Ökonomien des Sterbens - Tagungsdokumentation - Mit dem Sterben leben eV

Die Seite wird erstellt Armin Dietz
 
WEITER LESEN
Ökonomien des Sterbens - Tagungsdokumentation - Mit dem Sterben leben eV
Ökonomien des Sterbens –
Tagungsdokumentation

Mit dem Sterben leben e.V.
Ökonomien des Sterbens - Tagungsdokumentation - Mit dem Sterben leben eV
OMEGA – Mit dem Sterben leben e.V.

Bundesgeschäftsstelle
Dickampstr. 12 · 45879 Gelsenkirchen
Tel.: 0209 – 91 328 22/21
info@omega-ev.de · www.omega-ev.de

Mitglied im:

BioSkop e.V.

Bochumer Landstr. 144a · 45276 Essen
Tel.: 0201 – 53 66 706
info@bioskop-forum.de
www.bioskop-forum.de
Ökonomien des Sterbens - Tagungsdokumentation - Mit dem Sterben leben eV
Seite 3 · Ökonomien des Sterbens – Tagungsdokumentation

Inhalt

Ökonomien des Sterbens – Tagung 15.11.2014.................................................................................... 4

Programm................................................................................................................................................... 5

Begrüßung und Einleitung Erika Feyerabend.................................................................................... 6

„Autonomie am Lebensende?“ Spurensuche zum kulturprägenden Ideal.............................. 10

Diskussion zum Vortrag von Stefanie Gräfe mit Erika Feyerabend............................................ 19

„Die Bedeutung von Selbsttötungen in der deutschen Altenhilfe“............................................. 24

Diskussion zum Vortrag mit Bodo de Vries...................................................................................... 37

„Was brauchen Menschen in ihrer letzten Lebensphase?“............................................................ 41

Diskussion über den Vortrag mit Andreas Heller........................................................................... 53

Neoliberalismus und die Reorganisation der Care-Ökonomie, Mascha Madörin.................. 56
Ökonomien des Sterbens - Tagungsdokumentation - Mit dem Sterben leben eV
Seite 4 · Ökonomien des Sterbens – Tagungsdokumentation

Ökonomien des Sterbens – Tagung 15.11.2014

Sterben ist heutzutage ein öffentliches und     beängstigend. Diese materiellen Lebens
ein politisches Thema. Allerdings nicht nur     und Sterbebedingungen gelten nicht selten
in der Weise, wie es sich die Hospizbewe-       als „unabänderlich“, obwohl sie politisch
gung seit Jahrzehnten wünscht: Wie können       und gesellschaftlich zu verändern wären.
schwerstkranke und sterbende Menschen,          All das sind wenig beachtete Motive, die
ihre Angehörigen und ihr Freundeskreis gut      verschiedene Dienstleistungsangebote, die
begleitet werden? Welcher gesellschaftlichen    das „schnelle Sterben“ unter Vermeidung
Anstrengungen bedarf es, um Sterben unab-       von langer Pflegebedürftigkeit als eine Art
hängig von Herkunft, sozialer Stellung und      privater Lösung plausibel machen. Die ge-
Geld­beutel erträglich zu gestalten?            sundheits- und sozialpolitischen Unverant-
                                                wortlichkeiten bleiben unberücksichtigt.
Ähnlich wie in anderen Lebensbereichen
auch, sollen Vorsorge, Planung, Dienstleis-     Das wollen wir im Rahmen dieser Veran-
tung die allzu menschlichen Befürchtungen       staltung ändern und die „Ökonomien des
zähmen. Der Wunsch, den eigenen Körper          Sterbens“ zum Thema machen. Wie wird
kontrollieren, den Alltag mit schwerer          öffentlich über die verschiedenen Varianten
Pflegebedürftigkeit vermeiden oder im Griff     der Sterbehilfe gesprochen? Und was wird
behalten zu können, wird zumindest in den       verschwiegen? Wie denken Ökonomen über
durch Medien vermittelten Expertengesprä-       die Pflege nach? Und wie kann die Versor-
chen und politischen Debatten auf gefähr-       gung Schwerstkranker und Sterbender unter
liche Bahnen gelenkt. Ärztliche Beihilfe zur    passablen Arbeits- und Lebensbedingungen
Selbsttötung und der tödliche Behandlungs-      organisiert und bezahlt werden? Was brau-
abbruch via Patientenverfügung oder die         chen Menschen an Zuspruch und sozialer
„aktive Sterbehilfe“ als nachfragbare Dienst-   Absicherung am Lebensende?
leistung stehen auf der Agenda.
                                                Ort:
„Selbstbestimmung bis zuletzt“ lautet das       UNESCO Welterbe Zollverein, Gelsen­
Versprechen. Viel wird auch über eine „Ap-      kirchener Str. 181, 45309 Essen Zollverein
paratemedizin“ gesprochen, die das Sterben
nicht mehr zulassen könne. Sehr wenig über      Eine gemeinsame Veranstaltung von:
soziale Sicherungssysteme, die immer mehr       OMEGA – Mit dem Sterben leben e.V.,
Menschen im Alter und Krankheit unzurei-        Gelsenkirchen
chend absichert. Kranksein macht arm, es
gefährdet das kleine Erbe für die Angehöri-     BioSkop – Forum zur Beobachtung der
gen, überfordert Familien – vor allem Frauen    Biowissenschaften, Essen
–, die sich gute Pflegebedingungen nicht
leisten können und ist mit                      Bildungswerk der Humanistischen
der Perspektive auf spärliche Renten sehr       Union NRW e.V., Essen
Ökonomien des Sterbens - Tagungsdokumentation - Mit dem Sterben leben eV
Seite 5

Programm

9.30 Uhr Begrüßung und Vorstellung            Fakultät der Universität Klagenfurt in
des Programms                                 Wien und mit Reimer Gronemeyer Autor
                                              des Buches „In Ruhe sterben. Was wir uns
10.00 Uhr „Autonomie am Lebensende?“          wünschen und was die moderne Medizin
Spurensuche zum kulturprägenden               nicht leisten kann“
Sterbeideal
Die Soziologin Stefanie Graefe (Universität   16.30 Uhr „Finanzierung der Pflege –
Jena) beschäftigt sich mit der Diskurs-       Heraus­forderungen für das
ökonomie des Sterbens, also der Art und       ökonomische Denken“
Weise, wie über das Lebensende verhan-        Mascha Madörin, feministische Wirtschafts-
delt wird                                     wissenschaftlerin aus Basel, erklärt, wie
                                              Ökonomen Pflege denken, wie Tarife und
11.45 Uhr „Die Bedeutung von Selbsttö­        Versicherungssysteme heute die Pflege-
tungen in der deutschen Altenhilfe“           prozesse strukturieren und welche Debat-
Daten, Fakten und Schlussfolgerungen          ten zur Finanzierung von Pflege dringend
aus der Versorgungspraxis in Altenhei-        neu geführt werden müssten
men. Bodo de Vries, Sozialwissenschaftler
und Vorstand im Ev. Johanneswerk              Moderation: Erika Feyerabend
                                              (Sozialwissen­-schaft­lerin, BioSkop e.V.)
14.30 Uhr „Was brauchen Menschen in
ihrer letzten Lebensphase?“                   18.30 Uhr Führung durch das Weltkultur­
Andreas Heller, Professor für Palliative      erbe Zeche Zollverein
Care und Organisationsethik an der IFF
Ökonomien des Sterbens - Tagungsdokumentation - Mit dem Sterben leben eV
Seite 6 · Ökonomien des Sterbens – Tagungsdokumentation

