Diskurs Antworten aus der feministischen Ökonomie auf die globale Wirtschafts- und Finanzkrise - Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Oktober 2009 Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik Diskurs Antworten aus der feministischen Ökonomie auf die globale Wirtschafts- und Finanzkrise Arbeitsbereich Frauen- und Geschlechterforschung 1
2
Tagungsdokumentation der Friedrich-Ebert-Stiftung Antworten aus der feministischen Ökonomie auf die globale Wirtschafts- und Finanzkrise Adelheid Biesecker Gabriele Michalitsch Sabine Reiner Barbara Stiegler Brigitte Young
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Inhalt Vorbemerkung 3 1. Wem nutzen die Konjunkturpakete? Auswirkungen der Krise und der politischen Reaktionen auf Frauen und Männer Sabine Reiner 5 2. Die Subprime-Krise und die geschlechtsspezifische Schuldenfalle Brigitte Young 15 3. Zur Care-Arbeit in Deutschland Barbara Stiegler 27 4. Vorsorgendes Wirtschaften als Alternative Adelheid Biesecker 32 5. Umsteuern: Mit feministischer Politik der Finanz- und Wirtschaftskrise begegnen Gabriele Michalitsch 49 Die Autorinnen 56 Diese Tagungsdokumentation wird von der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich- Ebert-Stiftung veröffentlicht. Die Ausführungen und Schlussfolgerungen sind von den Autorinnen in eigener Verantwortung vorgenommen worden. Impressum: © Friedrich-Ebert-Stiftung Herausgeber: Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Godesberger Allee 149 53175 Bonn Fax 0228 883 9205 www.fes.de/wiso Karikatur: Matthias Pflügner, Berlin, nach einer Idee von Marie Marx Gestaltung: pellens.de Redaktionelle Mitarbeit: Dr. Gabriele Ricke Druck: bub Bonner Universitäts-Buchdruckerei ISBN: 978-3-86872-193-5
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Vorbemerkung Im Sommer 2009 veranstaltete ein breites Bünd- bezeichnet die bezahlten wie auch unbezahlten nis von Frauen aus Wissenschaft und Gesellschaft personenorientierten Versorgungsleistungen, die ein Symposium, um nach Antworten der femi- zum größten Teil von Frauen geleistet werden. nistischen Ökonomie auf die Krise zu suchen. Die In der öffentlichen Diskussion herrscht zur Dokumentation dieser Veranstaltung liegt hier- Zeit eine neue Offenheit für alternative ökono- mit vor. mische Konzepte und damit für Querdenkerinnen Auslöser war die Beobachtung, dass Frauen und Querdenker. Das Motto der Weltsozialgipfel, in der gegenwärtigen Analyse der Finanz- und „eine andere Welt ist möglich“, formuliert nicht Wirtschaftskrise kaum auftauchen. Zunächst rein mehr nur eine kleine Minderheit von Globalisie- optisch ist die Szene der Banker, Wirtschaftsex- rungskritikerinnen und -kritikern, sondern ist die perten, Politiker und Lobbyisten fast ausschließ- Hoffnung vieler – auch in den westlichen Indus- lich männlich besetzt. Und auch in den Lösungs- triestaaten, die von der gegenwärtigen Weltord- möglichkeiten, die diskutiert werden, spielt das nung stark profitierten. Eine andere Welt müsste Geschlechterverhältnis keine Rolle. Dabei geht es in jedem Fall auch geschlechtergerecht sein. um nichts weniger als die Bewältigung der größ- Mit dem Symposium „Antworten aus der fe- ten Finanz- und Wirtschaftskrise seit 80 Jahren, ministischen Ökonomie auf die globale Wirt- die die Menschen weltweit bedroht und somit schafts- und Finanzkrise“ am 4. Juli 2009 in Mün- alle, ob Frauen oder Männer, in Haftung nimmt: chen waren folgende Ziele verbunden: kollektiv über Staatsgarantien, Rettungsschirme • Verständnis über die globalen Zusammenhän- für Banken und öffentliche Konjunkturprogram- ge der Krise zu schaffen, me ungekannten Ausmaßes und individuell etwa • die geschlechtsspezifischen Dimensionen der durch den Verlust des Arbeitsplatzes, des Hauses, Krise zu verdeutlichen, der Geldanlagen. • feministische Konzepte und Theorien zur Be- Was dabei unbeachtet bleibt, sind die ge- wältigung der Krise vorzustellen und zu disku- schlechtsspezifischen Dimensionen der gegen- tieren, wärtigen Krise und die unterschiedlichen Auswir- • politische Forderungen aus Frauensicht zu for- kungen der staatlichen Maßnahmen auf Frauen mulieren. und Männer. Diesen Mangel untersucht die femi- Es zeigte deutlich, dass Frauen in der Analyse und nistische Ökonomie. Darüber hinaus befasst sie in der Debatte nicht nur einfach fehlen, sondern sich auch mit wirtschaftstheoretischen Fragestel- dass es ganz im Sinne von Gender Mainstreaming lungen, die neue Perspektiven in der Krisenbe- einer strukturellen Analyse und daraus resultie- wältigung eröffnen. Ein zentraler Aspekt ist dabei render Veränderung der ökonomischen Strate- der ökonomische Zusammenhang zwischen der gien und der Institutionen bedarf. geldvermittelten Wirtschaft und der unbezahlten An einem Tag konnten nicht alle relevanten Arbeit sowie die Neubewertung der Care Arbeit Themen abgedeckt werden, so etwa die Auswir- zur Produktion des Lebensstandards. Care Arbeit kungen der Krise auf die spezifische Situation von 3
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Migrantinnen, die im Bereich der haushaltsnahen Das Symposium wurde von einer Reihe von Dienstleistungen tätig sind und volkswirtschaft- Veranstalterinnen getragen: Neben der Friedrich- lich eine tragende Rolle spielen: In den westlichen Ebert-Stiftung und der Frauenakademie München Industriestaaten halten sie den Wohlfahrtsstaat beteiligten sich das Bayernforum der FES, das am Laufen, in ihren Heimatländern sind ihre fi- Münchner Frauennetz für eine frauengerechte nanziellen Transferleistungen die Existenzgrund- Stadt und die Hochschule München. lage ihrer Familien und Gemeinden. Allen Mitveranstalterinnen und besonders den Referentinnen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Dr. Barbara Stiegler Birgit Erbe Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn Frauenakademie München 4
