Konfektion und Repression - Das Schicksal jüdischer Unternehmer im Nationalsozialismus auf dem Areal des heutigen Dienstsitzes des Ministeriums - BMJV

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Konfektion und Repression - Das Schicksal jüdischer Unternehmer im Nationalsozialismus auf dem Areal des heutigen Dienstsitzes des Ministeriums - BMJV
MINISTERIUM UND
GESCHICHTE

Konfektion
und Repression
Das Schicksal jüdischer Unternehmer
im Nationalsozialismus auf dem Areal des
heutigen Dienstsitzes des Ministeriums
Konfektion und Repression - Das Schicksal jüdischer Unternehmer im Nationalsozialismus auf dem Areal des heutigen Dienstsitzes des Ministeriums - BMJV
Übersichtsplan von Berlin, Bl. III A
Städtisches Vermessungsamt, Stich, Druck und Verlag Geographisches Institut Julius Straube, Berlin 1908,
LAB F Rep. 270, A 2012.

Titelbild
Berlinerinnen begutachten die neue Frühjahrsmode in einem Schaufenster in Berlin, 1932.
Foto: Timeline Classics
Konfektion und Repression - Das Schicksal jüdischer Unternehmer im Nationalsozialismus auf dem Areal des heutigen Dienstsitzes des Ministeriums - BMJV
Konfektion
und Repression

Das Schicksal jüdischer Unternehmer
im Nationalsozialismus auf dem Areal des
heutigen Dienstsitzes des Ministeriums
Konfektion und Repression - Das Schicksal jüdischer Unternehmer im Nationalsozialismus auf dem Areal des heutigen Dienstsitzes des Ministeriums - BMJV
Vorwort
Konfektion und Repression - Das Schicksal jüdischer Unternehmer im Nationalsozialismus auf dem Areal des heutigen Dienstsitzes des Ministeriums - BMJV
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Das Bundesministerium der Justiz und          Mit dieser Studie wollen wir das
für Verbraucherschutz hat seinen              Andenken an die vertriebenen
Sitz im einstigen jüdischen Konfektions-      und ermordeten Menschen pflegen
viertel von Berlin. Dieses Viertel gab        und uns der Verantwortung für die
es solange, bis die Nazis die Betriebe erst   Gegenwart stellen. Es gibt kein Ende
enteignet und dann die Unternehmer            der Geschichte. Auch heute gibt es
ermordet haben.                               Gefahren für Humanität und Freiheit.
                                              Das Wissen um die Geschichte kann
Unser Ministerium steht im Dienst von         unsere Sinne dafür schärfen, wenn
Recht und Gerechtigkeit. Wer heute            Menschenrechte und Rechtsstaatlich-
in diesem Haus arbeitet, sollte deshalb       keit wieder in Frage gestellt werden.
wissen, welches Unrecht den Menschen
geschehen ist, die früher am gleichen
Ort tätig waren.

Wir haben deshalb die Humboldt-Uni-           Christine Lambrecht, MdB
versität gebeten, die Geschichte unseres      Bundesministerin
Gebäudes und das Schicksal seiner             der Justiz und für Verbraucherschutz

Bewohnerinnen und Bewohner zu
erforschen. Mein Dank gilt Dr. Christoph
Kreutzmüller, Eva-Lotte Reimer und
Prof. Dr. Michael Wildt für die Studie,
die wir mit dieser Broschüre der Öffent-
lichkeit vorstellen.
Konfektion und Repression - Das Schicksal jüdischer Unternehmer im Nationalsozialismus auf dem Areal des heutigen Dienstsitzes des Ministeriums - BMJV
Inhalt
Konfektion und Repression - Das Schicksal jüdischer Unternehmer im Nationalsozialismus auf dem Areal des heutigen Dienstsitzes des Ministeriums - BMJV
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Einleitung .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 8
Jüdische Unternehmen zwischen Mohren-, Kronen- und
Jerusalemer Straße .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 12
Die Frühphase der Verfolgung (1933)
Graumann & Stern .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 17

Die „Nürnberger Gesetze“ (1935)
Max Behrendt .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 24

Die Radikalisierung der Verfolgung (1937/38)
Karl Leissner, Ernst Loepert  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 30

Der Novemberpogrom (1938)
Wolf & Schlachter .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 36

Flucht – Nach Shanghai (1938/39)
Familie Salomon  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 41

Die Deportationen (ab 1941)
Charlotte Baehr, Sally Fraenkel .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 47

Die Textilindustrie im Krieg  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 51
Entschädigung und Rückerstatung(1945–heute) .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 54
Literatur, Quellen, Archive & Einzelnachweise  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 58
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Einleitung

Der auf den Grundmauern des ehemali-       Bundesministeriums zur Aufgabe ge-
gen Stadtgefängnisses angelegte Haus-      zwungen. Insgesamt wurden mindestens
vogteiplatz war bis zum Zweiten Welt-      neun Betriebe in den Besitz von Nicht-
krieg das unbestrittene Zentrum der        Juden überführt, 50 wurden liquidiert. 1
deutschen Modewelt – und ein Ort von
internationaler Ausstrahlung. Viele der    Während viele Konfektionäre, auch dank
bekannten Konfektionshäuser wurden         ihres internationalen Renommees,
von Unternehmern geführt, die jüdisch      emigrieren konnten, wurden andere
waren oder auch von den National-          von den Nationalsozialisten verschleppt
sozialisten als Juden betrachtet wurden.   und ermordet. Das Reichsjustiz­minis-
Allein auf dem Areal des heutigen          terium flankierte den arbeitstei­lig
Dienstsitzes des Bundesministeriums        durchgeführten Massenmord mit
der Justiz und für Verbraucherschutz       Gesetzesinitiativen.
(BMJV) befanden sich nachweislich
neunundfünfzig [!] jüdische Betriebe.      Die vorliegende Broschüre entstand im
                                           Auftrag des Bundesministeriums der
Ab 1933 wurden diese Betriebe von den      Justiz und für Verbraucherschutz. Sie
Nationalsozialisten, ihren Helfern und     verfolgt das Ziel, die konkreten Schick-
Claqueuren, durch gewalttätige Blocka-     sale der jüdischen Unternehmen und
den und Boykotte angegriffen und mit       Unternehmer im Gebäude des heutigen
einer Flut von Verordnungen und Geset-     Dienstsitzes des Ministeriums aufzu-
zen behindert. Zwar konnten einige über    zeichnen und so dem Vergessen zu
das Auslandsgeschäft zunächst Einbußen     entreißen. Angesichts der erstaunlichen
im Inland kompensieren, spätestens         Fülle von Firmen haben wir uns im
nach dem Pogrom im November 1938           Sinne der Lesbarkeit dazu entschieden,
wurden aber alle jüdischen Gewerbetrei-    vor allem einzelne Schicksale, die
benden auf dem Areal des heutigen          besonders aussagekräftig und spannend
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waren, exemplarisch zu entfalten und              auch Akten des Archivs des Bundesamtes
sie in die Phasen der Vernichtung der             für zentrale Dienste und offene Ver-
jüdischen Gewerbetätigkeit einzubetten.           mögensfragen ausgewertet. Für die
Unser Anspruch ist dabei, aufzuzeigen,            individuellen Schicksale der jüdischen
dass die jüdischen Konfektionäre sich –           Verfolgten waren Akten der Entschädi-
oft mit Verve und manchmal sogar mit              gungsbehörde Berlin von besonderer
Erfolg – gegen die Verfolgung zu be-              Bedeutung, ebenso wie die Findmittel
haupten suchten.                                  und Bestände der Stiftung Warburg
                                                  Archiv (Hamburg), des Archivs der
Ausgangspunkt der Recherchen war die              Gedenkstätte Yad Vashem (Jerusalem),
Datenbank jüdischer Gewerbebetriebe               der Central Archives for the History of
(DjGB), ergänzend wurden Akten des                the Jewish People (Jerusalem) sowie der
Berliner Handelsregisters, die im Landes-         Wiener Library (London).
archiv Berlin überliefert sind, Akten der
Berliner Wiedergutmachungsämter                   Dr. Christoph Kreutzmüller
(ebenfalls im Landesarchiv Berlin) sowie          Eva-Lotte Reimer
– dank der Unterstützung des BMJV –               Prof. Dr. Michael Wildt

