Konzepte und Perspektiven für die pädagogische Praxis - Stadt ...

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Konzepte und Perspektiven für die pädagogische Praxis
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Konzepte und Perspektiven für die pädagogische Praxis - Stadt ...
Wie Kinder lernen
Gemeinsame Grundlagen wirksamer Förderung
                             in Kita und Grundschule

     Konzepte und Perspektiven für die pädagogische Praxis
Konzepte und Perspektiven für die pädagogische Praxis - Stadt ...
Tagungsort Rudolf-Koch-Schule

            Impressum           Wie Kinder lernen
                                © 2013 Lernen vor Ort, Offenbach am Main
                                Berliner Straße 77, 63065 Offenbach am Main

                                V.i.S.d.P.: Dr. Gabriele Botte

                                Redaktion: Kai Seibel, Felicitas von Küchler, Beatrice Ploch,
                                unter Mitarbeit von Marie-Cécile Neumann, Henriette König, Offenbach am Main
                                Lektorat: Birgit Kirchner, ECS – Euro-Communication-Service, Stockstadt am Main
                                Gestaltung: Agnes Stockmann, Offenbach am Main
                                Fotos: Jörg Muthorst (S.3), Agnes Stockmann (S.4, links)
                                Porträt- und Tagungsfotos: Hans Dieter W. Kuhn, Fotodesign, Frankfurt
                                Druck: Alles in Druck, Service Center, Frankfurt

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Konzepte und Perspektiven für die pädagogische Praxis - Stadt ...
Inhalt

                                          Impressum                                                    4

                                          Inhalt                                                       5

                Felicitas von Küchler     Einführung                                                   6
                        Lernen vor Ort

                  Dr. Felix Schwenke      Grußwort                                                    8
                    Stadtrat der Stadt
                  Offenbach am Main

         Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer    Wie lernen Kinder Sprache – vom Einzelnen zum Allgemeinen   10

                   PD Dr. Zvi Penner      Sprachförderung im Kita-Alltag                              18

                                          Interview mit Karin Bahlo zu Vortrag und Workshop           22

                      Jens Mengeler       Kann es eine Grundschule ohne Lernstörungen geben?          24

                                          Workshop zum Vortrag                                        34

              Prof. Dr. Wilfried Datler   Emotion und Beziehung als Motor von Entwicklung             36

                                          Workshop zum Vortrag                                        48

                                          Workshops zur Offenbacher Praxis
                                          „Rhythmus, so dass die Sprache mit muss“                    50
                                          Teams der Ganztagsklassen informieren                       51

                Felicitas von Küchler
                  und Beatrice Ploch      Ausblick und Perspektiven                                   54
                        Lernen vor Ort

                                          Tagungsfeedback                                             56

                              Anhang      Liste der teilnehmenden Institutionen                       57

                                          Tagungsimpressionen                                         58

                                          Kontakt                                                     60

                                                                                   5
Konzepte und Perspektiven für die pädagogische Praxis - Stadt ...
Felicitas von Küchler
Projektleiterin „Lernen vor Ort“

Einführung

Der Übergang von der Kita in die Grundschule stellt für Kinder und Eltern eine
wirkliche Herausforderung dar. Er ist eine der zentralen Weichenstellungen in der
Bildungsbiografie des Einzelnen. Von der pädagogischen Kultur der Kita wech-
seln die Kinder in die Grundschule, die häufig von einer anderen pädagogischen
Grundhaltung bestimmt wird. Die Kinder müssen bestimmte Voraussetzungen
der „Schulreife“ erfüllen, und Eltern übergeben ihr Kind – häufig auch mit Ängs-
ten und Bedenken – zum ersten Mal der Institution Schule.