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs 1. Wem nutzen die Konjunkturpakete? Auswirkungen der Krise und der politischen Reaktionen auf Frauen und Männer Sabine Reiner Die Wirtschaft befindet sich in einer Krise von schaftlichen Krisenzeiten, die jetzt auch wieder historischem Ausmaß. Die weltweite Produktion aufgegriffen werden. Kaum aufgegriffen aber wer- ist so schnell eingebrochen wie zuletzt in der den Keynes‘ Betonung von Faktoren, die perma- Weltwirtschaftskrise nach dem Zweiten Welt- nent Instabilitäten bei der kapitalistischen Ent- krieg. In Deutschland haben nur die Menschen wicklung verursachen, und schon gar nicht seine im Osten direkt nach der Wende einen ähnlich Vorstellung zur längerfristigen wirtschaftlichen tiefen Einbruch erlebt. Entwicklung. Überall auf der Welt haben die Regierungen angesichts der Turbulenzen auf den Finanzmärk- ten sehr schnell Rettungsschirme für Banken in Vision aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise bis dahin ungekanntem finanziellem Ausmaß des vergangenen Jahrhunderts aufgespannt. In Deutschland stellte die Regierung fast 500 Milliarden Euro zur Bankenrettung zur Unter der Überschrift „Wirtschaftliche Möglich- Verfügung, obwohl es doch immer hieß, der Staat keiten für unsere Enkelkinder“ leistete sich Keynes habe kein Geld. Zum Vergleich: Für den sofor- einen Blick in die Zukunft, der in der heutigen tigen Ausbau der Kitas waren zum Beispiel keine Situation sehr nachdenklich machen sollte, nach- sechs Milliarden da. Mit dem wirtschaftlichen denklich, weil wir scheinbar meilenweit weg Einbruch folgten im zweiten Schritt Konjunktur- von den damals skizzierten Möglichkeiten sind. pakete. Gegenüber den Bankenrettungsmaßnah- Gleichzeitig ist die damalige Perspektive von men fielen sie aber deutlich kleiner aus: Konjunk- Keynes aktueller denn je. In dem im Oktober turpaket I und II umfassen zusammen etwa 60 1930 – also ein Jahr nach Krisenbeginn – erschie- Milliarden Euro. nenen Aufsatz schreibt Keynes: Massive staatliche Eingriffe in das Wirt- „Wenn das Kapital um, sagen wir zwei Pro- schaftsgeschehen galten vor der Krise als völlig zent pro Jahr wächst, wird sich die Kapitalaus- überholt – sozusagen als Grufti-Ökonomie. Mit stattung der Welt in 20 Jahren um die Hälfte ver- dem wirtschaftlichen Absturz riefen aber selbst größert haben, und siebeneinhalbmal in 100 Jah- die größten Marktfetischisten plötzlich lautstark ren. Stellen Sie sich das einmal in Form stofflicher nach dem Staat. Alle waren plötzlich wieder Key- Dinge vor – Häuser, Transportmittel und Ähn- nesianerinnen und Keynesianer und erinnerten liches.“ sich an einige Konzepte, weniger an die umfas- Die „Entdeckung von Mitteln zur Einsparung senden Lehren, die der britische Ökonom John von Arbeit“ werde allerdings schneller voran- Maynard Keynes nicht zuletzt als Reaktion auf schreiten „als unsere Fähigkeit, neue Verwendung die Weltwirtschaftskrise ab 1929 zu Papier ge- für Arbeit zu finden.“ Die Perspektive für die En- bracht hatte. Mit seinem Namen verbunden sind kelkinder: „Wir werden mehr Dinge für uns sel- staatliche Stabilisierungsmaßnahmen in wirt- ber tun können, als es bei den Reichen heute üb- 5
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung lich ist“. Wir sollten uns, so Keynes, aber bemü- Wie auch in anderen Krisen reagiert der hen, die Arbeit, die noch zu tun ist, soweit wie Arbeitsmarkt zeitverzögert und besonders in möglich zu verteilen. Ganz konkret: Drei-Stun- Deutschland durch die erhebliche Ausweitung der den-Schichten und eine Fünfzehn-Stunden-Wo- Kurzarbeit bisher sehr gedämpft. Im Juli 2009 wa- che sah er als Perspektive für die absehbare Zu- ren 3,46 Millionen Menschen offiziell arbeitslos kunft. (Keynes 2007, Seite 139ff.) gemeldet. Die Arbeitslosenquote lag damit bei Den Blick auf die Auswirkungen der Krise 8,2 Prozent gegenüber 7,7 Prozent im Juli 2008. und der Maßnahmen gegen die Krise will ich an Insgesamt stieg die Anzahl der offiziell Arbeits- dieser Vision orientieren, die zu einer Zeit einer losen in diesem Zeitraum um gut 250.000. Bei vergleichbar tiefen wirtschaftlichen Krise entwor- den Männern nahm die Anzahl dabei um gut fen wurde. Wie damals hat auch die aktuelle Krise 270.000 oder 17 Prozent zu, bei den Frauen ging verdeutlicht, dass die eingeschlagenen Wege der sie um 22.000 bzw. 1,4 Prozent sogar leicht zu- wirtschaftlichen Entwicklung an Grenzen gesto- rück. In den nächsten Monaten droht ein starker ßen und längerfristig offensichtlich nicht nach- Anstieg der registrierten Arbeitslosigkeit – im haltig sind. Besteht die Aussicht, dass die Wege Winter 2010/2011 sogar auf fünf Millionen. (vgl. aus der Krise dieses Mal die zwischenzeitlich er- IMK 2009 und DIW 2009) reichten Produktivitätsfortschritte dauerhaft zum Drei bereits seit längerer Zeit wirksame Ent- Wohle aller nutzen? Besteht die Aussicht, dass die wicklungstendenzen sind als wesentliche Ursa- Arbeit künftig „soweit wie möglich“ verteilt wird, chen der Krise zu benennen: dass nicht die einen sich gegen den Druck zu Ar- • Die Umverteilung von unten nach oben welt- beitszeitverlängerungen zur Wehr setzen und ar- weit und innerhalb einzelner Länder, die in beiten müssen bis zum Umfallen, während an- den kapitalistischen Industrieländern mit der deren die Chance auf Erwerbsarbeit und eigen- nachlassenden Wachstums- und Investitions- ständiges Einkommen verwehrt wird? Welche dynamik seit Ende der 1960er Jahre einsetzte; Generation wird endlich die Generation der En- • seit der Jahrtausendwende stark zunehmende kelkinder sein, in der Erwerbsarbeit so verteilt ist, globale Ungleichgewichte zwischen Ländern dass für alle – Männer wie Frauen – Zeit für Fami- mit hohen Exportüberschüssen und -defiziten lie und Freunde, Freizeit und Zeit für Engagement und bleibt? • die politisch vorangetriebene Deregulierung der Finanzmärkte, die Spekulation und Blasen- bildung erst ermöglichte. Dimensionen und Ursachen der Krise Einige Schlaglichter sollen die Zusammenhänge illustrieren. (vgl. ausführlicher ver.di 2009b) Die Kombination von Wirtschafts- und weltwei- Die Umverteilung von unten nach oben zeigt ter Finanzmarktkrise ließ den Absturz so tief wer- sich insbesondere in den Industrieländern seit den. Der letzte Aufschwung war in Deutschland den 1970er Jahren an einem langfristigen erheb- bereits im Frühjahr 2008 zu Ende – bevor die lichen Rückgang der jeweiligen Lohnquoten und Auswirkungen der Finanzmarktkrise zu spüren an einem heftigen Anstieg der Einkommen von waren, die die Krise massiv verstärkten. reichen Haushalten. In den USA hatte die nach Besonders betroffen ist hierzulande das pro- der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre einge- duzierende Gewerbe, das im ersten Quartal 2009 leitete Politik des New Deals bis in die 1970er um ein Fünftel gegenüber dem Vorjahr eingebro- Jahre zu einer gleichmäßigeren Verteilung von chen ist. Die Nachfrage nach Exportgütern aus Einkommen und Vermögen geführt. Seither wur- Deutschland lag um bis zu 30 Prozent niedriger de dieser Trend wieder umgekehrt, heute sind bei als in den Vergleichsmonaten 2008. Insgesamt der Einkommensverteilung wieder die Verhält- gehen die aktuellen Prognosen von einem Rück- nisse der 1920er Jahre hergestellt. (IMK 2009b) gang des Bruttoinlandsprodukts von 6,5 Prozent Die Einkommen des am besten bezahlten Fünf- in diesem Jahr aus. tels der US-Bevölkerung stiegen seit 1970 real um 6