                                                        Zwei Romane über den Hausvogteiplatz
                                                        1932 erschienen zwei Romane über das
                                                        Konfektionsviertel. In „Konfektion“ und
                                                        „Leute machen Kleider. Roman vom Haus­-
                                                        vogteiplatz“ gaben die jüdischen Autoren
                                                        Werner Türk und Gustav Hochstetter, aus-
                                                        gehend von der Wirtschaftskrise, einen
                                                        ungeschminkten Einblick in den oft hek-
                                                        tischen Betrieb der Konfektionshäuser am
                                                        Hausvogteiplatz. Die Bücher wurden am
                                                        10. Mai 1933 auf dem heutigen Bebelplatz
                                                        verbrannt. Werner Türk gelang die Emigra-
                                                        tion nach Großbritannien, wo er 1986
                                                        verstarb. Gustav Hochstetter wurde in das
                                                        Ghetto Theresienstadt deportiert und
Umschläge der Romane „Konfektion“ von Werner
                                                        fiel dort 1944 den schrecklichen Lebensbe-
Türk und „Leute machen Kleider. Roman vom
                                                        dingungen zum Opfer.
Hausvogteiplatz“ von Gustav Hochstetter (beide:
Berlin, 1932).
Konfektion und Repression - Das Schicksal jüdischer Unternehmer im Nationalsozialismus auf dem Areal des heutigen Dienstsitzes des Ministeriums - BMJV
S
Signets jüdischer Unternehmer

                                Bildnachweise auf Seite 60
Jüdische Unternehmen
   zwischen Mohren-,
   Kronen- und
   Jerusalemer Straße

Der heutige Standort des BMJV umfasst die Grundstücke Mohrenstraße 36 bis 38,
Kronenstraße 35 bis 41, und Jerusalemer Straße 24 bis 28. Auf diesem Gelände
befanden sich um 1933 insgesamt 59 jüdische Gewerbebetriebe:

   Mohrenstraße 36 bis 38

   36 / 37
   • S. Binswanger Knopfgroßhandlung (1900–34)
   • Meyersohn & Tobias Seidenwaren (1902–38)
   • Max Behrendt Kostümröcke (1904–40)
   • Salomon & Kaminsky Damen- und Mädchenmäntel (1910–37)
   • Glaß & Graetz Damenmoden im besseren Genre (1911–40)
   • Wolf & Schlachter Damenbekleidung (1919–39)
   • Brüder Feige Damenmäntelfabrik (1920–38)
   • Graumann & Stern Damenmäntel und Kleider (1922–38)
   • Ahders & Basch Modellkollektionen (1928–38)
   • Walter Wachsner Damenkonfektion (1933–38)
   • Motü Modische Kleider und Blusen GmbH (1934–36)
   • Ernst Nußbaum Kleider (1936–39)
13

37
• Ella Lehmann GmbH, vorm. Conrad & Rogozinski Damensportbekleidung
   (1934–36)
• Max Leissner, Einzelkaufmann, Inhaber (1935–39)

37 a
• Simon Westmann Damen Konfek­tion & Trauer Magazin (1900–32)
• Gebrüder Ries Textilwaren en gros (1920–40)
• Hirsch & Süßkind Damenkonfektion (1923–39)
• Ernst Plachta Pelzfabrikation (1926–39)
• Georg Eichelgrün Damenmäntel (1927–33)
• Paul Aschner Damenbekleidung (1933–35)
• Lebram & Wallach Damenmäntel (1933–39)
• Herbert Labandter Damenkleiderherstellung (1934–38)

38
• Sally Fraenkel Damenmäntel und Jacken (1901–34)

Kronenstraße 35 bis 41

36
• Embeco Modische Bekleidungs-Kompagnie Abromeit & Huth
   Damen-Oberbekleidung (1901–39)
• H. Kantorowicz & Co. Damenblusen, Kinderkleider (1902–39)
• Max Frank jr. Futterstoffe (1905–39)
• Hermann Schwersenzer Kleider und Blusen (1929–38)
• Arthur Gadiel Kleiderkonfektionsfabrik (1934–37)
• Heinrich Bielschowsky Damenmäntel (1934–38)
• Ernst Loepert Damenbekleidung (1934–39)
• Erwin Feder Damenmäntelfabrik (1937–40)
14

     38 / 40
     • Bibo & Jackier Damenmäntel (1902–38)
     • Hugo Ivers Textilvertretungen (1903–39)
     • Leonhard Wertheim Spezialfabrik für garnierte Kleider (1905–37)
     • Adolf Wittkowski Schürzen und Jupons (1907–37)
     • Berthold Hammel Damen- und Kinderbekleidung (1911–41)
     • Arnold Frischmann Damen­konfektion (1913–39)
     • Jakobowski & Cohen Damen­konfektion (1914–37)
     • Sonnenfeld & Jaroczynski (1919–38)
     • Gumpel, Rosenbach & Co. Damenmäntel-Fabrikation (1919–40)
     • Treitel & Meyer Blusen und Kleider (1920–39)
     • Lux & Co. Backfisch- und Knabenkonfektion (1921–39)
     • Goldberg & Sander Damen- und Kinderbekleidung en gros (1922–38)
     • Weinstein & Landauer AG (1932)
     • Fritz Weil & Co. Damenbekleidung (1935–39)
     • Philipp Gerber Blusen (1936–39)

     41
     • S. Jaraczewer Damenbekleidung Mittelgenre (1902–39)
     • Lewinnek & Schönlank Mädchenmäntel en gros und Export (1910–40)
     • Fließer & Rosenthal Damen­konfektion (1930–40)
     • Hielscher & Co. Backfisch- und Damenmoden (1933–40)
     • Erwin Leibke Bekleidung (1934–39)
     • C. Neumann & Co. Damen­kleiderfabrikation (1937–38)

     Jerusalemer Straße 24 bis 28

     24
     • Max Süßkind & Co. GmbH Kostüme (1926–35)
15

   26
   • Mendelsohn, Meyerhof & Co. Bernhard Mendelsohn Blusen und Kleider
      (1934–36)
   • B. Rosenberg & Co. Kleider, Blusen und Röcke (1934–39)
   • A. Falkowitz & Co. Damenkonfektion (1935–40)

   28
   • Eugen Herzberg Agentur (1901–40)
   • S. Rosenbaum Damenmäntel en gros (1902–38)
   • Silberberg & Auerbach Besatzartikel (1910–36)

Eine Fotografie aus der jüdischen Bran-     täglich „Mittag gegen 3 Uhr“ dieses
chenzeitschrift „Der Konfektionär“ vom      Haus aufsuchten in der Hoffnung,
1. April 1930 zeigt vier Männer mit         Aufträge zu erhalten. Überraschend ist
langen dunklen Mänteln, die Filzhüte        die Bezeichnung der Wand als „Klage-
tragen und weiße Blätter an einen           mauer“, laut Untertext handelte es sich
Pfeiler drücken. Das – inszenierte – Foto   um „ein Stück der ‚Original-Klagemau-
wurde aus einigen Metern Entfernung         er’ in Jerusalem“, das „vor kurzem nach
bei Tageslicht aufgenommen, scheinbar       Deutschland überführt“ worden sei.
steht das Grüppchen links von einer
Hofeinfahrt. Wo das Bild aufgenom-          Offensichtlich handelte es sich hierbei
men wurde, erfährt der Betrachter           um eine Tatarenmeldung – wäre ein
durch die Überschrift: am Hausvogtei-       Teil der Klagemauer tatsächlich aus
platz – mitten im Berliner Konfektions-     Jerusalem nach Berlin verschifft und
viertel und in nächster Nähe des heuti-     am Hausvogteiplatz aufgebaut worden,
gen Dienstsitzes des BMJV. Die              hätte es wohl für mehr mediales Auf­
Unterschrift konkretisiert den Ort:         sehen gesorgt, als nur für diese Erwäh-
„Zwischen Hausvogteiplatz und Dön-          nung in einer Branchenzeitschrift.
hoffplatz“ – das heißt in der Jerusale-     Allerdings verrät das Ensemble von
mer Straße (s. Karte). Laut Bildunter-      Überschrift, Bild und Bildunterschrift
schrift handelte es sich bei den            viel: Es weist den Hausvogteiplatz als
Männern um „Textilvertreter“, die tag­-     einen Pilgerort der deutschen Mode­-
16

industrie aus. Jeder, der auf Aufträge   Hausvogteiplatz außerdem als jüdischer
angewiesen war, musste dort auf Auf-     Ort markiert. In Anbetracht der antise-
tragserteilungen hoffen, wo die Mode-    mitischen Atmosphäre in Berlin 1930
firmen en masse angesiedelt waren.       liegt es zunächst nahe, hinter dieser
Die trockene, ironisch wirkende Fest-    Meldung Antisemitismus zu vermuten.
stellung, dass die Auftragszettel leer   Allerdings gehörte die Zeitschrift dem
blieben, führt dem Betrachter die        Verlag „L. Schottlaender & Co.“ in der
Wirtschaftskrise vor Augen, die sich     Krausenstraße an, der ab 1933 von
natürlich auch in der Textilbranche      Nationalsozialisten als jüdisch betrach-
niederschlug. Durch die Verwendung       tet, im Laufe der 1930er-Jahre von
des Begriffes „Klagemauer“ wurde der     Nicht-Juden übernommen wurde. 2

