APUZAUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE

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APuZ
Aus Politik und Zeitgeschichte
                          16–19/2011 · 18. April 2011

                   Sport und Teilhabe
               Daniel Küchenmeister · Thomas Schneider
                                      Sport ist Teilhabe!

                                          Jürgen Mittag
                                       Sport und Protest

                     Daniela Schaaf · Jörg-Uwe Nieland
                     Medienpräsenz von Sportlerinnen –
                     Emanzipation oder Sexualisierung?

                         Simone Wörner · Nina Holsten
                 Frauenfußball – zurück aus dem Abseits

                                        Gertrud Pfister
  200 Jahre Turnbewegung – von der Hasenheide bis heute

                                        Sabine Radtke
      Inklusion von Menschen mit Behinderung im Sport
Editorial
  Am 26. Juni dieses Jahres wird in Sinsheim und Berlin die
sechste „FIFA Frauen-WM“ angepfiffen. Drei Wochen lang
werden der Frauenfußball und seine Protagonistinnen so stark
in der Öffentlichkeit stehen wie noch nie zuvor in Deutschland.
Viele hoffen gar auf eine Fort­setzung des „Sommermärchens“
2006, als die Weltmeisterschaft der Männer eine landesweite Eu­
phorie auslöste. Dabei ist es gerade einmal 40 Jahre her, dass der
Deutsche Fußball-Bund (DFB) Frauen offiziell gestattete, unter
seinem Dach gegen das runde Leder zu treten: Von 1955 bis 1970
galt in westdeutschen Fußballvereinen Spielverbot für Frauen.

  Die Entwicklung des Frauenfußballs spiegelt in gewisser Weise
die gesellschaftlichen Veränderungen durch die Frauenbewegung
wider. Doch auch noch immer vorhandene Defizite zeigen sich
sehr deutlich, etwa wenn man die Gehälter von Fuß­ballerinnen
und Fußballern vergleicht oder die Präsenz von Frauen und
Männern in der Sportberichterstattung sowie die Art ihrer me­
dialen Darstellung. Andererseits: Warum sollte ausgerechnet der
Sport weiter sein als die Gesellschaft, die ihn trägt?

  Es wäre vermessen, vom Sport zu erwarten, dass er Antwor­
ten auf die großen gesellschaftspolitischen Fragen liefert. Aber
Sport, vor allem der Breitensport, verfügt über besonderes inte­
gratives Potenzial und kann dazu beitragen, dass mehr Men­
schen an der Gesellschaft teilhaben und sich über sportliches
Engagement zum Beispiel in Vereinen einbringen, Verantwor­
tung für sich und andere übernehmen, Fair Play und Teamwork
einüben, den Wert von Unterschiedlichkeit erkennen und über
das gemeinsame Sporttreiben Toleranz lernen. Umso wichtiger
ist es, möglichst vielen Kindern und Jugendlichen die Ausübung
einer Sportart im Verein zu ermöglichen.

                                           Johannes Piepenbrink
Daniel Küchenmeister · Thomas Schneider                     sich in einer sich wandelnden Gesellschaft die
                                                             Frage, vor welchen Forderungen und Heraus­

Sport ist Teilhabe!                                          forderungen der Sport und seine Akteure jetzt
                                                             und in Zukunft stehen, um aktiv ihrer Verant­
                                                             wortung in der Gesellschaft gerecht zu werden

              Essay                                          und im und durch den Sport Zukunftsperspek­
                                                             tiven zu schaffen.

                                                               Denn umgekehrt ist die Gesellschaft auch

         W        enn in diesem Sommer die Frauenfußball-
                  WM in Deutschland stattfindet, wird
           auch das Thema der gesellschaftlichen Eman­
                                                             mitten im Sport angekommen, schließlich
                                                             sollen alle relevanten gesellschaftlichen Pro­
                                                             bleme wenn nicht vom Sport gelöst, so doch
                                   zipation von Frauen im    mindestens im Sport abgehandelt werden.
            Daniel Küchenmeister und durch den Sport         Die Probleme und Bruchstellen einer Gesell­
 Geb. 1956; Historiker, Publizist in den Fokus rücken.❙1     schaft, die unter dem zunehmenden Druck
 und Kurator, Organisator diver- Wenn außerdem – nur         einer globalisierten und medialisierten Welt
    ser Ausstellungen und Veran- wenige Tage vor dem         immer mehr Verwerfungen aufweist, zeigen
staltungen zur Sportgeschichte, Eröffnungsspiel        am    sich auch – und teilweise vielleicht gerade –
                           Berlin. 26. Juni 2011 – mit       im Sport. Ob sich auch deren Lösungen hier
        kuechenmeister-daniel@ dem Jahrestag der Er­         zuerst finden lassen, ist eine andere Frage:
                       t-online.de richtung des ersten öf­   In erster Linie handeln der Sport und seine
                                   fentlichen Turnplatzes    Akteure innerhalb der Rahmenbedingungen
                Thomas Schneider durch Friedrich Lud­        und Erfordernisse, die der Sport selbst setzt.
  Dr. phil., geb. 1970; Kulturwis- wig Jahn in der Ber­      Darüber hinaus agieren sie aber als mehr oder
  senschaftler und Publizist, Ku- liner Hasenheide im        weniger bewusste gesellschaftliche Akteure
   rator und Autor verschiedener Jahre 1811 die Turnbe­      unter sich wandelnden Bedingungen.
  Ausstellungen und Veröffentli- wegung ihr 200-jäh­
   chungen zur Sportgeschichte, riges Bestehen feiert,
                           Berlin. kann der organisierte                                           Beispiel Fußball
             trschneider@gmx.de Sport in Deutschland
                                   auf eine lange und be­    Als im Oktober 2010 die Errichtung der „Ma­
           wegte Geschichte zurückblicken.❙2 Zusammen        nuel Neuer Kids Foundation“ bekannt gegeben
           bieten beide Anlässe Gelegenheit, die Rolle des   wurde, eine Stiftung, mit der der Schalke- und
           Sports in der Gesellschaft grundsätzlich zu       Nationalmannschafts-Torwart sozial schwa­
           ­erörtern.                                        che Kinder im Ruhrgebiet unterstützt, war die
                                                             öffentliche Aufmerksamkeit ­vergleichsweise
           Sport ist und war zu allen Zeiten Abbild          gering. Dabei ist das Engagement des jungen
         und Motor gesellschaftlicher Prozesse sowie         Fußballprofis bemerkenswert, bezieht sich der
         Kultur bildender Faktor, wobei er in den ver­       Stiftungszweck doch ausdrücklich auf das ört­
         schiedenen Phasen seiner Entwicklung unter­         liche Umfeld des Spielers und noch dazu auf
         schiedliche Ausprägungen erfahren hat, aber         ein Thema, das im öffentlichen Diskurs häufig
         immer in wechselseitiger Beziehung zu den           eine untergeordnete Rolle spielt. Manuel Neu­
         komplexen politischen, ökonomischen, sozi­          er begründet seine Initiative so: „Ich weiß, dass
         alen, gesellschaftlichen und kulturellen Ver­       ich zu den Privilegierten zähle und Glück in
         hältnissen steht. Inzwischen scheint er in der      meinem Leben habe. Davon möchte ich etwas
         Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein:          zurückgeben. Mit meiner Stiftung will ich der
         Nicht zufällig sprach Thomas Bach, der Präsi­       sozialen Verantwortung gerecht werden. Und
         dent des Deutschen Olympischen Sportbundes
         (DOSB), anlässlich des 20. Jahrestags der Deut­     ❙1 Mit einem breiten Ansatz widmete sich diesem The­
         schen Wiedervereinigung von der „prägenden          ma auch die am 12. 10. 2010 in Potsdam von der Fried­
         Symbolkraft“ des Sports, fordert der Präsident      rich-Ebert-Stiftung veranstaltete Tagung „Emanzi­
         des Deutschen Turner-Bundes (DTB) Rainer            pation und Fußball“. Ein Dokumentationsband zur
                                                             Tagung erscheint in Kürze im Panama Verlag Berlin.
         Brechtken, Bewegung als Bildung zu begreifen,       ❙2 So auch geschehen auf dem Symposium „Berlin be­
         oder wünscht sich Theo Zwanziger, der Präsi­        wegt. Historische Wegmarken und die gesellschaftli­
         dent des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), ei­        che Verantwortung des Sports“, das am 18./19. 11. 2010
         nen „werteorientierten Fußball“. Dabei stellt       in Berlin stattfand.