Begrüßung und Einleitung Erika Feyerabend

Wir sind sehr erfreut, dass Sie in              einen Sterbehilfetourismus in die Schweiz
so großer Zahl gekommen sind                    gibt, organisiert über die Schweizer Ver-
und begrüßen Sie herzlich.                      einigung Dignitas. Eine deutsche Depen-
                                                dance gibt es in Hannover. Dieser spezielle
So aktuell wie heute waren wir mit unseren      Grenzverkehr hat sich laut einer britischen
bisher gemeinsam veranstalteten Tagungen        Studie zwischen 2008-2012 verdoppelt.
noch nie. Am 13.11.2014 wurden im Deut-         268 deutsche Bürgerinnen sollen in die-
schen Bundestag so genannte Orientierungs-      sem Zeitraum die Dienste von Dignitas
gespräche zum Thema „Sterbehilfe“ geführt.      in Anspruch genommen haben. Ob eine
Im Herbst nächsten Jahres ist ein Gesetz        so „organisierte Sterbehilfe“ in Deutsch-
geplant, dass die ärztliche, organisierte,      land ausdrücklich erlaubt oder verboten
gewerbliche Beihilfe zum Suizid regeln          werden soll, ist umstritten. Renate Künast
soll. Wir haben also Zeit, uns Gedanken zu      von der Partei Bündnis 90/Die Grünen
machen, Positionen zu beziehen und die öf-      favorisiert ein solches Angebot. Gesund-
fentliche Diskussion mitzugestalten. Leider     heitsminister Hermann Gröhe (CDU) hat
gibt es auch eine unerwartete, persönliche      sich für ein Verbot der gewerblichen wie
Aktualität. Der Bruder von Stefanie Gräfe ist   auch einer organisierten Sterbehilfe nach
heute Nacht gestorben. Ich werde deshalb        dem Schweizer Modell ausgesprochen. Der
den Vortrag von Stefanie Gräfe stellvertre-     SPD-Abgeordnete Karl Lauterbach hält –
tend vortragen. Für heute haben wir uns         wie sein CDU-Kollege Peter Hintze – ein
vorgenommen, die sozialpolitischen Freistel-    striktes Verbot der Sterbehilfe für nicht
len in dieser Diskussion zum Thema zu ma-       mehr zeitgemäß. Sie und weitere Abge-
chen. In den meisten Debatten spielt genau      ordnete sprechen sich ausschließlich für
das nur eine sehr untergeordnete Rolle.         die ärztliche Beihilfe zum Suizid aus – und
                                                gegen Sterbehilfeverbände. Angekündigt
Anlass – nicht Ursache – der beginnenden        sind vier Gesetzesentwürfe, die noch nicht
parlamentarischen Debatte dürften zum           vorliegen, aber in diesem Spektrum zu
einen die Aktivitäten von Roger Kusch           verorten sein dürften.
(Ex-Justizsenator in Hamburg) sein. Er bot
eine Art gewerblicher Beihilfe zum Suizid       Einen außerparlamentarischen Vorschlag
mit seinem Verein SterbeHilfeDeutschland        gibt es schon von dem Palliativmediziner
e.V an und hält sich derzeit in der Schweiz     Gian Domenico Borasio, den Medizinethi-
auf. Kusch nahm in einigen Fällen persön-       kern Ralf Jox und Urban Wiesing sowie dem
lich Honorare von bis zu 6.500 Euro für         Medizinrechtler Jochen Taupitz. Da­nach soll
seine Dienste entgegen.                         die Beihilfe verboten werden, um organisier-
                                                te und gewerbliche Initiativen zu vermeiden.
Es gibt einen breiten Konsens, dass die-        In Ausnahmefällen – ein recht interpretati-
se gewerbliche Suizidbeihilfe verboten          onsoffener Begriff – soll Beihilfe nach not-
werden soll. Tatsache ist aber auch, dass es    gedrungen vagen medizinischen Kriterien
Seite 7

und vernünftig begründeter Nachfrage               nur in einem einzigen Fall eine Geldbuße
von Sterbewilligen aber exklusiv für Ärzte         verhängt. Die Frage ist berechtigt, warum so
eindeutig straffrei sein. Das würde bedeuten:      viel Aufregung um die wenige Ausnahme-
Ärztliche Beihilfe wird zu einer Dienstleis-       handlungen am Lebensende erzeugt wird.
tung, die auch in der Gebührenordnung be-          Ich befürchte, dass es eben keine Ausnah-
rücksichtigt werden müsste. Sozialpolitische       me sondern eine Regel, eine nachfragbare
Bedenken, schlechte Pflegebedingungen,             Dienstleistung von Ärzten werden soll. Ob
Ökonomisierung des Gesundheitswesens               sich das juristisch umsetzt ist fraglich. Aber
und die Rede von Ressourcenknappheit               das wird sich auch in den Debatten der
finden hier keine Erwähnung. Ob es dafür           nächsten Monate entscheiden.
parlamentarische Mehrheiten gibt ist unklar.
Was derzeit parlamentarisch niemand will           Diese Auseinandersetzungen werden nicht
und auch unter der geltenden Gesetzgebung          unerheblich in den Medien geführt und sie
nicht möglich ist, das ist die strafrechtliche     werden von einer relativ kleinen Gruppe
Verfolgung Beihilfe leistender Ärzte. Denn:        in nicht unerheblichem Maße geprägt. Es
Diese Beihilfe ist auch heute strafrechtlich       gibt Umfragen, deren konkrete Umstände
nicht verboten. Aber: Sie ist nicht die Regel      in der Regel keine Erwähnung finden, in
sondern die Ausnahme. Es gibt Unsicherhei-         denen sich aber Mehrheiten innerhalb der
ten, ob ein Arzt bei diesen Handlungen mit         Bevölkerung für eine solche Dienstleistung
dem Arzneimittelrecht in Konflikt gerät und        abbilden würden – dargeboten als eine
seine „Garantenpflicht“ verletzt. Ich meine,       Möglichkeit bei schwerer und aussichts-
diese verbliebenen Unsicherheiten sind eine        loser Krankheit „selbstbestimmt“ und
Art „Garant“ dafür, dass es wirklich Ausnah-       „würdig“ sterben zu können. Sicher denken
men bleiben. Denn der oder die Handelnde           viele Bürger/innen so. Sie werden in den
muss sich u.U. persönlich verantworten und         gerade laufenden öffentlichen Unterhaltun-
überlegt genau, was vertretbar ist. Berufs-        gen bestärkt und medizinethisch unter-
ethisch ist die „Mitwirkung des Arztes bei         füttert von einigen Medizinethiker/innen
der Selbsttötung keine ärztliche Aufgabe“.         (wie die Professorin Bettina Schöne-Seifert
Berufsrechtlich ist das in einigen Bundes-         beispielsweise), den erwähnten Autoren des
ländern ebenso bewertet – in anderen nicht.        außerparlamentarischen Gesetzentwurfes
Auch der drohende Entzug der Approbati-            sowie weiteren Medizinjuristen, Sterbehilfe-
on ist unwahrscheinlich. Prinzipiell ist ein       verbänden wie der Deutschen Gesellschaft
solcher Entzug als härteste Sanktion wegen         für Humanes Sterben oder dem Humanisti-
Verstößen gegen ärztliche Berufspflich-            schen Verband Deutschlands. Auch Medizi-
ten möglich. Aber nicht die Ärztekammer            ner wie Michael de Ridder oder Uwe Chris-
sondern nur die zuständige Gesundheitsbe-          tian Arnold bestärken diese Haltung mit
hörde kann das machen und dafür bedarf es          der Autorität ihres Berufsstandes. Letzterer
eines Verstoßes gegen strafrechtliche Vor-         hat öffentlich erklärt, 200 Menschen Beihilfe
schriften. Da aber auch der ärztliche assis-       geleistet zu haben und sucht per Anzeige
tierte Suizid nicht strafbar ist, ist auch diese   in der Ärztezeitung gerade Kollegen, die es
Sanktion nicht möglich. Und berufsrechtlich        ihm gleich tun. Juristische Konsequenzen
wurde bislang wegen einer solchen Beihilfe         sind nicht zu beobachten. Arnold ist
Seite 8 · Ökonomien des Sterbens – Tagungsdokumentation

