Diskurs Antworten aus der feministischen Ökonomie auf die globale Wirtschafts- und Finanzkrise - Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung

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Oktober 2009

Expertisen und Dokumentationen
zur Wirtschafts- und Sozialpolitik   Diskurs
                                     Antworten aus der
                                     feministischen Ökonomie
                                     auf die globale Wirtschafts-
                                     und Finanzkrise

                                             Arbeitsbereich
                                      Frauen- und Geschlechterforschung

                                                                                         1
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Tagungsdokumentation der Friedrich-Ebert-Stiftung

Antworten aus der
feministischen Ökonomie
auf die globale Wirtschafts-
und Finanzkrise

Adelheid Biesecker
Gabriele Michalitsch
Sabine Reiner
Barbara Stiegler
Brigitte Young
WISO
 Diskurs                                                                                   Friedrich-Ebert-Stiftung

           Inhalt

           Vorbemerkung                                                                                                3

           1. Wem nutzen die Konjunkturpakete?
              Auswirkungen der Krise und der politischen Reaktionen auf Frauen und Männer
              Sabine Reiner                                                                                            5

           2. Die Subprime-Krise und die geschlechtsspezifische Schuldenfalle
              Brigitte Young                                                                                          15

           3. Zur Care-Arbeit in Deutschland
              Barbara Stiegler                                                                                        27

           4. Vorsorgendes Wirtschaften als Alternative
              Adelheid Biesecker                                                                                      32

           5. Umsteuern:
              Mit feministischer Politik der Finanz- und Wirtschaftskrise begegnen
              Gabriele Michalitsch                                                                                    49

           Die Autorinnen                                                                                             56

           Diese Tagungsdokumentation wird von der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der
           Friedrich- Ebert-Stiftung veröffentlicht. Die Ausführungen und Schlussfolgerungen sind
           von den Autorinnen in eigener Verantwortung vorgenommen worden.

           Impressum: © Friedrich-Ebert-Stiftung Herausgeber: Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der
           Friedrich-Ebert-Stiftung   Godesberger Allee 149 53175 Bonn Fax 0228 883 9205 www.fes.de/wiso
           Karikatur: Matthias Pflügner, Berlin, nach einer Idee von Marie Marx   Gestaltung: pellens.de
           Redaktionelle Mitarbeit: Dr. Gabriele Ricke   Druck: bub Bonner Universitäts-Buchdruckerei
           ISBN: 978-3-86872-193-5
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                          WISO
                                                                                                           Diskurs

Vorbemerkung

Im Sommer 2009 veranstaltete ein breites Bünd-       bezeichnet die bezahlten wie auch unbezahlten
nis von Frauen aus Wissenschaft und Gesellschaft     personenorientierten Versorgungsleistungen, die
ein Symposium, um nach Antworten der femi-           zum größten Teil von Frauen geleistet werden.
nistischen Ökonomie auf die Krise zu suchen. Die          In der öffentlichen Diskussion herrscht zur
Dokumentation dieser Veranstaltung liegt hier-       Zeit eine neue Offenheit für alternative ökono-
mit vor.                                             mische Konzepte und damit für Querdenkerinnen
      Auslöser war die Beobachtung, dass Frauen      und Querdenker. Das Motto der Weltsozialgipfel,
in der gegenwärtigen Analyse der Finanz- und         „eine andere Welt ist möglich“, formuliert nicht
Wirtschaftskrise kaum auftauchen. Zunächst rein      mehr nur eine kleine Minderheit von Globalisie-
optisch ist die Szene der Banker, Wirtschaftsex-     rungskritikerinnen und -kritikern, sondern ist die
perten, Politiker und Lobbyisten fast ausschließ-    Hoffnung vieler – auch in den westlichen Indus-
lich männlich besetzt. Und auch in den Lösungs-      triestaaten, die von der gegenwärtigen Weltord-
möglichkeiten, die diskutiert werden, spielt das     nung stark profitierten. Eine andere Welt müsste
Geschlechterverhältnis keine Rolle. Dabei geht es    in jedem Fall auch geschlechtergerecht sein.
um nichts weniger als die Bewältigung der größ-           Mit dem Symposium „Antworten aus der fe-
ten Finanz- und Wirtschaftskrise seit 80 Jahren,     ministischen Ökonomie auf die globale Wirt-
die die Menschen weltweit bedroht und somit          schafts- und Finanzkrise“ am 4. Juli 2009 in Mün-
alle, ob Frauen oder Männer, in Haftung nimmt:       chen waren folgende Ziele verbunden:
kollektiv über Staatsgarantien, Rettungsschirme      • Verständnis über die globalen Zusammenhän-
für Banken und öffentliche Konjunkturprogram-           ge der Krise zu schaffen,
me ungekannten Ausmaßes und individuell etwa         • die geschlechtsspezifischen Dimensionen der
durch den Verlust des Arbeitsplatzes, des Hauses,       Krise zu verdeutlichen,
der Geldanlagen.                                     • feministische Konzepte und Theorien zur Be-
      Was dabei unbeachtet bleibt, sind die ge-         wältigung der Krise vorzustellen und zu disku-
schlechtsspezifischen Dimensionen der gegen-            tieren,
wärtigen Krise und die unterschiedlichen Auswir-     • politische Forderungen aus Frauensicht zu for-
kungen der staatlichen Maßnahmen auf Frauen             mulieren.
und Männer. Diesen Mangel untersucht die femi-       Es zeigte deutlich, dass Frauen in der Analyse und
nistische Ökonomie. Darüber hinaus befasst sie       in der Debatte nicht nur einfach fehlen, sondern
sich auch mit wirtschaftstheoretischen Fragestel-    dass es ganz im Sinne von Gender Mainstreaming
lungen, die neue Perspektiven in der Krisenbe-       einer strukturellen Analyse und daraus resultie-
wältigung eröffnen. Ein zentraler Aspekt ist dabei   render Veränderung der ökonomischen Strate-
der ökonomische Zusammenhang zwischen der            gien und der Institutionen bedarf.
geldvermittelten Wirtschaft und der unbezahlten           An einem Tag konnten nicht alle relevanten
Arbeit sowie die Neubewertung der Care Arbeit        Themen abgedeckt werden, so etwa die Auswir-
zur Produktion des Lebensstandards. Care Arbeit      kungen der Krise auf die spezifische Situation von

                                                                                                          3
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           Migrantinnen, die im Bereich der haushaltsnahen           Das Symposium wurde von einer Reihe von
           Dienstleistungen tätig sind und volkswirtschaft-      Veranstalterinnen getragen: Neben der Friedrich-
           lich eine tragende Rolle spielen: In den westlichen   Ebert-Stiftung und der Frauenakademie München
           Industriestaaten halten sie den Wohlfahrtsstaat       beteiligten sich das Bayernforum der FES, das
           am Laufen, in ihren Heimatländern sind ihre fi-       Münchner Frauennetz für eine frauengerechte
           nanziellen Transferleistungen die Existenzgrund-      Stadt und die Hochschule München.
           lage ihrer Familien und Gemeinden.                        Allen Mitveranstalterinnen und besonders
                                                                 den Referentinnen sei an dieser Stelle herzlich
                                                                 gedankt.