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs 60 Prozent, während die übrigen Einkommensbe- Durch diese Entwicklung ist der Niedriglohn- zieher/innen real zehn Prozent verloren. Das Ver- sektor rasant gewachsen. Mit 22,2 Prozent aller mögen der Familie Walton, gewerkschaftsfeind- Beschäftigten hat Deutschland in der EU knapp liche Besitzer der Wal-Mart-Kette, ist größer als vor Großbritannien inzwischen den größten das Vermögen des unteren Drittels der US-Bevöl- Niedriglohnsektor. Dabei sind 70 Prozent der Be- kerung – also von über 100 Millionen Menschen. schäftigten im Niedriglohnsektor weiblich – das (Funnell 2009) In den USA stieg allerdings – im ist fast jede dritte erwerbstätige Frau. (ebd.) Die Unterschied zu Deutschland – die Konsumnach- Auseinanderentwicklung bei den Einkommen ist frage weiter an, weil die ärmeren Haushalte ihre daher ganz massiv zu Lasten von Frauen gegangen. relativen Einkommensverluste durch eine zuneh- Die im letzten Aufschwung neu entstan- mende Kreditaufnahme kompensieren konnten. denen Jobs waren viel zu schlecht bezahlt, um In Deutschland ist der langfristige Umvertei- eine Belebung des privaten Konsums zu bewir- lungstrend mit der Politik der „Agenda 2010“ seit ken. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bun- 2003 massiv verstärkt worden. Im vergangenen desrepublik klaffte zwischen dem Anstieg des Aufschwung stieg die Beschäftigung nicht durch Bruttoinlandsprodukts und dem privaten Kon- die Schaffung von normalen Vollzeitstellen. Zwi- sum eine deutliche Lücke: Während das Bruttoin- schen 2003 und 2008 hat die Anzahl von unbe- landsprodukt im Aufschwung bis 2008 real um fristeten, sozialversicherten Vollzeitjobs sogar um knapp zehn Prozent gestiegen ist, kam der private fast eine Million abgenommen. Vielmehr boom- Konsum mit einem Anstieg von nicht einmal ten alle Formen prekärer Beschäftigung: Ein-Euro- einem Prozent praktisch nicht vom Fleck. Jobs plus 300.000, Mini-Jobs plus 500.000, alle Diese Politik hat in mehrfacher Weise zur möglichen Formen von neuer (Schein-)Selbst- Entstehung der Finanzmarkt- und Weltwirt- ständigkeit plus 400.000. Auch die Teilzeitquote schaftskrise beigetragen. Die zunehmende Um- hat weiter zugenommen: Ein Drittel aller Beschäf- verteilung in Deutschland und weltweit hat eben- tigten arbeiten inzwischen Teilzeit, 1996 waren so wie die Privatisierung sozialer Sicherungssys- es gerade einmal gut 20 Prozent. Bei der Leih- teme und das verschuldungsgestützte Wachstum arbeit gab es ebenfalls eine massive Zunahme um unter anderem in den USA immer mehr Geld auf 400.000 auf zeitweise insgesamt 800.000. die Finanzmärkte gespült. Je mehr Geld auf der Im Ergebnis sind die Einkommen aller Be- Suche nach lukrativen Anlagen und immer hö- schäftigten insgesamt seit Anfang des Jahrtau- heren Renditen ist, desto größer die Gefahr der sends real nicht mehr gestiegen, während die Ein- Blasenbildung und die Tendenz zur Verselbst- kommen aus Gewinnen und Vermögen um 30 ständigung der Finanzsphäre gegenüber der Real- Prozent gewachsen sind. Entsprechend verzeich- wirtschaft, desto größer der Druck, immer neue nete die Lohnquote zwischen 2003 und 2008 ei- Anlageformen und Finanz„produkte“ zu erfin- nen beispiellosen Absturz von gut 70 auf nur den – so lange bis die Blase platzt. noch etwa 65 Prozent. Doch dieser Absturz zeigt Das politisch geförderte Lohndumping in noch nicht einmal die ganze Dramatik der Aus- Deutschland setzt außerdem andere Länder unter weitung von Armut und Prekarität. großen Druck. Da sie bislang den deutschen Um- Die Beschäftigten in der oberen Hälfte der verteilungswettlauf zu Lasten der Beschäftigten Einkommensskala konnten bei den Stundenlöh- nicht mitgemacht haben, haben sie massiv Welt- nen in diesen elf Jahren wenigstens noch ein marktanteile gegenüber dem Exportweltmeister kleines reales Plus von insgesamt etwa vier Pro- Deutschland verloren. Die Kehrseite hierzulande zent durchsetzen. Die Stundenlöhne der Beschäf- ist die schlechte Entwicklung auf dem Binnen- tigten auf der unteren Hälfte der Einkommens- markt. Die inländische Nachfrage hat zwar mit skala sind zwischen 1995 und 2006 inflationsbe- drei Vierteln der Beschäftigten das mit Abstand reinigt dagegen gesunken – beim unteren Viertel, größere Gewicht für die gesamtwirtschaftliche wo die Arbeitsverhältnisse weniger häufig tarifge- Entwicklung. In den letzten Jahren hing das schützt sind, um 14 Prozent! (Weinkopf 2009) Wachstum aber zu zwei Dritteln vom Export ab. 7
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Die Exporte ins Ausland stiegen steil an. We- den mit einer Zuweisung von Verantwortung für gen der schwachen inländischen Entwicklung wirtschaftliche Stabilität und soziale Gerechtig- zogen die Importe aus dem Ausland aber nicht keit an staatliche Institutionen. mit. So schnellte der deutsche Exportüberschuss Die meisten Länder führten Maßnahmen zur bis 2007 mit 170 Milliarden Euro auf den höchs- stärkeren Kontrolle des Finanz- und vor allem des ten Überschuss der Nachkriegszeit hoch. Deutsch- Kreditsystems ein und auf internationaler Ebene land hat also unter seinen Verhältnissen gelebt wurden 1944 in dem kleinen Ort Bretton Woods und viel mehr Waren und Dienstleistungen ex- in den USA ein System fester Wechselkurse ver- portiert als im Gegenzug aus dem Ausland im- einbart. Zur Sicherung der Stabilität sollten ge- portiert wurden. Das konnte nur funktionieren, gebenenfalls die Zentralbanken auf den Devisen- weil andere Länder mehr importieren als expor- märkten intervenieren. Auch für die Stabilität der tieren, also über ihren Verhältnissen leben. Und wirtschaftlichen Entwicklung sahen die Regie- es konnte funktionieren, weil die Exporterlöse rungen sich in der Verantwortung. Dies äußerte angelegt werden konnten: „2007 gingen 30 Pro- sich in umfangreichen wirtschaftspolitischen In- zent des Geldes, das die Deutschen beim Export terventionen bis hin zu Verstaatlichungen von netto machten, in US-Wertpapiere und Finanz- wichtigen Unternehmen. (vgl. Huffschmid 2002) derivate … Weil sie so viel Geld aus streberhaften Im deutschen Stabilitätsgesetz wurde die Verant- Außenüberschüssen unterkriegen mussten, tru- wortung der Politik für vier Ziele festgeschrieben: gen deutsche Finanzjongleure besonders zur glo- Für ein stabiles Preisniveau, einen hohen Beschäf- balen Finanzblase bei – und machten die Deut- tigungstand, angemessenes Wachstum und, heu- schen zugleich umso anfälliger für die Konse- te weitgehend vergessen, ein außenwirtschaft- quenzen.