                                                   Eine Klagemauer am Hausvogteiplatz –
                                                   Ein Aprilscherz?
                                                   Zum Hausvogteiplatz pilgerten die
                                                   Zwischenmeister, um als Subunter­
                                                   nehmer der bekannten Konfek­tions­
                                                   häuser Aufträge zu erhalten. In der
                                                   vom jüdischen Verlag „L. Schottlaender
                                                   & Co.“ herausgegebenen Branchenzeit-
                                                   schrift wurde satirisch dargestellt, wie
                                                   schlecht die Auftragslage während der
                                                   Weltwirtschaftskrise 1930 war.

                                                   Artikel aus „Der Konfektionär“,
                                                   1. April 1930
Die Frühphase der
   Verfolgung (1933)

Trotz der antisemitischen Stimmung in      betreiber Isidor Dobrin schmerzlich
der deutschen Hauptstadt, mit ihren        erfahren, dessen stadtbekannte Kondi-
Straßenkämpfen zwischen KPD- und           torei in der Jerusalemer Straße ver-
NSDAP-Anhängern, zog es in den frühen      wüstet wurde. 4 Nach betriebsinternen
1930er-Jahren viele jüdische Familien      antisemitischen Angriffen starb
aus der deutschen Provinz nach Berlin.     Walther Rabow, der Sozius der bekann-
Der offene Antisemitismus in kleinen       ten Konfektionsfirma „Graumann &
Gemeinden zwang viele Menschen dazu,       Stern“ bereits im Januar 1931 an Herz-
ihre Geschäfte aufzugeben und ein          versagen. 5
neues Auskommen in der Metropole zu
finden. In Berlin lebten ein Drittel der   Die Machtübernahme der Nationalso-
Juden in Deutschland und über die          zialisten am 30. Januar 1933 bedeutete
Hälfte der Juden aus Preußen. 3 Der        (nicht nur) für jüdische Konfektionäre
Hausvogteiplatz galt innerhalb Berlins     gleichwohl eine Zäsur. Denn nun fielen
als „jüdisches Viertel“, ebenso galt die   letzte Hemmschwellen, verband sich
Konfektionsindustrie als jüdisch. Anti-    antisemitische Gewalt mit Verfolgungs-
semitische Angriffe begannen dort nicht    maßnahmen auf städtischer und staat-
erst mit der Machtübernahme der            licher Ebene. Wenn auch die „National­
Nationalsozialisten 1933, sondern          sozialistische Betriebszellenorganisation“
können bereits für 1930 nachgewiesen       (NSBO) in der Textilindustrie zahlen­
werden, als gewaltbereite NSDAP-           mäßig nicht die gleiche Rolle wie etwa
Anhänger nach der konstituierenden         in Belegschaften von Gerichten oder
Reichstagssitzung im Oktober 1930          Versicherungsanstalten spielte 6, gab es
neben den Einkaufsstraßen Leipziger        auch in Konfektionsbetrieben aktive
Straße und Friedrichstraße auch im         Nationalsozialisten, die sich in „Betriebs-
benachbarten Konfektionsviertel randa-     zellen“ organisierten und ihre jüdischen
lierten und Geschäfte demolierten.         Vorgesetzten (und Arbeitskollegen) terro­-
Dies musste zum Beispiel der Caféhaus­-    risierten. Stellten sie auch quantitativ
18

keine Mehrheit dar, sollte aus mikrohis-   ehemalige Konfektionäre diesen Tag als
torischer Perspektive die Qualität ihrer   Beginn der Verfolgungsmaßnahmen.
antisemitischen Aktionen in der Wahr-      Bei dieser gewaltsamen Aktion im April
nehmung der jüdischen Unternehmer          1933 handelte es sich um einen ersten
und den daraus resultierenden Folgen       Schritt zur „Vernichtung der jüdischen
nicht unterschätzt werden.                 Gewerbetätigkeit“. Der Begriff „Boykott“
                                           bildet dabei die Realität nicht ab, die
Der staatlich organisierte, inszenierte    Aktion ist wohl eher als Blockade zu
und reichsweit durchgeführte „Boykott“     betrachten 7: Von der SA durchgeführt,
am 1. April 1933 bedeutete für die jüdi-   die zumindest im größten Reichsland
schen Konfektionäre einen neuerlichen      Preußen den Status von Hilfspolizei
tiefen Einschnitt. In ihren Erinnerungs-   hatte, und in vielen Fällen einhergehend
berichten beschrieben überlebende          mit Gewalt, waren keine politischen

                                           Boykott?
                                           Über den sogenannten Boykott berichtete der Berliner
                                           Börsen-Courier mit Blick auf die Zensur nur mit
                                           großer Zurückhaltung. Dass diese erste reichsweite
                                           Aktion gegen Unternehmen, Arzt- und Anwaltspraxen
                                           nicht nur mit gewaltsamen Übergriffen einherging,
                                           sondern auch ein immenser Schock für alle Juden
                                           bedeutete, blieb so unerwähnt.

                                           Börsen-Courier über den „Boykott“ am 1. April 1933.
19

Veränderungen das Ziel, sondern nur           Die Gründungsmitglieder waren beken-
die Vernichtung der jüdischen Gewerbe-        nende Nationalsozialisten und beruflich
tätigkeit. Der jüdische Rechtsanwalt          an Schnittstellen von Bekleidungsindus-
Eduard Reimer jedenfalls hatte noch           trie und Politik angesiedelt. Die Spitze
1935 den Mut, den „Boykott“ vom               des Vereins bildeten neben anderen
1. April 1933 als „sittenwidrig“ zu brand-    Georg Riegel und Herbert Tengelmann,
marken. Sein Buch wurde bei Erschei-          NSDAP-Mitglieder und Funktionsträger
nen offenbar indiziert und ist deshalb        der IHK. 11 Als Hauptsitz wählte die
bis heute nur in sehr wenigen Bibliothe-      „Adefa“ Räume inmitten des Berliner
ken zu finden. 8                              Konfektionsviertels – in der Kronen­
                                              straße 48 / 49. Ziel der „Adefa“ war es
Auf städtischer Ebene, auf der Ebene des      zunächst, möglichst alle nicht-jüdischen
Magistrats von Groß-Berlin, fingen            Unternehmen innerhalb der Beklei-
Industrie- und Handelskammer (IHK)            dungsbranche zu vereinen. Diese sollten
und Amtsgericht überdies damit an,            gemeinschaftlich die Kooperation mit
Konfektionsunternehmen, die sie als jü-       jenen Unternehmen auflösen, die als
disch betrachteten, genau zu überprüfen       jüdisch erachtet wurden. Die „Adefa“
und nicht selten gezielt zu schikanieren. 9   betrieb Propaganda, veranstaltete
Die IHK arbeitete eng mit der Devisen-        Modenschauen und Messen und zeich-
stelle des Landesfinanzamtes zusam-           nete sich durch aggressives Auftreten
men, hier standen vor allem exportstar-       aus. Sie kooperierte, zumindest in Berlin,
ke Unternehmen im Fokus. Wenn es um           auch mit der Industrie- und Handels-
nationalsozialistische Akteure geht, die      kammer. 12
am Hausvogteiplatz antisemitisch tätig
wurden, muss auch die „Adefa“ genannt
werden. Hinter der Abkürzung verbarg          Graumann & Stern
sich die „Arbeitsgemein­­schaft deutsch-
arischer Fabrikanten der Bekleidungs-         Im „Dreikaiserjahr“ 1888 gegründet,
industrie e.V.“, ein im Mai 1933 gegrün-      gehörte das Unternehmen „Graumann &
deter und reichsweit agierender Verein,       Stern“ bereits vor dem Ersten Weltkrieg
der prominente Fürsprecher besaß und          zu den international renommierten
durch das Reichswirtschaftsministe-           Damenkonfektionsfirmen. 13 Als Aus-
rium, das Reichspropagandaministe-            druck ihrer wirtschaftlichen Stärke und
rium, die IHK sowie die Deutsche              ihres Standings kann der Bau eines
Arbeitsfront (DAF) unterstützt wurde. 10      eigenen Konfektionshauses in der
20

Briefkopf „Graumann & Stern Kommanditgesellschaft auf Aktien“
ws Konfektionsviertel prägte. Links im Bild sind die von Carl Gotthard Langhans 1787 erbauten
„Mohrenkollonaden“ zu sehen, die ursprünglich als Laubengang über den Festungsgraben
dienten und heute den Eingangsbereich des BMJV bilden.

Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin – Abt. I – Entschädigungsakte,
Reg.-Nr. 271990 (Seev William Stern), Bl. 11 E 2.

Mohrenstraße 36 gelten – das 1900 / 01                    gang des BMJV. Darüber hinaus existier-
erbaute „Haus Stern“, das zum 25.                         ten weitere Betriebsräume von „Grau-
Firmenjubiläum um mehrere Etagen                          mann & Stern“ in der Mohrenstraße 33
erweitert wurde. 14                                       und 34 / 35. 15 Nach dem Ersten Welt-
                                                          krieg unterhielt „Graumann & Stern“
Im Jahr 1913 waren die Brüder Albert                      neben dem Berliner Stammhaus auch
und Siegfried Stern Eigentümer der                        namenhafte Dependancen in New York,
Häuser Mohrenstraße 36, 37 sowie                          London, Kopenhagen und Amsterdam.
Eigentümer des „Laden 1 Unter den                         In den 1920er-Jahren kaufte das Unter-
Kolonnaden“ – dem heutigen Hauptein-                      nehmen die „Sommerfelder Textilwerke
21

AG“ auf, eine Spinnerei und Weberei im       erfahrenen Konfektionär, der seit
Kreis Krossen, östlich von Frankfurt /       Kindertagen darauf vorbereitet wurde,
Oder, im heutigen Polen, gelegen. Durch      den traditionsreichen Familienbetrieb
dieses Novum innerhalb der Berliner          in der Mohrenstraße zu übernehmen,
Konfektionsbranche konnte alles, „ (...)     gut. Auf 800 qm Betriebsfläche arbeite-
vom Spinnen der Garne bis zum fertigen       ten rund 40 kaufmännische Angestellte
Mantel vollkommen in eigener Regie (...) “   und über 65 Zwischenmeister erhielten
hergestellt werden. 16 Die Expansion         Aufträge für die Herstellung von Damen-
führte zu fast einer Verdopplung des         mänteln und -kostümen.
Jahresumsatzes von 12 Millionen auf
20 Millionen Reichsmark 1920. 17             Jedoch veränderte sich bereits vor der
                                             Machtübernahme das Betriebsklima
Nachdem die Firmengründer 1931 aus           zusehends und Wilhelm Stern hatte mit
Altersgründen aus der Gesellschaft           antisemitisch eingestellten Angestellten
ausgeschieden waren, führten Heinz           und Kunden zu kämpfen, deren – zu-
Graumann und Wilhelm Stern die Firma         nächst verbale – Angriffe sich häuften.
als oHG weiter, bevor auch Graumann          Die NS-Machtübernahme fiel in das
ausschied und Stern daraufhin im             erste Geschäftsjahr unter Sterns Leitung,
Sommer 1932 alleiniger Eigentümer der        das am 1. Dezember 1932 begonnen
Firma wurde, die man zu diesem Zwecke        hatte. Stern wurde Zeuge des staatlich
in eine Einzelfirma umwandelte. 18 Es        verordneten „Boykotts“ und zog aus den
hatte sich zwar die juristische Verfasst-    politischen Entwicklungen für sich und
heit der Firma geändert. Aber nach           seine Familie die Konsequenz, Berlin zu
außen blieb „Graumann & Stern“ zu-           verlassen. Allerdings hatte er unter-
nächst unverändert bestehen. Aufgrund        schätzt, wie attraktiv sein Unternehmen
der Wirtschaftskrise und der antisemi­       war. In Anbetracht von Massenarbeits-
tischen Atmosphäre entschied Wilhelm         losigkeit und einer schwachen wirt-
Stern sich dazu, den Betriebsumfang zu       schaftlichen Lage hätte der Wegfall
verkleinern und zu modernisieren.            dieses devisenbeschaffenden Unterneh-
Während eines ausgedehnten USA-              mens, sei es auch ein jüdisches, einen
Aufenthaltes hatte er sich bestens mit       Verlust bedeutet. Stern erfuhr dies auf
den modernen Methoden hinsichtlich           schmerzliche Weise: In seinem Betrieb
Betriebsführung und Produktionsver-          in der Mohrenstraße 36 bildete sich eine
fahren vertraut machen können. 19            „Betriebszelle“, zu deren Obmann Sterns
Die Ausgangslage war also für den            Chauffeur Steffin avancierte. 20 Dieser
22

Rädelsführer hatte die Kündigungs-         sellschafter von Stern, für den die Kondi-
schreiben aller Angestellten gesammelt     tionen jedoch wenig lukrativ waren:
und nötigte Stern unter Androhung von      Keiner der neuen Gesellschafter musste
Gewalt dazu, eine „Verpflichtungserklä-    nennenswertes eigenes Kapital in die
rung“ zu verfassen, in der er erklärte,    Gesellschaft einbringen. Doch wurde
die Firma „zum Nutzen der Belegschaft      ihnen bereits im ersten Geschäftsjahr
und des deutschen Volkes“ weiterführen     eine Gewinnbeteiligung von 25 %
zu wollen. 21 Jedoch genügte diese Szene   versprochen, die im Folgejahr auf ein
Steffin offenbar noch nicht: Gefolgt von   Drittel steigen sollte. 25 Stern nutzte
einer Horde von 25 SA-Männern drang        die Zwangsveränderung, um im euro-
er in der darauffolgenden Nacht in die     päischen Ausland Exportaufträge für
Wohnung der Familie Stern ein und          die Damenmäntel- und Kostüme von
zwang seinen Chef dazu, eine neue          „Graumann & Stern“ einzuholen.
Erklärung zu schreiben, in der er die      Der Umsatz des Unternehmens stieg im
Firmenschließung revidierte und der        zweiten Geschäftsjahr wieder an und
„Betriebszelle“ seine Kooperation          lag bei zwei Millionen Reichsmark.
zusicherte. 22 Diese Methode, durch        Stern reiste in die Niederlande und in
Gewaltausübung Herrschaft zu erlangen      die Schweiz, warb Kunden in Belgien
und zu sichern, bildete einen funda-       und Luxemburg an, fuhr auch vermehrt
mentalen Bestandteil der frühen Phase      nach Palästina. Dort war seine Ehefrau
des Nationalsozialismus. 23                mit den zwei Kindern im Herbst 1933
                                           als Touristin eingereist und hatte sich
Was darauf folgte, war zunächst „wirt-     niedergelassen. Von einer Reise nach
schaftlich unsinnig, aber unter den        Palästina im März 1935 kehrte auch
Verhältnissen notwendig“, wie es Stern     Wilhelm Stern nicht wieder zurück.
einige Jahrzehnte später nüchtern          Die Familie Stern lebte nun in dem
rekapitulierte. 24 Der Konfektionär bot    kleinen Ort Ramot-Hashawim, der
zwei langjährigen Angestellten an, als     1933 von deutschen Juden in Palästina
Mitgesellschafter in das Geschäft ein-     gegründet wurde. 26 Sie hatten alle
zusteigen. Zum neuen Geschäftsjahr am      Vermögens­werte, ihr gesamtes Hab
1. Dezember 1933 wurde die Einzelfirma     und Gut in Berlin zurückgelassen und
erneut in eine offene Handelsgesell-       versuchten, sich in Palästina ein neues
schaft (oHG) umgewandelt. Herbert          Unternehmen eine neue Existenz
Brückner, der Christ war und Max           aufzubauen, in­dem sie in der Landwirt-
Sternberg, ein Jude, wurden die Mitge-     schaft arbeiteten. 27
23