           Dr. Barbara Stiegler                                                       Birgit Erbe
           Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn                                              Frauenakademie München

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                                                                                                             Diskurs

1. Wem nutzen die Konjunkturpakete?
   Auswirkungen der Krise und der politischen Reaktionen auf Frauen
   und Männer

Sabine Reiner

Die Wirtschaft befindet sich in einer Krise von      schaftlichen Krisenzeiten, die jetzt auch wieder
historischem Ausmaß. Die weltweite Produktion        aufgegriffen werden. Kaum aufgegriffen aber wer-
ist so schnell eingebrochen wie zuletzt in der       den Keynes‘ Betonung von Faktoren, die perma-
Weltwirtschaftskrise nach dem Zweiten Welt-          nent Instabilitäten bei der kapitalistischen Ent-
krieg. In Deutschland haben nur die Menschen         wicklung verursachen, und schon gar nicht seine
im Osten direkt nach der Wende einen ähnlich         Vorstellung zur längerfristigen wirtschaftlichen
tiefen Einbruch erlebt.                              Entwicklung.
     Überall auf der Welt haben die Regierungen
angesichts der Turbulenzen auf den Finanzmärk-
ten sehr schnell Rettungsschirme für Banken in       Vision aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise
bis dahin ungekanntem finanziellem Ausmaß            des vergangenen Jahrhunderts
aufgespannt. In Deutschland stellte die Regierung
fast 500 Milliarden Euro zur Bankenrettung zur       Unter der Überschrift „Wirtschaftliche Möglich-
Verfügung, obwohl es doch immer hieß, der Staat      keiten für unsere Enkelkinder“ leistete sich Keynes
habe kein Geld. Zum Vergleich: Für den sofor-        einen Blick in die Zukunft, der in der heutigen
tigen Ausbau der Kitas waren zum Beispiel keine      Situation sehr nachdenklich machen sollte, nach-
sechs Milliarden da. Mit dem wirtschaftlichen        denklich, weil wir scheinbar meilenweit weg
Einbruch folgten im zweiten Schritt Konjunktur-      von den damals skizzierten Möglichkeiten sind.
pakete. Gegenüber den Bankenrettungsmaßnah-          Gleichzeitig ist die damalige Perspektive von
men fielen sie aber deutlich kleiner aus: Konjunk-   Keynes aktueller denn je. In dem im Oktober
turpaket I und II umfassen zusammen etwa 60          1930 – also ein Jahr nach Krisenbeginn – erschie-
Milliarden Euro.                                     nenen Aufsatz schreibt Keynes:
     Massive staatliche Eingriffe in das Wirt-            „Wenn das Kapital um, sagen wir zwei Pro-
schaftsgeschehen galten vor der Krise als völlig     zent pro Jahr wächst, wird sich die Kapitalaus-
überholt – sozusagen als Grufti-Ökonomie. Mit        stattung der Welt in 20 Jahren um die Hälfte ver-
dem wirtschaftlichen Absturz riefen aber selbst      größert haben, und siebeneinhalbmal in 100 Jah-
die größten Marktfetischisten plötzlich lautstark    ren. Stellen Sie sich das einmal in Form stofflicher
nach dem Staat. Alle waren plötzlich wieder Key-     Dinge vor – Häuser, Transportmittel und Ähn-
nesianerinnen und Keynesianer und erinnerten         liches.“
sich an einige Konzepte, weniger an die umfas-            Die „Entdeckung von Mitteln zur Einsparung
senden Lehren, die der britische Ökonom John         von Arbeit“ werde allerdings schneller voran-
Maynard Keynes nicht zuletzt als Reaktion auf        schreiten „als unsere Fähigkeit, neue Verwendung
die Weltwirtschaftskrise ab 1929 zu Papier ge-       für Arbeit zu finden.“ Die Perspektive für die En-
bracht hatte. Mit seinem Namen verbunden sind        kelkinder: „Wir werden mehr Dinge für uns sel-
staatliche Stabilisierungsmaßnahmen in wirt-         ber tun können, als es bei den Reichen heute üb-

                                                                                                            5
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           lich ist“. Wir sollten uns, so Keynes, aber bemü-            Wie auch in anderen Krisen reagiert der
           hen, die Arbeit, die noch zu tun ist, soweit wie        Arbeitsmarkt zeitverzögert und besonders in
           möglich zu verteilen. Ganz konkret: Drei-Stun-          Deutschland durch die erhebliche Ausweitung der
           den-Schichten und eine Fünfzehn-Stunden-Wo-             Kurzarbeit bisher sehr gedämpft. Im Juli 2009 wa-
           che sah er als Perspektive für die absehbare Zu-        ren 3,46 Millionen Menschen offiziell arbeitslos
           kunft. (Keynes 2007, Seite 139ff.)                      gemeldet. Die Arbeitslosenquote lag damit bei
                Den Blick auf die Auswirkungen der Krise           8,2 Prozent gegenüber 7,7 Prozent im Juli 2008.
           und der Maßnahmen gegen die Krise will ich an           Insgesamt stieg die Anzahl der offiziell Arbeits-
           dieser Vision orientieren, die zu einer Zeit einer      losen in diesem Zeitraum um gut 250.000. Bei
           vergleichbar tiefen wirtschaftlichen Krise entwor-      den Männern nahm die Anzahl dabei um gut
           fen wurde. Wie damals hat auch die aktuelle Krise       270.000 oder 17 Prozent zu, bei den Frauen ging
           verdeutlicht, dass die eingeschlagenen Wege der         sie um 22.000 bzw. 1,4 Prozent sogar leicht zu-
           wirtschaftlichen Entwicklung an Grenzen gesto-          rück. In den nächsten Monaten droht ein starker
           ßen und längerfristig offensichtlich nicht nach-        Anstieg der registrierten Arbeitslosigkeit – im
           haltig sind. Besteht die Aussicht, dass die Wege        Winter 2010/2011 sogar auf fünf Millionen. (vgl.
           aus der Krise dieses Mal die zwischenzeitlich er-       IMK 2009 und DIW 2009)
           reichten Produktivitätsfortschritte dauerhaft zum            Drei bereits seit längerer Zeit wirksame Ent-
           Wohle aller nutzen? Besteht die Aussicht, dass die      wicklungstendenzen sind als wesentliche Ursa-
           Arbeit künftig „soweit wie möglich“ verteilt wird,      chen der Krise zu benennen:
           dass nicht die einen sich gegen den Druck zu Ar-        • Die Umverteilung von unten nach oben welt-
           beitszeitverlängerungen zur Wehr setzen und ar-            weit und innerhalb einzelner Länder, die in
           beiten müssen bis zum Umfallen, während an-                den kapitalistischen Industrieländern mit der
           deren die Chance auf Erwerbsarbeit und eigen-              nachlassenden Wachstums- und Investitions-
           ständiges Einkommen verwehrt wird? Welche                  dynamik seit Ende der 1960er Jahre einsetzte;
           Generation wird endlich die Generation der En-          • seit der Jahrtausendwende stark zunehmende
           kelkinder sein, in der Erwerbsarbeit so verteilt ist,      globale Ungleichgewichte zwischen Ländern
           dass für alle – Männer wie Frauen – Zeit für Fami-         mit hohen Exportüberschüssen und -defiziten
           lie und Freunde, Freizeit und Zeit für Engagement          und
           bleibt?                                                 • die politisch vorangetriebene Deregulierung
                                                                      der Finanzmärkte, die Spekulation und Blasen-
                                                                      bildung erst ermöglichte.
           Dimensionen und Ursachen der Krise                      Einige Schlaglichter sollen die Zusammenhänge
                                                                   illustrieren. (vgl. ausführlicher ver.di 2009b)
           Die Kombination von Wirtschafts- und weltwei-                Die Umverteilung von unten nach oben zeigt
           ter Finanzmarktkrise ließ den Absturz so tief wer-      sich insbesondere in den Industrieländern seit
           den. Der letzte Aufschwung war in Deutschland           den 1970er Jahren an einem langfristigen erheb-
           bereits im Frühjahr 2008 zu Ende – bevor die            lichen Rückgang der jeweiligen Lohnquoten und
           Auswirkungen der Finanzmarktkrise zu spüren             an einem heftigen Anstieg der Einkommen von
           waren, die die Krise massiv verstärkten.                reichen Haushalten. In den USA hatte die nach
                Besonders betroffen ist hierzulande das pro-       der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre einge-
           duzierende Gewerbe, das im ersten Quartal 2009          leitete Politik des New Deals bis in die 1970er
           um ein Fünftel gegenüber dem Vorjahr eingebro-          Jahre zu einer gleichmäßigeren Verteilung von
           chen ist. Die Nachfrage nach Exportgütern aus           Einkommen und Vermögen geführt. Seither wur-
           Deutschland lag um bis zu 30 Prozent niedriger          de dieser Trend wieder umgekehrt, heute sind bei
           als in den Vergleichsmonaten 2008. Insgesamt            der Einkommensverteilung wieder die Verhält-
           gehen die aktuellen Prognosen von einem Rück-           nisse der 1920er Jahre hergestellt. (IMK 2009b)
           gang des Bruttoinlandsprodukts von 6,5 Prozent          Die Einkommen des am besten bezahlten Fünf-
           in diesem Jahr aus.                                     tels der US-Bevölkerung stiegen seit 1970 real um