2. Vorsitzender von Dignitate, einer Toch-       unterstützen, die weder unerträglich leiden
terorganisation der Schweizer Dignitas, die      noch aussichtslos krank sind. Das wäre der
„Freitodbeihilfe“ anbietet.                      vorläufige Endpunkt einer Entwicklung, in
                                                 der Begriffe wie „Würde“ und „Selbstbe-
Mittlerweile gibt es in den Medien auch          stimmung“ nur noch in Bezug auf sich selbst
Stimmen, die sich offensiv für die „aktive       und eine vermeintlich unabhängige Selbst-
Sterbehilfe“ durch Gift und die Hand des         be- bzw. entwertung verstanden wird. Diese
Arztes aussprechen. Das wird sich gesetzlich     Entwertungsbereitschaft folgt aber ganz und
aller Voraussicht nach nicht niederschlagen,     gar den gesellschaftlichen Normen, die nicht-
aber sich ins öffentliche Bewusstsein ein-       produktive und hilfe­bedürftige Lebensver-
schreiben. So werden die Sagbarkeitsgrenzen      läufe auf vielerlei Weise diskreditieren.
peu à peu verschoben. Genau das ist auf
lange Sicht gefährlich – für Menschen mit Be-    Es ist weder leicht zu sterben, noch sich
hinderung und Pflegebedarf. Wir beobachten       mit der konkreten (und nicht allgemein
in der Debatte um Patientenverfügungen seit      an irgendeinem Sankt Nimmerleinstag
Jahren, wie der Begriff des „würdigen und        eintretenden) Sterblichkeit zu arrangieren.
selbstbestimmten Sterbens“ verengt wird          Kontrollverluste über den eigenen Körper
auf die Entscheidung gegen medizinische          sind schmerzlich und schwer auszuhalten.
Behandlungen. Ein sozial gestaltetes Lebens-     Besonders in einer Gesellschaft, die unter
ende mit ausreichender und guter pflege-         ständigem Selbstoptimierungsdruck, Pro-
rischer Versorgung auch für Menschen mit         duktivitäts- und Leistungswahn steht,
schmalem Geldbeutel und wenig Möglich-           in der weder Unverfügbares zulassen wer-
keiten, sich erleichternde therapeutische Hil-   den kann, noch die Erfahrung des Nicht-
fen und Begleitungen privat hinzu kaufen zu      Verstehens oder Nicht-Wissens, gibt es
können, kommt in den Formularen und der          keine positive Vorstellung oder Landkarte
begleitenden Ratgeberliteratur nicht vor. Das    für so etwas wie Langeweile, Stille, Loslas-
schnelle Sterben unter Vermeidung langer         sen, Sein-Lassen, zögern, warten, schlafen,
Pflegezeiten gilt als „würdig“ – wenn man        faul sein und auch sterben – der ewige
die erwähnten Texte studiert auch als „mu-       Schlaf eben. Insofern sind Angebote, auch
tig“. Wir beobachten in den Niederlanden         das Sterben oder schwer kranksein zu opti-
oder Belgien, wie sich nach der Legalisierung    mieren, mit anerkannten Sinnkategorien zu
der so genannten „Tötung auf Verlangen“          belegen, äußerst attraktiv. Das kann ich sehr
– also vernunftbegabter, äußerungsfähiger        gut verstehen – mir geht es oft ebenso.
Kranker – die schiefe Ebene in Richtung
„Tötung ohne Verlangen“ geneigt hat.             Aber ist das auch wünschenswert? Uns geht
Patienten im Koma, dementiell veränderte         es heute nicht um moralische Bewertungen,
Menschen, schwer behinderte Neugebore-           einfache, machbare Lösungen. Wir möchten
ne, Psychiatriepatienten, auch sie werden        uns lieber mal gemeinsam mit anderen in
zunehmend straffrei getötet. In den Nieder-      einen Denk-Raum begeben oder wie der
landen fordert die Niederländische Vereini-      wunderbare Philosoph Roland Barthes mal
gung für freiwilliges Leben, alte, lebensmüde    schrieb, uns „marinieren“ im Nicht-Verste-
Menschen auf Wunsch bei einem Suizid zu          hen, um mal andere, ungewohnte Blicke zu
Seite 9

zulassen und zu ermöglichen.                     soll, als Professor für Palliative Care und
                                                 Organisationsethik an der Universität
· Zum Beispiel auf die Art und Weise wie        Klagenfurt. Kritische Seitenblicke auch
 über Sterben, vor allem über „Auto­nomie        auf die Hospizbewegung und die Pallia-
 am Lebensende“ gesprochen wird. Dabei           tivversorgung sind dabei unvermeidlich.
 werden uns die Überlegungen der Sozio-
 login Stefanie Graefe von der Universität      Es wird gerade enorm viel über ambulan-
 Jena hilfreich sein.                           te Hospizversorgung, Palliativpflege und
                                                Palliativmedizin gesprochen. Viele meinen,
Das schöne Bild vom marinierenden Nicht-        wenn diese Strukturen weiter gefördert und
Verstehen bedeutet nicht, sich von jeder        ausgebaut werden, würde sich das Verlan-
Realität fern zu halten. Es lädt nur mal ein,   gen nach Sterbehilfe von alleine legen. Ich
sich dessen „Wert“ zu überlegen. Was das        halte das für einen Trugschluss, weil wir es
eigene Sterben anbelangt, kann das ja auch      bei diesem Verlangen auch mit den Wirkun-
sehr entlastend sein. Es lädt dazu ein, sich    gen der vorhin erwähnten Gesellschaft des
von den gewohnten, stereotypen Trampel-         Optimierens, des Selbstbestimmungs- und
pfaden der Beschreibung gesellschaftlicher      Produktivitätswahns zu tun haben, der
Wirklichkeit zu entfernen. In unserem Fall      Kaufbarkeit und Verdienstleistung von
aus einer anderen Perspektive die Zeit vor      allem und jedem, auch von Lösungen für
dem Sterben im Alter und Pflegebedürftig-       Lebens­krisen. Und, weil dieses Verlangen
keit genauer unter die Lupe zu nehmen.          sich nicht nur aus der Angst vorm Sterben
                                                speist, sondern berechtigterweise vor Alters-
· Zum Beispiel die Verhältnisse und das        armut, vor schlechten Pflegebedingungen,
 Verhalten von alten Menschen in Ein­           vor übergriffigen Institutionen, vor einer
 richtungen der Altenhilfe anzusehen. Der       Pflegeökonomie, die nach dem Modell der
 Sozialwissenschaftler Bodo de Vries ist in     Güterproduktion entworfen ist.
 seiner Funktion als Vorstand im Ev. Johan-
 niswerk und mit seinen wissenschaftlichen      · Mascha Madörin aus Basel ist Ökonomin
 Arbeiten zum Suizid dafür prädestiniert.        und schaut ganz anders auf die Organi-
 Ich habe neulich während eines Vortrages        sation von Pflege und die ökonomischen
 einen Satz aufgeschnappt, der mir zu den-       Denkmodelle der dominierenden Wirt-
 ken gibt. „Ich fordere nicht, die Müdigkeit     schaftswissenschaftler. Sie hat eine sehr
 abzuschaffen. Ich möchte dorthin, wo Mü-        lesenswerte Studie zur „Ökonomisierung
 digkeit möglich ist“ (von Maurice Blanchot,     des Gesundheitswesens -Erkundungen aus
 einem gescheiten Journalisten und Philo-        Sicht der Pflege“ geschrieben, die kostenlos
 sophen, der vielleicht das Glück hatte 95       im Internet nachzulesen ist. Auch in diesem
 Jahre alt zu werden und 2003 gestorben ist).    Fall müssen wir uns vom üblichen Denken
 Dieses „dorthin“ gibt es nicht. Wir müssen      und von den vorherrschenden ökono-
 es erfinden und politisch durchsetzen.          mischen Erklärungsmodellen entfernen.
                                                 Einfache Lösungen sind hier nicht in Sicht.
· Andreas Heller beschäftigt sich mit Orten,
 an denen Sterben möglich ist bzw. werden       Aber wir können uns auf den Weg machen.
Seite 10 · Ökonomien des Sterbens – Tagungsdokumentation