Am 14. Januar 1936 teilte Wilhelm Stern
dem Berliner Amtsgericht seinen Austritt
aus der Firma seines Vaters mit und
erklärte sich damit einverstanden, dass
seine Mitgesellschafter das Unternehmen
weiterführten. Nachdem auch Max
Sternberg als Jude aus der Firma aus-
scheiden musste, führte Brückner sie
bis zu ihrer Liquidation 1938 weiter;
die Abwicklung sollte sich jedoch bis
in die 1940er-Jahre hinziehen. 28

Brief von Wilhelm Stern an das Amtsgericht Berlin,
14. Januar 1936.
Landesarchiv Berlin, A Rep. 342-02, 18687.
Die „Nürnberger
   Gesetze“ (1935)

Das Jahr 1935 war in Berlin von Gewalt        die Gewalt zu erheben und sich dem an-
geprägt, die im Juli sogar zu pogromarti-     tisemitischen Treiben zu widersetzen. 30
gen Ausschreitungen am Kurfürsten-            Einer von ihnen war Gerhard Jacobowitz,
damm führte, bei denen Schaufenster           der viele Jahre in der Kronenstraße 35
zerschlagen und Menschen, die in den          ein- und ausgegangen war.
Augen der (meist) jugendlichen Angreifer
jüdisch aussahen, attackiert wurden.          Der Konfektionär und bekennende
Allerorten wurden in der Stadt nun so         Sozialdemokrat musste miterleben, wie
genannte Stürmerkästen aufgestellt, in        sein Bruder 1933 in eine Folterstätte der
denen das antisemitische Hetzblatt aus        SA-Hilfspolizei verschleppt wurde, die im
Nürnberg ausgebreitet wurde. Auf              Zuge der Machtübernahme überall in
professionell gefertigten Aufklebern, die     Berlin „eigenmächtig oder im staatli-
zunächst in Bezirken am Berliner Stadt-       chen Auftrag“ errichtet wurden. 31
rand, im Laufe des Jahres aber auch in        Geschockt von omnipräsentem Antise-
Berlin Mitte angebracht und verteilt          mitismus, äußerte sich Jacobowitz offen
wurden, war gleichzeitig zu lesen „Wer        gegen die Politik der NSDAP. Nach der
beim Juden kauft ist ein Volksverräter“. 29   Verabschiedung der „Ersten Verordnung
Provokationen wie diese brachten jedoch       zum Reichsbürgergesetz“ 1935, nach
andere Berliner dazu, ihre Stimme gegen       denen Jacobowitz als „Volljude“ galt,

                                              Passfoto und Unterschrift von Gerhard Jacobowitz auf
                                              einem Ausweis der belgischen Delegation des Hohen
                                              Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen
                                              U.N.H.C.R., Brüssel 1952.

                                              LABO Berlin, Entschädigungsakte, Reg.-Nr. 265926
                                              (Gerhard Jacobowitz), Bl. M 5
25

Am 17. Juli 1939 beantragte Adolf         Ausreisegenehmigung
Schönlank die Löschung seiner Firma       Aufgrund eines Herzleidens wurde Ludwig Lewinnek
und unterzeichnete mit dem Zwangs-        am 19. März 1942 eine befristete Ausreisegenehmigung
vornamen „Israel“.                        aus dem südfranzösischen Internierungslager für einen
Landesarchiv Berlin, A Rep. 342-02,       Kuraufenthalt in Aix-en-Provence ausgestellt.
44617, Bl. 21                             LABO Berlin, Entschädigungsakte, Reg.-Nr. 64806
                                          (Ludwig Lewinnek), o. Bl.

denunzierte ihn jemand bei der Gestapo.   überstand daher diese Situation
Der couragierte Konfektionär hatte        und folgte kurz darauf ihrem Mann in
jedoch das Glück, rechtzeitig von einem   ihre Heimat. 32
Frontkameraden aus dem Ersten Welt-
krieg, der für die Berliner Gestapo       Auch Hermann Mansfeld floh nach den
arbeitete, gewarnt zu werden. Jacobo-     „Nürnberger Gesetzen“ 1935 ins Ausland.
witz flüchtete am 22. September 1935      Er war handlungsbevollmächtigter
Hals über Kopf nach Belgien. Am           Gesellschafter bei „Lewinnek &
nächsten Tag stand die Gestapo vor        Schönlank“ in der Kronenstraße 41
seiner Berliner Wohnung, traf jedoch      und emigrierte nach Amsterdam.
nur noch auf Jacobowitz’ Ehefrau Zoé      Ludwig S. Lewinnek und Adolf Schön-
Lauvaux. Als belgische Staatsangehörige   lank konnten die Firma als oHG bis zur
musste sie 1935 noch keine akute          ihrer Liquidation 1939 weiterführen.
Angst vor Verhaftungen in Berlin haben,   Lewinnek emigrierte im Mai 1939 nach
26

Einladungskarte der Firma Max Behrendt zur Präsentation
der Frühjahrskollektion, Berlin 1930–1939.

Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jens Ziehe.

Belgien, wo er Gertrude Wolff heiratete.                  Im Jahr 1904 hatte der damals 25-jähri-
Wenige Monate später musste das                           ge Kaufmann Max Behrendt eine – wie
frischgebackene Ehepaar aufgrund                          es seinerzeit hieß – „Kostümrockfabrik“
der deutschen Besatzung untertauchen.                     gegründet, die schnell zu einer der
Noch im Mai 1940 wurde Ludwig                             erfolgreichsten Firmen der Branche
S. Lewinnek entdeckt und in das süd-                      avancierte. Behrendt exportierte vor
französische Lager Gurs verschleppt.                      allem Waren nach Dänemark und
Zwei Jahre später, 1942, gelang es ihm,                   Großbritannien, wo er eine Zweignie-
aufgrund einer Herzkrankheit aus dem                      derlassung aufbaute, in der er nach
Lager entlassen zu werden. Er kehrte                      seiner Flucht aus Deutschland weiterhin
zu seiner Frau zurück und gemeinsam                       als Kaufmann tätig sein konnte.
flüchteten sie in die Schweiz. Dort
wurden sie bis 1945 in einem Flücht-                      Durch die Export-Geschäfte geriet
lingslager bei Basel interniert und                       Behrendt unter die verschärfte
emigrierten nach dem Ende des Krie-                       Kontrolle der Devisenprüfstelle. 34
ges nach Australien.                                      Behrendt war es gelungen, die deutsche
                                                          Steuerbehörde nicht gänzlich über den
Max Behrendt                                              Vermögenstransfer für die Errichtung
                                                          der Londoner Zweigniederlassung in
Der Kaufmann Max Behrendt, Allein-                        Kenntnis zu setzen. In einem Prüf­
inhaber der gleichnamigen Firma in                        bericht im Oktober 1938 schlug der
der Mohrenstraße 36 / 37, emigrierte                      Sachverständige vor, den nicht-jüdi-
am 15. Oktober 1935 mit seiner Ehefrau                    schen Prokuristen in der Mohrenstraße,
nach London. 33                                           „der zwar Arier ist, aber eine jüdische
27

                                                                    Schreiben Chr. E. Iversen an
                                                                    Irmgard Behrendt, 10. Februar 1957
                                                                    Für das Entschädigungsverfahren bestätigte
                                                                    der dänische Kaufmann, welchen ausgezeich-
                                                                    neten Ruf die Firma Max Behrendt genoss.

                                                                    LABO Berlin, Entschädigungsakte,
                                                                    Reg.-Nr. 51346 (Max Behrendt), Bl. 2 E 2.

Bescheid über die Judenvermögensabgabe,
27. Januar 1939
Nach dem Pogrom im November 1938 wurde den
Juden in Deutschland eine Sondersteuer auferlegt.
Die „Sühneleistung“ war in vier Raten zu zahlen
und spülte insgesamt mehr als eine Milliarde
Reichsmark in die klammen Kassen des Reichs.

LABO Berlin, Entschädigungsakte,
Reg.-Nr. 51346 (Max Behrendt), Bl. D 2.

                       Konfektionsfirmen wie Max Behrendt stellten keine
                  Maßkleider, sondern Kleider in bestimmten Größen her,
                  die sie teils in den eigenen Geschäftsräumen verkauften,
                            teils an Warenhäuser lieferten und exportierten.