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60 Prozent, während die übrigen Einkommensbe-              Durch diese Entwicklung ist der Niedriglohn-
zieher/innen real zehn Prozent verloren. Das Ver-     sektor rasant gewachsen. Mit 22,2 Prozent aller
mögen der Familie Walton, gewerkschaftsfeind-         Beschäftigten hat Deutschland in der EU knapp
liche Besitzer der Wal-Mart-Kette, ist größer als     vor Großbritannien inzwischen den größten
das Vermögen des unteren Drittels der US-Bevöl-       Niedriglohnsektor. Dabei sind 70 Prozent der Be-
kerung – also von über 100 Millionen Menschen.        schäftigten im Niedriglohnsektor weiblich – das
(Funnell 2009) In den USA stieg allerdings – im       ist fast jede dritte erwerbstätige Frau. (ebd.) Die
Unterschied zu Deutschland – die Konsumnach-          Auseinanderentwicklung bei den Einkommen ist
frage weiter an, weil die ärmeren Haushalte ihre      daher ganz massiv zu Lasten von Frauen gegangen.
relativen Einkommensverluste durch eine zuneh-             Die im letzten Aufschwung neu entstan-
mende Kreditaufnahme kompensieren konnten.            denen Jobs waren viel zu schlecht bezahlt, um
      In Deutschland ist der langfristige Umvertei-   eine Belebung des privaten Konsums zu bewir-
lungstrend mit der Politik der „Agenda 2010“ seit     ken. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bun-
2003 massiv verstärkt worden. Im vergangenen          desrepublik klaffte zwischen dem Anstieg des
Aufschwung stieg die Beschäftigung nicht durch        Bruttoinlandsprodukts und dem privaten Kon-
die Schaffung von normalen Vollzeitstellen. Zwi-      sum eine deutliche Lücke: Während das Bruttoin-
schen 2003 und 2008 hat die Anzahl von unbe-          landsprodukt im Aufschwung bis 2008 real um
fristeten, sozialversicherten Vollzeitjobs sogar um   knapp zehn Prozent gestiegen ist, kam der private
fast eine Million abgenommen. Vielmehr boom-          Konsum mit einem Anstieg von nicht einmal
ten alle Formen prekärer Beschäftigung: Ein-Euro-     einem Prozent praktisch nicht vom Fleck.
Jobs plus 300.000, Mini-Jobs plus 500.000, alle            Diese Politik hat in mehrfacher Weise zur
möglichen Formen von neuer (Schein-)Selbst-           Entstehung der Finanzmarkt- und Weltwirt-
ständigkeit plus 400.000. Auch die Teilzeitquote      schaftskrise beigetragen. Die zunehmende Um-
hat weiter zugenommen: Ein Drittel aller Beschäf-     verteilung in Deutschland und weltweit hat eben-
tigten arbeiten inzwischen Teilzeit, 1996 waren       so wie die Privatisierung sozialer Sicherungssys-
es gerade einmal gut 20 Prozent. Bei der Leih-        teme und das verschuldungsgestützte Wachstum
arbeit gab es ebenfalls eine massive Zunahme um       unter anderem in den USA immer mehr Geld auf
400.000 auf zeitweise insgesamt 800.000.              die Finanzmärkte gespült. Je mehr Geld auf der
      Im Ergebnis sind die Einkommen aller Be-        Suche nach lukrativen Anlagen und immer hö-
schäftigten insgesamt seit Anfang des Jahrtau-        heren Renditen ist, desto größer die Gefahr der
sends real nicht mehr gestiegen, während die Ein-     Blasenbildung und die Tendenz zur Verselbst-
kommen aus Gewinnen und Vermögen um 30                ständigung der Finanzsphäre gegenüber der Real-
Prozent gewachsen sind. Entsprechend verzeich-        wirtschaft, desto größer der Druck, immer neue
nete die Lohnquote zwischen 2003 und 2008 ei-         Anlageformen und Finanz„produkte“ zu erfin-
nen beispiellosen Absturz von gut 70 auf nur          den – so lange bis die Blase platzt.
noch etwa 65 Prozent. Doch dieser Absturz zeigt            Das politisch geförderte Lohndumping in
noch nicht einmal die ganze Dramatik der Aus-         Deutschland setzt außerdem andere Länder unter
weitung von Armut und Prekarität.                     großen Druck. Da sie bislang den deutschen Um-
      Die Beschäftigten in der oberen Hälfte der      verteilungswettlauf zu Lasten der Beschäftigten
Einkommensskala konnten bei den Stundenlöh-           nicht mitgemacht haben, haben sie massiv Welt-
nen in diesen elf Jahren wenigstens noch ein          marktanteile gegenüber dem Exportweltmeister
kleines reales Plus von insgesamt etwa vier Pro-      Deutschland verloren. Die Kehrseite hierzulande
zent durchsetzen. Die Stundenlöhne der Beschäf-       ist die schlechte Entwicklung auf dem Binnen-
tigten auf der unteren Hälfte der Einkommens-         markt. Die inländische Nachfrage hat zwar mit
skala sind zwischen 1995 und 2006 inflationsbe-       drei Vierteln der Beschäftigten das mit Abstand
reinigt dagegen gesunken – beim unteren Viertel,      größere Gewicht für die gesamtwirtschaftliche
wo die Arbeitsverhältnisse weniger häufig tarifge-    Entwicklung. In den letzten Jahren hing das
schützt sind, um 14 Prozent! (Weinkopf 2009)          Wachstum aber zu zwei Dritteln vom Export ab.

                                                                                                            7
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 Diskurs                                                                                        Friedrich-Ebert-Stiftung