„Autonomie am Lebensende?“ Spurensuche zum
kulturprägenden Ideal – Stefanie Graefe

Meine Überlegungen nehmen ihren                  Nach langer Auseinandersetzung und
Ausgangspunkt in einer mehrfa-                   persönlichem Ringen entschließt sich
chen und wiederholten Irritation.                der jeweils andere Partner, dem oder der
                                                 Geliebten den letzten Wunsch zu erfüllen
Laut Wikipedia handelt es sich bei ei-           und hilft ihm/ihr beim Sterben. In Han-
ner Irritation um „einen Reiz oder eine          ekes Film wird uns schon im Titel erklärt,
Erregung, die meist von negativer Bedeu-         wie wir Zuschauer diesen Tötungsakt in-
tung sind“. In offenkundiger klanglicher         terpretieren sollten: eben als Liebe. Gerade
Nähe zu den Wörtern „irr“ und „irren“            dass es sich bei diesen Filmen nicht um
versteht man unter „Irritation“ seit dem         billige Schnulzen handelt, provoziert mei-
19. Jahrhundert die subjektive Erfahrung         ne Fragen: Was wird als Problem präsen-
der Ablenkung, Verunsicherung, Störung           tiert, wer ist dafür verantwortlich, es zu
oder Verwirrung. Darin ist auch enthalten,       lösen – und wie wird es schließlich gelöst?
dass, wer irritiert ist, nicht gewiss ist über   Nicht, dass diese Fragen mit filmischen
das, was sich ihm oder ihr als Realität prä-     Mitteln gestellt werden, irritiert mich, son-
sentiert. Irritation im Sinne einer vorüber-     dern die Einhelligkeit der Antwort. Der
gehenden oder dauerhaften Ungewissheit           Topos vom Tötungs- als Liebesakt gerinnt
tritt deshalb nicht zufällig gerade dort auf,    durch seine immer ähnliche Präsentation
wo Gewissheiten präsentiert werden, wo           zu einer selbstverständlichen und letztlich
Dinge scheinbar klar liegen und der so ge-       eben auch konstruktiven Weise (das Pro-
nannte gesunde Menschenverstand genau            blem wird jeweils gelöst), über Krankheit,
weiß, was zu tun ist.                            Alter und Tod zu erzählen.

Es sind eben jene scheinbar einfachen Ge-        Irritation erlebe ich jedoch nicht nur im
wissheiten, die mich im Zusammenhang             Fiktionalen. Auch die Realität hat davon
mit der „Autonomie am Lebensende“                einiges zu bieten. Wenn etwa das „Bünd-
irritieren. Es irritiert mich, wenn in schö-     nis für Selbstbestimmung bis zum Lebens-
ner Regelmäßigkeit hochklassige Filmpro-         ende“ mit einer Kampagne „Mein Ende
duktionen Geschichten präsentieren, die          gehört mir“ (http://www.mein-­ende-
alle einem ähnlichen Muster folgen – etwa        gehoert-mir.de/) für die Freigabe der
in Michael Hanekes „Liebe“, Amenábars            ärztlichen Beihilfe zum Suizid mobilisiert,
„Das Meer in mir“ oder Taddickens „Em-           so irritiert mich dies in zweifacher Weise.
mas Glück“. Einmal ein jüngeres, einmal          Zum einen frage ich mich, wem das eige-
ein älteres oder bereits hochbetagtes Paar       ne „Ende“ denn sonst gehören soll, wenn
sieht sich vor die Situation gestellt, dass      nicht mir selbst. Zum anderen (und nicht
einen der beiden Partner ein unheilbares         in Widerspruch dazu) frage ich mich,
Leiden ereilt, meist Krebs oder Demenz.          wie mir mein Ende denn wohl „gehören“
Seite 11

kann. Festzustellen, dass meinen eigenen      Regelung so genannter „Patientenver-
Tod nur ich selbst erleben kann, ist banal.   fügungen“ erarbeiten sollte. Der Ge-
Zugleich scheint es mir absurd, einen         setzgebungsprozess zog sich dann noch
Anspruch auf Eigentum am eigenen Tod          eine ganze Weile hin, aber in 2009 wurde
zu formulieren. Vor allem aber frage ich      schließlich das Betreuungsrecht geändert
mich, was eigentlich Selbstbestimmung         und die so genannte Patientenverfügung
im Zusammenhang mit dem Sterben               umfassend legalisiert. Demnach sind ge-
bedeuten kann.                                setzliche Betreuer/innen dazu verpflich-
                                              tet, dafür zu sorgen, dass der in der Pa-
Und schließlich irritiert mich bereits        tientenverfügung artikulierte Wille einer
seit einiger Zeit die auf vielfache Weise     Patientin befolgt wird, sofern diese ihren
kolportierte Rede von der „Autonomie          Willen nicht selbst artikulieren und durch-
am Lebensende“. Mich interessiert, wo sie     setzen kann. Dies gilt auch ausdrücklich
herkommt, wie sie begründet wird und          dann, wenn sich Patienten (noch) nicht
auf welches Problem sie sich als Antwort      im Sterbeprozess befinden. Und es gilt
versteht. Ich verstehe sie – wie bereits im   auch dann, wenn gar keine Patientenver-
Titel des Vortrags angezeigt – als eine Art   fügung vorliegt. In diesem Fall muss die
Spur, als kulturelles Artefakt. Dass „Auto-   Betreuerin gemäß des „mutmaßlichen“
nomie am Lebensende“ gerade jetzt und         Willens des Betreuten entscheiden. Auf
gerade hier, in den nach wie vor im Welt-     diese Weise soll die Patientenverfügung
vergleich unermesslich reichen, zugleich      die Selbstbestimmung bzw. Autonomie
in vielfacher Weise krisengeschüttelten       des Patienten „am Lebensende“ sichern.
Gesellschaften des globalen Nordens zum       Vor allem soll sie Patienten schützen – vor
Gegenstand wissenschaftlicher, medialer       einer „nicht mehr loslassenden Medizin“,
und nicht zuletzt persönlicher Besorgnis      wie es im Bericht der Sachverständigen-
wird, ist m.E. zunächst mal interessant       kommission hieß. Eine Patientenverfü-
und bemerkenswert. Und es ist, wie            gung ermöglicht jedoch vor allem die
ich nun entlang von vier Thesen zeigen        Abwahl medizinischer Behandlung. Sie
möchte, kein Zufall:                          dokumentiert die Einwilligung in den
                                              Therapieabbruch auch für den Fall, dass
1. Die Rede von der „Autonomie                ich diese Einwilligung in der gegebenen
(oder Selbstbestimmung) am Lebens­            Situation selbst nicht mehr teilen kann.
ende“ verhüllt mehr als sie erklärt.          Jeder kann, so das mit der Patientenver-
                                              fügung verbundene Versprechen, seine
Das möchte ich an einem prominenten           je eigenen Vorstellungen vom Sterben
Beispiel zeigen: der Patientenverfügung.      verwirklichen, indem er noch in gesunden
                                              Tagen festlegt, welche Behandlungen er
Unter der Überschrift „Patientenautono-       im Falle einer späteren „Nichteinwilli-
mie am Lebensende“ hatte die damalige         gungsfähigkeit“ ablehnt: Reanimation
Justizministerin Brigitte Zypries im Jahr     oder lieber nicht? Künstliche Beatmung
2003 eine Sachverständigenkommission          oder lieber nicht? Ernährungssonde
eingesetzt, die Vorschläge zur gesetzlichen   oder lieber nicht? Flüssigkeitszufuhr
Seite 12 · Ökonomien des Sterbens – Tagungsdokumentation