                                                                                               APuZ 16–19/2011        3
zwar in meiner Stadt. Meine Heimatstadt Gel­        tung einer aufmerksamen Öffentlichkeit. Zu
    senkirchen belegt in einer unrühmlichen Sta­        nennen sind die grundlegenden Fragen, denen
    tistik einen Spitzenplatz. Nahezu jedes vierte      sich der DFB im Nachgang zu seinem 100-jäh­
    Kind leidet unter Armut.“ Warum ist diese Ini­      rigen Jubiläum im Jahre 2000 sowie in Vorbe­
    tiative in der Öffentlichkeit so wenig bekannt?     reitung auf die Fußball-WM 2006 in Deutsch­
                                                        land stellen musste und stellte: Hierzu zählen
       Laut einer Anfang 2011 veröffentlichten          die Aufarbeitung der eigenen Geschichte in
    Studie der Bertelsmann-Stiftung zu sozialer         der sogenannten Havemann-Studie,❙4 welche
    Gerechtigkeit belegt Deutschland im inter­          die Verstrickung und die aktive Rolle des Ver­
    nationalen Vergleich lediglich einen Rang im        bandes im System des „Dritten Reiches“ un­
    unteren Mittelfeld. Die größten Defizite gibt       tersuchte, die Positionierung gegen rassis­
    es beim Zugang zu Bildung und Arbeit sowie          tische und antisemitische Tendenzen in den
    bei der Vermeidung von Armut, vor allem der         Stadien, zahlreiche Projekte zu Themen wie
    Kinderarmut. Jedes neunte Kind in Deutsch­          Integration, Antidiskriminierung und Fair­
    land wächst in armen Verhältnissen auf. So­         play sowie Maßnahmen gegen Gewalt, Rassis­
    ziale Gerechtigkeit definiert die Studie als        mus und Ausländerfeindlichkeit.
    Teilhabegerechtigkeit, wobei dem Staat die
    Aufgabe des sozialen Ausgleichs als Gewähr­           Im November 2009 wurde DFB-Präsident
    leistung von Teilhabechancen zukommt.❙3             Zwanziger hoch gelobt für seine viel beachte­
                                                        te Rede auf der Trauerfeier für den National­
      Leistungsträger wie Manuel Neuer nutzen           spieler Robert Enke, der unter Depressionen
    ihr großes Ansehen und ihr nicht minder gro­        gelitten hatte, in der er den Umgang mit dieser
    ßes Einkommen, um wohltätige oder gesell­           Krankheit in unserer Leistungsgesellschaft
    schaftliche Anliegen zu unterstützen. Auch          kritisch ansprach. Kurz darauf aber wurde
    Sportvereine und -verbände werden sich zu­          es manchem schon etwas zu viel des Guten,
    nehmend ihrer sozialen Verantwortung be­            als Zwanziger sich auch noch dem Problem
    wusst und verstärken ihr gesellschaftliches         der Diskriminierung von Homosexuellen im
    Engagement – allen voran im Fußball. Selbst­        Sport zuwandte und sich schließlich in der
    verständlich spielen auch andere Sportarten         Affäre um Schiedsrichterobmann Manfred
    eine Rolle, und es wäre berechtigt, sie in den      Amerell, der einen jüngeren Schiedsrichter
    Mittelpunkt zu rücken. Aber Fußball ist nun         sexuell genötigt haben soll, medial und mo­
    einmal zu einem Massen- und Medienspek­             ralisch zu verzetteln schien. Der Fußball war
    takel geworden, das in Deutschland so viele         plötzlich für alles zuständig, er war gleicher­
    Menschen anlockt wie keine andere Sport­            maßen übermächtig wie überfordert.
    art – sei es als Zuschauer oder Aktive in einer
    der vielen Ligen oder im Freizeitfußball.              Mit seiner jüngsten, im Rahmen des DFB-
                                                        Bundestags im Oktober 2010 beschlossenen
      Der DFB, mit 6,7 Millionen Mitgliedern            Initiative versucht der Verband nun als Re­
    größter Einzelsportverband der Welt, ist nicht      aktion auf die vielfältigen gesellschaftspoli­
    nur seit Jahrzehnten karitativ und humanitär        tischen Herausforderungen, seine sozialen
    aktiv, sondern mischt sich in historisch gereif­    Aktivitäten unter dem Schlagwort „Nachhal­
    tem Wissen um seine gesellschaftliche Ver­          tigkeit“ zu koordinieren. Interessanterwei­
    antwortung, auf der Grundlage eines zuneh­          se wurde der DFB seinerseits 2009 mit dem
    mend differenzierten Bildes von der eigenen         Sonderpreis des Deutschen Nachhaltigkeits­
    Geschichte und mit dem ohnehin vorhande­            preises für sein herausragendes Engagement
    nen Gewicht seiner Popularität in den vergan­       für Integration und Jugendarbeit ausgezeich­
    genen Jahren immer wieder in die öffentlichen       net, womit beispielsweise das Projekt „Tau­
    Debatten um gesellschaftliche, soziale und          send Bolzplätze“ oder das Konzept der mobi­
    ethisch-moralische Fragen ein – teilweise auf       len Ausbildungszentren gewürdigt wurden.
    eigene Initiative, teilweise erst auf anhaltenden
    politischen oder medialen Druck, aber stets           Mit dem Projekt „Green Goal“ zur WM
    unter wohlwollender oder kritischer Beobach­        2006 ging der Verband auch einen ersten

    ❙3 Vgl. Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), Soziale Ge­   ❙4 Vgl. Nils Havemann, Fußball unterm Haken­
    rechtigkeit in der OECD – Wo steht Deutschland?,    kreuz. Der DFB zwischen Sport, Politik und Kom­
    Gütersloh 2010.                                     merz, Frankfurt/M. 2005.