                Die Exporte ins Ausland stiegen steil an. We-    den mit einer Zuweisung von Verantwortung für
           gen der schwachen inländischen Entwicklung            wirtschaftliche Stabilität und soziale Gerechtig-
           zogen die Importe aus dem Ausland aber nicht          keit an staatliche Institutionen.
           mit. So schnellte der deutsche Exportüberschuss            Die meisten Länder führten Maßnahmen zur
           bis 2007 mit 170 Milliarden Euro auf den höchs-       stärkeren Kontrolle des Finanz- und vor allem des
           ten Überschuss der Nachkriegszeit hoch. Deutsch-      Kreditsystems ein und auf internationaler Ebene
           land hat also unter seinen Verhältnissen gelebt       wurden 1944 in dem kleinen Ort Bretton Woods
           und viel mehr Waren und Dienstleistungen ex-          in den USA ein System fester Wechselkurse ver-
           portiert als im Gegenzug aus dem Ausland im-          einbart. Zur Sicherung der Stabilität sollten ge-
           portiert wurden. Das konnte nur funktionieren,        gebenenfalls die Zentralbanken auf den Devisen-
           weil andere Länder mehr importieren als expor-        märkten intervenieren. Auch für die Stabilität der
           tieren, also über ihren Verhältnissen leben. Und      wirtschaftlichen Entwicklung sahen die Regie-
           es konnte funktionieren, weil die Exporterlöse        rungen sich in der Verantwortung. Dies äußerte
           angelegt werden konnten: „2007 gingen 30 Pro-         sich in umfangreichen wirtschaftspolitischen In-
           zent des Geldes, das die Deutschen beim Export        terventionen bis hin zu Verstaatlichungen von
           netto machten, in US-Wertpapiere und Finanz-          wichtigen Unternehmen. (vgl. Huffschmid 2002)
           derivate … Weil sie so viel Geld aus streberhaften    Im deutschen Stabilitätsgesetz wurde die Verant-
           Außenüberschüssen unterkriegen mussten, tru-          wortung der Politik für vier Ziele festgeschrieben:
           gen deutsche Finanzjongleure besonders zur glo-       Für ein stabiles Preisniveau, einen hohen Beschäf-
           balen Finanzblase bei – und machten die Deut-         tigungstand, angemessenes Wachstum und, heu-
           schen zugleich umso anfälliger für die Konse-         te weitgehend vergessen, ein außenwirtschaft-
           quenzen.“ (Fricke 2009)                               liches Gleichgewicht – also das Gegenteil einer
                Mit dem Platzen der Kreditblase ist die schul-   einseitig am Export orientierten wirtschaftspoli-
           denfinanzierte Nachfrage aus den Defizitländern,      tischen Strategie.
           vor allem USA, aber auch Spanien, Großbritan-              Das erneute Ausschlagen des Pendels in die
           nien und vielen anderen zusammengebrochen.            andere Richtung fiel wiederum mit dem Beginn
           Absatzmärkte schrumpfen weltweit, die ganze           wirtschaftlicher Krisenzeiten zusammen. Für die
           Weltwirtschaft kommt ins Trudeln. Besonders be-       Einbrüche bei Wachstums- und Beschäftigungs-
           troffen sind Länder, die sich in hohem Maße von       raten seit Anfang der 1970er Jahre wurde nun
           Exporten abhängig gemacht haben. Wenn diese           genau das verantwortlich gemacht, was im Fall
           Länder die Nachfrage auf ihren inländischen           der großen Krise der 1930er Jahre zur Lösung hat-
           Märkten nicht stärken, wird es schwer für sie,        te beitragen sollen: Aus der damals rettenden
           der Abwärtsspirale der Krise zu entkommen. Die        Staatstätigkeit war im öffentlichen Sprachge-
           Finanzmarktkrise hat schlagartig deutlich ge-         brauch Staatsversagen geworden, dem nur mit
           macht, dass die Konjunkturlokomotive USA die          einer Revitalisierung von Marktkräften begegnet
           Weltwirtschaft nur auf Kosten einer gigantischen      werden könne. Wie die langen Wellen der Wirt-
           Verschuldung ziehen konnte.                           schaft bewegt sich offenbar auch eine lange Welle
                                                                 wechselnder theoretischer Grundansichten durch
                                                                 die Geschichte.
           Aus der Vergangenheit lernen                               Auch in einer anderen Hinsicht gab es Kritik.
                                                                 Staatliche Verantwortung kann auch Formen
           Aus Weltwirtschaftskrise und Weltkrieg im letz-       staatlicher Bevormundung annehmen. So ging
           ten Jahrhundert waren durchaus wirtschaftspoli-       der patriarchale Staat bei der Wahrnehmung der
           tische Lehren gezogen worden. Die Verfechter          ihm zugeschriebenen Verantwortung von einem
           des Wirtschaftsliberalismus befanden sich auf         klaren Leitbild bezogen auf das Verhältnis und
           dem Rückzug. Die Mehrheit der Ökonomen und            der Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen
           Ökonominnen sowie der Verantwortlichen in der         aus. Das Leitbild war die bürgerliche Familie mit
           Politik setzte sich für Regulierungen ein, verbun-    dem alleinverdienenden Ehemann und der allen-

      8
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                            WISO
                                                                                                             Diskurs

falls zuverdienenden Hausfrau und Mutter. Der               Bei der Einschätzung der Reichweite der Kon-
darauf abgestimmte institutionelle Rahmen etwa         junkturpakete ist es daher nicht nur wichtig, ob
in den sozialen Sicherungssystemen oder im Steu-       eine konkrete Maßnahme unterschiedliche Aus-
errecht (Ehegattensplitting, „Hausfrauensteuer-        wirkungen auf Männer und Frauen hat. Zu fragen
klasse“) blieb bis heute in vielen Bereichen erhal-    ist auch, ob die Antikrisenpolitik Grundlage für
ten. Demgegenüber betonte die Frauenbewegung           eine Entwicklung legt, die auch längerfristig sta-
das Recht auf Eigenständigkeit und individuelle        bil ist und Diskriminierung und Unterordnung
Freiheit auch für Frauen.                              entgegenwirkt.
      Das eigenständige, freie Individuum, das sei-
nes eigenen Glückes Schmied ist, das Arbeit fin-
det, wenn es nur will, und dem vom Tellerwäscher       Die Konjunkturpakete der Bundesregierung
zum Millionär alle Optionen offen stehen – genau
das ist allerdings auch das überhöhte Leitbild im      Die Konjunkturpakete der Bundesregierung sind
Neoliberalismus. Nancy Fraser stellt daher die un-     von dem Geist getragen, dass die Krise ein wenn
bequeme Frage: „War es bloßer Zufall, dass Neue        auch tiefer, so doch vorübergehender Einbruch
Frauenbewegung und Neoliberalismus gleichzei-          ist. An der wirtschaftspolitischen Ausrichtung
tig, sozusagen als Tandem, in Erscheinung traten       und dem Entwicklungsmodell wird kein Ände-
und gediehen? Oder gab es zwischen ihnen so et-        rungsbedarf gesehen. Ausdrücklich will Kanzlerin
was wie eine unappetitliche, untergründige Wahl-       Merkel nur „Brücken bauen“, bis die Wirtschaft
verwandtschaft? Diese zweite Möglichkeit auch          wieder Tritt fasst und der nächste Aufschwung
nur in Betracht zu ziehen, ist Ketzerei, gewiss,       einsetzt. „Ein generelles Umsteuern der deut-
aber wir schaden uns selbst, wenn wir versäumen,       schen Volkswirtschaft lehne ich ab. Mein Ziel ist,
ihr nachzugehen. Fest steht, dass der Aufstieg des     dass das Land Exportweltmeister bleibt.“ (Angela
Neoliberalismus das Terrain, auf dem die Frauen-       Merkel in der ARD-Sendung „Anne Will“ am
bewegung operierte, dramatisch veränderte. Das         22. März 2009)
Ergebnis war, so meine These, eine Umdeutung                Die beiden bisher beschlossenen Pakete sind
feministischer Ideale.“ (Fraser 2009, Seite 50)        zu klein und für eine wirksame Gegensteuerung
      Fraser plädiert dafür, sich die Definitions-     ungünstig zusammengesetzt. Nur etwa ein Viertel
macht über feministische Ideen und Ideale wie-         der Ausgaben sind für direkte öffentliche Inves-
der zurückzuholen. Dabei müssten die Unter-            titionen vorgesehen, obwohl diese, wie viele Stu-
schiede zum Neoliberalismus betont werden, die         dien zeigen, den größten Wachstums- und Be-
vor allem darin bestünden, dass dieser blind sei       schäftigungseffekt aufweisen. Die Hälfte der Aus-
gegenüber struktureller, über den Markt vermit-        gaben sind Steuer- und Abgabensenkungen, die
telter Diskriminierung und Unterordnung. Dem-          wenig bringen und vor allem Unternehmen und
gegenüber müssten die Begriffe soziale Gerech-         Personen mit höheren Einkommen begünstigen.
tigkeit und Solidarität als Leitbilder in den Vor-     Eine Entlastung oder Unterstützung von Men-
dergrund gerückt werden.                               schen mit geringen Einkommen wäre dagegen
      Mit Recht ist zu fragen, wie weit individuelle   wirkungsvoller, weil sie zusätzliche Mittel auch
Freiheit und Eigenständigkeit tragen können,           unmittelbar und vollständig für zusätzliche Aus-
wenn für Millionen von Frauen eine eigenstän-          gaben nutzen. Hätte die Regierung den Gesamt-
dige Absicherung durch Erwerbsarbeit nur im            umfang der Pakete in direkte öffentliche Ausga-
Niedriglohnsektor mehr schlecht als recht ge-          ben gelenkt, wäre die konjunkturstabilisierende
lingt. Oder wenn die Gleichstellung in der Gesell-     Wirkung bei gleichen Kosten doppelt so hoch ge-
schaft darin besteht, dass – wie in Island – nun       wesen. (OECD 2009 und IMF 2008)
zwei Frauen die Leitung in der Landesbank und               Der Gesamtumfang der Konjunkturpakete
einer weiteren Bank übernommen haben und die           beträgt je nach Rechnung 60 bis 80 Milliarden
Scherben aus der Krise zusammenkehren dürfen.          Euro und damit rund drei Prozent des Bruttoin-