“ (Fricke 2009) liches Gleichgewicht – also das Gegenteil einer Mit dem Platzen der Kreditblase ist die schul- einseitig am Export orientierten wirtschaftspoli- denfinanzierte Nachfrage aus den Defizitländern, tischen Strategie. vor allem USA, aber auch Spanien, Großbritan- Das erneute Ausschlagen des Pendels in die nien und vielen anderen zusammengebrochen. andere Richtung fiel wiederum mit dem Beginn Absatzmärkte schrumpfen weltweit, die ganze wirtschaftlicher Krisenzeiten zusammen. Für die Weltwirtschaft kommt ins Trudeln. Besonders be- Einbrüche bei Wachstums- und Beschäftigungs- troffen sind Länder, die sich in hohem Maße von raten seit Anfang der 1970er Jahre wurde nun Exporten abhängig gemacht haben. Wenn diese genau das verantwortlich gemacht, was im Fall Länder die Nachfrage auf ihren inländischen der großen Krise der 1930er Jahre zur Lösung hat- Märkten nicht stärken, wird es schwer für sie, te beitragen sollen: Aus der damals rettenden der Abwärtsspirale der Krise zu entkommen. Die Staatstätigkeit war im öffentlichen Sprachge- Finanzmarktkrise hat schlagartig deutlich ge- brauch Staatsversagen geworden, dem nur mit macht, dass die Konjunkturlokomotive USA die einer Revitalisierung von Marktkräften begegnet Weltwirtschaft nur auf Kosten einer gigantischen werden könne. Wie die langen Wellen der Wirt- Verschuldung ziehen konnte. schaft bewegt sich offenbar auch eine lange Welle wechselnder theoretischer Grundansichten durch die Geschichte. Aus der Vergangenheit lernen Auch in einer anderen Hinsicht gab es Kritik. Staatliche Verantwortung kann auch Formen Aus Weltwirtschaftskrise und Weltkrieg im letz- staatlicher Bevormundung annehmen. So ging ten Jahrhundert waren durchaus wirtschaftspoli- der patriarchale Staat bei der Wahrnehmung der tische Lehren gezogen worden. Die Verfechter ihm zugeschriebenen Verantwortung von einem des Wirtschaftsliberalismus befanden sich auf klaren Leitbild bezogen auf das Verhältnis und dem Rückzug. Die Mehrheit der Ökonomen und der Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen Ökonominnen sowie der Verantwortlichen in der aus. Das Leitbild war die bürgerliche Familie mit Politik setzte sich für Regulierungen ein, verbun- dem alleinverdienenden Ehemann und der allen- 8
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs falls zuverdienenden Hausfrau und Mutter. Der Bei der Einschätzung der Reichweite der Kon- darauf abgestimmte institutionelle Rahmen etwa junkturpakete ist es daher nicht nur wichtig, ob in den sozialen Sicherungssystemen oder im Steu- eine konkrete Maßnahme unterschiedliche Aus- errecht (Ehegattensplitting, „Hausfrauensteuer- wirkungen auf Männer und Frauen hat. Zu fragen klasse“) blieb bis heute in vielen Bereichen erhal- ist auch, ob die Antikrisenpolitik Grundlage für ten. Demgegenüber betonte die Frauenbewegung eine Entwicklung legt, die auch längerfristig sta- das Recht auf Eigenständigkeit und individuelle bil ist und Diskriminierung und Unterordnung Freiheit auch für Frauen. entgegenwirkt. Das eigenständige, freie Individuum, das sei- nes eigenen Glückes Schmied ist, das Arbeit fin- det, wenn es nur will, und dem vom Tellerwäscher Die Konjunkturpakete der Bundesregierung zum Millionär alle Optionen offen stehen – genau das ist allerdings auch das überhöhte Leitbild im Die Konjunkturpakete der Bundesregierung sind Neoliberalismus. Nancy Fraser stellt daher die un- von dem Geist getragen, dass die Krise ein wenn bequeme Frage: „War es bloßer Zufall, dass Neue auch tiefer, so doch vorübergehender Einbruch Frauenbewegung und Neoliberalismus gleichzei- ist. An der wirtschaftspolitischen Ausrichtung tig, sozusagen als Tandem, in Erscheinung traten und dem Entwicklungsmodell wird kein Ände- und gediehen? Oder gab es zwischen ihnen so et- rungsbedarf gesehen. Ausdrücklich will Kanzlerin was wie eine unappetitliche, untergründige Wahl- Merkel nur „Brücken bauen“, bis die Wirtschaft verwandtschaft? Diese zweite Möglichkeit auch wieder Tritt fasst und der nächste Aufschwung nur in Betracht zu ziehen, ist Ketzerei, gewiss, einsetzt. „Ein generelles Umsteuern der deut- aber wir schaden uns selbst, wenn wir versäumen, schen Volkswirtschaft lehne ich ab. Mein Ziel ist, ihr nachzugehen. Fest steht, dass der Aufstieg des dass das Land Exportweltmeister bleibt.“ (Angela Neoliberalismus das Terrain, auf dem die Frauen- Merkel in der ARD-Sendung „Anne Will“ am bewegung operierte, dramatisch veränderte. Das 22. März 2009) Ergebnis war, so meine These, eine Umdeutung Die beiden bisher beschlossenen Pakete sind feministischer Ideale.“ (Fraser 2009, Seite 50) zu klein und für eine wirksame Gegensteuerung Fraser plädiert dafür, sich die Definitions- ungünstig zusammengesetzt. Nur etwa ein Viertel macht über feministische Ideen und Ideale wie- der Ausgaben sind für direkte öffentliche Inves- der zurückzuholen. Dabei müssten die Unter- titionen vorgesehen, obwohl diese, wie viele Stu- schiede zum Neoliberalismus betont werden, die dien zeigen, den größten Wachstums- und Be- vor allem darin bestünden, dass dieser blind sei schäftigungseffekt aufweisen. Die Hälfte der Aus- gegenüber struktureller, über den Markt vermit- gaben sind Steuer- und Abgabensenkungen, die telter Diskriminierung und Unterordnung. Dem- wenig bringen und vor allem Unternehmen und gegenüber müssten die Begriffe soziale Gerech- Personen mit höheren Einkommen begünstigen. tigkeit und Solidarität als Leitbilder in den Vor- Eine Entlastung oder Unterstützung von Men- dergrund gerückt werden. schen mit geringen Einkommen wäre dagegen Mit Recht ist zu fragen, wie weit individuelle wirkungsvoller, weil sie zusätzliche Mittel auch Freiheit und Eigenständigkeit tragen können, unmittelbar und vollständig für zusätzliche Aus- wenn für Millionen von Frauen eine eigenstän- gaben nutzen. Hätte die Regierung den Gesamt- dige Absicherung durch Erwerbsarbeit nur im umfang der Pakete in direkte öffentliche Ausga- Niedriglohnsektor mehr schlecht als recht ge- ben gelenkt, wäre die konjunkturstabilisierende lingt. Oder wenn die Gleichstellung in der Gesell- Wirkung bei gleichen Kosten doppelt so hoch ge- schaft darin besteht, dass – wie in Island – nun wesen. (OECD 2009 und IMF 2008) zwei Frauen die Leitung in der Landesbank und Der Gesamtumfang der Konjunkturpakete einer weiteren Bank übernommen haben und die beträgt je nach Rechnung 60 bis 80 Milliarden Scherben aus der Krise zusammenkehren dürfen. Euro und damit rund drei Prozent des Bruttoin- 9