                              Jüdisches Museum Berlin, Farblithographie,
                                        Papier, 56 x 36 cm, Foto: Jens Ziehe
28

     „Brief des Amtsgerichts an Max Behrendt vom 2. Dezember 1939“
     „Mit dem Brief teilte das Amtsgericht dem Kaufmann mit, dass seine Firma aus dem Handelsregister
     gelöscht werde. Hiergegen konnte Max Behrendt keinen Einspruch erheben, da das Amtsgericht den
     Brief nur an die Firmenadresse sendete und Briefverkehr mit dem Vereinigten Königreich wegen des
     Krieges nur sehr eingeschränkt möglich war.

     Landesarchiv Berlin A Rep 342-02, 28764.
29

Frau hat“, verhaften zu lassen und              Wie rasant der wirtschaftliche und
dadurch Druck auf den Geflüchteten              soziale Abstieg sich für verfolgte
auszuüben. Man nahm dem Prokuris-               Konfektionäre und deren Angehörige
ten zu diesem Zweck sogar schon den             vollziehen konnte, zeigt das Schicksal
Pass ab, um eine Flucht auszuschließen. 35      des Kleider- und Blusen-Fabrikanten
                                                Bernhard Mendelsohn. Mendelsohn
Nach dem Pogrom kam der Betrieb völ-            war seit 1934 Firmeninhaber einer
lig zum Erliegen. Die hohen Guthaben            Blusen- und Kleiderfabrik in der
der Firma wurden nun dazu benutzt,              Jerusalemer Straße 26. Nach zunächst
die so genannte Judenvermögensabgabe            positiven Geschäftsabschlüssen
und andere Steuern abzuführen. Im April         wurde er von Diffamierungen und
1940 wurde die Firma dann aus demHan-           Verfolgung vermutlich aus dem Um-
delsregister gestrichen. In England geriet      feld der „Adefa“ gequält und erlitt
Max Behrendt indessen in Zahlungs-              einen Schlaganfall, der ihn arbeitsun-
schwierigkeiten und 1941 musste ein             fähig machte. Um sich wirtschaftlich
Zwangsvergleich mit den Gläubigern ge-          zu behaupten, versuchte seine nicht-
schlossen werden. Er verstarb wenige Ta-        jüdische Ehefrau den Betrieb fort-
ge vor der Befreiung Berlins in London. 36      zuführen, was jedoch missglückte. 37

                                      Armutszeugnis vom 26. Juni 1936
                                      Das Armutszeugnis attestierte Mendelsohn, er sei „arm und
                                      ohne Beeinträchtigung des notwenigen Unterhaltes außerstan-
                                      de, die Kosten für die Löschung der Fa. Bernhard Mendelsohn
                                      im Handelsregister zu bestreiten“. 38

                                      Landesarchiv Berlin, A Rep. 342-02, 45206.
Die Radikalisierung
   der Verfolgung (1937/38)

Seit ihrer Gründung im Mai 1933 war       „Ware aus arischer Hand“ versehen
die „Adefa“ unermüdlich damit beschäf-    sollten. 40 Dieser Beschluss ging einher
tigt, Rundbriefe an ihre Mitglieder zu    mit einer mehrwöchigen Propaganda-
versenden. In diesen wurden diese stets   kampagne, die die Arbeit der „Adefa“
dazu aufgefordert, ihre Handelsbezie-     der Bevölkerung näher bringen sollte. 41
hungen mit jüdischen Unternehmen zu       Zeitgleich sorgte Hermann Göring als
beenden. Aus den Schreiben wird bis       Nachfolger von Hjalmar Schacht als
1938 deutlich, dass viele Kaufmänner      Reichswirtschaftsminister dafür, dass
zwar der „Adefa“ angehörten, sie jedoch   jüdische Gewerbebetriebe definiert und
weiterhin mit ihren jüdischen Kollegen    systematisch benachteiligt wurden.42
Geschäfte abschlossen.                    All diese Aktionen zeigen jedoch
                                          indirekt auch, dass sich jüdische Unter-
Ein Grund dafür lag sicher darin, dass    nehmer in der Bekleidungsbranche
es wirtschaftlich unsinnig gewesen        bis dahin noch gegen die Verfolgungen
wäre, langjährige Geschäftsbeziehun-      behaupten konnten.
gen abzubrechen. Auch das Reichswirt-
schaftsministerium verfolgte bis Ende     Karl Leissner
1937 eine eher pragmatische Politik
und wies darauf hin, dass die Judenver-   Dass die antisemitische Verfolgung
folgung sich nicht (zu sehr) auf das      durch die „Adefa“ mit der Politik der
Exportgeschäft auswirken dürfe. 39        Industrie- und Handelskammer Hand
Außerdem gab es noch keine einheit-       in Hand ging, zeigt das Beispiel einer
liche Regelung darüber, wann ein          Konfektionsfirma in der Mohren-
Unternehmen als „jüdisch“ anzusehen       straße 37. Diese Firma wurde ursprüng-
sei. Deshalb beschloss der Vorstand der   lich im Juli 1933 vom Nicht-Juden Kurt
Adefa im November 1937, dass sich alle    Schmidt gegründet. Schmidt hoffte
Mitgliedsbetriebe als solche ausweisen    darauf, auch ohne Branchenerfahrung
und ihre Waren mit der Aufschrift         mithilfe eines Zwischenmeisters ein
31

lukratives Unternehmen aufbauen zu          Absicht in Kenntnis, den Firmennamen
können, erwirtschaftete jedoch keine        in „Max Leissner“ ändern zu wollen.
nennenswerten Gewinne. In dieser            Für die Übergangszeit stempelte er den
Situation wandte sich Schmidt an sei-       Schriftzug „Kurt Schmidt“ mit „Jetzt:
nen Freund Karl Leissner, der ihm Ende      Max Leissner“ über (s. Abbildung). 45
1933 ein Darlehen zum Ausbau des
Unternehmens gewährt hatte. Darauf-         Der Anwalt von Leissner stellte gegenüber
hin warf die IHK dem Unternehmen            dem Amtsgericht klar, dass weder der Ruf
vor, Kurt Leissner sei de facto der Ge-     der Firma, noch ihr geschäftlicher Erfolg
schäftsführer und sprach von „unzuläs-      von dem Firmennamen „Kurt Schmidt“
siger Namensleihe“. 43 Dies war jedoch      abhänge, da niemand diese Firma kannte.
mitnichten der Fall: Karl Leissner          Leissner schaffte es mit seinem coura-
übernahm erst 1934 die Geschäftsfüh-        gierten Verhalten, die Geschäfte von 1935
rung, allerdings ohne den Firmennamen       bis 1938 zu führen. Da er polnischer Jude
„Kurt Schmidt“ zu ändern. Da Leissner       war, genoss er im nationalsozialistischen
allerdings ebenfalls kaum Erfahrung in      Deutschland noch einen gewissen Schutz.
der Damenkonfektion besaß, wandten          Dies sollte sich allerdings im Oktober
sich die Geschäfte auch unter seiner        1938 grundlegend ändern, denn Leissner
Leitung nicht ins Positive. Daraufhin       wurde Opfer der sogenannten „Polenak-
übernahm sein Bruder, Max Leissner, im      tion“. Hintergrund waren diplomatische
Dezember 1935 die Firma. Max Leissner       Auseinandersetzungen zwischen Polen
war, wie sein Bruder, polnischer Jude       und Deutschland und die – in erster Linie
mit Wohnsitz in Berlin. Er hatte bereits    antisemitische – Absicht Polens, im
über 15 Jahre Berufserfahrung und           Ausland lebenden Polen die Staatsange-
unter seiner Federführung schrieb das       hörigkeit abzuerkennen. Daraufhin
Unternehmen erstmals schwarze Zahlen.       verhing Heinrich Himmler ein Aufent-
                                            haltsverbot für polnische Juden und
Die „Adefa“ hatte die betrieblichen Ver­-   organisierte eine Gestapo-Aktion, wäh-
änderungen beobachtet und denun-            rend der 17.000 polnische Juden verhaf-
zierte Max Leissner bei der IHK, die        tet, mit Zügen an die deutsch-polnische
ihm daraufhin erneut vorwarf, unter         Grenze verschleppt und über die Grenze
falschem Namen eine Firma zu leiten.        getrieben wurden. 46 Auch Max Leissner
Er wurde daraufhin aufgefordert, seine      wurde deportiert und nach Polen abge-
Firma zu löschen. 44 Max Leissner           schoben. Aus Warschau bevollmächtigte
jedoch setzte das Amtsgericht über seine    Max Leissner dann einen deutschen Treu-
32