                                                                                                            9
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 Diskurs                                                                                       Friedrich-Ebert-Stiftung

           landsprodukts. (für eine übersichtliche Darstel-      Kurzarbeiterinnen und -arbeiter viel niedriger
           lung der Pakete siehe Eicker-Wolf, Niechoj, Tru-      war. Die Förderung der Kurzarbeit kommt also
           ger 2009) Der höhere Betrag ergibt sich, wenn         zum größten Teil Männern zugute. Da der An-
           man, wie die Bundesregierung, Maßnahmen mit           stieg der Arbeitslosigkeit per Saldo bisher zulas-
           einberechnet, bei denen auch unabhängig von           ten von Männern ging, erscheint dies vorder-
           der Krise Handlungsbedarf bestand. Dies sind vor      gründig auch gerechtfertigt.
           allem die Wiederausweitung der Pendlerpau-                 Auffällig ist allerdings, wie schnell und in
           schale und die Absetzbarkeit der Krankenversi-        welchem Umfang die Politik zur Unterstützung
           cherungsbeiträge. Beides schlägt im Zeitraum          bereit ist, wenn vorwiegend von Männern be-
           2009/2010 mit jeweils gut acht Milliarden Euro        setzte Arbeitsplätze bedroht sind. Neben der
           zu Buche und war wegen Urteilen des Bundes-           direkten Förderung der Kurzarbeit mit gut drei
           verfassungsgerichts notwendig.                        Milliarden Euro gilt dies für die fünf Milliarden
                Das erste, noch Ende 2008 beschlossene Kon-      schwere Abwrackprämie zur Unterstützung der
           junkturpaket, hat einen Umfang von elf Milliar-       Automobilindustrie. Und es gilt für das medien-
           den Euro und besteht zum größten Teil aus steu-       wirksame Engagement wahlkämpfender Politi-
           erlicher Entlastung von Unternehmen (sieben           kerinnen und Politiker zur Rettung der Arbeits-
           Milliarden Euro). Dazu kommen Investitions-           plätze bei Opel. Einen vergleichbaren Dauerein-
           anreize und -förderung (knapp drei Milliarden         satz zum Schutz bedrohter Arbeitsplätze der Ver-
           Euro) sowie Steuerentlastung für private Haus-        käuferinnen hätte man sich auch bei Karstadt,
           halte (Kfz-Steuer, höhere Absetzbarkeit von Hand-     Quelle oder Hertie gewünscht. Diese Auffälligkeit
           werksleistungen, insgesamt 1,4 Milliarden Euro).      zeigte sich schon in der Vergangenheit: Es gab
           Diese Maßnahmen erwecken den Eindruck, als            umfangreiche Unterstützung etwa zum Struk-
           hätte sich der Wirtschaftsflügel der Union voll       turwandel bei Kohle und Stahl, nicht aber als
           durchgesetzt. Ein wirksames Konjunkturpaket           Hunderttausende von Frauenarbeitsplätzen in
           sieht jedenfalls anders aus.                          der Textil- und Bekleidungsindustrie verloren
                Schon im Januar 2009 musste die Bundesre-        gingen. Auch 1996, nach dem „schwarzen Freitag
           gierung nachlegen und brachte das zweite Kon-         der Rehabilitation“, mussten die überwiegend
           junkturpaket im Umfang von knapp 50 Milliar-          weiblich Beschäftigten die Folgen des Beitrags-
           den Euro auf den Weg. Mit immerhin 16 Milliar-        entlastungsgesetzes der Gesetzlichen Kranken-
           den Euro sind in diesem Paket nun auch Ausga-         versicherung alleine ausbaden: Umfangreiche
           ben für Zukunftsinvestitionen der öffentlichen        Kürzungen im Reha-Bereich führten zum Verlust
           Hand vorgesehen. Jeweils neun Milliarden kos-         von über 10.000 Vollzeitstellen innerhalb von
           ten die Senkung der Einkommensteuer und der           nur zwei Jahren. (Güttner-Mayer 2009)
           höhere Steuerzuschuss zur Gesetzlichen Kranken-            Vom Anstieg der Arbeitslosigkeit in den kom-
           versicherung. Der nächstgrößte Posten ist mit         menden Monaten werden voraussichtlich auch
           fünf Milliarden Euro die sogenannte Abwrack-          immer mehr Frauen betroffen sein. Die Auswei-
           prämie. Ebenfalls in dieser Größenordnung be-         tung von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit schwächt
           wegen sich die im Paket vorgesehenen Ausgaben         die Einkommen und damit den Konsum der Men-
           zur Beschäftigungssicherung, darunter vor allem       schen und belastet so die wirtschaftliche Entwick-
           die Förderung der Kurzarbeit.                         lung auch außerhalb der jetzt stark betroffenen
                Bei der Kurzarbeit hat sich der Bestand inner-   Exportsektoren. Arbeitgeber werden die Krise zu-
           halb von nur vier Monaten auf über 1,2 Millio-        sätzlich nutzen, um den Druck auf die Einkom-
           nen Personen im März 2009 mehr als verzehn-           men der Beschäftigten zu erhöhen. Zudem droht,
           facht. Für den Mai 2009 schätzt die Bundesagen-       dass Bund, Länder und Gemeinden den Stellen-
           tur für Arbeit 1,3 bis 1,4 Millionen Menschen in      abbau und den Druck auf die Beschäftigten im
           Kurzarbeit, 80 Prozent davon sind Männer. In          öffentlichen Dienst erneut verschärfen werden.
           dieser Größenordnung lag ihr Anteil auch in den       Schon jetzt argumentieren sie, dies sei unaus-
           vergangenen Jahren, als die absolute Anzahl der       weichlich, weil die Verschuldung im Gefolge der

    10
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                             WISO
                                                                                                              Diskurs