Die Konferenz „Wie Kinder lernen – Gemeinsame Grundlagen wirksamer Förde-
rung in Kita und Grundschule“ am 29. September 2012 in Offenbach markiert
eine wichtige Etappe auf dem Weg der Annäherung der beiden institutionellen
Partner des Übergangs. Schon seit einigen Jahren gibt es in Offenbach Koope-
rationen zwischen Kita und Schule. Ihren Niederschlag fand die Absicht einer
dichteren Zusammenarbeit in einer Kooperationserklärung, die zwischen der
Stadt und dem Staatlichen Schulamt bereits im Jahr 2008 abgeschlossen wurde.
Mit dem Arbeitsbeginn von „Lernen vor Ort“ wurde eine alte Idee der Verant-
wortlichen aktiviert, nämlich eine gemeinsame Arbeitsgruppe aus Akteuren des
Übergangs und den jeweils betroffenen Verantwortlichen zu installieren. Ziel war,
möglichst nachhaltige Arrangements zur Kooperation der beiden pädagogischen
Institutionen, Schule und Kita, zu entwickeln und zu erproben. Diese Arbeits-
gruppe, der Beirat zur Kooperationsvereinbarung zwischen Kita und Grund-
schule, nahm Ende 2010 die Arbeit auf. Lernen vor Ort hatte nicht nur die
Geschäftsführung dieses Beirats übernommen, sondern auch Vertreter der am
Programm Lernen vor Ort beteiligten Stiftungen (Software AG-Stiftung, Schader-
Stiftung) zur Mitarbeit aufgefordert, die eine zusätzliche Perspektive einbrachten.

Dieser Beirat beschäftigte sich mit der zentralen Frage, wie eine Kooperation zwi-
schen Kita und Grundschule aussehen kann, die über organisatorische Abstim-

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Konzepte und Perspektiven für die pädagogische Praxis - Stadt ...
Felicitas von Küchler

mungsprozesse hinausgeht. Und dabei entwickelte sich die Idee, dass an ge-
meinsamen Wissensgrundlagen angesetzt werden müsse. Denn auch die Vor-
stellungen über und die Grundlagen zum Lernen von Kindern unterliegen einem
Wandel, der Eingang in die Institutionen finden muss. Um dieses neue Wissen in
die pädagogische Diskussion von Einrichtungen, ob Schulen oder Kitas, einzu-
fädeln und damit die Basis für Verständigung und Abstimmung zu schaffen,
wurde die Fachkonferenz geplant, deren Ergebnisse wir hier vorlegen. Ein herz-
licher Dank geht aus diesem Grund an alle Mitglieder des Beirats zur Kooperati-
onsvereinbarung zwischen Kita und Grundschule, die sich engagiert an der
Planung der Veranstaltung beteiligt haben. Unter ihnen besonders hervorheben
möchte ich Dr. Peter Bieniußa, Leiter des Landesschulamts und Lehrkräfteaka-
demie-Staatliches Schulamt für den Landkreis Offenbach und die Stadt Offen-
bach am Main und Hermann Dorenburg, Leiter des Jugendamts und des
Eigenbetriebs Kindertagesstätten Offenbach, deren Einsatz zur hohen Resonanz,
die die Veranstaltung gefunden hat, beigetragen hat. Und auch Walter Hiller von
der Software AG-Stiftung möchte ich besonders danken, denn er hat alle seine
Möglichkeiten genutzt, Herrn Prof. Manfred Spitzer als Referenten für die Veran-
staltung zu gewinnen. Damit haben er und die Software AG-Stiftung einen ganz
besonderen Beitrag für dieses Vorhaben geleistet.

Wir denken, dass die Kurzfassung der zentralen Vorträge der Fachkonferenz eine
interessante Lektüre für viele pädagogische Fachkräfte darstellt. Darum haben
wir diese Broschüre entwickelt, in der Hoffnung, dass sie für die Teilnehmenden
der Veranstaltung wie auch für Interessierte am Thema den Anlass für eine päda-
gogische Diskussion – auch zwischen den Institutionen – bietet, wie man das
Lernen von Kindern fördern kann. Die Texte der Referenten und die praktischen
Beispiele aus den Workshops können sicherlich Impulse geben, das eigene pä-
dagogische Handeln weiterzuentwickeln und dabei auch pädagogische Hand-
lungsroutinen einer Überprüfung zu unterziehen.

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Dr. Felix Schwenke
Stadtrat der Stadt Offenbach am Main

Grußwort

Sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich, Sie heute zur Tagung „Wie Kinder lernen: Gemeinsame Grundla-
gen wirksamer Förderung in Kita und Grundschule“ begrüßen zu dürfen! Für die-
jenigen unter Ihnen, die es nicht wissen – für mich ist dies mein erster Auftritt in
meiner neuen Rolle als Stadtrat und Bildungsdezernent der Stadt Offenbach an
meiner alten Wirkungsstätte. Bis vor wenigen Wochen habe ich ja an der Rudolf-
Koch-Schule noch unterrichtet und freue mich deshalb besonders, dass diese
Veranstaltung heute hier stattfindet.

