 14:30 Uhr)

Wann ist ein Living Lab ein Living Lab? Zur Herstellung von ‚Laborbedingungen‘ am Beispiel des
transdisziplinären Forschungsprojektes GreenGrass
Malte Möck1, Talea Becker2, Arno Krause2, Sebastian Pagenkemper2, Peter H. Feindt1
1
  Humboldt-Universität zu Berlin, 2 Grünlandzentrum Niedersachsen/Bremen

Zu den grundlegenden methodischen Problemstellungen in der Forschung zu Living Labs gehören die
Auswahl der einzubindenden Akteure, die räumliche Gestaltung und die geeignete Methodenkombination.
Durch die Vielfalt der konzeptionellen Zugänge und Schwerpunktsetzungen in der Literatur zu Living Labs
(Hossain et al. 2019) ist Methodenvielfalt ein zentrales Merkmal des Forschungsfelds. Eine wesentliche
Spannung besteht zwischen der Offenheit gegenüber Innovationen und Praxisakteuren und der
Anforderung, dem Living Lab einen konzeptionellen Rahmen zu verleihen, der eine Einordnung der
Ergebnisse in einen breiteren Forschungskontext ermöglicht. Diese beim Aufbau eines Living Lab
herzustellende Balance erfassen wir mit dem Begriff der ‚Laborbedingungen‘, der eine Reflexion der
Akteure, Skalen, Systeme und Stimuli erlaubt.

Die methodischen Implikationen diskutieren wir am Beispiel der Etablierung von ‚Living Labs‘ im
Forschungsprojekt GreenGrass. Dieses transdisziplinäre Vorhaben, an dem die Autor*innen beteiligt sind,
entwickelt in drei deutschen Untersuchungsregionen gemeinsam mit Praxisakteuren Smart-Farming-
Innovationen zur Bewirtschaftung von Grünland mit dem Ziel, gleichzeitig Verbesserungen bei der
Biodiversität, dem Tierwohl und der Wirtschaftlichkeit der Betriebe zu erreichen. ‚Living Labs’ dienen dabei
zunächst als boundary concept, auf das sich eine zu etablierende community of practice bezieht. Wir
diskutieren, inwiefern in der Arbeit mit landwirtschaftlichen Betrieben und Nutztieren die Anforderungen
an Living Labs erfüllt werden können oder modifiziert werden müssen. Zu diesem Zweck verorten wir die
Methodik des Projekts in bestehenden Typologien (Hossain et al. 2019) und prüfen, inwiefern
‚Laborbedingungen‘ geschaffen wurden oder geschaffen werden können. Abschließend diskutieren wir die
Möglichkeiten und Grenzen einer Anwendung des Living-Lab-Konzepts auf offene Produktionssysteme mit
Tierhaltung. Diese Frage gewinnt angesichts der von der EU-Kommission angekündigten Initiative zu Living
Labs Agrarökologie erhebliche forschungspraktische und -strategische Bedeutung.
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