oder lieber nicht? Patientenverfügungen     Pflegenden) faktisch stark einschränken.
versprechen die Machbarkeit des selbstbe-   Wie autonom wir als chronisch Kranke,
stimmten Sterbens durch die Möglichkeit     Pflegebedürftige oder Sterbende sind,
der vorausschauenden Abwahl lebenser-       erscheint als Frage der individuellen Wahl
haltender Versorgung und Behandlung.        – und nicht als gesellschaftlicher Prozess
                                            der Aushandlung über die Gestaltung von
Wie autonom ich sterbe, scheint im          Gesundheit und Pflege.
Umkehrschluss also vor allem davon
abzuhängen, wie gut ich bei der Abfas-      Die Frage nach Autonomie berührt darü-
sung meiner Patientenverfügung juris-       ber hinaus eine Grundangst des moder-
tisch beraten worden bin. Autonomie         nen Menschen: beherrscht und unterwor-
wird hier konzipiert als vertragliche       fen zu werden, unfreiwillig von anderen
Be­zieh­ung zwischen Individuum und         abhängig zu sein.
Staat. Grundlage der Patientenverfügung
ist das Idealbild vom Menschen als rati-    Das ist natürlich gerade im Zusammen-
onaler Entscheidungsakteur, der aus ver-    hang mit Alter, Pflegebedürftigkeit und
schiedenen Optionen die für sich passen-    Sterben relevant: Kaum eine Situation im
den auswählt. Es ist letztlich der Mensch   menschlichen Lebensverlauf scheint so
als Kunde, der hier beschworen wird.        prädestiniert dafür wie das hohe, pflege-
                                            bedürftige Alter, Autonomieverluste zu
Auf gesellschaftlicher Ebene lenkt die      produzieren. Weil nun aber Autonomie in
Debatte um „Autonomie am Lebensen-          unserer Gegenwartsgesellschaft gleichbe-
de“ die öffentliche Aufmerksamkeit für      deutend ist mit Glück, erscheint ihr Ver-
das Themenfeld Sterben auf das Problem      lust als Inbegriff menschlichen Unglücks.
juristisch-formaler Regelungen und ihrer
Umsetzung. Ausgeblendet bleibt dabei,       Eben weil Autonomie ein derart hoch be-
dass Rationalisierungs- und Ökonomi-        setzter Wert ist, ist ihre (Be-)Deutung ge-
sierungsprozesse im Gesundheitswesen        sellschaftlich umkämpft. Die Frage lautet
längst regelmäßig zu Phänomenen der         also nicht nur: Wer ist unter welchen Um-
Unterversorgung bzw. Rationierung me-       ständen wie autonom, sondern zugleich:
dizinischer Dienstleistungen – nicht nur,   Wer definiert, was als Autonomie gilt und
aber vor allem eben auch bei alten Men-     was nicht? Und weiter: Welche Bedin-
schen – führen.                             gungen brauchen wir, um uns autonom
                                            zu fühlen, wie sehr sind wir dabei von
Die – auf den ersten Blick so eingängige    Kontexten, Beziehungen, Stimmungslagen
– Gegenüberstellung „Apparatemedizin“       abhängig? Wer sagt uns, dass wir das, was
versus „Patientenautonomie“ blendet aus,    wir heute als unerträgliche Beschneidung
dass betriebswirtschaftliche Handlungs-     unserer Autonomie verstehen, im Pro-
zwänge seitens der Professionellen in       zess des Sterbens auch genauso erleben?
Krankenhäusern und Pflegeheimen den         Möglicherweise liegen unsere Bedürfnisse
Spielraum für individuelle Autonomie-       dann ganz anders. Möglicherweise geht
wünsche von Patienten (aber auch von        es uns dann auch gar nicht mehr an erster
Seite 13

Stelle um Autonomie. Sondern darum,           ratemedizin aufzubieten hat, am Leben.
gehalten, begleitet, berührt zu werden.
Und darum, Zeit zu haben.                     Dieses letztgenannte Argument ist,
                                              ebenso wie die Tabuisierungsthese nicht
Genau diese Fragen aber werden in der         grundsätzlich falsch. Wenn man im ganz
Behauptung, Autonomie am Lebensende           großen historischen Maßstab guckt, wird
ließe sich durch das Instrument der Pati-     man feststellen, dass es im Übergang zur
entenverfügung erreichen und garantie-        Moderne zu einer Privatisierung von Ster-
ren, verschleiert.                            beriten kommt, die nicht zufällig parallel
                                              zum Aufstieg der modernen Biomedizin
Noch eine Nebenbemerkung: Durch die           geschieht. Es wird nicht mehr öffentlich
unbeschränkte Reichweite der Patien-          hingerichtet, gestorben wird vor allem
tenverfügung geht keineswegs nur ums          im Krankenhaus, und die Erfolge in der
„Lebensende“. Auch für Lebenssituatio-        Herauszögerung des Todes sind ziemlich
nen wie etwa Demenz oder Wachkoma             beeindruckend (Verlängerung der durch-
werden Patientenverfügungen als Prob-         schnittlichen Lebenserwartungen in einem
lemlösung verstanden. Weil aber nichts-       Jahrhundert um mehr als dreißig Jahre).
destotrotz der öffentliche Diskurs um die     Stellt man die historische Linse jedoch
Figur der „Autonomie am Lebensende“           etwas schärfer, wird man schnell feststel-
kreist, werden Wachkoma oder Demenz           len, dass die Sache mit dem verdrängten
indirekt als vorgezogene Formen des Ster-     Tod trotzdem so eindeutig nicht ist. Der
bens definiert.                               Soziologe Alois Hahn etwa verweist auf
                                              die alltägliche exzessive mediale Insze-
2. Der Tod ist in modernen Gesellschaf­       nierung des Todes. Wenn auch richtig sei,
ten kein Tabu. Er wird kommerzialisiert,      dass es keine verbindlichen Sinngebun-
fiktionalisiert und individualisiert.         gen bezogen auf den Tod mehr gebe, so
                                              sei damit doch keine Verdrängung oder
Die Rede vom tabuisierten Tod hat derzeit     Tabuisierung bewiesen: Sinngebungen
– auch im Zusammenhang mit der Debat-         religiöser und therapeutischer Art gebe
te um ärztlich assistierten Suizid – wieder   es in modernen Gesellschaften vielmehr
Konjunktur. Ein gängiges Argumentati-         in großer Fülle. Man denke etwa an die
onsmuster der Befürworter geht in etwa        so genannten alternativen Bestattungsun-
folgendermaßen: Weil der Tod in unserer       ternehmen, die zumindest in Städten wie
Gesellschaft tabuisiert und verdrängt         Hamburg und Berlin inzwischen einen
wird, deshalb darf über humane Formen         beachtlichen Marktanteil am Bestat-
des Sterbens nicht gesprochen werden. In      tungswesen haben und damit werben,
einer etwas anderen Variation geht das-       ein ganz und gar individuelles Begräbnis
selbe Argument so: Weil der Tod so sehr       anbieten zu können. Der Tod wird da-
verdrängt wird, deshalb kennt die Me-         bei zum letzten Akt in der Inszenierung
dizin keine Grenzen und hält Leute, die       der eigenen Biographie – und damit zu
praktisch schon tot sind, unendlich lange     einem Element dessen, was Soziologen als
und gnadenlos mit allem, was die Appa-        Individualisierung bezeichnen. Er findet
Seite 14 · Ökonomien des Sterbens – Tagungsdokumentation