Insbesondere möchte ich begrüßen: Walter Hiller von der Software AG-Stiftung,
Dr. Tobias Robischon von der Schader-Stiftung, den Leiter des Staatlichen Schul-
amtes Dr. Peter Bieniußa sowie Felicitas von Küchler vom Projekt „Lernen vor
Ort“. Außerdem heiße ich die Referenten des heutigen Tages in Offenbach will-
kommen: Prof. Dr. Manfred Spitzer, PD Dr. Zvi Penner, Jens Mengeler und Prof.
Dr. Wilfried Datler.

Bildung ist der Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben, für einen Arbeitsplatz
und für Integration, kurz gesagt für Teilhabe an der Gesellschaft. Eine erfolgreiche
Bildungsbiografie beginnt möglichst früh. Deshalb ist eine wirksame Förderung
der Kinder in der Kita und der Grundschule so wichtig. Und damit das gut funk-
tioniert, darf es möglichst wenig Reibungsverluste beim Übergang von der Kita
in die Grundschule geben. Auf dem, was in der Kita gelernt wurde, soll die Grund-
schule aufbauen. Gleichzeitig soll die Kita die Kinder gut auf den Schulbeginn

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Konzepte und Perspektiven für die pädagogische Praxis - Stadt ...
Dr. Felix Schwenke

vorbereiten. Offenbach ist hier auf einem guten Weg: Bereits an sechs Offenba-
cher Grundschulen gibt es Kooperationen mit den Kindergärten des Eigenbe-
triebs Kindertagesstätten. Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer
arbeiten eng zusammen, das Sprachförderprogramm des Eigenbetriebs Kinder-
tagesstätten Offenbach (EKO) wird in den Ganztagsklassen dieser Grundschu-
len weitergeführt.

Natürlich erzähle ich den meisten von Ihnen damit nichts Neues, denn Sie sind
es, die dafür sorgen, dass hinter dem, was ich gerade gesagt habe, auch eine
Wirklichkeit steht! Ich freue mich, dass so viele Erzieherinnen, Erzieher und Lehr-
kräfte aus den Offenbacher Kitas und Grundschulen an dieser Tagung teilneh-
men; denn ein Blick auf die Teilnehmerliste zeigt, dass etwa zwei Drittel von Ihnen
an Offenbacher Einrichtungen tätig sind. Sie sind diejenigen, denen wir tagtäg-
lich die Frühförderung und Bildung unserer Kinder anvertrauen. Sie alle wissen
am besten, welche praktischen Hindernisse es im Alltag bei der Zusammenarbeit
von Kitas und Grundschulen noch gibt, aber auch, welche Erfolge wir schon ver-
buchen können.

Das Programm verspricht spannende Vorträge, die einen anregenden und hof-
fentlich motivierenden Blick über den täglichen Tellerrand hinaus bieten. Ich wün-
sche Ihnen eine interessante Tagung – nutzen Sie die Möglichkeit, neue Kontakte
zu knüpfen und sich mit Kolleginnen und Kollegen auszutauschen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