Krise enorm ansteigt. Innerhalb der EU gibt            haushalt 1,8 Milliarden Euro kostet. Zusammen
Deutschland schon heute gemessen am Brutto-            mit der ebenfalls beschlossenen Erhöhung der
inlandsprodukt am wenigsten für Beschäftigung          Hartz IV-Regelsätze für Kinder summieren sich
im öffentlichen Dienst aus. Wenn die neue Bun-         die familienbezogenen Leistungen im Konjunk-
desregierung diesen Schrumpfkurs weiter fort-          turpaket II damit auf 2,3 Milliarden Euro – oder
setzt, werden viele Frauenarbeitsplätze wegfallen,     weniger als die Hälfte der Ausgaben für die Ab-
denn etwas mehr als die Hälfte der Beschäftigten       wrackprämie.
im öffentlichen Dienst sind weiblich.                        Die im Konjunkturpaket vorgesehenen Aus-
      Die im Konjunkturpaket II beschlossene Sen-      gaben für die Zukunftsinvestitionen der öffent-
kung des Beitragssatzes zur Gesetzlichen Kran-         lichen Hand laufen zum überwiegenden Teil über
kenversicherung (GKV) – finanziert durch die Er-       die Kommunen. Mehr als zwei Drittel davon wer-
höhung des Steuerzuschusses – und die Senkung          den für Schulen und Kindergärten ausgegeben.
der Einkommensteuer soll den privaten Konsum           (Ernst & Young 2009) Allerdings sind die Mittel
anschieben. Der Wirkungsgrad dieser Maßnah-            nicht für zusätzliches Personal vorgesehen, son-
men ist dann am stärksten, wenn vor allem nied-        dern nur für einmalige Ausgaben wie für Reno-
rige Einkommen entlastet werden, weil aus die-         vierungen oder andere bauliche Maßnahmen.
sen ein geringerer Anteil gespart wird. Die Sen-       Die gesicherten oder zusätzlich geschaffenen Ar-
kung des Beitragssatzes bei der GKV kommt je-          beitsplätze in diesem Bereich kommen fast aus-
doch zur Hälfte den Arbeitgebern zugute. Zudem         schließlich Männern zugute. (Scheele 2009)
steigt die Entlastung bei den Beschäftigten wegen            Die übrigen Mittel werden etwa für Lärm-
des einheitlichen Beitragssatzes mit zuneh-            schutzmaßnahmen oder für soziale, kulturelle
mendem Einkommen. Von den Steuersenkungen              oder Freizeiteinrichtungen ausgegeben. Als kon-
dagegen, so beteuert die Bundesregierung, wür-         kretes Beispiel sei die Vergabe von acht Millionen
den vor allem Menschen mit geringen Einkom-            Euro zur Sanierung des Karl-Liebknecht-Stadions
men profitieren. Dies trifft allenfalls auf die pro-   in Potsdam-Babelsberg genannt. Der Geschlech-
zentuale Entlastung zu. Geringverdiener/innen          terbias ist in diesem Fall allerdings nicht eindeu-
haben von einer Steuersenkung ohnehin keinen           tig, da im Stadion außer den Männern des Regio-
Vorteil, weil sie überhaupt keine Steuern zahlen.      nalligisten SV Babelsberg 03 auch die Deutschen
Bei Singles gilt dies bis zu einem Jahresbrutto-       Frauen-Fußballmeisterinnen vom 1. FFC Turbine
einkommen von etwa 11.000 Euro. Für Durch-             Potsdam ihre Heimspiele austragen. Höchst kri-
schnittsverdienende mit knapp 30.000 Euro brut-        tikwürdig ist aber, dass der Finanzminister in
to beträgt die Entlastung gut 170 Euro im Jahr         Brandenburg, Rainer Speer, der über die Vergabe
oder 14 Euro im Monat, bei Einkommen über              der Mittel aus dem Konjunkturpaket mitent-
50.000 Euro sind es gut 270 Euro im Jahr. (BMF         scheidet, gleichzeitig Präsident des SV Babelsberg
2009)                                                  ist. (Märkische Allgemeine, 2. Juli 2009) Es ist
      Die Steuersenkung hat nicht nur eine erheb-      durchaus empfehlenswert, sich vor Ort in der ei-
liche soziale, sondern auch eine geschlechterspe-      genen Kommune zu informieren und zu enga-
zifische Schieflage. Denn in den oberen Einkom-        gieren, die Möglichkeiten der kommunalen Mit-
mensbereichen, in denen die maximale Entlas-           bestimmung wahrzunehmen, um so auf künftige
tungswirkung erreicht wird, sind Frauen nur zu         Investitionsentscheidungen Einfluss nehmen zu
15 Prozent vertreten. Je höher das Einkommen,          können.
desto niedriger der Anteil der beschäftigten                 So positiv die zusätzlichen Mittel für kom-
Frauen. Im unteren Zehntel der Einkommens-             munale Investitionen sein mögen, sie können die
hierarchie sind Frauen zu knapp 70 Prozent ver-        zu erwartenden krisenbedingten Finanzprobleme
treten. (Gender-Datenreport 2005, Seite 176ff.)        der Kommunen nicht ausgleichen. Die Steueraus-
      Spürbar für Eltern war der sogenannte Kin-       fälle für Bund, Länder und Gemeinden zusam-
derbonus von 100 Euro für jedes Kind. Allerdings       men werden sich zwischen 2009 und 2013 gegen-
war dies eine einmalige Ausgabe, die den Bundes-       über den ursprünglichen Erwartungen auf 300

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           Milliarden aufsummieren. 90 Prozent der Kom-          ist daher als Einstieg in ein Programm mit dauer-
           munen erwarten, dass Steuerausfälle bei ihnen         haft höheren Ausgaben in diesen Bereichen zu
           höher sein werden als die zusätzlichen Einnah-        verstehen. Ein solches Programm finanziert sich
           men aus den Konjunkturpaketen. (Ernst & Young         durch seine Wachstums- und Beschäftigungsef-
           2009) Und mit der neuen „Schuldenbremse“ hat          fekte zu rund 50 Prozent selbst. Zur zusätzlichen
           die große Koalition die künftigen Verschuldungs-      Finanzierung wird eine höhere Besteuerung der
           möglichkeiten von Bund, Ländern und Kommu-            Profiteure von Umverteilung und der Verursacher
           nen auch noch stark eingeschränkt bzw. ganz ver-      der Krise vorgeschlagen.
           boten – ungeachtet möglicher ökonomischer und              Voraussetzung für eine Umkehr und eine
           sozialer Verluste. (ver.di 2009c)                     nachhaltige Entwicklung ist außerdem, die Um-
                                                                 verteilung von unten nach oben zu stoppen und
                                                                 wieder eine gleichmäßigere Verteilung zu gewähr-
           Sozialökologisch umsteuern – solidarisch              leisten. Dazu müssen die Löhne und der Sozial-
           finanzieren                                           staat gestärkt werden. Hierzulande heißt das,
                                                                 Befristungen, Leiharbeit und Minijobs massiv
           Die bisherigen Maßnahmen gegen die Krise rei-         zurückzudrängen, endlich den gesetzlichen Min-
           chen nicht aus, um einer drohenden anhaltenden        destlohn von wenigstens 7,50 Euro pro Stunde
           Entwicklung mit Stagnation oder schwachem             einzuführen, das Arbeitslosengeld II zu erhöhen
           Wachstum und hoher Arbeitslosigkeit entschie-         und wieder einen wirksamen Zumutbarkeits-
           den entgegenzuwirken. Mit den zeitlich begrenz-       schutz für Jobs zu garantieren. Mehr öffentliche
           ten Konjunkturpaketen findet vor allem auch           Ausgaben in den genannten Bereichen und eine
           kein Umsteuern zu einem nachhaltigeren und            gerechtere Verteilung würden Erwerbschancen
           stabileren Entwicklungsmodell statt. Erst recht       und Einkommen insbesondere auch von Frauen
           nicht zu einem Wirtschaftsmodell, das Frauen          verbessern. Außerdem würden sowohl die inlän-
           und Männern gleiche Chancen einräumt. Die             dische Nachfrage wie die Nachfrage nach Import-
           hier als wesentlich benannten Krisenursachen –        gütern gestärkt. Deutschland würde so einen
           extreme Schieflagen bei der Verteilung, globale       Beitrag leisten, um die Kluft zwischen Im- und
           Ungleichgewichte, Deregulierung – werden nicht        Exporten und damit das Ungleichgewicht im Au-
           oder in völlig unzureichendem Maße angegan-           ßenhandel abzubauen.
           gen.                                                       Diese Vorschläge sind ausdrücklich auch
                 Aus gewerkschaftlicher Sicht ist eine Politik   dazu gedacht, einen Diskussionsprozess über die
           notwendig, die den Menschen in den Mittelpunkt        Verbesserung von Arbeits- und Lebensbedingun-
           stellt und nicht das Marktinteresse und die Ge-       gen anzuregen: Welche Vorstellungen und Wün-
           winninteressen einiger Weniger. ver.di schlägt da-    sche haben Menschen, welche Leistungen erwar-
           für zunächst ein drittes Konjunkturpaket im Um-       ten sie als öffentliche Angebote, was also soll
           fang von 100 Milliarden Euro vor. (ver.di 2009a)      staatlich, was privat oder solidarisch organisiert
           Außer in arbeitsmarktpolitische Sofortmaßnah-         sein, und wie könnte dies dann organisiert sein?
           men soll der Großteil der Mittel für Investitionen    Wie stellen wir uns die Verteilung von Erwerbs-
           in Sachausgaben und ausdrücklich auch Personal        arbeitszeit, Zeit für Familie, Freunde, gesellschaft-
           fließen – vor allem mehr Personal für Bildung         liches Engagement oder Muße vor? Ein solcher
           und Kinderbetreuung, aber auch in Krankenhäu-         Diskussionsprozess selbst könnte Menschen mo-
           ser und Altenpflege und in die ökologische Mo-        tivieren, sich engagiert und selbstbewusst für ihre
           dernisierung des Verkehrs. Berechnungen zeigen,       Interessen einzusetzen.
           dass dadurch zwei Millionen Arbeitsplätze ge-              Die Themen „Gutes Leben – gute Arbeit“
           schaffen und gesichert werden können. Die Be-         oder Arbeitszeit und Zeitpolitik sind bei Gewerk-
           darfe in diesen Bereichen sind unbestritten. Sie      schaften Dauerthemen, und damit eng verbun-
           sind aber auch dauerhaft. Das Konjunkturpaket         den das Thema Geschlechtergerechtigkeit. Die