also keineswegs außerhalb der gängigen         neben der medizinischen längst die be-
gesellschaftlichen Verkehrsformen statt,       triebswirtschaftliche Vernunft. Und dabei
sondern mittendrin. Ebenso zeigen gerade       handelt es sich nicht um ein harmonisches
Debatten wie die um Patientenverfügung         Nebeneinander. Oft gerät die eine zur
und Sterbehilfe deutlich an, dass das          anderen Logik in Widerspruch. Was medi-
Sterben längst ein neuralgischer Punkt         zinisch oder pflegerisch geboten ist, kann
sozialer und politischer Auseinanderset-       buchhalterisch zum Problem werden. Das
zung geworden ist. Hahn resümiert: „...        kann durchaus auch zu Problemen der
was ein Thementabu zu sein scheint, (ist)      Überversorgung oder Übertherapierung
lediglich eine eigentümliche Diskurs-          führen. Genauso aber – und die Frage
form“. Und mit dieser Diskursform wird         wäre, ob das nicht inzwischen das größere
eben auch Geld verdient. Zumindest was         Problem ist – führt es zum Phänomen der
die Kulturindustrie angeht, lässt sich wohl    Unterversorgung und unzureichenden
eindeutig feststellen: Death sells – mindes-   Versorgung von Pflegebedürftigen und
tens genauso wie Sex. Und nicht zuletzt        Kranken. Und dann kann wiederum eine
Sterbehilfevereine wie Dignitas oder Exit      Patientenverfügung, in der erklärt wird,
in der Schweiz verdienen natürlich auch        man wolle keine „lebensverlängernden
an den von ihnen angebotenen Dienstleis-       Maßnahmen“, dazu beitragen, diesen –
tungen. In einer Gesellschaft, die darüber     gesellschaftlich produzierten Widerspruch
debattiert, ob „selbstbestimmtes Sterben“      zu entschärfen und die Entscheidung für
(was auch immer jeweils darunter ver-          das kostengünstigere Sterbenlassen zu er-
standen wird) nicht nur einklagbar, son-       leichtern. Erst recht gilt dies wenn – wie in
dern auch käuflich zu erwerben sein soll,      den Niederlanden und wie es hierzulande
kann das Tabu (es darf nicht benannt und       eben auch immer öfter gefordert wird –
nicht berührt werden), kurz gesagt, nicht      die so genannte Tötung auf Verlangen
besonders groß sein.                           zur kassenfinanzierten medizinischen
                                               Behandlung wird.
Die These von der Tabuisierung des
Todes, die dann in die endlose Lebensver-      3. Sterben und Tod werden, wie andere
längerung seitens der Apparatemedizin          Lebensbereiche auch, dem doppelten
münde, scheint mir aber auch noch aus          Diktat von Effizienz und Eigenver­
einem anderen Grund nicht mehr ganz            antwortung unterworfen. Verheißung
zeitgemäß. Die Behauptung einer gefähr-        (auf Selbstbestimmung) und Drohung
lichen, paternalistischen Überversorgung       (mit Ausschluss) greifen dabei inein­
im und durchs Gesundheitssystem blen-          ander. Den Hintergrund dafür bilden
det aus, dass sich eben dieses Gesund-         der „demo­graphische Wandel“, neue
heitssystem in den letzten zwei Jahrzehn-      Altersdiskurse und verschärfte soziale
ten systematisch gewandelt hat. Das wäre       Problem­lagen.
jetzt ein Thema für einen eigenen Vortrag,
aber kurz gefasst regiert – vermittelt         Die Sorge um die Patientenautonomie am
durch Budgetierung und Privatisierung          Lebensende vollzieht sich historisch nicht
– in Krankenhäusern und Pflegeheimen           im luftleeren Raum. Sie ist zu sehen, wie
Seite 15

bereits erwähnt, vor dem Hintergrund           gesunden Lebenserwartungen schon seit
der neoliberalen Umstrukturierung von          längerem in doppelter Weise diskutiert:
Gesundheitsversorgung und Pflege, der          als Bedrohung und als Chance. Bedro-
Entsicherung von Alter und Krankheit –         hungsszenarien finden in Schlagwörtern
und begleitet von der beständigen Auffor-      wie „Vergreisung“ oder „Altenrepublik“
derung, für sich selbst zu sorgen, Kosten      ihren Niederschlag. Von Chancen spricht
einzusparen und der Gesellschaft nicht         andererseits die Bundesregierung unter
zur Last zu werden. Auch die Verantwor-        dem Schlagwort „Wirtschaftsfaktor Al-
tung für den Umgang mit Alter, Demenz,         ter“. Hier bemüht man sich zugleich um
Gebrechlichkeit, Sterben und Tod wird          die Verbesserung von gesellschaftlichen
der „vorausschauenden Vernunft“ der            Altersbildern: Vorstellungen vom Leben
Einzelnen aufgebürdet. Die Debatte um          im Alter sollen erneuert und „ältere Men-
die Situation in der Pflege wird davon         schen ermutigt werden, ihre Fähigkeiten
weitgehend losgelöst geführt. Dabei hängt      selbstbestimmt in die Gesellschaft einzu-
das doch eng zusammen.                         bringen“ (BMFSJ 2010) – etwa in Form
                                               ehrenamtlichen Engagements, beispiels-
Denn: Die strukturelle Unterversorgung in      weise im Pflegebereich, aber auch in
der Pflege samt der, durch die Einführung      Form aktiver lebenslanger Gesund­
von Wettbewerbsprinzipien im Pflegesek-        heitsprävention etc.
tor verursachten entgrenzten und prekären
Arbeitsbedingungen von Pflegekräften (der      Demgegenüber scheinen die pflegebe-
Krankenstand in der Altenpflege liegt um       dürftigen, institutionalisiert wohnenden
20 % höher als im Durchschnitt der Bevöl-      und/oder demenzkranken Hochaltrigen
kerung), verändert auch die individuellen      einer gänzlich anderen Gruppe von Alten
Vorstellungen davon, was uns am Lebens-        anzugehören. Unter der Hand wird so die
ende blüht – oder droht. Wer sich – aus gu-    Gruppe der Älteren zweigeteilt: in die, die
tem Grund – ausrechnet, im Pflegefall auf      (noch) aktiviert werden können, und die,
keine hochwertige, d.h. auch: gut bezahlte     die (nur noch) versorgt werden müssen.
und abgesicherte Pflegeleistung zählen zu      Eben diese schematische Zweiteilung
können, dem erscheint die Möglichkeit,         finden wir in qualitativen Studien auch
für den Fall schwerer Pflegebedürftigkeit      in subjektiven Ängsten und Altersbildern
und/oder Demenz das eigene Ableben qua         wieder.
präventiver Verfügung oder ärztlicher bzw.
kommerzieller Sterbehilfedienstleistung zu     Die Bedrohung durch den demographi-
beschleunigen, womöglich recht attraktiv.      schen Wandel – so die Botschaft – kann
Umgekehrt erscheint das „selbstbestimmte       durch das Engagement der jetzigen und
Sterben“ als letzter Akt des autonomen         zukünftigen Alten wenn schon nicht
Subjekts, das sich gegen Gesellschaft, Staat   beseitigt, dann doch zumindest abgemil-
und Biomedizin behauptet.                      dert werden. Dabei wird, je nachdem, wer
                                               gerade spricht, stärker die Freiwilligkeit
Parallel wird die eigentlich erfreuliche       oder stärker die Verpflichtung der Älteren
Tatsache der gestiegenen absoluten und         beschworen, aktiv zu werden. Idealerwei-
Seite 16 · Ökonomien des Sterbens – Tagungsdokumentation