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Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer            Wie lernen Kinder Sprache – vom Einzelnen zum Allgemeinen*
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Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer stu-
dierte in Freiburg Medizin, Psycho-      Frühkindliche Bildungsprozesse sind extrem wichtig, das möchte ich Ihnen anhand von Er-
logie und Philosophie. Promotion in
                                         kenntnissen aus der Hirnforschung zeigen. Sie bestimmen das gesamte Leben. Wie ein Kind
Medizin und Philosophie, Diplom im
                                         sprechen lernt, ist seine Eintrittskarte in alle Bildungsprozesse. Es gibt noch eine zweite Ein-
Fach Psychologie. Von 1983 bis
                                         trittskarte, die aber nur selten diskutiert wird, und zwar die Fähigkeit, sich selbst im Griff zu
1988 Weiterbildung zum Facharzt
                                         haben. Auch diese Eigenschaft ist Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Wie kann
für Psychiatrie. 1989 Habilitation für
das Fach Psychiatrie an der Univer-
                                         man auf diese Fähigkeit Einfluss nehmen? Es scheint paradox, davon zu sprechen, auf wel-
sität Freiburg. Von 1990 bis 1997        che Weise man von außen bestimmen kann, wie sich jemand selbst bestimmt. Aber genau
Oberarzt an der Psychiatrischen          darum geht es letztlich: es geht um die Voraussetzungen, Bildung zu erlangen und aufgrund
Universitätsklinik Heidelberg.           dieser Bildung ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Diese Voraussetzungen werden
                                         im Kindergarten und in der Grundschule geschaffen.
Drei Forschungsaufenthalte in den
USA (1989/90 und 1994 Harvard            Als Beispiel für die unglaublichen Lernprozesse, die im menschlichen Gehirn stattfinden kön-
University, 1992 University of Ore-      nen, möchte ich Ihnen von drei Abbildungen von Gehirnen berichten, die in medizinischen
gon) prägten das weitere wissen-
                                         Zeitschriften publiziert wurden. Das eine Bild zeigt das Gehirn eines Mädchens, dem im Alter
schaftliche Werk von Manfred
                                         von drei Jahren eine Gehirnhälfte wegen einer Entzündung operativ entfernt werden musste.
Spitzer an der Schnittstelle von
                                         Dieses Mädchen müsste schwer behindert sein und im Rollstuhl sitzen. Doch als es im Alter
Neurobiologie, Psychologie und
                                         von sieben Jahren erneut untersucht wurde, war diesem Kind nichts anzumerken. Das Mäd-
Psychiatrie.
                                         chen, das eigentlich kein Sprachzentrum mehr im Gehirn besitzt, spricht sogar zwei Spra-
Seit 1997 ist er Ärztlicher Direktor     chen fließend. Auch die beiden anderen Hirnaufnahmen sind verblüffend. Sie zeigen solche
der neu gegründeten Psychiatri-          Auffälligkeiten, dass ein Arzt nur anhand dieser Bilder vermuten müsste, der betreffende Pa-
schen Universitätsklinik in Ulm.         tient sei tot. Stattdessen leben die drei Menschen ein normales Leben. Bei diesen Patienten
Seine Forschungsschwerpunkte             haben also enorme Lernprozesse im Gehirn stattgefunden. Wenn so etwas möglich ist, wie
betreffen psychiatrische und psy-        kann es dann sein, dass jeder sechzehnte deutsche Schüler den Hauptschulabschluss nicht
chologische Fragen unter Berück-         schafft?
sichtigung neurowissenschaftlicher
Konzepte und Methoden.
                                         Was kann aber Lernen bewirken, und was bedeutet es für das gesamte Leben? Dies möchte
                                         ich mit Hilfe einer Studie aus den USA zu Morbus Alzheimer verdeutlichen. Diese Studie be-
Insbesondere arbeitet er an der
                                         stätigte, dass unser Gehirn zu erstaunlichen Veränderungen fähig ist. Untersucht wurden über
Kombination funktionell bildgeben-
                                         650 Nonnen, die sich bereits im fortgeschrittenen Alter von siebzig bis achtzig Jahren befan-
der Verfahren zur genauen räumli-
chen und zeitlichen Lokalisation
                                         den. Sie wurden jährlich bis zu ihrem Tod getestet, und sie willigten ein, dass die Forscher ihre
höherer geistiger Leistungen und         Gehirne nach ihrem Ableben untersuchen duften. In der Studie wurden auch die Lebensläufe
deren pathologischer Veränder-           der Nonnen, die sie bei Eintritt in den Orden verfasst hatten, betrachtet: Wie hatten sie ihren
ungen.                                   Lebenslauf formuliert, und wie ging es ihnen im Alter? Ein Erkenntnis der Studie war: Je dif-
                                         ferenzierter die jungen Mädchen ihren Lebenslauf verfasst hatten, z.B. bezüglich Satzbau und
                                         Grammatik, desto besser waren ihre geistigen Fähigkeiten im Alter. Ein einzigartiges Phäno-
                                         men entdeckte man bei einer Probandin namens Schwester Maria. Bis zu ihrem vierundacht-
                                         zigsten Lebensjahr arbeitete diese Frau als Lehrerin, und auch später blieb sie aktiv. Die
                                         jährlichen Testergebnisse zeigten, dass ihre geistigen Fähigkeiten uneingeschränkt funktio-
                                         nierten. Sie starb im hohen Alter von hunderteins. Bei der anschließenden Untersuchung ihres
                                         Gehirns stellte sich jedoch heraus, dass es „voller Alzheimer“ war. Wie war es möglich, dass
                                         man der agilen Frau nichts davon angemerkt hatte?