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Schritt in Richtung ökologischer Ausrich­            das gesellschaftliche Teilsystem Sport genauso
       tung, was öffentlich jedoch kaum wahrgenom­          wenig vollständig wie in andere Teilbereiche.❙6
       men wurde und grundsätzlich die Frage auf­
       wirft, ob sich nachhaltiges, umweltbewusstes            Der breit angelegte Aktionsplan „Sport
       Wirtschaften überhaupt mit Großereignissen           für alle“, der am 2. Juli 2009 vom Deutschen
       wie Fußballweltmeisterschaften vereinbaren           Bundestag beschlossen wurde, soll unter an­
       lässt. In Fortsetzung dieses ambitionierten          derem die bessere Integration von zugewan­
       Umweltprogramms hat auch das Organisati­             derten Menschen in die Sportvereine fördern
       onskomitee der Frauenfußball-WM 2011 ge­             und vor allem die gesellschaftliche Bedeutung
       meinsam mit dem Öko-Institut und gefördert           des Sports stärken. Derzeit ist der organisier­
       durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt             te Sport mit einer Million Vorstandsmitglie­
       ein entsprechendes Konzept entwickelt.               dern sowie 1,1 Millionen Trainern, Übungs­
                                                            leitern und Schiedsrichtern der quantitativ
         Dem Dachverband der unangefochtenen                bedeutsamste Träger bürgerschaftlichen En­
       Sportart Nummer eins in Deutschland geht             gagements in Deutschland – allerdings schei­
       es insgesamt aber auch darum, die eigenen            nen diese Zahlen aus verschiedenen Gründen
       gemeinnützigen und gesellschaftspolitischen          rückläufig zu sein. Laut Sportentwicklungs­
       Initiativen besser zu vernetzen. Dass in der         bericht 2007/2008 des Bundesinstituts für
       DFB-Spitze ein entsprechendes Problembe­             Sportwissenschaft und des DOSB sind die
       wusstsein vorhanden ist, belegt die Position         gegenwärtigen Hauptprobleme der Sportver­
       seines Präsidenten: „Es gibt auch soziale Ver­       eine die Gewinnung und Bindung von ehren­
       werfungen. Wir haben in unserem Land auf             amtlichen Funktionsträgern. Im Vergleich
       der einen Seite wachsenden Reichtum und auf          zu 2005 gab es hierbei einen Rückgang um
       der anderen Seite zunehmende Armut. Und              etwa 20 Prozent, während die Arbeitsbelas­
       an sozialer Gerechtigkeit zu arbeiten, das           tung der Aktiven um 13 Prozent auf monat­
       muss unsere gemeinsame Aufgabe sein, damit           lich 17,6 Stunden anstieg. Das Engagement im
       die Kluft zwischen Arm und Reich nicht zu            Verein wird mit einer jährlichen Wertschöp­
       weit auseinandergeht. Wir müssen die Balan­          fung von 6,6 Milliarden Euro beziffert.
       ce wahren. Auch hier hat der Fußball Verant­
       wortung und steht vor Herausforderungen.“❙5             Aber noch weit darüber hinaus ist der Sport
                                                            Träger, Förderer und Instrument gesellschaft­
                                                            lichen Engagements, was sich in vielfältigen
Sport für alle                                              Aktivitäten nicht nur von Vereinen, sondern
                                                            auch beispielsweise von Stiftungen zeigt, wel­
       Seit Sport als eigenständiges Teilsystem unse­       che die integrierende, gesundheitsfördern­
       rer Gesellschaft existiert und sich immer wei­       de, pädago­g ische oder auch kommunikative
       ter entwickelt hat, erfasst er immer breitere        Kraft des Sports in ihrer Förderarbeit nutzen.
       Kreise der Bevölkerung. Seit der Aufklärung          Alles das macht den Sport zu einem bedeu­
       ist das Betreiben von Leibesübungen nicht            tenden zivilge­sellschaftlichen Akteur und
       länger ausschließlich exklusiver Zeitvertreib        wesentlichen sozialen Faktor, der kaum zu
       gehobener Schichten, sondern steht prinzipi­         unterschätzende gesellschaftliche Bindungs­
       ell allen zur Verfügung. Seinem Wesen und der        kräfte freisetzt. Aus diesem Grunde muss der
       Überzeugung „Turnvater“ Jahns nach – der             Sport verstärkt eine Vorstellung davon entwi­
       mit seiner ursprünglich patriotisch ausgerich­       ckeln, wie er seine Stellung festigen und aus­
       teten Bewegung nicht zuletzt auf das Engage­         bauen sowie den Herausforderungen bei der
       ment des Staatsbürgers für das Gemeinwesen           Bewältigung gesamtgesellschaftlicher Aufga­
       abzielte – sollte das Turnen öffentlich sein in      ben von Staat, Markt und Zivilgesellschaft in
       dem Sinne, dass es für alle Altersgruppen und        Deutschland begegnen will.❙7
       sozialen Schichten offen ist (zu seiner Zeit al­
       lerdings noch nicht für Frauen). Freilich war
       und ist die Einbeziehung der Bevölkerung in          ❙6 Vgl. Ilse Hartmann-Tews, Sportentwicklung in
                                                            Europa unter Einbeziehung von Frauen, in: APuZ,
                                                            (2004) 26, S. 31–38.
       ❙5 Zit. nach: Daniel Küchenmeister/Thomas Schnei­    ❙7 Die Notwendigkeit einer engagementpolitischen
       der, „Fußball – ein Projekt gelebter Einheit“. In­   Konzeption der Fußballverbände und -vereine disku­
       terview mit DFB-Präsident Theo Zwanziger, in:        tiert Sebastian Braun, Die schönste Nebensache der
       Deutschland Archiv, (2010) 5, S. 778–787.            Welt im Bildungspluralismus. Thesen zum vereins-

                                                                                           APuZ 16–19/2011       5
Der Sport muss idealerweise seine Rolle             organisierten Sport bietet. Doch noch darüber
       im Ensemble der Kooperationspartner einer             hinaus sollte Sport als elementarer Teil von Bil­
       neuen Bürgerlichkeit definieren, die umfang­          dung, ja als Bildung selbst begriffen werden.
       reiche Unterstützung von staatlicher Seite
       legitimieren und die partnerschaftliche Zu­              Auch die Vermittlung von sozialen Kom­
       sammenarbeit mit anderen gesellschaftlichen           petenzen ist hier an herausragender Stelle
       Akteuren unter veränderten Rahmenbedin­               zu nennen, erfordern doch die zahlreichen
       gungen ausgestalten. Dabei muss er sich auch          Handlungsoptionen in einer multikulturel­
       weiter in Richtung anderer, vielleicht noch           len und von mannigfaltigen sozialen Mili­
       nicht in Betracht gezogener Handlungsräu­             eus geprägten Bürgergesellschaft zunehmend
       me, Betätigungsfelder und Mitspieler bewe­            Fähigkeiten, die – nebenbei oder gezielt – im
       gen, nicht zuletzt in Richtung der privaten           Rahmen und am Rande sportlicher Aktivitä­
       Wirtschaft, um auf dem Wege der Corporate             ten eingeübt werden können. Wer in einem
       Social Responsibility engagierter Unterneh­           Verein aktiv ist, erfährt, erlebt und ermöglicht
       men neue Ressourcen zu erschließen.                   für sich und andere den Mehrwert des Sports
                                                             in Hinblick auf Integration, Sozialisation,
          In einer Liga mit Wohlfahrtsverbänden und          Demokratie, Gesundheit, Ökonomie und
       Kirchen als bedeutenden sozialen Trägern spielt       dergleichen mehr. Im Sport werden die sozio­
       der Sport schon lange. Bereits seit 1965 gibt es      kulturellen Grundlagen der Gesellschaft, ihre
       einen verbindlichen Austausch sowie seit 1975         Wertvorstellungen, Umgangsformen und so­
       die gemeinsamen Spitzengespräche „Kirche              zialen Netze permanent revitalisiert. Darüber
       und Sport“, in denen die beiden großen Kir­           hinaus schafft er eine Vielzahl und Vielfalt an
       chen auf der einen und der DOSB auf der an­           Gelegenheiten zur Mitentscheidung und -ge­
       deren Seite gesellschaftspolitische Themen und        staltung und trägt somit zur sozialen Integra­
       Positionen austauschen. 2007 veröffentlich­           tion von benachteiligten Menschen und mit­
       te die „Gemeinsame Kommission Kirche und              tels Symbolen, Ritualen und Inszenierungen
       Sport“ das Ideenheft „Gemeinsam Gesellschaft          zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei (er­
       gestalten“. Dass es darin um mehr als nur heh­        innert sei etwa an den Fähnchen schwenken­
       re Anliegen und fromme Wünsche geht, zeigen           den Party-Patriotismus bei der Fußball-WM
       die beschriebenen Projekte sowie die Erkennt­         2006). Und der Bedarf an der Bereitstellung
       nis: „Kirche und Sport sind in der Gesellschaft       dieser Ressourcen wächst angesichts der aktu­
       tief verwurzelt, sie machen Angebote und ver­         ellen gesellschaftlichen Herausforderungen.
       fügen über Räume, in denen sich Menschen
       unterschiedlicher Nationalität, Religion, Kul­          Vor dem Hintergrund der im Spätsommer
       tur, sozialer Herkunft oder Hautfarbe begeg­          2010 aufbrechenden Debatte fand gerade das
       nen können.“ Unter dem Titel „Zum Wohl der            Thema Migration und Integration großen
       Menschen und der Gesellschaft“ folgte 2009            medialen Widerhall. Es nützt wenig, markt­
       ein gemeinsames Grundsatzpapier.                      schreierisch die integrative Kraft des Fußballs
                                                             zu beschwören und den jungen Nationalspie­
                                                             ler Mesut Özil als neuen Messias einer multi­
Sport ist mehr                                               kulturellen Gesellschaft zu verklären. Genau­
                                                             so wenig hilft es aber, die Bemühungen des
       Mehr als nur ein weiterer Partner ist das Bil­        DFB pauschal als Luftblase zu diskreditieren
       dungssystem. Immerhin beginnt sich lang­              oder so zu tun, als dienten sämtliche Maßnah­
       sam die Erkenntnis durchzusetzen, dass Schu­          men allein der Imagepflege. Demgegenüber
       le und Sport nicht notwendig in Konkurrenz            sind der seit 2007 verliehene Integrations­
       zueinander zu sehen sind. So veröffentlich­           preis, die Ernennung einer Integrationsbe­
       te der DOSB im Jahre 2008 das Grundsatz­              auftragten und viele unterstützte Programme
       papier „Chancen der Ganztagsförderung nut­            und Projekte mehr als nur symbolische Akte,
       zen“, das den Vereinen Ängste nehmen und auf          auch wenn auf der anderen Seite immer noch
       die Chancen hinweisen soll, welche die Ganz­          genug zu tun bleibt und es auch an Ideen nicht
       tagsförderung an den Schulen gerade für den           mangelt: Beispielsweise wäre eine Bildungsof­
                                                             fensive denkbar oder verstärktes Engagement
       und verbandsorganisierten Fußball als zivilgesell­    in präventiver Arbeit wie die Umsetzung ei­
       schaftlichem Mitspieler, in: Forschungsjournal Neue   nes Moduls zur interkulturellen Sensibilisie­
       Soziale Bewegungen, (2010) 23, S. 63–72.              rung in der Trainerausbildung.