se wollen die Alten selbst, was sie wollen     befasst. Der Bericht reflektiert den Dis-
sollen: Sie bringen sich eigenverantwort-      kurswandel hin zu einem positiveren Bild
lich dafür ein, die Folgekosten des demo-      insbesondere der so genannten „jungen
graphischen Wandels abzumildern.               Alten“. Von der Altenberichtskommission
                                               selbst vorangetrieben, wird deren gesell-
Unter den Tisch fällt dabei meist die Frage    schaftliche Produktivität und Nützlichkeit
nach unterschiedlichen Lebensbedingun-         betont. Das aber könne dazu beitragen, die
gen älterer Menschen. Dies betrifft zum        gesellschaftliche Sicht auf die nicht mehr
einen finanzielle, räumliche, gesundheit-      jungen und ggf. auch nicht mehr produk-
liche, soziale Ressourcen. Es betrifft aber    tiven Alten noch weiter zu verschlechtern.
auch zum anderen ganz schlicht die Frage,      Aber auch Hochbetagte und Pflegebe-
wer eigentlich überhaupt wie alt wird.         dürftige sollen positiv gesehen werden.
Dass sozialer Status und Lebenserwartung       Wer sollte etwas dagegen haben? Wörtlich
miteinander korrelieren, ist längst bekannt.   heißt es im Bericht, es komme darauf an,
Auch in Deutschland liegen zwischen den        „das aktive und produktive Alter auf eine
höchsten und niedrigsten Einkommens-           Weise zu interpretieren, die den gesell-
gruppen eine Differenz von immerhin fast       schaftlichen Wert von Hochaltrigkeit
zehn Jahren durchschnittlicher Lebenser-       zentral berücksichtigt“ (BMFSFJ 2010:
wartung – was nichts anderes bedeutet, als     128). So allgemein der Satz formuliert ist,
dass die Bezieher niedriger Einkommen          so sehr sollte man ihn zweimal lesen: Es
den Reicheren die Rente finanzieren. Kurz      geht darum, den gesellschaftlichen Wert
gesagt: Die Bedingungen für „Autonomie“,       von Hochaltrigkeit zu erkennen. Hochalt-
„Eigenverantwortung“, „Engagement“ etc.        rige, Pflegebedürftige und auch Sterbende,
sind sehr ungleich verteilt. Damit bin ich     heißt es weiter, müssten als Menschen
bei meiner letzten These angelangt.            wahrgenommen werden, „die uns etwas
                                               zu bieten haben“ (125.). Bemerkenswert
4. Der Verweis auf „Wert“ oder „Würde“         ist, dass hier nicht etwa vom Umgang mit
des Lebens/der Alten/Verwirrten/Ster­          Pflegebedürftigkeit als gesellschaftliche
benden hilft nicht wirklich weiter. Es         Aufgabe die Rede ist, sondern vom gesell-
geht darum, wie wir leben wollen –             schaftlichen (ideellen? wirtschaftlichen?)
in allen Lebensphasen.                         „Wert“ der letzten Lebensphase. Offen
                                               bleibt, wie ein solcher „Wert“ zu bestim-
Zum Schluss möchte ich kurz noch auf           men, was eigentlich sein Maßstab wäre
einen Aspekt eingehen, der mir besonders       – und wer darüber bestimmt, wie „wert-
wichtig ist: Politik wird nicht nur mit Ne-    voll“ ein Leben z.B. mit Demenz ist.
gativbildern betrieben. Auch ausdrücklich
positive Bezugnahmen, etwa auf alte und        Übrigens geht es den Autoren des Berich-
sterbende Menschen, sollte man kritisch        tes ausdrücklich nicht darum, Sterbehilfe
hinterfragen. Der von der Bundesregie-         zu propagieren. Im Gegenteil, es wird
rung 2010 veröffentlichte sechste Altenbe-     sogar in recht drastischen Worten vor der
richt etwa hat sich ganz ausdrücklich mit      Gefahr einer – qua Patientenverfügung
dem Thema gesellschaftliche Altersbilder       und Sterbehilfedebatte vermittelten –
Seite 17

wachsenden „Bereitschaft zum Lebens-          gen zu sprechen, unter denen alte, pfle-
verzicht und zum ‚sozialverträglichen         gebedürftige und demenziell veränderte
Frühableben‘“ gewarnt (129). Daraus lässt     Menschen in dieser Gesellschaft leben.
sich schlussfolgern: Mit „Wert“ soll hier     Und über die Bedingungen, unter denen
gerade nicht „Lebenswert“ im biopoli-         diejenigen, die diese Menschen pflegen,
tischen Sinn (vgl. Graefe 2007) gemeint       arbeiten. Und wenn wir dafür einen nor-
sein. Dennoch bleibt in dem Bericht           mativen Zielbegriff brauchen, dann denke
unklar, wie das Leitbild des aktiven Alters   ich, sollte es eher aufgrund der zahllosen
zu interpretieren wäre, damit es den          problematischen Implikationen (ich habe
„Wert“ von Situationen wie Pflegebedürf-      nur einen Bruchteil hier genannt) eher
tigkeit, Demenz oder Sterben tatsächlich      nicht „Autonomie“ sein. Aber auch nicht
umfasst. Begriffe wie „würdig“, „neue         „Wert“ oder „Würde“. Wenn wir einen
Wertschätzung des Alters“ oder die            Begriff brauchen, würde ich den der Teil-
Pflege als „öffentlich bedeutsame Ange-       habe vorschlagen (Graefe 2012).
legenheit“ fungieren hier als Platzhalter
für fehlenden Inhalt. Die Leserin erfährt     Der konzeptionell entscheidende Vorteil
lediglich, wem die Verantwortung dafür        der Teilhabe gegenüber der Autonomie
obliegt, diese vagen Begriffe mit Leben       im Zusammenhang mit dem Lebensende
zu füllen, etwa der „Zivilgesellschaft“, in   liegt auf der Hand: Denn während Auto-
der konkreten Gestalt ehrenamtlich, d.h.      nomie – ob nun als Eigenverantwortung,
unbezahlt Engagierter in der Pflege.          Selbstbestimmung oder Unabhängigkeit
                                              gefasst – immer einen rationalen, ent-
Wie so oft im bürgerschaftlich-aktivierten    scheidungsfähigen Akteur voraussetzt
Argumentationsuniversum verwandeln            (und damit all jene, deren Entscheidungs-
sich auch hier relativ schwierige Situatio-   fähigkeit fraglich geworden ist, logisch
nen kurzerhand in wunderbare Gelegen-         ausschließt), lässt der Begriff der Teilhabe
heiten. Die strukturelle Unterversorgung      offen, wie jemand beschaffen sein muss,
in der Pflege, die durch die Einführung       damit er oder sie teilhaben kann. Bezogen
von Wettbewerbsprinzipien im Pflegesek-       zum Beispiel auf verwirrte Alte eröffnet
tor verursachte Personalknappheit, ent-       er somit die Möglichkeit, ihre alltäglichen
grenzte und prekäre Arbeitsbedingungen        Teilhabeformen (Kommunikation, Be-
von Pflegekräften, daraus resultierende be-   dürfnisse, Aktivitäten) im Rahmen ihrer
lastende ethische Konflikte, oder auch die    jeweiligen Lebensbedingungen zu unter-
chronische faktische und moralische Über-     suchen und zu erweitern – ganz unab-
forderung des zentralen Pflegesystems         hängig davon, ob die Betroffenen noch in
Familie erscheinen in weich gezeichnetem      der Lage sind, über sich und ihren Alltag
Licht als Quelle von „Würde“, „Wertschät-     zu „bestimmen“. Ausgehend vom Kon-
zung“ und „neuer Alterskultur“.               zept der Teilhabe lässt sich zu guter Letzt
                                              auch die Frage nach der „Autonomie am
Statt solche gut gemeinten Leerformeln        Lebensende“ umformulieren. Nicht mehr
zu ventilieren, wäre es aus meiner Sicht      um die Frage: Was will ich (ab-)wählen,
sinnvoller, über die konkreten Bedingun-      um „autonom“ sterben zu können und
Seite 18 · Ökonomien des Sterbens – Tagungsdokumentation

wie wird mein „Wille“ auch im Fall mei-
ner Nichtentscheidungsfähigkeit durchge-
setzt? geht es dann, sondern um folgende
Frage: Welche Infrastruktur, Mittel und
Versorgungssysteme brauchen wir, damit
auch in einer älter werdenden Gesellschaft
möglichst alle Menschen möglichst lange
und möglichst umfassend am gesellschaft-
lichen Leben teilnehmen können?
Zurück zum Anfang: Ich glaube, die
Irritation, die die aktuelle Debatte um Au-
tonomie am Lebensende, Sterbehilfe und
ärztlich assistierten Suizid nicht nur bei
mir auslöst, ist die Ablenkung von genau
diesen Fragen und ihre Überführung in
eine Frage individueller Entscheidungsop-
tionen und ärztlicher oder kommerzieller
Dienstleistungen, oder kurz: von Angebot
und Nachfrage.

Literatur:
Graefe, Stefanie (2007):
Autonomie am Lebensende?
Biopolitik, Ökonomisierung und die
Debatte um Sterbehilfe, Frankfurt/M.
(Campus).