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung landsprodukts. (für eine übersichtliche Darstel- Kurzarbeiterinnen und -arbeiter viel niedriger lung der Pakete siehe Eicker-Wolf, Niechoj, Tru- war. Die Förderung der Kurzarbeit kommt also ger 2009) Der höhere Betrag ergibt sich, wenn zum größten Teil Männern zugute. Da der An- man, wie die Bundesregierung, Maßnahmen mit stieg der Arbeitslosigkeit per Saldo bisher zulas- einberechnet, bei denen auch unabhängig von ten von Männern ging, erscheint dies vorder- der Krise Handlungsbedarf bestand. Dies sind vor gründig auch gerechtfertigt. allem die Wiederausweitung der Pendlerpau- Auffällig ist allerdings, wie schnell und in schale und die Absetzbarkeit der Krankenversi- welchem Umfang die Politik zur Unterstützung cherungsbeiträge. Beides schlägt im Zeitraum bereit ist, wenn vorwiegend von Männern be- 2009/2010 mit jeweils gut acht Milliarden Euro setzte Arbeitsplätze bedroht sind. Neben der zu Buche und war wegen Urteilen des Bundes- direkten Förderung der Kurzarbeit mit gut drei verfassungsgerichts notwendig. Milliarden Euro gilt dies für die fünf Milliarden Das erste, noch Ende 2008 beschlossene Kon- schwere Abwrackprämie zur Unterstützung der junkturpaket, hat einen Umfang von elf Milliar- Automobilindustrie. Und es gilt für das medien- den Euro und besteht zum größten Teil aus steu- wirksame Engagement wahlkämpfender Politi- erlicher Entlastung von Unternehmen (sieben kerinnen und Politiker zur Rettung der Arbeits- Milliarden Euro). Dazu kommen Investitions- plätze bei Opel. Einen vergleichbaren Dauerein- anreize und -förderung (knapp drei Milliarden satz zum Schutz bedrohter Arbeitsplätze der Ver- Euro) sowie Steuerentlastung für private Haus- käuferinnen hätte man sich auch bei Karstadt, halte (Kfz-Steuer, höhere Absetzbarkeit von Hand- Quelle oder Hertie gewünscht. Diese Auffälligkeit werksleistungen, insgesamt 1,4 Milliarden Euro). zeigte sich schon in der Vergangenheit: Es gab Diese Maßnahmen erwecken den Eindruck, als umfangreiche Unterstützung etwa zum Struk- hätte sich der Wirtschaftsflügel der Union voll turwandel bei Kohle und Stahl, nicht aber als durchgesetzt. Ein wirksames Konjunkturpaket Hunderttausende von Frauenarbeitsplätzen in sieht jedenfalls anders aus. der Textil- und Bekleidungsindustrie verloren Schon im Januar 2009 musste die Bundesre- gingen. Auch 1996, nach dem „schwarzen Freitag gierung nachlegen und brachte das zweite Kon- der Rehabilitation“, mussten die überwiegend junkturpaket im Umfang von knapp 50 Milliar- weiblich Beschäftigten die Folgen des Beitrags- den Euro auf den Weg. Mit immerhin 16 Milliar- entlastungsgesetzes der Gesetzlichen Kranken- den Euro sind in diesem Paket nun auch Ausga- versicherung alleine ausbaden: Umfangreiche ben für Zukunftsinvestitionen der öffentlichen Kürzungen im Reha-Bereich führten zum Verlust Hand vorgesehen. Jeweils neun Milliarden kos- von über 10.000 Vollzeitstellen innerhalb von ten die Senkung der Einkommensteuer und der nur zwei Jahren. (Güttner-Mayer 2009) höhere Steuerzuschuss zur Gesetzlichen Kranken- Vom Anstieg der Arbeitslosigkeit in den kom- versicherung. Der nächstgrößte Posten ist mit menden Monaten werden voraussichtlich auch fünf Milliarden Euro die sogenannte Abwrack- immer mehr Frauen betroffen sein. Die Auswei- prämie. Ebenfalls in dieser Größenordnung be- tung von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit schwächt wegen sich die im Paket vorgesehenen Ausgaben die Einkommen und damit den Konsum der Men- zur Beschäftigungssicherung, darunter vor allem schen und belastet so die wirtschaftliche Entwick- die Förderung der Kurzarbeit. lung auch außerhalb der jetzt stark betroffenen Bei der Kurzarbeit hat sich der Bestand inner- Exportsektoren. Arbeitgeber werden die Krise zu- halb von nur vier Monaten auf über 1,2 Millio- sätzlich nutzen, um den Druck auf die Einkom- nen Personen im März 2009 mehr als verzehn- men der Beschäftigten zu erhöhen. Zudem droht, facht. Für den Mai 2009 schätzt die Bundesagen- dass Bund, Länder und Gemeinden den Stellen- tur für Arbeit 1,3 bis 1,4 Millionen Menschen in abbau und den Druck auf die Beschäftigten im Kurzarbeit, 80 Prozent davon sind Männer. In öffentlichen Dienst erneut verschärfen werden. dieser Größenordnung lag ihr Anteil auch in den Schon jetzt argumentieren sie, dies sei unaus- vergangenen Jahren, als die absolute Anzahl der weichlich, weil die Verschuldung im Gefolge der 10
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Krise enorm ansteigt. Innerhalb der EU gibt haushalt 1,8 Milliarden Euro kostet. Zusammen Deutschland schon heute gemessen am Brutto- mit der ebenfalls beschlossenen Erhöhung der inlandsprodukt am wenigsten für Beschäftigung Hartz IV-Regelsätze für Kinder summieren sich im öffentlichen Dienst aus. Wenn die neue Bun- die familienbezogenen Leistungen im Konjunk- desregierung diesen Schrumpfkurs weiter fort- turpaket II damit auf 2,3 Milliarden Euro – oder setzt, werden viele Frauenarbeitsplätze wegfallen, weniger als die Hälfte der Ausgaben für die Ab- denn etwas mehr als die Hälfte der Beschäftigten wrackprämie. im öffentlichen Dienst sind weiblich. Die im Konjunkturpaket vorgesehenen Aus- Die im Konjunkturpaket II beschlossene Sen- gaben für die Zukunftsinvestitionen der öffent- kung des Beitragssatzes zur Gesetzlichen Kran- lichen Hand laufen zum überwiegenden Teil über kenversicherung (GKV) – finanziert durch die Er- die Kommunen. Mehr als zwei Drittel davon wer- höhung des Steuerzuschusses – und die Senkung den für Schulen und Kindergärten ausgegeben. der Einkommensteuer soll den privaten Konsum (Ernst & Young 2009) Allerdings sind die Mittel anschieben. Der Wirkungsgrad dieser Maßnah- nicht für zusätzliches Personal vorgesehen, son- men ist dann am stärksten, wenn vor allem nied- dern nur für einmalige Ausgaben wie für Reno- rige Einkommen entlastet werden, weil aus die- vierungen oder andere bauliche Maßnahmen. sen ein geringerer Anteil gespart wird. Die Sen- Die gesicherten oder zusätzlich geschaffenen Ar- kung des Beitragssatzes bei der GKV kommt je- beitsplätze in diesem Bereich kommen fast aus- doch zur Hälfte den Arbeitgebern zugute. Zudem schließlich Männern zugute. (Scheele 2009) steigt die Entlastung bei den Beschäftigten wegen Die übrigen Mittel werden etwa für Lärm- des einheitlichen Beitragssatzes mit zuneh- schutzmaßnahmen oder für soziale, kulturelle mendem Einkommen. Von den Steuersenkungen oder Freizeiteinrichtungen ausgegeben. Als kon- dagegen, so beteuert die Bundesregierung, wür- kretes Beispiel sei die Vergabe von acht Millionen den vor allem Menschen mit geringen Einkom- Euro zur Sanierung des Karl-Liebknecht-Stadions men profitieren. Dies trifft allenfalls auf die pro- in Potsdam-Babelsberg genannt. Der Geschlech- zentuale Entlastung zu. Geringverdiener/innen terbias ist in diesem Fall allerdings nicht eindeu- haben von einer Steuersenkung ohnehin keinen tig, da