händer, die Löschung und die Liquida-            schafter einerseits und ihre Zulieferer
tion der Firma vorzunehmen.                      und Kunden andererseits öffentlich
                                                 zu bedrohen, einzuschüchtern und sie
Über die Ausmaße der Verdrängung                 so zur Aufgabe zu zwingen. Herbert
jüdischer Konfektionshäuser am Haus­             Labandter führte seit 1934 ein Fabrika-
vogteiplatz konstatierte die SoPaDe, die         tionsgeschäft im Erdgeschoss des
Exilorganisation der Sozialdemokrati-            Hauses Mohrenstraße 37 a, das er am 7.
schen Partei Deutschlands, dass zum              Juli 1934 feierlich eröffnete. 49 Laband-
„1.April [1938] (...) etwa 40 der größten        ter war spezialisiert auf die Herstellung
Berliner Konfektionsfirmen die Schließ-          und den Vertrieb von schwarzen Trau-
ung ihrer Betriebe oder die Überführung          erkleidern und Brautkleidern. 50 Hier-
in arische Hände beschlossen (...)“ hatten! 47   von erhoffte sich der Konfektionär
In ihren Stimmungsberich­ten berichtete          vermutlich einen konstanten Absatz,
die SoPaDe über die aggressive Politik           der keine saisonal bedingten Einschrän-
der „Adefa“ am Hausvogteiplatz.                  kungen in sich barg. Obwohl die Be-
                                                 hauptung des „Stürmer“ nicht stichhal-
Bereits im Januar 1938 war ein Hetzarti-         tig war, trat offenbar der beabsichtigte
kel in der antisemitischen Wochenzeitung         Effekt ein. Die Firma Labandter wurde
„Der Stürmer“ erschienen, der Stimmung           noch im gleichen Jahr unter unbekann-
gegen jüdische Bekleidungsfirmen ma-             ten Umständen liquidiert.
chen sollte. 48 Der Artikel führte die
Firmennamen und Anschriften von 21               Ernst Loepert
Berliner Damenbekleidungsfirmen auf,
die angeblich erst 1938 gegründet wur-           Ernst Loepert, dessen gleichnamige Firma
den. Dazu zählten auch die Firmen                ebenfalls aufgelistet wurde, befand sich
„Herbert Labandter“ in der Mohrenstra-           zum Zeitpunkt der Veröffentlichung gar
ße 37 a, „Ernst Nußbaum“ in der Mohren-          nicht mehr in Deutschland. Er war unter
straße 36 / 37 sowie „Ernst Loepert“ in der      Zurücklassung seines Geschäftes im
Kronenstraße 45. Die Eintragungsdaten            Februar 1938 nach Manchester / England
im Berliner Handelsregister beweisen             emigriert. 51 Loepert, Jahrgang 1895, war
jedoch, dass keine dieser Firmen erst            vor der Firmengründung als Reisender in
1938, sondern zwischen 1934 und 1936             der Mädchenkonfektion tätig. Mit einem
gegründet wurden. Die Behauptung im              Eigenkapital von 10.000 RM gründete er
„Stürmer“ war schlichtweg eine Lüge und          seine eigene Firma am 1. Januar 1933,
hatte die Funktion, die jüdischen Gesell-        nur wenige Wochen vor der Machtüber-
33

                                            Vollmacht Max Leissner, Warschau 22. November 1938
                                            Von Warschau aus bevollmächtigte Max Leissner einen
                                            deutschen Treuhänder, die Liquidation und Löschung seiner
                                            Firma vorzunehmen.

                                            Landesarchiv Berlin, A Rep. 342-02, 43467.

                                            Antisemitische Hetze
                    Im Januar 1938 erschien ein Hetzartikel in der
       antisemitischen Wochenzeitung „Der Stürmer“ mit falschen
                Behauptungen gegen jüdische Bekleidungsfirmen.

                           Artikel aus „Der Stürmer“, Januar 1938.

nahme durch die Nationalsozialisten.                   Um Betriebe hinsichtlich ihrer Existenz
In der Kronenstraße 36 mietete Loepert                 und wirtschaftlichen Lage zu überprü-
150 qm große Betriebsräume für eine                    fen, schrieb die Berliner Industrie- und
monatliche Miete von 250 RM an. Sie                    Handelskammer seit Herbst 1937 jedes
umfassten je einen Verkaufs-, Büro-,                   handelsgerichtlich gemeldete Unterneh-
Einrichtungs- und Packraum. Ange-                      men an. Dieses Prozedere sollte der
stellt waren ein „kaufmännisches                       Aktualisierung des Handelsregisters
Lehrmädchen“ sowie ein Konfek­tio­när                  dienen. Erhielt die IHK keine Antwort,
und ein Hausdiener. Bis zu 15 Zwi-                     beantragte sie die Löschung der Firma
schenmeister erhielten Aufträge von                    aus dem Handelsregister und veröffent-
Loepert, die sie außer Haus in ihren                   lichte die vorgesehene Löschung, ver-
Werkstätten anfertigen ließen. 52                      sehen mit einer Löschungsfrist von drei
34

                                    Brief des Amtsgerichts an den Polizeipräsidenten,
                                    19. Juni 1939
                                    Auf Anfrage der Beamten, die das Handelsregister
                                    führten, ermittelte das Meldeamt des Polizei-
                                    präsidenten, dass John Feige „am 28.5.38 nach
                                    London abgemeldet“ war.

                                    Landesarchiv Berlin, A Rep. 342-02, 37773.

Monaten. 53 Überdies wurde die aktu-        wurde Ernst Loepert durch das Amts-
elle Anschrift beim Einwohnermelde-         gericht zur Löschung aufgefordert.
amt erfragt. Vor diesem Hintergrund         Jedoch befand Loepert sich bereits in
wandte sich die IHK am 12. November         Manchester / England, wie es das
1938 an das Amtsgericht, um die             Einwohnermeldeamt Berlin dem
Löschung der Firma „Ernst Loepert“          Amtsgericht mitteilte. 55
aus dem Handelsregister zu beantra-
gen, denn die Überprüfung habe              Durch die „Dritte Verordnung zum
ergeben, dass der Betrieb „seit Jahren      Reichsbürgergesetz“ vom 14. Juni 1938
eingestellt“ sei. 54                        wurde schließlich offiziell festgelegt,
                                            wann ein Unternehmen als jüdisch
Dieser bürokratische Routinevorgang         zu betrachten sei: Sobald mindestens
wirkt im Kontext der jüdischen Konfek-      ein Inhaber, Gesellschafter oder
tionsbetriebe am Hausvogteiplatz            Kapitaleigner als Jude nach den „Nürn-
makaber, da am 12. November 1938            berger Gesetzen“ von 1935 galt. 56
die gewaltsamen antisemitischen             Gleichzeitig konnten nun auf eine
Ausschreitungen in Berlin noch immer        Anord­nung des Polizeipräsidenten hin
nicht völlig beendet und die Betriebs-      jüdische Gewerbebetriebe in Berlin
räume der jüdischen Firmen am               gekennzeichnet werden. 57 Die Flut an
Hausvogteiplatz ausgeplündert und           Verordnungen und die Konkurrenz
zerstört waren. Wenige Tage später          durch „Adefa“-Mitglieder, deren liqui-
35

                                                        Bescheinigung Karl Stier,
                                                        31. Dezember 1957
                                                        Für das Entschädigungsverfahren
                                                        bestätigte der Frankfurter Kauf-
                                                        mann, welchen ausgezeichneten
                                                        Ruf die Firma Brüder Feige
                                                        genoss. Ihre Mäntel waren von
                                                        solcher Qualität, dass „gleichwerti-
                                                        ger Ersatz“ nicht zu finden war.