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Auseinandersetzungen um diese Fragen erfahren         Perspektive gehen muss, um einen „langfristigen
jetzt in der Krise und in ihrem weiteren Verlauf      Prozess der Transformation im Sinn der Entfal-
eine Zuspitzung. Die Zuspitzung von Widersprü-        tung einer neuen Lebenskultur und einer um-
chen sollten wir – Männer und vor allem Frauen        fassenden Demokratisierung der Arbeits-, Lebens-
– nutzen, uns zu verständigen und deutlich zu         und Geschlechterverhältnisse“. (Kurz-Scherf
machen, wie wir leben und arbeiten wollen. Vor        2009) Vor 80 Jahren schon hat Keynes eine Per-
allem sollten wir uns selbst klar machen, dass es     spektive für seine Enkelkinder skizziert. Knüpfen
neben der notwendigen kurzfristigen Feuerwehr-        wir daran an!
politik gegen die Krise um eine weitergehende

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     Bundesverwaltung, Fachbereich 9, 2009
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     Wachstumseuphorie und Verteilungsrealität, Marburg 2007
Ingrid Kurz-Scherf, Monopoly-Kapitalismus – Reservat der Männlichkeit, in: Blätter für deutsche und
     internationale Politik, 5/2009, Seite 36 bis 40
OECD-Wirtschaftsausblick, Zwischenausgabe, März 2009

                                                                                                           13
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           Alexandra Scheele, Hat die Wirtschaftskrise ein Geschlecht? In: Blätter für deutsche und internationale
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           ver.di 2009a, Sozialökologisch umsteuern – solidarisch finanzieren. Vorschläge der Vereinten Dienst-
                leistungsgewerkschaft (ver.di) für ein drittes Konjunkturpaket, April 2009
                ver.di 2009b, Bereich Wirtschaftspolitik, Solidarisch aus der Krise. Zwei Millionen Arbeitsplätze.
           Profiteure zur Kasse“, Mai 2009, www.wipo.verdi.de
                ver.di 2009c, Investitionen in die Zukunft statt Schuldenbremse, Dokumentation der Tagung vom
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           Niechoj, Achim Truger (Hg.), In gemeinsamer Verantwortung. Die Sozial- und Wirtschaftspolitik der
           Großen Koalition 2005-2009, Marburg 2009, Seite 117–141

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2. Die Subprime-Krise und die geschlechtsspezifische Schuldenfalle

Brigitte Young

Die globale Finanzkrise hatte ihren Ursprung                          und sozial schwachen Gruppen den Zugang zu
zwar im US-amerikanischen Subprime-Kredit-                            Wohneigentum ermöglichte. Das führte dazu,
markt, löste aber eine weltweite Kreditkrise aus,                     dass einerseits die Banken auf inzwischen viel-
die die globale Realwirtschaft mit unvorhergese-                      fach wertlosen hypothekengesicherten Wertpa-
hener Wucht traf. Die Subprime-Krise wird einer                       pieren (MBOs) sitzen, und andererseits dazu – wie
ganzen Reihe von Faktoren angelastet. Dabei wird                      im dritten Teil gezeigt wird –, dass die ärmeren
allerdings meist außer acht gelassen, dass in den                     Schichten durch den mit hohen Schulden verbun-
Vereinigten Staaten ein Wandel von einem über                         denen Einstieg in den Subprime-Markt nun bei
die Makroökonomie gesteuerten Sozial- und Wirt-                       stagnierenden Löhnen in eine hochriskante Schul-
schaftsmodell hin zu einem Modell der Finanzia-                       denfalle gerieten (Montgomerie/Young 2009).
lisierung des Alltagslebens (financialization of every-
day life; Froud et al., 2007) stattfand. Das Binde-
glied zwischen beiden Modellen waren durch                            Der privatisierte Keynesianismus und die
Privatschulden finanzierte Immobilien. Meine im                       Finanzialisierung des Alltagslebens1
Folgenden empirisch zu überprüfende These lau-
tet, dass der Wandel der makroökonomischen                            Mit dem Begriff der Finanzialisierung wird ein Pro-
Verhältnisse in den USA, verbunden mit der kom-                       zess beschrieben, in dem „die Zwänge und Struk-
plexen Verbriefung der Immobilienhypotheken,                          turen eines Finanzmarkt-Regimes in die internen
zunächst den Boom anheizte und dann auch die                          Organisationsstrukturen der Unternehmen über-
Finanzkrise auslöste. Gleichzeitig lässt sich empi-                   setzt werden“ (Windolf 2005: 17). Mit dem erwei-
risch nachweisen, dass insbesondere die ärmeren                       terten Begriff der Finanzialisierung des Alltagsle-
Schichten der Gesellschaft (wie etwa Frauen und                       bens werden die Durchdringung des Alltags und
Minoritäten) durch die hohe Verschuldung und                          die diskursive Macht der Finanzmärkte in den
die steigenden Kosten der Schuldentilgung die                         Blick genommen (Nölke 2009). In seiner kon-
Lasten und Risiken der makroökonomischen Stra-                        struktivistischen Interpretation definiert Leonard
tegie des privatisierten Keynesianismus tragen                        Seabrooke den Begriff „financialization of everyday
(Montgomerie/Young 2009).                                             activities“ als einen Weg zum Verständnis dafür,
      Im Folgenden soll zunächst der Prozess der                      wie neue finanzielle Verfahren durch Regierungs-
Finanzialisierung des Alltagslebens als Wandel vom                    verordnungen und die Aktivitäten privater Insti-
staatlichen zum privatisierten Keynesianismus                         tutionen geschaffen werden, und besonders zum
dargestellt werden. Im zweiten Teil wird dann die                     Verständnis dafür, wie sie die täglichen Gewohn-
Entwicklung des Subprime-Sektors als ein Aspekt                       heiten, das Risikoverhalten und das intersub-
des Bürgerrechtsdiskurses erklärt, der aufgrund                       jektive Verständnis innerhalb der breiteren Be-
bestimmter gesetzlicher Regelungen Minoritäten                        völkerung verändern“ (Seabrooke 2008: 6). Mit

1   Dieser Abschnitt des Aufsatzes bezieht sich auf Teilaspekte meines Beitrages „Vom staatlichen zum privatisierten Keynesianismus. in:
    Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 16,1: 141–159.