im Stadion außer den Männern des Regio- Vorteil, weil sie überhaupt keine Steuern zahlen. nalligisten SV Babelsberg 03 auch die Deutschen Bei Singles gilt dies bis zu einem Jahresbrutto- Frauen-Fußballmeisterinnen vom 1. FFC Turbine einkommen von etwa 11.000 Euro. Für Durch- Potsdam ihre Heimspiele austragen. Höchst kri- schnittsverdienende mit knapp 30.000 Euro brut- tikwürdig ist aber, dass der Finanzminister in to beträgt die Entlastung gut 170 Euro im Jahr Brandenburg, Rainer Speer, der über die Vergabe oder 14 Euro im Monat, bei Einkommen über der Mittel aus dem Konjunkturpaket mitent- 50.000 Euro sind es gut 270 Euro im Jahr. (BMF scheidet, gleichzeitig Präsident des SV Babelsberg 2009) ist. (Märkische Allgemeine, 2. Juli 2009) Es ist Die Steuersenkung hat nicht nur eine erheb- durchaus empfehlenswert, sich vor Ort in der ei- liche soziale, sondern auch eine geschlechterspe- genen Kommune zu informieren und zu enga- zifische Schieflage. Denn in den oberen Einkom- gieren, die Möglichkeiten der kommunalen Mit- mensbereichen, in denen die maximale Entlas- bestimmung wahrzunehmen, um so auf künftige tungswirkung erreicht wird, sind Frauen nur zu Investitionsentscheidungen Einfluss nehmen zu 15 Prozent vertreten. Je höher das Einkommen, können. desto niedriger der Anteil der beschäftigten So positiv die zusätzlichen Mittel für kom- Frauen. Im unteren Zehntel der Einkommens- munale Investitionen sein mögen, sie können die hierarchie sind Frauen zu knapp 70 Prozent ver- zu erwartenden krisenbedingten Finanzprobleme treten. (Gender-Datenreport 2005, Seite 176ff.) der Kommunen nicht ausgleichen. Die Steueraus- Spürbar für Eltern war der sogenannte Kin- fälle für Bund, Länder und Gemeinden zusam- derbonus von 100 Euro für jedes Kind. Allerdings men werden sich zwischen 2009 und 2013 gegen- war dies eine einmalige Ausgabe, die den Bundes- über den ursprünglichen Erwartungen auf 300 11
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Milliarden aufsummieren. 90 Prozent der Kom- ist daher als Einstieg in ein Programm mit dauer- munen erwarten, dass Steuerausfälle bei ihnen haft höheren Ausgaben in diesen Bereichen zu höher sein werden als die zusätzlichen Einnah- verstehen. Ein solches Programm finanziert sich men aus den Konjunkturpaketen. (Ernst & Young durch seine Wachstums- und Beschäftigungsef- 2009) Und mit der neuen „Schuldenbremse“ hat fekte zu rund 50 Prozent selbst. Zur zusätzlichen die große Koalition die künftigen Verschuldungs- Finanzierung wird eine höhere Besteuerung der möglichkeiten von Bund, Ländern und Kommu- Profiteure von Umverteilung und der Verursacher nen auch noch stark eingeschränkt bzw. ganz ver- der Krise vorgeschlagen. boten – ungeachtet möglicher ökonomischer und Voraussetzung für eine Umkehr und eine sozialer Verluste. (ver.di 2009c) nachhaltige Entwicklung ist außerdem, die Um- verteilung von unten nach oben zu stoppen und wieder eine gleichmäßigere Verteilung zu gewähr- Sozialökologisch umsteuern – solidarisch leisten. Dazu müssen die Löhne und der Sozial- finanzieren staat gestärkt werden. Hierzulande heißt das, Befristungen, Leiharbeit und Minijobs massiv Die bisherigen Maßnahmen gegen die Krise rei- zurückzudrängen, endlich den gesetzlichen Min- chen nicht aus, um einer drohenden anhaltenden destlohn von wenigstens 7,50 Euro pro Stunde Entwicklung mit Stagnation oder schwachem einzuführen, das Arbeitslosengeld II zu erhöhen Wachstum und hoher Arbeitslosigkeit entschie- und wieder einen wirksamen Zumutbarkeits- den entgegenzuwirken. Mit den zeitlich begrenz- schutz für Jobs zu garantieren. Mehr öffentliche ten Konjunkturpaketen findet vor allem auch Ausgaben in den genannten Bereichen und eine kein Umsteuern zu einem nachhaltigeren und gerechtere Verteilung würden Erwerbschancen stabileren Entwicklungsmodell statt. Erst recht und Einkommen insbesondere auch von Frauen nicht zu einem Wirtschaftsmodell, das Frauen verbessern. Außerdem würden sowohl die inlän- und Männern gleiche Chancen einräumt. Die dische Nachfrage wie die Nachfrage nach Import- hier als wesentlich benannten Krisenursachen – gütern gestärkt. Deutschland würde so einen extreme Schieflagen bei der Verteilung, globale Beitrag leisten, um die Kluft zwischen Im- und Ungleichgewichte, Deregulierung – werden nicht Exporten und damit das Ungleichgewicht im Au- oder in völlig unzureichendem Maße angegan- ßenhandel abzubauen. gen. Diese Vorschläge sind ausdrücklich auch Aus gewerkschaftlicher Sicht ist eine Politik dazu gedacht, einen Diskussionsprozess über die notwendig, die den Menschen in den Mittelpunkt Verbesserung von Arbeits- und Lebensbedingun- stellt und nicht das Marktinteresse und die Ge- gen anzuregen: Welche Vorstellungen und Wün- winninteressen einiger Weniger. ver.di schlägt da- sche haben Menschen, welche Leistungen erwar- für zunächst ein drittes Konjunkturpaket im Um- ten sie als öffentliche Angebote, was also soll fang von 100 Milliarden Euro vor. (ver.di 2009a) staatlich, was privat oder solidarisch organisiert Außer in arbeitsmarktpolitische Sofortmaßnah- sein, und wie könnte dies dann organisiert sein? men soll der Großteil der Mittel für Investitionen Wie stellen wir uns die Verteilung von Erwerbs- in Sachausgaben und ausdrücklich auch Personal arbeitszeit, Zeit für Familie, Freunde, gesellschaft- fließen – vor allem mehr Personal für Bildung liches Engagement oder Muße vor? Ein solcher und Kinderbetreuung, aber auch in Krankenhäu- Diskussionsprozess selbst könnte Menschen mo- ser und Altenpflege und in die ökologische Mo- tivieren, sich engagiert und selbstbewusst für ihre dernisierung des Verkehrs. Berechnungen zeigen, Interessen einzusetzen. dass dadurch zwei Millionen Arbeitsplätze ge- Die Themen „Gutes Leben – gute Arbeit“ schaffen und gesichert werden können. Die Be- oder Arbeitszeit und Zeitpolitik sind bei Gewerk- darfe in diesen Bereichen sind unbestritten. Sie schaften Dauerthemen, und damit eng verbun- sind aber auch dauerhaft. Das Konjunkturpaket den das Thema Geschlechtergerechtigkeit. Die 12