   6    APuZ 16–19/2011
Das gesellschaftliche Engagement des Sports       ischen Charta „Sport für alle“. Ihr Ziel ist es,
      und seiner Akteure, seiner Vereine und Ver­         Bedingungen zu schaffen, die es der gesamten
      bände ist ohne Alternative, der angestoßene         Bevölkerung ermöglicht, regelmäßig Sport zu
      Prozess unumkehrbar und die zunehmende              treiben, und zwar ohne Berücksichtigung von
      Übernahme von sozialer Verantwortung nicht          Geschlecht, Alter, Beruf oder Einkommen
      hintergehbar. Dafür sprechen – und dafür sor­       (Art. 1: „Jeder Mensch hat das Recht, Sport
      gen – schon die vielfältigen Facetten des gesell­   zu treiben“). Jenseits der großen Organisatio­
      schaftlichen Wandels, der sich derzeit vollzieht.   nen des Sports existieren zahlreiche Projekte
                                                          und Initiativen, die sich derer annehmen, die
        Möglichkeiten, wie der Sport dem begeg­           am Rand der Gesellschaft stehen. Beispiels­
      nen könnte, gibt es viele. Zu denken wäre etwa      weise fand parallel zur Fußball-WM 2006 in
      an neue Angebotsstrukturen, die dem demo­           Deutschland die Streetfootball-WM in Berlin
      grafischen Wandel Rechnung tragen – dies            statt, ein Turnier weltweiter Entwicklungs­
      umso mehr, als sich allmählich die Erkennt­         projekte, die Fußball nach eigenen, sozialen
      nis durchzusetzen beginnt, dass sich dieser         „Fairplay“-Regeln spielen. Die Deutsche Stra­
      nicht erst in ferner Zukunft, sondern bereits       ßenfußball-Meisterschaft wiederum wird seit
      gegenwärtig vollzieht und auswirkt. Ebenfalls       2006 ausgerichtet vom Verein „Anstoß! Bun­
      sinnvoll schiene auch eine verstärkte Zusam­        desvereinigung für Soziale Integration durch
      menarbeit von Sportvereinen und -verbänden          Sport“, die auch die deutsche Beteiligung am
      mit kommunalen und staatlichen Stellen. Es          Homeless Worldcup organisiert.
      kommt darauf an, sozialraumorientiert und le­
      bensweltbezogen Menschen, die am Rand der              Wie weitreichend die Überlegungen hin­
      Gesellschaft stehen oder ins soziale Abseits zu     sichtlich einer Beteiligung aller am Sport gehen
      geraten drohen, zu fördern, zu befähigen und        können (und gehen müssen), zeigt das Beispiel
      zu ermächtigen – damit Handlungsräume er­           des Sports von Menschen mit Behinderung.
      öffnet sowie soziale und kulturelle Armuts­         Wird Behinderung nicht mehr als Defizit,
      barrieren überwunden werden können, und             sondern als soziale Benachteiligung im Sin­
      damit Teilhabe in gesellschaftlich relevanten,      ne einer Einschränkung von Teilhabechancen
      subjektiv bedeutsamen Lebensbereichen und           betrachtet, und werden Menschen mit Behin­
      Teilsystemen gelingen kann, zu denen selbst­        derung nicht länger als Objekte der Fürsorge,
      verständlich eben auch der Sport gehört.            sondern als mit Bürgerrechten ausgestattete,
                                                          selbstbestimmte Subjekte begriffen, reicht es
                                                          nicht, spezielle Angebote für Menschen mit
Teilhabe durch Sport                                      Behinderung (bis hin zum Leistungssport) zu
                                                          schaffen. Vielmehr kommt es darauf an, durch
      Seit die Verbesserung, die Erhaltung oder die       die Entwicklung und Organisation von inklu­
      Wiedererlangung der körperlichen Leistungs­         siven sportlichen Angeboten und Veranstal­
      fähigkeit und der eigenen Gesundheit als po­        tungen Menschen mit und ohne Behinderung
      tenzielles Ziel sportlicher Übungen auch als        miteinander in Bewegung kommen zu lassen.
      vermarktbar erkannt und in diesem Sinne sei­
      tens verschiedener Akteure instrumentalisiert          Mit dem Rückenwind der UN-Konvention
      wurden, ist der Sport als selbstverständlicher      über die Rechte von Menschen mit Behinde­
      Bestandteil individueller Lebensgestaltung          rungen, welche die Bundesrepublik 2009 rati­
      kaum mehr wegzudenken – im Gegenteil: Je            fiziert hat, wird auch im Sport sehr viel aktiver
      stärker Autonomie und Selbstwirksamkeit             als bislang mit dem Ziel der Inklusion gearbei­
      sowie körperliche Leistungsfähigkeit und Ge­        tet werden müssen❙8. Die Umsetzung der Kon­
      sundheit als wichtige Merkmale eines gelin­         vention könnte aber sogar unsere Wahrneh­
      genden Lebens definiert werden, umso größe­         mung des Sports insgesamt verändern, indem
      re Bedeutung scheinen sportliche Aktivitäten        sie letzten Endes die Frage aufwirft, was guten
      im Leben vieler Menschen zu erlangen.               und gelingenden Sport eigentlich ausmacht.
                                                          Bewertungskategorien wie Leistung, Schön­
        Die Frage, inwiefern das Ideal der Einbe­         heit oder Erfolg könnten eine Umdeutung er­
      ziehung aller Menschen – ungeachtet physi­          fahren. Möglicherweise müssten sogar neue
      scher, psychischer oder sozialer Kriterien – in
      das Teilsystem Sport realisiert werden kann,        ❙8 Siehe hierzu auch den Beitrag von Sabine Radtke in
      führte 1975 zur Verabschiedung der Europä­          diesem Heft.

                                                                                           APuZ 16–19/2011        7
Sportarten entwickelt werden, die den Anfor­          einer ständigen Wettbewerbssituation inner­
       derungen der Behindertenrechtskonvention              halb der Sportarten und den mannigfachen
       eher entsprechen als herkömmliche Formen.❙9           Trends der Körperkultur ausgesetzt und be­
                                                             darf schon aus diesem Grunde eines imma­
                                                             nenten „Entwicklungspotenzials“ und der
Sport hat Zukunft                                            permanenten Selbsterneuerung.