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           anderen Worten, die Finanzialisierung des täg-         zient, verschwenderisch und paternalistisch kari-
           lichen Lebens hat mit der Transformation des           kiert und gleichzeitig zu strenger fiskalischer
           keynesianischen Wohlfahrtsstaates zu tun und           Sparsamkeit, restriktiver Geldpolitik und der Pri-
           führte dazu, dass die makroökonomische Nach-           vatisierung von bisher öffentlich finanzierten
           frage als Motor der Wirtschaftsdynamik nicht           Dienstleistungen aufruft, dann muss die Frage ge-
           mehr über den Sozialstaat und die Koppelung der        stellt werden, wie insbesondere ärmere Einkom-
           Reallöhne an die Produktivität gesichert wurde,        mensgruppen Zugang zu einer Geldgesellschaft
           sondern durch den verschuldeten privaten Im-           bekommen, die die financialization of everyday
           mobilienbesitz (Schwartz 2008; Langley 2008;           activities voraussetzt. Die Verdrängung von öf-
           Young 2009).                                           fentlichen Gütern durch individuelle, markt-
                Die Beschreibung der Transformation des           basierte Leistungen (wie z.B. Privatpensionen,
           fordistischen Akkumulationsregimes seit dem            private Gesundheitsversicherungssysteme, pri-
           Amtsantritt von Margaret Thatcher 1979 und             vate Krankenhäuser, Privatschulen, private Kin-
           Ronald Reagan 1980 muss hier nicht detailliert         der- und Altenbetreuung, privatisierte Energie-
           wiederholt werden. Bob Jessop (1994) hat aus-          und Transporteinrichtungen) sind zunehmend
           führlich auf den Wandel vom keynesianischen            Ausdruck eines weltweiten Prozesses der Finan-
           Wohlfahrtsstaat zu einem schumpeterianischen           zialisierung des Alltagslebens.
           workfare state hingewiesen. Im Mittelpunkt steht             Dieses Paradox der Zwänge, wie es Janine Bro-
           der Machtverlust der Gewerkschaften infolge der        die bezeichnet, in dem „die neo-liberale Globali-
           angebotsorientierten Förderung von Flexibilität        sierung den Bedarf an sozialer Intervention im
           und der ständigen Innovation im Rahmen grenz-          Namen der menschlichen Sicherheit maximiert,
           überschreitender offener Märkte. Die Nachfrage-        während sie gleichzeitig die politischen Räume
           politik des keynesianischen Wohlfahrtsstaates          und strategischen Instrumente minimiert, die
           wurde dann durch die angebotsorientierte Politik       notwendig sind, um das Allgemeinwohl zu erhal-
           der „Workfare-Policies“ ersetzt, so dass die Sozial-   ten“ (Brodie 2003: 60) wurde nämlich in den USA
           versicherungssysteme, soweit sie nicht der Erhö-       durch private Kreditexpansion und individuelle
           hung der Flexibilität und Konkurrenzfähigkeit          Haushaltsverschuldung gelöst. Die Antwort auf
           dienten, um- oder abgebaut wurden. Gleichzeitig        das Paradox von stagnierenden Löhnen und sin-
           symbolisierte der schumpeterianische workfare state    kenden Sozialdienstleistungen einerseits und
           (in Deutschland etwa unter dem Schlagwort „För-        dem Zugang zu Konsumgütern (inklusive medi-
           dern und Fordern“ bekannt) die Aufhebung des           zinischer Betreuung, Studiengebühren, Auto-
           institutionalisierten Kompromisses zwischen Ka-        darlehen, Kreditkarten, Startkapital für kleine
           pital und Arbeitnehmer der Nachkriegszeit. „Die        Dienstleistungsfirmen) war die Verschuldung
           ‚Workfare-Policies’ stellen“, so Jessop, „auch den     über Hypotheken. Abbildung 1 zeigt, wie die Hy-
           Versuch dar, jene wohlfahrtsstaatlichen Rechte         pothekenverschuldung der privaten Hauseigen-
           zurückzunehmen, die in den Nachkriegsjahren            tümer mit dem Anstieg der realen Immobilien-
           als Klassenkompromiss etabliert wurden“ (Jessop        preise korrelierte; allerdings fällt der Anstieg der
           2001: 88).                                             Kurve der Privatverschuldung im Verhältnis zum
                Dieser Wandel zu einem politischen Projekt,       Einkommen nach 2001 steiler aus, als die des An-
           das Stephen Gill (2000) als „neuen Konstitutiona-      stiegs der realen Immobilienpreise (Young 2009).
           lismus des disziplinierenden Neoliberalismus“                Infolge bisher größtenteils noch ungeklärter
           (S. 26) bezeichnet, der für die Ausgestaltung des      und unbeabsichtigter Gegebenheiten, wie der
           Staates und das globale Wirtschaftsmanagement          historisch niedrigen Zinssätze in den USA seit
           eine globale, marktbasierte, besitzindividualis-       den 1990er Jahren und der internationalen Liqui-
           tische Strategie festschreibt, führt aber zu einer     ditätsüberschüsse, die die nominalen Kosten der
           Ungereimtheit. Wenn nämlich der Neoliberalis-          Kreditaufnahme in den letzten zwanzig Jahren
           mus die Sozialversicherungssysteme als ineffi-         global stark nach unten drückten, wurde Immo-

    16
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                                                                    WISO
                                                                                                                                                     Diskurs

    Abbildung 1:

    Haushaltshypothekenschuld und reale Hauspreise (Quartalsdaten)

    105

      95

      85

      75

      65

      55

      45

      35
           1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006

                                Schulden/Einkommen                                      Reale Immobilienpreise

    Quelle: Zitiert nach Finicelli (2007: 6); ursprünglich Bureau of Economic Analysis and Federal Reserve

bilieneigentum in den USA (später auch in Groß-                                ditätsüberschüsse finanzierte. Diese Kapitalflüsse
britannien und Irland, Spanien und Australien)                                 förderten ihrerseits die US-amerikanische Wachs-
zum neuen Motor eines von den Konsumenten                                      tumsdynamik innerhalb der Konsumökonomie.
angeführten und über Privatschulden finan-                                     Der Immobilienmarkt, der tief mit amerikani-
zierten ökonomischen Wachstumsmusters. Im                                      schen, konservativen Wertvorstellungen der Ei-
Mittelpunkt der globalen Rekonfiguration von                                   gentümergesellschaft verwurzelt ist, fungierte somit
Gläubigern und Schuldnern stand der Immobili-                                  als funktionales Äquivalent der keynesianischen
enmarkt der Vereinigten Staaten. Während die                                   Nachfragepolitik (Young 2009).
Mehrheit der sozialwissenschaftlichen (linken)
Autoren die Rekonfiguration des keynesianischen
Wohlfahrtsstaates nur als Verschiebung der                                     Die Entwicklung des Subprime-Sektors als
Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit                                  Bürgerrecht
analysierten, wurde Grundbesitz (z.B. der Besitz
von Immobilien) als Wertbestand von keinem                                     In der heute zunehmend emotionalen Debatte
Autor als mögliche Substitution staatlicher Sozi-                              über die manchmal durchaus kriminellen Ma-
alversicherungssysteme erkannt. Mit anderen                                    chenschaften der Banken, Subprime-Hypotheken
Worten, der Immobilienmarkt fungierte als eine                                 an einkommensschwache Haushalte mit nied-
Form von Wohnimmobilien-Kapitalismus (Schwartz                                 riger Bonität (wie z.B. die Ninja Darlehen – No In-
2008)2, der sich durch die internationalen Liqui-                              come, No Job, No Assets) zu vergeben, wird oft-

2   Schwarz nennt dies einen residential capitalism.

                                                                                                                                                    17
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