                                         * Der Vortrag von Prof. Dr. Dr. Spitzer wird in Auszügen wiedergegeben, die dem gesprochenen Wort entsprechen.

                                         10
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer

Der Grund dafür: Gehirne haben die einzigartige Eigenschaft der graceful degradation. Das
bedeutet, wenn ein Gehirn erkrankt, geht es sehr langsam kaputt. So spürt man zum Beispiel
die Symptome der Krankheit Morbus Parkinson erst, wenn bereits siebzig Prozent der Ner-
venzellen zerstört sind. Dank der komplexen Vernetzung im Gehirn kann es aber trotz einer
fortgeschrittenen Erkrankung noch funktionieren. Und dies trifft vor allem dann zu, wenn ein
Gehirn gut ausgebildet ist.

Bei der Geburt kann unser Gehirn zunächst noch nichts, denn es hat noch nichts gelernt. Erst            Die Synapsen haben die Auf-
die Lernprozesse bilden das Gehirn. Dies ist im Sinne der Hirnforschung wörtlich zu verste-
                                                                                                        gabe, sich zu verändern,
hen als „Gehirnbildung“. Alle Nervenzellen im Gehirn sind vernetzt, und nur dank dieser Ver-
netzung kann im Gehirn überhaupt etwas geschehen. Zu jeder Nervenzelle gehören zehn-                    und das tun sie, indem sie
tausende Fasern, die weit verzweigt sind. Diese Fasern transportieren elektrische Impulse. An
                                                                                                        benutzt werden.
den Synapsen findet eine biochemische Übertragung dieser elektrischen Impulse statt. Etwa
hundert Milliarden Nervenzellen befinden sich im Gehirn, und jede Nervenzelle hat zehntau-
send Verbindungen. Es existieren also eine Million Milliarden Synapsen im Kopf. Die wichtigste
Erkenntnis der Neurowissenschaft der letzten fünfundzwanzig Jahre lautet: Die Synapsen                  Für die Gehirnbildung bei
haben die Aufgabe, sich zu verändern, und das tun sie, indem sie benutzt werden. Synapsen               Kindern ist deshalb das Ler-
ändern sich dann, wenn Impulse über sie laufen. Diese Lernprozesse hat die Hirnforschung
sichtbar gemacht; sie hat anhand von Aufnahmen von Nervenzellen gezeigt, dass neue Ver-                 nen extrem wichtig. Dabei
bindungen beim Lernen hinzukommen. Doch nicht nur neue Verbindungen werden geknüpft,                    spielen Motorik und Sensorik
auch die Dichte der Verbindungen nimmt durch Training zu. Diese Umbildungsprozesse ver-
laufen schnell, sie finden innerhalb von einigen Tagen statt. Das Gehirn ist also eine perma-           bedeutende Rollen, denn
nente Großbaustelle. Es bildet sich ständig um, und zwar dadurch, dass es etwas lernt. Lernt
                                                                                                        durch sie entstehen beson-
das Gehirn nichts, dann bilden sich auch keine neuen Verknüpfungen. Alle Verknüpfungen sind
ein Produkt von Lernprozessen, im Gehirn sitzen sozusagen die „Gedächtnisspuren des Ge-                 ders viele Verknüpfungen.
brauchs“. Dementsprechend lautet der Titel einer bedeutenden Studie, die in der renommier-
ten Zeitschrift „nature“ veröffentlicht wurde: „Experience leaves a lasting structural trace in
cortical circuits“ (Erfahrung hinterlässt eine dauerhafte strukturelle Spur in Netzwerken der
Gehirnrinde). Gerade das junge Gehirn ist begierig auf Strukturen. Für die Gehirnbildung bei
Kindern ist deshalb das Lernen extrem wichtig. Dabei spielen Motorik und Sensorik bedeu-
tende Rollen, denn durch sie entstehen besonders viele Verknüpfungen. In unserem Gehirn
nehmen die Nervenzellen, die für Hand, Lippen und Zunge zuständig sind, relativ viel Raum
ein; viel weniger Platz hingegen gibt es beispielsweise für die Nervenzellen zum Rücken. Da
der Mensch mit Händen, Lippen und Zunge sehr viele differenzierte Bewegungen macht, sind
viele Nervenzellen im Kopf für diese Körperteile zuständig. Sie benötigen deutlich mehr Platz
als diejenigen für Körperteile, über die weniger Impulse laufen. Hierzu ein Beispiel: Professio-
nelle Geigenspieler haben im Alter von zwanzig Jahren im Durchschnitt bereits zehntausend
Stunden Geige geübt. Es lässt sich nachweisen, dass bei ihnen mehr Nervenzellen im Gehirn
für die linke Hand zuständig sind, als es üblicherweise der Fall ist. Das ständige intensive Trai-
ning führt zu Veränderungen im Gehirn.