       Das Phänomen Sport hat in seiner Geschichte             Von entscheidender Wichtigkeit ist jedoch,
       tiefgreifende Wandlungen und unterschiedli­           dass der Sport seine Rolle erweitert definiert
       che Deutungen erfahren. Seit der Begründung           und sich neben der Hauptarbeit – dem Sport
       der Turnbewegung vor 200 Jahren haben sich            an sich – zunehmend auch gesellschaftlichen,
       Praxis und Verständnis von Leibesübungen              sozialen und kulturellen Aufgaben stellt. Sei­
       und Körperkultur stetig weiterentwickelt,             ne Zukunft ist dann gesichert, wenn er der
       mit dem Aufkommen neuer Sportarten rück­              sozialen Verantwortung in einer sich wan­
       ten andere Bewertungen und Wertigkeiten in            delnden Gesellschaft gerecht wird. Selbstver­
       den Mittelpunkt. Zu allen Zeiten hatte Sport          ständlich kann der Sport nicht einzelne, schon
       Zukunft – nur ob der Sport in Zukunft genau           gar nicht alle gesellschaftlich relevanten Pro­
       so aussieht, wie er sich gegenwärtig darstellt,       bleme lösen, erst recht nicht im Alleingang.
       ist eine offene Frage.                                Im Gegenteil produziert er manche Probleme
                                                             erst, oder er macht sie wie in einem Brenn­
          Niemand weiß, ob in 20, 30 Jahren die Be­          glas sichtbar. Wohl aber birgt er ein nicht zu
       mühungen des DFB, dem Frauenfußball eine              unterschätzendes Potenzial, als Motor gesell­
       breitere Basis zu verschaffen, Erfolg gehabt          schaftlicher Prozesse darauf hinzuwirken,
       haben werden – oder ob sich bis dahin nicht           dass Teilhabe für immer größere Teile der Be­
       sogar gänzlich andere Fußball-Varianten               völkerung realisiert werden kann – dieses gilt
       stärker etabliert haben könnten. Denkbar ist          es zu entdecken und zu fördern.
       auch, dass die heute „großen“ Sportarten und
       ihre Verbände von anderen Sportarten ver­
       stärkt Konkurrenz bekommen. Neben dem                                                     Sport prägt uns
       Vereinssport hat sich ein weitgehend kom­
       merziell orientierter Sportbetrieb etabliert,         Der (organisierte) Sport als Ganzes sollte
       der mit seinen Fitness-Centern, Sportschu­            stärker als bisher nicht nur als Teil, Spiegel­
       len und dergleichen mehr Millionen Deutsche           bild oder bestenfalls Vorbild der Gesellschaft
       anzieht. Keineswegs sind diese viel besuchten,        wahrgenommen werden, sondern als ein­
       privaten Sportstätten nur Ausdruck von Indi­          flussreicher gesellschaftlicher Akteur. Es gilt,
       vidualismus, Jugendwahn und Kommerz und               ihn nicht nur rhetorisch wohlfeil als „Kultur­
       damit gleich die Totengräber der traditionel­         gut“ oder als „Teil der Kultur“ zu verklären,
       len Sportvereine. Aber für viele ist der Sport        sondern ihn als Kultur bildenden und Gesell­
       im Verein mit seinen festgelegten Übungs­             schaft prägenden Faktor wertzuschätzen.
       zeiten aufgrund beruflicher Belastungen und
       wechselnder Arbeitsorte nur schwer mög­                  Sport bildet und prägt uns – auch, aber nicht
       lich. Für andere ist das breite Angebot ver­          allein durch seine vielfältigen Vernetzungen
       lockend, das von Fitness bis Wellness reicht          und Verflechtungen, seine politischen, ökono­
       und sich rasch auf die Wünsche der Kun­               mischen, sozialen, gesellschaftlichen und kul­
       den und die jeweiligen Moden einstellt. Da­           turellen Wirkungen und Bezüge. Er tut dies,
       mit stehen die kommerziellen Studios ebenso           indem er mannigfache Gelegenheiten bietet, in­
       für eine weitere Differenzierung von Freizeit­        dividuelle und kollektive Identitäten auszubil­
       verhalten, Körperkultur und Sport wie neue            den und zu leben. Und er tut dies, indem er zwi­
       (Trend-)Sportarten; sie illustrieren beispiel­        schen Individuen und Gruppen Begegnungen
       haft eine von zunehmenden Fliehkräften ge­            ermöglicht, soziale Beziehungen stiftet und ge­
       kennzeichnete Gesellschaft. Der Sport ist also        sellschaftliche Bindungskräfte freisetzt. In die­
                                                             sem Sinne besitzt er tatsächlich integrative, ja
                                                             inklusive Kraft. Es ist zu wenig, von „Teilhabe
       ❙9 So auch der Sozialethiker Christoph Hübenthal in
       seiner Einführung zum Symposium „Sport und Behin­     durch Sport“ zu sprechen. Sport ist Teilhabe.
       derung – Die Herausforderungen der UN-Behinder­
       tenrechtskonvention“ am 22. 11. 2010 in Leverkusen.

   8    APuZ 16–19/2011
Jürgen Mittag         rung beiträgt, sondern auch als Instrument
                                                             zur Artikulation von Protest genutzt wird.❙3

Sport und Protest                                              Zu den grundlegenden Kennzeichen von
                                                             Protest gehört die Artikulation von Wider­
                                                             spruch, die mit der Forderung nach Wandel

        K        aum einer politischen Ausdrucksform
                 wird gegenwärtig mehr Aufmerksam­
          keit gewidmet als dem politischen Protest. Die
                                                             oder Veränderung verbunden wird, um ei­
                                                             nen Missstand zu beheben oder vor drohen­
                                                             den Fehlentwicklungen zu warnen. Die dabei
                                   Kundgebungen und          zum Tragen kommenden Formen des Pro­
                     Jürgen Mittag Demonstrationen der       testrepertoires variieren ebenso wie Themen,
    Dr. phil., geb. 1970; bis 2010 vergangenen Monate –      Träger und Ausmaß. Gemein ist fast allen
  wissenschaftlicher Geschäfts- von Stuttgart bis Kai­       Protesten jedoch das Bemühen, öffentliche
  führer des Instituts für soziale ro – zeugen von anhal­    Aufmerksamkeit zu wecken, Zustimmung zu
Bewegungen der Ruhr-Universi- tender, ja wachsender          finden und potenzielle Unterstützer für das
tät Bochum; seit 2011 Professor Bereitschaft zu „kol­        eigene Anliegen zu mobilisieren.❙4
    für Sportpolitik an der Deut- lektiver, öffentlicher
   schen Sporthochschule Köln, Aktion“, insbesonde­             Dieser Beitrag lenkt den Blick in typologi­
  Am Sportpark Müngersdorf 6, re von nichtstaatli­           scher Absicht insbesondere auf sportbezogene
                       50933 Köln. chen Akteuren, mit        Protestformen und -themen. Grundsätzlich
          mittag@dshs-koeln.de der „Kritik oder Wi­          ist dabei zwischen zwei Hauptformen zu un­
                                   derspruch zum Aus­        terscheiden: Zum einen Protestereignisse, bei
          druck“ gebracht und die „Formulierung eines        denen es im engeren Sinne nicht um sportliche
          gesellschaftlichen oder politischen Anliegens“     Interessen geht, sondern bei denen der Sport
          verbunden wird.❙1 Dass der aktuelle Protest­       vielmehr eine Projektionsfläche für politischen
          boom auch im Sport seinen Niederschlag fin­        oder sozialen Protest darstellt, dessen Zielset­
          det, zeigte sich nicht nur am Widerstand der       zungen mit Sport allenfalls mittelbar verkop­
          Garmisch-Partenkirchener Grundstücksei­            pelt sind; zum anderen Fälle, in denen es um
          gentümer gegen die Bewerbung Münchens um           sportliche Interessen geht und der Anlass des
          die Ausrichtung der Olympischen Winterspie­        Protests unmittelbar mit Sport verbunden ist.
          le 2018, sondern auch an den Protestplakaten
          von Fans gegen den inzwischen gestürzten tu­
          nesischen Staatspräsidenten Ben Ali während                    Engagement für Menschenrechte
          der jüngsten Handball-WM in Schweden.
                                                             Das zentrale Thema von Protestanalysen im
           Sport im Allgemeinen – und Fußball als            Bereich des amerikanischen Sports bildet
         weltweit populärster Sportart im Besonderen –       die Wechselbeziehung zwischen Sport und
         wird beträchtliches Potenzial zugeschrieben,        schwarzen Athleten bzw. zwischen „sports
         auch nicht unmittelbar sportbezogenen In­
         teressen als Projektionsfläche zu dienen. Es
                                                             ❙1 Vgl. Friedhelm Neidhardt/Dieter Rucht, Protest­
         gilt nicht mehr allein die Parole, „was zählt is’
                                                             geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1950–
         auf’m Platz“, sondern es sind in zunehmen­          1994, in: Dieter Rucht (Hrsg.), Protest in der Bundes­
         dem Maße Verknüpfungen von sportlichen              republik, Frankfurt/M.–New York 2001, S. 28.
         und außersportlichen Interessen auszuma­            ❙2 Vgl. als Überblick: Jürgen Mittag/Jörg-Uwe Nie­
         chen. Waren es früher vor allem internationale      land (Hrsg.), Das Spiel mit dem Fußball. Interessen,
         Sportgroßereignisse, bei denen Diktatoren mit       Projektionen und Vereinnahmungen, Essen 2007.
                                                             ❙3 So existiert im 250-seitigen Register der achtbändi­
         Hilfe erfolgreicher Olympioniken, oder Mili­
                                                             gen International Encyclopedia of Revolution and Pro­
         tärregierungen durch Erfolge bei Fußballwelt­       test. 1500 to the Present (hrsg. von Immanuel Ness,
         meisterschaften sportliche Siege in politische      Chichester u. a. 2009) kein Eintrag zum Thema Sport.
         Zustimmung ummünzten, so hat sich das Aus­          Zum Problemfeld liegen vor allem essayistisch oder ak­
         maß an Vereinnahmungsprozessen im Sport             teurszentriert geprägte Abhandlungen vor. Vgl. Dave
         in den zurückliegenden 20 Jahren deutlich er­       Zirin, A people’s history of sports in the United States,
                                                             New York–London 2008; Fred Coalter, A Wider Social
         höht und weiter ausdifferenziert.❙2 Wenig Be­
                                                             Role for Sport. Who’s keeping the score?, London 2007.
         achtung ist bislang jedoch dem Umstand ge­          ❙4 Vgl. Sabine Ursula Nover, Protest und Engage­
         widmet worden, dass der (Spitzen-)Sport nicht       ment. Wohin steuert unsere Protestkultur?, Wiesba­
         nur zur außersportlichen Popularitätssteige­        den 2009, S. 28 f.