Graefe, Stefanie (2012):
Autonomie und Teilhabe. Eckpunkte
emanzipatorischer Altersforschung, in:

Susanne Kümpers, Josefine Heusinger (Hrsg.),
Autonomie trotz Armut und
Pflegebedarf? Altern unter Bedingungen
von Marginalisierung
Bern 2012 (Huber), S. 249-260.

Hahn, Alois (1991):
Rede- und Schweigeverbote, in:
Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie, 43. Jahrgang 1991,
S. 86–105.
Seite 19

Diskussion zum Vortrag von Stefanie Gräfe mit
Erika Feyerabend

Ich finde die „Würde“ im Sterben              Erika Feyerabend: So ist das von
ist ein großes Problem.                       Stefanie Gräfe auch angedacht. Das ist
                                              vielleicht eine Möglichkeit, sich dieser
Mein Mann hatte Krebs und lag auf der         Aufteilung in Menschen, die noch aktiv
Urologie. Ich habe es geschafft einen Platz   und entscheidungsfähig sind und jenen,
im Hospiz zu bekommen. Dort hat mein          die das nicht mehr sind, anders zu nähern.
Mann noch 10 Tage gelebt. Ich muss sagen      „Teilhabe“ kann auch ermöglicht werden,
in Würde gelebt und dann in Würde im          wenn die Anforderungen aktiv und „au-
Kreise der Familie gestorben.                 tonom“ zu sein, nicht mehr erfüllt werden
                                              können. Zumindest gedanklich. Die prak-
Erika Feyerabend: In einem sozialen           tische Umsetzung, auch deren Bedürfnisse,
Nahverhältnis und einer so konkreten,         Kapazitäten, Mitteilungsversuche wahrzu-
existentiellen Situation, will ich dieses     nehmen, dürfte noch einige Schwierigkei-
Gefühl der „Würde“ auch niemanden             ten machen. Aber als Vehikel, sich von der
streitig machen. Es geht im Vortrag eher      stetig wiederholten Rede der „Autonomie
um den sehr inflationären Gebrauch die-       am Lebensende“ zu entfernen, ist der
ses Begriffs, der gar keinen Bezug zu einer   Begriff vielleicht anregend. Es geht auch
konkreten Situation mehr hat. „Würde“         anders. Bislang wird nur in den Katego-
ist ein Emblem, eine Art Container, nutz-     rien „geäußerter Wille“ oder „schriftlich
bar sowohl für jene, die Sterben begleiten    fixierter Wille“ gedacht und gesprochen.
möchten als auch für jene, die der akti-      Andere Gefühls- und Lebenslagen – situa­
ven Tötung das Wort reden. Die Frage,         tive, wechselnde, nicht willens­bezogene –
die sich Stefanie Gräfe gestellt hat: Wie     kommen schlicht nicht vor.
wird der Begriff „Würde“ im öffentlichen
Raum, in welchem Zusammenhang und             Publikum: Sicher gibt es eine Inflation,
mit welcher Interessenlage genutzt und        sowohl beim Begriff der „Würde“, aber
auch ausgenutzt?                              auch der „Sterbehilfe“, der mal gemeint
                                              ist als „Hilfe zum Sterben“ und mal eher
Publikum: Mich hat der Begriff „Teil-         als „Sterbenachhilfe“. Aber sollten wir
habe“ in diesem Kontext sehr erfreut. Da      nicht versuchen, die positiven Bedeutun-
öffnet sich eine Tür für mich, für den ein-   gen zurück zu erobern? Oder die Begriffe
zelnen Menschen und seine Umgebung.           deutlicher zu erklären? Oder nicht einfach
Der Autonomie-Begriff ist sehr abgegrenzt     hinnehmen, dass sie entwertet werden?
und orientiert stark in die Richtung: Ich     Das betrifft auch Hospize, an sich eine
setze meinen Willen durch, egal in wel-       wunderbare Sache. Mittlerweile bieten
cher Situation und welcher Umgebung.          aber auch Sterbehilfe-Verbände Hospize
                                              an. Nicht überall, wo Hospiz draufsteht,
Seite 20 · Ökonomien des Sterbens – Tagungsdokumentation

ist auch Hospiz drin. Oder auch den sehr       schaftlichen Veränderungen nötig sind,
positiv belegten Begriff „palliativ“, der in   um schwer kranken und pflegebedürftige
der Praxis sehr „pluralistisch“ gehandhabt     Menschen ein erträgliches Leben und
wird und nicht immer abgrenzbar ist, bei-      Sterben zu ermöglichen. Dazu bedarf es
spielsweise von einer Sterbehilfe-Praxis.      mehr als der Option oder Wahl zwischen
                                               den Angeboten x oder y.
Erika Feyerabend: Der Gedanke,
den Inhalt eines Begriffs zurück zu er-        Publikum: Mich hat der Schluss des
obern ist attraktiv – aber schwer. Die         Referates, das Resümee beeindruckt: In
damit verbundenen Machtbeziehungen             der ganzen Debatte wird viel verschleiert,
sind für Kritiker/innen im Sterbehil-          insbesondere was die Grundlage dessen
fe- und Autonomie-Diskurs ungünstig.           angeht, worüber wir miteinander reden
Wir sehen es schon beim Begriff „Ster-         sollen. Drei Dinge sind mir dabei wichtig.
behilfe“, der bei mir immer mit großen         Das eine: Es wird immer mehr im Muster
Anführungs­zeichen gedacht werden              von Angebot, Nachfrage, also Dienstleis-
sollte, weil er hoch problematisch ist.        tung gesprochen, egal ob es um hospiz-
Oft kann man sich aber gar nicht mehr          liche Begleitung, palliative Versorgung
anders verständlich machen, wenn man           oder eben auch Sterbehilfe geht. Ich kann
nicht gleich viele Erklärungen abgeben         auswählen. Ich sehe mit Sorge wie auch
kann, denn der Begriff ist mit bestimm-        schon die Palliativmedizin in der hospiz-
ten Inhalten schon sehr durchgesetzt.          lichen Begleitung in dieser Hinsicht Raum
Alle meinen zu wissen, was er bedeutet         gegriffen hat. Die hospizliche Begleitung
und welche gesellschaftlichen Folgen zu        ist früher mal angetreten, den Menschen
erwarten sind. Es scheint mehr oder we-        „ganzheitlich“ zu sehen, in den vielen As-
niger selbstverständlich, dass der Huma-       pekten seiner Lebens- und auch Sterbebe-
nistische Verband oder andere Sterbehilfe­     dingungen. Die Palliativmedizin ist ohne
organisationen alles Mögliche im Angebot       Zweifel ein Segen, aber sie hat eben einen
haben: Von der Beihilfe zum Suizid, bzw.       medizinischen Fokus. Es ist nur ein kleiner
der Forderung danach oder nach aktiver         Schritt – bei dem Palliativmediziner Gian
Sterbehilfe, bis hin zur palliaitven und       Domenico Borasio, der ja gleichzeitig die
hospizlichen Begleitung. Der Humanis-          ärztliche Suizidbeihilfe gesetzlich einfor-
tische Verband unterhält eigene Hospiz-        dert ist das schon zu erkennen – wenn der
dienste. „Sterbehilfe“ oder „Hospiz“, alles    hilfreiche Palliativmediziner in Konflikt­
passt sich schmiegsam in das Modell der        situationen dann entscheidet, wann es Zeit
„Dienstleistungen“ am Lebensende, der          ist, verantwortlich abzutreten. Vielleicht
Optionen, der Brauchbarkeiten. Suchen          auch sozialverträglich. Zum anderen: Der
Sie sich etwas aus! Es ist alles eine Frage    FAZ-Journalist Frank Schirrmacher schrieb
von Angebot und Nachfrage. Es geht mir         vor Jahren das Buch über den Methusa-
nicht darum, professionelle Pflege­dienste     lem-Komplott. Dort sagte er den „Krieg“
in Frage zu stellen. Wir sollten aber jen-     zwischen den Jungen und den Alten
seits der Verdienstleistungen in den Blick     voraus, als eine neue gesellschaftliche Her-
nehmen, welche sozialen und gesell-            ausforderung. Später nahm er diese These
Sie können auch lesen