                                                        LABO Berlin, Entschädigungsakte,
                                                        Reg.-Nr. 50555 (John Feige), K 17 f.

de Mittel schier unendlich waren,          Entsprechend gehörten sie zu den weni-
führten auf dem Areal zwischen der         gen Häusern, die nach 1933 mit Geneh-
Mohren-, Kronen- und Jerusalemer           migung des Reichwirtschaftsministe-
Straße dazu, dass bereits vor dem          riums eine Niederlassung in London
Novemberpogrom 1938 sechs jüdische         aufbauen konnten. Doch litten die
Konfektionsunternehmen aufgelöst           Brüder ab 1934 darunter, dass die
wurden. 58                                 Nationalsozialistische Betriebszelle in
                                           ihrem Betrieb gegen sie hetzte. Immer
Ebenso vor dem Novemberpogrom              häufiger lösten auch alte Kunden ihre
emigrierten die Brüder Feige, deren        Geschäftsbeziehungen. Als die Brüder
Firmensitz sich in der Mohrenstraße        Feige persönlich von der Gestapo
36 / 37 befand. Die Brüder Alfred, Erich   vorgeladen und bedroht worden waren,
und John Feige kamen nach dem              entschlossen sie sich im Frühjahr 1938
Ersten Weltkrieg aus Ostpreußen nach       zur Flucht nach London. In der Folge
Berlin und gründeten hier 1926 unter       trat ihre Firma in Liquidation und
ihrem Namen eine Damenmäntel­              wurde im April 1940 aus dem Handels-
fabrik. Der Ruf der Firma war so bedeu-    register gelöscht. Die erheblichen
tend, dass sie keine Vertreter zu be-      Außenstände und Guthaben der Firma
schäftigen brauchten. War eine             und ihrer Gesellschafter wurden zur
Kollektion fertig gestellt, strömten die   Begleichung von willkürlich konstruier-
Kunden in die Mohrenstraße. 59             ten Steuerschulden eingezogen. 60
Der Novemberpogrom
   (1938)

„Eine Gruppe von zehn bis elf Mann drang, mit langen Eisenstangen und Beilen
bewaffnet, in die Engros-Geschäfte ein, um dort alles, aber auch alles, was es
nur zu zerstören gab, in Trümmer zu schlagen. (...) Kleider, Pelze, Schreibmaschinen,
Lampen, Garderobenständer, ja sogar Blumentöpfe aus den großen Verkaufsräumen
wurden auf die Straße geworfen. Die gesamten Buchhaltungen, Arbeitszettel und
Kartotheken flogen auf die Straße. (...) Unten sorgten Antreiber und Aufpasser dafür,
dass die Straße frei war.“ 61

So beschrieb eine Passantin, was sie          der Wilhelmstraße ein, dem heutigen
während des mehrtägigen Pogroms im            Dienstsitz des Bundesfinanzministe-
Berliner Konfektionsviertel gesehen           riums, um die Konsequenzen des Pog-
hatte. Es war nicht das erste Mal, dass       roms zu besprechen. Eine Folge war die
das Konfektionsviertel, ein als „jüdisch“     „Verordnung zur Ausschaltung der
stigmatisierter Ort, von gewaltbereiten       Juden aus dem deutschen Wirtschafts-
Antisemiten aufgesucht wurde.                 leben“, die die Schließung von jüdischen
Jedoch bildete der Novemberpogrom             Einzelhandelsunternehmen, Hand-
den Höhepunkt der Gewalt gegen die            werksbetrieben und Genossenschaften
jüdischen Gewerbetreibenden am                zum 1. Januar 1939 vorsah. 62 Nur wenige
Hausvogteiplatz. Viele der Geschäfte,         Wochen später, am 3. Dezember 1938,
die es noch gab, wurden vor aller Augen       sollten jüdische Unternehmer mit der
bei Tageslicht zerstört.                      „Verordnung über den Einsatz jüdischen
                                              Vermögens“ gezwungen werden, ihre
Nach den Gewaltexzessen berief Her-           Gewerbebetriebe zu veräußern oder
mann Göring, Preußischer Minister-            abzuwickeln. 63
präsident und Leiter der Vierjahresplan-
behörde, am 12. November 1938 etliche         Noch in den Wintermonaten des Jahres
NS-Institutionen, Wirtschafts- und            1938 und 1939 wurden 17 jüdische
Versicherungsvertreter zu einer Konfe-        Konfektionsunternehmen auf dem
renz im Reichsluftfahrtministerium in         heutigen Areal des BMJV liquidiert und
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Pogrom
In Amsterdam und London sammelten der aus Deutschland geflüchtete Alfred Wiener und sein
Team systematisch Informationen aus dem Deutschen Reich, um die Welt über das Schicksal der
Juden aufzuklären. Der Bericht der unbekannten Dame ist Teil dieser Sammlung.

Wiener Library London, Bericht, o. D. 046-EA-0450. Books. B.161.

zwei weitere Firmen in den Besitz von                     der Mohrenstraße 36 und ab 1938 in der
Nicht-Juden überführt. Im Jahr 1940                       Kronenstraße 42/43. 65 Gesellschafter
wurden weitere neun Bekleidungsfirmen                     waren Louis Schlachter und Bruno Wolf,
liquidiert, eine wurde übernommen. 64                     die sich vor allem auf den Export von
                                                          Damenkleidung konzentrierten, wes-
Wolf & Schlachter                                         halb ihre Umsätze auch nach der Macht-
                                                          übernahme der Nationalsozialisten
Die 1919 gegründete Firma „Wolf &                         nicht einbrachen. Im Dezember 1935
Schlachter“ gehörte zu jenen Konfek-                      teilte die Industrie- und Handelskam-
tionsunternehmen, die direkt nach dem                     mer dem Amtsgericht im Zuge einer
Novemberpogrom in den Besitz von                          Betriebsprüfung einen Jahresumsatz
Nicht-Juden überführt wurden. Die                         von rund 1 Million RM sowie die Be-
Betriebsräume des Unternehmens                            schäftigung von über 20 Arbeitnehmern
befanden sich ursprünglich in der                         mit. 66 Louis Wolf emigrierte dennoch
Jerusalemer Straße 21, seit Juli 1933 in                  1935 nach Paris und bevollmächtigte
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Das Foto zeigt die Belegschaft der Konfektionsfirma „Wolf & Schlachter“ in der Mohrenstraße 36 / 37.
Im Hintergrund sind die konfektionsmässig hergestellten Damenmäntel auf Kleiderstangen zu
erkennen. Berlin ca. 1918–1920.

Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Peter Sinclair.

Bruno Schlachter, Gesellschafter der Firma „Wolf & Schlachter“ ca. 1935
mit Besuchern in seinem Büro in der Mohrenstraße.

Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Peter Sinclair.
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Georg Zahl, der Käufer der etablierten und exportstarken jüdischen Damenmäntelfabrik „Wolf & Schlachter“,
ließ für die Übergangszeit Briefpapier drucken, auf dessen Briefkopf sowohl der alte, als auch der neue
Firmenname zu lesen war.

Landesarchiv Berlin, A Rep. 342-02, 14736, Bl. 70.

seinen Kompagnon Bruno Schlachter,                       Unternehmen vom nationalsozialisti-
alle Entscheidungen in seinem Namen                      schen Gauwirtschaftsberater Heinrich
zu treffen. Schlachter blieb in Berlin und               Hunke prüfen, der als besonders radi-
erlebte nach und nach seine eigene                       kal galt, trotzdem aber nach dem Krieg
Entmachtung als Geschäftsführer.                         seine Karriere im niedersächsischen
Zunächst ernannte er einen seiner nicht-                 Finanzministerium fortsetzen konnte. 68
jüdischen Angestellten zum Treuhänder                    Ebenfalls geprüft wurden der potentielle
der Firma, wie es seinerzeit viele jüdische              Käufer, besonders das fachmännische
Unternehmen tun mussten. Dieser                          Wissen, die Höhe des Eigenkapitals,
wurde schließlich 1938 durch den                         aber auch die nationalsozialistische
Berliner „Reichstreuhänder der Arbeit“                   Linientreue standen dabei im Vorder-
als „Betriebsführer“ eingesetzt. 67                      grund. Am 23. November 1938 wurde
Nach dem Pogrom blieb Schlachter keine                   der Kaufvertrag zwischen den Gesell-
andere Möglichkeit mehr, als sein Unter-                 schaftern der oHG „Wolf & Schlachter“
nehmen zu veräußern.                                     und dem Kaufmann Georg Zahl abge-
                                                         schlossen. Bruno Schlachter und seine
Der Erwerb eines jüdischen Unterneh-                     Kollegen mussten sich darin verpflich-
mens durch einen Nicht-Juden musste                      ten, Georg Zahl einzuarbeiten und
zunächst beim Berliner Polizeipräsiden-                  bezüglich der Exportgeschäfte beratend
ten beantragt werden. Dieser ließ das                    zur Seite zu stehen. 69
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