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Auseinandersetzungen um diese Fragen erfahren Perspektive gehen muss, um einen „langfristigen jetzt in der Krise und in ihrem weiteren Verlauf Prozess der Transformation im Sinn der Entfal- eine Zuspitzung. Die Zuspitzung von Widersprü- tung einer neuen Lebenskultur und einer um- chen sollten wir – Männer und vor allem Frauen fassenden Demokratisierung der Arbeits-, Lebens- – nutzen, uns zu verständigen und deutlich zu und Geschlechterverhältnisse“. (Kurz-Scherf machen, wie wir leben und arbeiten wollen. Vor 2009) Vor 80 Jahren schon hat Keynes eine Per- allem sollten wir uns selbst klar machen, dass es spektive für seine Enkelkinder skizziert. Knüpfen neben der notwendigen kurzfristigen Feuerwehr- wir daran an! politik gegen die Krise um eine weitergehende Literatur Bundesministerium der Finanzen (BMF) 2009, Entlastungsbeispiele, http://www.bundesfinanzministe- rium.de/DE/Buergerinnen__und__Buerger/Gesellschaft__und__Zukunft/themenschwerpunkt__ konjunkturpakete/074a__Entlastungsbeispiel,templateId=raw,property=publicationFile.pdf Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW): Tendenzen der Wirtschaftsentwicklung 2009/2010, in: DIW Wochenbericht, Nr. 31/2009 Kai Eicker-Wolf, Torsten Niechoj und Achim Truger, Vom unerwarteten Aufschwung in den Sog der Weltrezession. Zur makroökonomischen Politik unter der Großen Koalition, in: Kai Eicker-Wolf, Stefan Körzell, Torsten Niechoj, Achim Truger (Hg.), In gemeinsamer Verantwortung. Die Sozial- und Wirtschaftspolitik der Großen Koalition 2005-2009, Marburg 2009, Seite 19-73 Ernst & Young, Deutsche Kommunen 2009 – Konjunkturpaket II und ÖPP. Ergebnisse einer Befragung von 300 deutschen Kommunen, Juni 2009 Nancy Fraser, Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte, in: Blätter für deutsche und in- ternationale Politik, 8/2009, Seite 43 bis 57 Thomas Fricke, Exportjunkie, noch ein Schuss, in: Financial Times Deutschland, 21. August 2009, Seite 26 Ben Funnell, Debt is capitalism’s dirty little secret, in: Financial Times, 30. Juni 2009 Gender-Datenreport, hrsg. vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2. Fas- sung, München 2005 Georg Güttner-Mayer, Rehabilitation 2009. Stationäre und ambulante Rehabilitation am Scheideweg zwischen Expansion und Wachstum oder Krise und Konkurs, unveröffentlichte Präsentation, ver.di Bundesverwaltung, Fachbereich 9, 2009 Jörg Huffschmid, Politische Ökonomie der Finanzmärkte, aktualisierte und erweiterte Neuauflage, Ham- burg 2002 Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK 2009a): Deutsche Wirtschaft verharrt in Talsohle, in: IMK Report, Nr. 39 IMK-Arbeitskreis Finanzkrise (IMK 2009b), Von der Finanzkrise zur Weltwirtschaftskrise“, IMK-Report Nr. 38 International Monetary Fund (IMF 2008), Fiscal Policy for the Crisis, IMF Staff Position Note, December, 29 2008 John Maynard Keynes, Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder, in: Norbert Reuter, Wachstumseuphorie und Verteilungsrealität, Marburg 2007 Ingrid Kurz-Scherf, Monopoly-Kapitalismus – Reservat der Männlichkeit, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/2009, Seite 36 bis 40 OECD-Wirtschaftsausblick, Zwischenausgabe, März 2009 13
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Alexandra Scheele, Hat die Wirtschaftskrise ein Geschlecht? In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/2009, Seite 26 bis 28 ver.di 2009a, Sozialökologisch umsteuern – solidarisch finanzieren. Vorschläge der Vereinten Dienst- leistungsgewerkschaft (ver.di) für ein drittes Konjunkturpaket, April 2009 ver.di 2009b, Bereich Wirtschaftspolitik, Solidarisch aus der Krise. Zwei Millionen Arbeitsplätze. Profiteure zur Kasse“, Mai 2009, www.wipo.verdi.de ver.di 2009c, Investitionen in die Zukunft statt Schuldenbremse, Dokumentation der Tagung vom 16. April 2009 Claudia Weinkopf, Niedrig-, Kombi-, Mindestlöhne, in: Kai Eicker-Wolf, Stefan Körzell, Torsten Niechoj, Achim Truger (Hg.), In gemeinsamer Verantwortung. Die Sozial- und Wirtschaftspolitik der Großen Koalition 2005-2009, Marburg 2009, Seite 117–141 14
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs 2. Die Subprime-Krise und die geschlechtsspezifische Schuldenfalle Brigitte Young Die globale Finanzkrise hatte ihren Ursprung und sozial schwachen Gruppen den Zugang zu zwar im US-amerikanischen Subprime-Kredit- Wohneigentum ermöglichte. Das führte dazu, markt, löste aber eine weltweite Kreditkrise aus, dass einerseits die Banken auf inzwischen viel- die die globale Realwirtschaft mit unvorhergese- fach wertlosen hypothekengesicherten Wertpa- hener Wucht traf. Die Subprime-Krise wird einer pieren (MBOs) sitzen, und andererseits dazu – wie ganzen Reihe von Faktoren angelastet. Dabei wird im dritten Teil gezeigt wird –, dass die ärmeren allerdings meist außer acht gelassen, dass in den Schichten durch den mit hohen Schulden verbun- Vereinigten Staaten ein Wandel von einem über denen Einstieg in den Subprime-Markt nun bei die Makroökonomie gesteuerten Sozial- und Wirt- stagnierenden Löhnen in eine hochriskante Schul- schaftsmodell hin zu einem Modell der Finanzia- denfalle gerieten (Montgomerie/Young 2009). lisierung des Alltagslebens (financialization of every- day life; Froud et al., 2007) stattfand. Das Binde- glied zwischen beiden Modellen waren durch Der privatisierte Keynesianismus und die Privatschulden finanzierte Immobilien. Meine im Finanzialisierung des Alltagslebens1 Folgenden empirisch zu überprüfende These lau- tet, dass der Wandel der makroökonomischen Mit dem Begriff der Finanzialisierung wird ein Pro- Verhältnisse in den USA, verbunden mit der kom- zess beschrieben, in dem „die Zwänge und Struk- plexen Verbriefung der Immobilienhypotheken, turen eines Finanzmarkt-Regimes in die internen zunächst den Boom anheizte und dann auch die Organisationsstrukturen der Unternehmen über- Finanzkrise auslöste. Gleichzeitig lässt sich empi- setzt werden“ (Windolf 2005: 17). Mit dem erwei- risch nachweisen, dass insbesondere die ärmeren terten Begriff der Finanzialisierung des Alltagsle- Schichten der Gesellschaft (wie etwa Frauen und bens werden die Durchdringung des Alltags und Minoritäten) durch die hohe Verschuldung und die diskursive Macht der Finanzmärkte in den die steigenden Kosten der Schuldentilgung die Blick genommen (Nölke 2009). In seiner kon- Lasten und Risiken der makroökonomischen Stra- struktivistischen Interpretation definiert Leonard tegie des privatisierten Keynesianismus tragen Seabrooke den Begriff „financialization of everyday (Montgomerie/Young 2009). activities“ als einen Weg zum Verständnis dafür, Im Folgenden soll zunächst der Prozess der wie neue finanzielle Verfahren durch Regierungs- Finanzialisierung des Alltagslebens als Wandel vom verordnungen und die Aktivitäten privater Insti- staatlichen zum privatisierten Keynesianismus tutionen geschaffen werden, und besonders zum dargestellt werden. Im zweiten Teil wird dann die Verständnis dafür, wie sie die täglichen Gewohn- Entwicklung des Subprime-Sektors als ein Aspekt heiten, das Risikoverhalten und das intersub- des Bürgerrechtsdiskurses erklärt, der aufgrund jektive Verständnis innerhalb der breiteren Be- bestimmter gesetzlicher Regelungen Minoritäten völkerung verändern“ (Seabrooke 2008: 6). Mit 1 Dieser Abschnitt des Aufsatzes bezieht sich auf Teilaspekte meines Beitrages „Vom staatlichen zum privatisierten Keynesianismus. in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 16,1: 141–159. 15