                                                                                                 APuZ 16–19/2011         9
and race“.❙5 Zahlreiche Studien zur afroame­                   Dass das Thema Menschenrechte Ende der
     rikanischen Bevölkerung in den USA zeigen,                  1960er Jahre auch zu kollektiven Protesten de­
     dass diese durch die Rassentrennung, vor al­                monstrativer Natur führte, lässt sich insbeson­
     lem in den Südstaaten, nicht nur grundsätzlich              dere am Beispiel Südafrika zeigen. Seit Beginn
     in ihren Bürgerrechten, sondern auch spezi­                 der Apartheid 1948 wurde die nicht-weiße Be­
     fisch bei der Ausübung im Breiten- und Pro­                 völkerung in Südafrika in allen Lebensberei­
     fisport eingeschränkt wurde. Zeitgenössisch                 chen diskriminiert; auch in den Sportligen, auf
     ist dieser Umstand insbesondere vom ameri­                  Tribünen und an den Stadioneingängen wurde
     kanischen Soziologen Harry Edwards kriti­                   nach Hautfarbe getrennt. Diese Politik führ­
     siert worden,❙6 der sich mit seinen Schriften               te zu immer stärkerem internationalen Druck,
     nicht nur gegen die Bürgerrechtsituation in                 der letztlich dazu beitrug, dass das Land Ende
     den USA, sondern auch gegen die Apartheid­                  der 1960er Jahre in fast allen Disziplinen von
     politik und den Rassismus in Afrika wandte.                 internationalen Wettbewerben ausgeschlos­
     Edwards initiierte das „Olympic Project for                 sen wurde. Eine Ausnahme machte allein
     Human Rights“ (OPHR), welches die nicht-                    das International Rugby Board, das dadurch
     weißen Sportler aufforderte, die Olympischen                besonders vehemente Proteste provozier­
     Spiele 1968 in Mexiko zu boykottieren.                      te. Deutlich wurde dies 1969/70, als die süd­
                                                                 afrikanische Nationalmannschaft eine Tour
        Der Boykott schlug zwar fehl (unter ande­                durch England, Wales und Irland unternahm.
     rem deshalb, weil die Apartheidstaaten Süd­                 „Vor den Stadien demonstrierten Zehntausen­
     afrika und Rhodesien, das heutige Simbabwe,                 de von Apartheidgegnern. Sie veranstalteten
     von den Spielen ausgeschlossen wurden), aber                Sitzblockaden, stürmten das Spielfeld, mach­
     das OPHR trat in Mexiko dennoch prominent                   ten das Geläuf durch Glasscherben unbespiel­
     in Erscheinung: Die beiden afroamerikani­                   bar. Im (…) Hotel verklebten Studentinnen
     schen Leichtathleten Tommie Smith und John                  die Schlösser der Hoteltüren, (…) Busfahrer
     Carlos, die beim 200-Meter-Lauf den ersten                  chauffierten sie an falsche Spielorte. Techni­
     und dritten Platz belegt hatten, erschienen                 ker der BBC weigerten sich, die Begegnungen
     zur Siegerehrung ohne Schuhe; an ihren Trai­                zu übertragen.“❙8 Diese und zahlreiche weite­
     ningsjacken, wie auch an der des zweitplat­                 re Protestaktionen führten zur fast vollstän­
     zierten Australiers Peter Norman, heftete ein               digen Isolation des südafrikanischen Sports.
     OPHR-Button. Auf dem Podest reckten Smith                   Der weltweite Sportprotest – 1976 wurde das
     und Carlos ihre jeweils mit einem schwarzen                 Land auch aus dem Weltfußballverband FIFA
     Handschuh versehenen Fäuste nach oben –                     ausgeschlossen – übte mutmaßlich stärkere
     das Zeichen der „Black-Power“-Bewegung.                     Wirkung auf das Apartheidregime aus als alle
     Diese Geste ging nicht nur in die Olympiage­                Waffen­embar­gos und Wirtschafts­blockaden.❙9
     schichte, sondern als Bild auch in das kollek­
     tive Gedächtnis ein. Die beiden Leichtathle­
     ten wurden danach vom US-Verband aus dem                                      Religiös motivierter Protest
     olympischen Dorf verwiesen, aus dem Na­
     tionalkader ausgeschlossen und mussten auf                  Der Boxer Muhammad Ali gehörte, zunächst
     Fördergelder verzichten; erst Jahrzehnte spä­               noch unter seinem Geburtsnamen Namen
     ter wurden sie rehabilitiert und ihr Protest als            Cassius Clay, nach seinem Goldmedaillenge­
     Beitrag zur Gleichberechtigung ­anerkannt.❙7                winn bei den Olympischen Spielen 1960 und
                                                                 vor allem nach seinem Wechsel ins Profilager
                                                                 und dem Weltmeistertitel im Schwergewicht
     ❙5 Vgl. John Bloom/Michael Nevin Willard (eds.),            1964 zu den populärsten US-Sportlern über­
     Sports matters. Race, recreation, and culture, New
                                                                 haupt. Durch seine extravagante Selbstinsze­
     York–London 2002; Patrick B. Miller/David K. Wig­
     gins (eds.), Sport and the color line. Black athletes and   nierung und zahlreiche Erfolge schürte er
     race relations in twentieth-century America, New            weltweit das Interesse am Boxsport. Entspre­
     York 2004; Ben Carrington, Race, sport and politics.        chend groß war die Aufmerksamkeit, als er
     The black sporting diaspora, London 2010.
     ❙6 Vgl. Harry Edwards, The Revolt of the Black Ath­
     lete, New York 1969.                                        ❙8 Bartholomäus Grill, Blatters Schweigen, in: Die
     ❙7 Kevin B. Witherspoon, Before the eyes of the             Zeit vom 24. 6. 2010, S. 58.
     world. Mexiko and the 1968 Olympic Games, De­               ❙9 Vgl. Andreas Krumpholz, Apartheid und Sport,
     Kalb, IL 2008; Keith Brewster (ed.), Reflections on         München 1991; Douglas Booth, The Race Game.
     Mexico ’68, Chichester 2010.                                Sport and Politics in South Africa, London 1998.