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung anderen Worten, die Finanzialisierung des täg- zient, verschwenderisch und paternalistisch kari- lichen Lebens hat mit der Transformation des kiert und gleichzeitig zu strenger fiskalischer keynesianischen Wohlfahrtsstaates zu tun und Sparsamkeit, restriktiver Geldpolitik und der Pri- führte dazu, dass die makroökonomische Nach- vatisierung von bisher öffentlich finanzierten frage als Motor der Wirtschaftsdynamik nicht Dienstleistungen aufruft, dann muss die Frage ge- mehr über den Sozialstaat und die Koppelung der stellt werden, wie insbesondere ärmere Einkom- Reallöhne an die Produktivität gesichert wurde, mensgruppen Zugang zu einer Geldgesellschaft sondern durch den verschuldeten privaten Im- bekommen, die die financialization of everyday mobilienbesitz (Schwartz 2008; Langley 2008; activities voraussetzt. Die Verdrängung von öf- Young 2009). fentlichen Gütern durch individuelle, markt- Die Beschreibung der Transformation des basierte Leistungen (wie z.B. Privatpensionen, fordistischen Akkumulationsregimes seit dem private Gesundheitsversicherungssysteme, pri- Amtsantritt von Margaret Thatcher 1979 und vate Krankenhäuser, Privatschulen, private Kin- Ronald Reagan 1980 muss hier nicht detailliert der- und Altenbetreuung, privatisierte Energie- wiederholt werden. Bob Jessop (1994) hat aus- und Transporteinrichtungen) sind zunehmend führlich auf den Wandel vom keynesianischen Ausdruck eines weltweiten Prozesses der Finan- Wohlfahrtsstaat zu einem schumpeterianischen zialisierung des Alltagslebens. workfare state hingewiesen. Im Mittelpunkt steht Dieses Paradox der Zwänge, wie es Janine Bro- der Machtverlust der Gewerkschaften infolge der die bezeichnet, in dem „die neo-liberale Globali- angebotsorientierten Förderung von Flexibilität sierung den Bedarf an sozialer Intervention im und der ständigen Innovation im Rahmen grenz- Namen der menschlichen Sicherheit maximiert, überschreitender offener Märkte. Die Nachfrage- während sie gleichzeitig die politischen Räume politik des keynesianischen Wohlfahrtsstaates und strategischen Instrumente minimiert, die wurde dann durch die angebotsorientierte Politik notwendig sind, um das Allgemeinwohl zu erhal- der „Workfare-Policies“ ersetzt, so dass die Sozial- ten“ (Brodie 2003: 60) wurde nämlich in den USA versicherungssysteme, soweit sie nicht der Erhö- durch private Kreditexpansion und individuelle hung der Flexibilität und Konkurrenzfähigkeit Haushaltsverschuldung gelöst. Die Antwort auf dienten, um- oder abgebaut wurden. Gleichzeitig das Paradox von stagnierenden Löhnen und sin- symbolisierte der schumpeterianische workfare state kenden Sozialdienstleistungen einerseits und (in Deutschland etwa unter dem Schlagwort „För- dem Zugang zu Konsumgütern (inklusive medi- dern und Fordern“ bekannt) die Aufhebung des zinischer Betreuung, Studiengebühren, Auto- institutionalisierten Kompromisses zwischen Ka- darlehen, Kreditkarten, Startkapital für kleine pital und Arbeitnehmer der Nachkriegszeit. „Die Dienstleistungsfirmen) war die Verschuldung ‚Workfare-Policies’ stellen“, so Jessop, „auch den über Hypotheken. Abbildung 1 zeigt, wie die Hy- Versuch dar, jene wohlfahrtsstaatlichen Rechte pothekenverschuldung der privaten Hauseigen- zurückzunehmen, die in den Nachkriegsjahren tümer mit dem Anstieg der realen Immobilien- als Klassenkompromiss etabliert wurden“ (Jessop preise korrelierte; allerdings fällt der Anstieg der 2001: 88). Kurve der Privatverschuldung im Verhältnis zum Dieser Wandel zu einem politischen Projekt, Einkommen nach 2001 steiler aus, als die des An- das Stephen Gill (2000) als „neuen Konstitutiona- stiegs der realen Immobilienpreise (Young 2009). lismus des disziplinierenden Neoliberalismus“ Infolge bisher größtenteils noch ungeklärter (S. 26) bezeichnet, der für die Ausgestaltung des und unbeabsichtigter Gegebenheiten, wie der Staates und das globale Wirtschaftsmanagement historisch niedrigen Zinssätze in den USA seit eine globale, marktbasierte, besitzindividualis- den 1990er Jahren und der internationalen Liqui- tische Strategie festschreibt, führt aber zu einer ditätsüberschüsse, die die nominalen Kosten der Ungereimtheit. Wenn nämlich der Neoliberalis- Kreditaufnahme in den letzten zwanzig Jahren mus die Sozialversicherungssysteme als ineffi- global stark nach unten drückten, wurde Immo- 16
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Abbildung 1: Haushaltshypothekenschuld und reale Hauspreise (Quartalsdaten) 105 95 85 75 65 55 45 35 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 Schulden/Einkommen Reale Immobilienpreise Quelle: Zitiert nach Finicelli (2007: 6); ursprünglich Bureau of Economic Analysis and Federal Reserve bilieneigentum in den USA (später auch in Groß- ditätsüberschüsse finanzierte. Diese Kapitalflüsse britannien und Irland, Spanien und Australien) förderten ihrerseits die US-amerikanische Wachs- zum neuen Motor eines von den Konsumenten tumsdynamik innerhalb der Konsumökonomie. angeführten und über Privatschulden finan- Der Immobilienmarkt, der tief mit amerikani- zierten ökonomischen Wachstumsmusters. Im schen, konservativen Wertvorstellungen der Ei- Mittelpunkt der globalen Rekonfiguration von gentümergesellschaft verwurzelt ist, fungierte somit Gläubigern und Schuldnern stand der Immobili- als funktionales Äquivalent der keynesianischen enmarkt der Vereinigten Staaten. Während die Nachfragepolitik (Young 2009). Mehrheit der sozialwissenschaftlichen (linken) Autoren die Rekonfiguration des keynesianischen Wohlfahrtsstaates nur als Verschiebung der Die Entwicklung des Subprime-Sektors als Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit Bürgerrecht analysierten, wurde Grundbesitz (z.B. der Besitz von Immobilien) als Wertbestand von keinem In der heute zunehmend emotionalen Debatte Autor als mögliche Substitution staatlicher Sozi- über die manchmal durchaus kriminellen Ma- alversicherungssysteme erkannt. Mit anderen chenschaften der Banken, Subprime-Hypotheken Worten, der Immobilienmarkt fungierte als eine an einkommensschwache Haushalte mit nied- Form von Wohnimmobilien-Kapitalismus (Schwartz riger Bonität (wie z.B. die Ninja Darlehen – No In- 2008)2, der sich durch die internationalen Liqui- come, No Job, No Assets) zu vergeben, wird oft- 2 Schwarz nennt dies einen residential capitalism. 17
Sie können auch lesen