10    APuZ 16–19/2011
1964 zum Islam konvertierte, sich den Namen         irische Silbermedaillengewinner im Weit­
     Muhammad Ali gab und, als er zum Militär­           sprung, Peter O’Connor, einen Fahnen­
     dienst in Vietnam einberufen wurde, diesen          mast erklommen und die irische Flagge ge­
     verweigerte. Als er dann im April 1967 erklär­      schwenkt, um gegen die Bestimmung zu
     te, dass er als Priester der „Nation of Islam“      protestieren, unter britischer Fahne antre­
     keinen Militärdienst leisten könne und alle         ten zu müssen. Bei den Olympischen Spielen
     angebotenen Alternativen ablehnte, entzog           1908 in London verzichtete das gesamte fin­
     ihm die New York State Athletic Commissi­           nische Team auf eine Fahne, um nicht hinter
     on die Boxlizenz, der Weltmeistertitel wurde        der Flagge des zaristischen Russlands mar­
     aberkannt. Ali erhielt eine Haftstrafe auf Be­      schieren zu müssen. Doch neben Einzelper­
     währung, blieb aber gegen Kaution auf freiem        sonen und Verbänden haben sich auch ganze
     Fuß. In den folgenden Jahren durfte er weder        Staaten der Projektionsfläche des Sports zu
     in den USA noch im Ausland boxen.❙10                Protestzwecken bedient.❙12

        Erst Ende September 1970 erhielt er die Li­         Während des Kalten Kriegs erlebte die In­
     zenz zurück, 1971 entschied der Supreme             strumentalisierung des Sports zu nationalen
     Court, dass Ali aus Gewissensgründen von            Zwecken ihren Höhepunkt. Bereits 1928 hatte
     der Wehrpflicht befreit hätte werden müssen,        die Sowjetunion mit weiteren Staaten begon­
     und hob das Gerichtsurteil auf. Obwohl er sei­      nen, Spartakiaden als eigene internationale
     nen Protest nicht bewusst inszenierte, versetz­     Sportwettkämpfe auszutragen und die Olym­
     te der Boxer mit der Verweigerung des Kriegs­       pischen Spiele zu boykottieren; die Sowjet­
     dienstes die USA in Aufruhr. Zeitweilig galt        union verzichtete bis 1952 auf eine Teilnahme.
     er als Ikone der schwarzen Protestbewegung          Da Taiwan die Mitwirkung erlaubt worden
     bzw. des afroamerikanischen Kampfes gegen           war, blieb China den Spielen von 1958 bis
     das weiße Establishment. Ali steht als Sportler     1980 fern. 1956 boykottierten die Niederlan­
     damit typologisch als Beleg, dass die Artiku­       de, Spanien und die Schweiz die Sommerspiele
     lation von Protest im Sport durch den Faktor        in Melbourne, um gegen die Niederschlagung
     Prominenz eine enorme Steigerung erfährt.           des Volksaufstands in Ungarn zu protes­
                                                         tieren. Der gleichzeitige Teilnahmeverzicht
       Eine ganz andere Facette religiös inspi­          durch Ägypten, Irak, Kambodscha und Li­
     rierten Protests zeigte sich in Deutschland         banon richtete sich hingegen gegen die israeli­
     im Sommer 2009, als türkische Medien ge­            sche Invasion der Sinai-Halbinsel im Zuge der
     gen eine auf den Propheten Mohammed Be­             Suezkrise. Das zwischen Titelverteidiger Un­
     zug nehmende Passage im Vereinslied von             garn und der Sowjetunion ausgetragene Halb­
     Schalke 04 protestierten.❙11 Es wurde ge­           finale im Wasserball ging indes als „Blutbad
     gen „eine Verhöhnung des Propheten Mo­              von Melbourne“ in die Annalen der Olympia­
     hammed“ protestiert und sogar mit einem             geschichte ein. Das Spiel wurde mit äußers­
     Boykott der kommenden Bundesligaparti­              ter Härte geführt, und die Zuschauer ergrif­
     en gedroht. Erst ein islamwissenschaftliches        fen derart stark Partei gegen die Sowjetunion,
     Gutachten, das betonte, dass in dem Lied            dass das Spiel abgebrochen werden musste.
     keine islamfeindliche Gesinnung zum Aus­
     druck komme, beendete diesen medial in­               Eine vergleichbare Protestdimension war
     szenierten Protest.                                 auch bei den Eishockeyspielen zwischen der
                                                         Sowjetunion und der Tschechoslowakei bei
                                                         der WM 1969 in Schweden auszumachen, die
Nationale Olympiaboykotte                                von Zuschauern (und Medien) zum Anlass
                                                         genommen wurden, gegen die Niederschla­
     Bereits 1906, bei den inoffiziellen „Olympi­        gung des Prager Frühlings zu protestieren.❙13
     schen Zwischenspielen“ in Athen, hatte der
                                                         ❙12 Vgl. James Riordan/Arnd Krüger, The internatio­
     ❙10 Vgl. Mike Marqusee, Redemption song. Mu­        nal politics of sport in the twentieth century, London
     hammad Ali and the spirit of the sixties, London–   1999; Roger Levermore/Adrian Budd (eds.), Sport
     New York 2005.                                      and International Relations, London 2004.
     ❙11 Anstoß erregte die Passage „Mohammed war ein    ❙13 Vgl. Jörg Ganzenmüller, Bruderzwist im Kalten
     Prophet/Der vom Fußballspielen nichts versteht/     Krieg, in: Arié Malz/Stefan Rohdewald/Stefan Wie­
     Doch aus all der schönen Farbenpracht/Hat er sich   derkehr (Hrsg.), Sport zwischen Ost und West, Os­
     das Blau und Weiße ausgedacht.“                     nabrück 2007, S. 113–130.

                                                                                           APuZ 16–19/2011        11
Auch im deutschen Sport spiegelte sich der                  Sozial motivierte Solidarisierungen und
     Kalte Krieg wiederholt wider. Als der Mit­
     telstreckenläufer Jürgen May (DDR-Sport­
                                                                Proteste gegen politische Unterdrückung
     ler des Jahres 1965) aus der DDR flüchtete,
     aufgrund des Einspruchs des DDR-Ver­                       Neben politischen Kontroversen war der
     bands jedoch keine Starterlaubnis für die                  Sport wiederholt auch Schauplatz sozial mo­
     Leichtathletik-Europameisterschaft 1969 in                 tivierter Protestbekundungen, etwa, als in
     Athen erhielt, entschied der Bundesdeut­                   den 1980er Jahren in Deutschland Diskussio­
     sche Leichtathletik-Verband die Wettbewer­                 nen über Zechenschließungen aufbrandeten.
     be zu boykottieren und lediglich mit Staf­                 Als die Bergbaugewerkschaft IG BE im Sep­
     feln anzutreten.                                           tember 1987 zu einem „Internationalen Ak­
                                                                tionstag“ im Ruhrgebiet aufrief, wurden die
       Die Boykott-„Höhepunkte“ stellen jedoch                  Kumpel der Zeche Westerholt am Vortag in
     die Olympischen Spiele 1976, 1980 und 1984                 das Gelsenkirchener Parkstadion eingeladen,
     dar. 1976 reisten über 20 nationale Teams aus              wo sie beim Fußballspiel FC Schalke 04 gegen
     Montreal ab, um gegen die neuseeländische                  Bayern München für den Erhalt ihrer Arbeits­
     Rugby-Mannschaft zu protestieren, die kurz                 plätze demonstrierten. Auch beim Regional­
     zuvor in Südafrika angetreten war. 1980 er­                ligaspiel Borussia Neunkirchen gegen den
     klärten die USA, aus Protest gegen den sow­                Bonner SC im März 1995 zogen rund 3000
     jetischen Einmarsch in Afghanistan nicht an                Fußballanhänger gemeinsam mit den Berg­
     den Spielen in Moskau teilnehmen zu wollen.                leuten von der Innenstadt ins Stadion. Dort
     Rund 40 weitere Staaten schlossen sich ihnen               bildeten die Kumpel rund um das Spielfeld
     an, darunter auch die Bundesrepublik. 16 der               eine Menschenkette, während die Neunkir­
     in Moskau anwesenden Staaten protestier­                   chener mit der Parole „Ja zur Kohle“ auf den
     ten gegen den sowjetischen Einmarsch in Af­                Trikots aufliefen. Als zwei Jahre später mehr
     ghanistan, indem sie bei der Eröffnungsfei­                als 200 000 Ruhrgebietsbürger eine Men­
     er statt ihrer Nationalflagge die olympische               schenkette vom Osten zum Westen des Ruhr­
     bzw. die Flagge ihres olympischen Komitees                 gebiets bildeten, reihte sich auch die Mann­
     trugen, sieben Staaten schickten lediglich ei­             schaft des VfL Bochum ein. Und einen Monat
     nen Fahnenträger, aber keine Athleten zur                  später, als im Bochumer Ruhrstadion das Re­
     Eröffnung. Als Reaktion auf den Olympia­                   vierderby zwischen Bochum und Schalke an­
     boykott 1980 verzichteten vier Jahre später                stand, betraten beide Fußballteams den Ra­
     die Sowjetunion und 13 weitere Staaten auf                 sen mit 50 Bergarbeitern, die mit Fahnen und
     eine Teilnahme an den Sommerspielen in Los                 Transparenten für den Erhalt des Bergbaus
     Angeles.                                                   demonstrierten.❙15

       Der Boykott der Sommerspiele 1988 in                        Dass Transparente im Stadion auch zu So­
     Seoul durch Nordkorea, Kuba, Äthiopi­                      lidaritätsbekundungen mit Demokratiebe­
     en und Nicaragua markiert das vorläufi­                    wegungen genutzt werden, hatte sich bereits
     ge Ende der staatlichen Boykottaktivitäten.                bei der Fußball-WM 1974 in Deutschland ge­
     Dass Olympische Spiele aber weiterhin ei­                  zeigt: In der Halbzeitpause des Vorrunden­
     nen idealen Resonanzboden für Protest bie­                 spiels Chile gegen Australien überwanden
     ten, wurde 2004 in Athen deutlich, als sich                Jugendliche die Absperrungen und entrollten
     der iranische Judoka Arash Miresmaeili                     ein Transparent mit der Aufschrift: „Chile –
     weigerte, gegen den Israeli Ehud Vaks an­                  Socialista“, mit dem sie gegen die chilenische
     zutreten, bzw. vier Jahre später in Peking                 Militärjunta demonstrierten.
     der iranische Schwimmer Mohammad Ali­
     rezaei eine ähnliche Position bezog. Im Vor­                 In jüngerer Zeit ist es verstärkt zu Protest­
     feld der Olympischen Spiele in China 2008                  aktivitäten für Demokratiebewegungen ge­
     war es schließlich der Fackellauf, der wie­                kommen, bei denen vor allem auf symboli­
     derholt zum Ziel von Protesten wurde, die
     sich vor allem gegen die Tibet-Politik Chi­
                                                                ❙15 Vgl. Andreas Luh, „Wir sind die Ruhrpottkana­
     nas richteten.❙14                                          ken“ – Fußball und Identität im Ruhrgebiet 1920–
                                                                2000, in: Wolfgang Buss/Arnd Krüger (Hrsg.), Trans­
     ❙14 Vgl. John Horne/Garry Whannel, The ‚caged torch        formationen: Kontinuitäten und Veränderungen in
     procession‘, in: Sport in Society, (2010) 5, S. 760–770.   der Sportgeschichte, Hoya 2002.

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schen und identitätsstiftenden Protest gesetzt           besitzer auf die Möglichkeit der Aussper­
      wurde. So etwa 2003, als im Cricket-Weltcup,             rung. So konnte etwa im Eishockey die Sai­
      der unter anderem in Simbabwe ausgetragen                son 1994/95 erst mit 103 Tagen Verspätung
      wurde, die beiden simbabwischen Spitzenspie­             beginnen, 2005 musste die Spielzeit sogar
      ler Andy Flower und Henry Olonga schwar­                 ganz abgesagt werden. Auch im Basketball
      ze Armbänder trugen, mit denen sie gegen den             und Baseball führten Streiks und Ausschlüs­
      Terror des diktatorisch regierenden Präsiden­            se bereits zu Verschiebungen und Saisonver­
      ten Robert Mugabe demonstrierten. In einer               kürzungen. In Europa setzen Profisportler
      Erklärung sprachen sie vom Protest gegen den             bisweilen ebenfalls auf Streiks, bislang jedoch
      „Tod der Demokratie“ und betonten, dass sie              in weitaus geringerem Ausmaß.
      auf Menschenrechtsverletzungen und staatlich
      sanktionierte Folter aufmerksam machen woll­               Dass neben öffentlichkeitswirksamen Streiks
      ten. Beide Spieler mussten nach ihrer Protest­           und den noch weitaus häufiger anzutreffen­
      aktion das Land verlassen und ihre Karriere              den Presse- oder Trainingsboykotts von ein­
      im Nationalteam beenden.❙16 Auf eine ähnliche            zelnen Profis oder ganzen Vereinen auch auf
      Protestbekundung setzten auch sechs iranische            rechtliche Protestinstrumente gesetzt wird,
      Fußballnationalspieler, die 2009 beim WM-                um die eigenen ökonomischen Interessen zu
      Qualifikationsspiel gegen Südkorea grüne                 behaupten, dokumentiert der Fall des bel­
      Schweißbänder trugen und damit Farbe für den             gischen Fußballers Jean Marc Bosman, der
      Oppositionsführer Mir Hossein Mussawi und                1995 zum „Bosman-Urteil“ des Europäi­
      die Demokratiebewegung bekannten. Auch in                schen Gerichts­hofs (EuGH) führte.❙18
      diesem Fall sahen sich die protestierenden Spie­
      ler mit Sanktionen des eigenen Verbands und                Direkte Bezüge zum Sport weisen auch die
      Karriereeinschränkungen konfrontiert.                    Proteste der Fans gegen überzogene Kom­
                                                               merzialisierungstendenzen im Profisport
        Ein aktuelles Beispiel für den Einsatz von             auf. Gingen die Fans, vor allem im Fußball,
      Fußballfans für Demokratieanliegen lieferte              in früheren Jahren auf die Barrikaden, um ge­
      jüngst auch die ägyptische Fangruppe „Ultras             gen überteuertes Bier oder unbeliebte Spie­
      Ahlawy“, die den Kairoer Verein Al-Ahly un­              ler aufzubegehren, fallen die Protestziele und
      terstützt. Ihr wird eine bedeutende Rolle bei            -formen im vergangenen Jahrzehnt deutlich
      den Protesten gegen den früheren Präsidenten             differenzierter aus. So wandte sich vor der
      Hosni Mubarak zugeschrieben, da sie im Janu­             Bundesligasaison 2001/2002 die Initiative
      ar und Februar 2011 tagelang den Tahrir-Platz            „Pro 15.30“ mit Plakaten und T-Shirts gegen
      gegen die Polizei mitverteidigt habe.❙17                 die zunehmende Ausdehnung der Spieltage
                                                               über das gesamte Wochenende und forderte
                                                               die Abschaffung des Sonntags als regulären
Proteste mit direktem Sportbezug                               Spieltag sowie die Festlegung der Anstoßzeit
                                                               auf samstags, 15.30 Uhr. Aufmerksamkeit er­
      Bildete bei den bislang angeführten Protest­             zielten aber auch Aktionen von Anhängern,
      formen und -motiven der Sport eher den An­               die gegen die Umbenennung der Stadien oder
      lass als das Thema, so steht der Sport bei den           die Änderung der Vereinsfarben protestier­
      nachfolgenden Beispielen selbst im Mittel­               ten und etwa, wie im Fall von Nürnberg, über
      punkt. Zu den „klassischen“ sportbezogenen               5000 Unterschriften gegen den Namen „easy­
      Protestformen gehören die Verteilungskon­                Credit-Stadion“ sammelten. Ihre Entspre­
      flikte in den großen amerikanischen Profi­               chung fanden diese Aktivitäten im Protest
      ligen. Hier kommt es immer wieder zu re­                 gegen die zunehmend kommerziellen Bewirt­
      gelrechten Arbeitskämpfen zwischen den                   schaftungsformen in den Stadien, gegen reine
      Spielern und ihren Arbeitgebern. Während                 Sitzplatzarenen oder VIP-Logen.
      die Sportler auf das Instrument des Streiks
      zurückgreifen, setzen die Klub- bzw. Ligen­              ❙18 Nachdem Bosman zunächst gegen seinen Verein
                                                               geklagt hatte, weil er durch die zu hohe Ablösefor­
                                                               derung seine Arbeitnehmerfreizügigkeit beschränkt
      ❙16 Vgl. Callie Batts, ‚In good conscience‘: Andy Flo­   sah, führten die Folgeverfahren und das EuGH-Ur­
      wer, Henry Olonga and the death of democracy in          teil dazu, dass sich das bisherige Transfersystem im
      Zimbabwe, in: Sport and Society, (2010) 1, S. 43–58.     europäischen Fußball grundlegend änderte – erst
      ❙17 Vgl. Martin Krauss, Die Fußballrevolution, in:       seitdem können Spieler in der EU den Verein nach
      Die Tageszeitung vom 16. 2. 2011.                        Ablauf ihrer Vertragslaufzeit ablösefrei wechseln.

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