Unser Gehirn ist modular aufgebaut. Aus Lichtimpulsen (mit den Augen sehen) werden elek-
trische Impulse. Im Gehirn existieren Module für Farben, Bewegungen, Objekte, Gesichter,
Ecken, Kanten und vieles mehr. Diese Module sind nachgewiesen, und auch die Verbin-
dungslinien zwischen ihnen sind bekannt. Die Informationsverarbeitung zwischen den Modu-
len ist komplex und verläuft nie nur in eine Richtung, sondern viele Bereiche kommunizieren
ständig miteinander.

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Unsere Erfahrungen prägen sich im Gehirn ein und bilden die Grundlage unserer Wahrneh-
                               mung. Wer sein Sehsystem an Gebäuden und Räumen mit Ecken und Kanten trainiert, so wie
                               es Kinder in Mitteleuropa üblicherweise tun, hat eine andere Wahrnehmung als ein Mensch,
                               der in einer runden Hütte aufgewachsen ist und in einer Umgebung, in der es keine Ecken und
                               Kanten gibt. Diese unterschiedlich geprägte Wahrnehmung konnte man in Untersuchungen mit
                               Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen belegen. Das Gehirn erhält Erfahrungswerte
                               durch Sehen, Tasten und Hören. Alle Bereiche des Gehirns sind miteinander verknüpft. Dies
                               wurde durch einen einfachen Test gezeigt: Weltweit legte man Menschen zwei Bilder mit For-
                               men vor und fragte sie, welche dieser Formen wohl als „Bubu“ und welche als „Kiki“ be-
                               zeichnet würde. Die eine Form hat Rundungen, die andere zeigt Spitzen. Weltweit gaben
                               Menschen dieselbe Antwort: Sie ordneten dem runden Objekt den Namen „Bubu“, dem ecki-
                               gen den Namen „Kiki“ zu. Da die befragten Menschen unterschiedliche Sprachen hatten,
                               konnte dieses verblüffende Ergebnis nichts mit der Sprache zu tun haben. Vielmehr hängt es
                               von der Tatsache ab, dass auf der ganzen Welt die Physik der materiellen Objekte gleich ist.
                               Würde man auf die runde Form schlagen, würde sie ein anderes Geräusch als die spitzwink-
                               lige, kantige Form verursachen. Dieses Geräusch klänge bei der runden Form eher dumpf wie
                               „Bubu“, bei der spitzen eher schrill wie „Kiki“. Aufgrund dieser gleichen Erfahrung mit Klän-
                               gen ergab sich die weltweit übereinstimmende Zuordnung. Die Physik der Objekte haben wir
                               alle intuitiv gelernt, indem wir mit Objekten umgehen. Damit wird deutlich, dass unser Gehirn
                               auf alles Wissen und alle Erfahrungen zurückgreift, um ein Problem zu lösen.

                               Ein Drittel unseres Gehirns ist für das Sehen zuständig, ein weiteres Drittel für Bewegung.
                               Sehen und Bewegen sind eng miteinander verbunden, aus unserer Wahrnehmung – also aus
                               Bildpunkten – wird eine Muskelaktion. Alle unsere Erfahrungen zur Wahrnehmung der Welt
                               werden im Gehirn in miteinander vernetzten Modulen gespeichert. Der Mensch ist die einzige
                               Spezies, die derart viele unterschiedliche Bewegungen ausführen kann. Viele Tiere sind zwar
                               spezialisierter in einer Bewegungsart, aber nur der Mensch beherrscht unzählige Bewe-
                               gungsvarianten.

Zahlen erreichen zunächst      Zahlen erreichen zunächst über die Hände unser Gehirn, denn als Kinder lernen wir anhand
                               der Finger unserer Hände zu zählen. Noch beim Erwachsenen lässt sich erkennen, wie er einst
über die Hände unser Gehirn,
                               zählen gelernt hat. Ab der Zahl sechs rechnet jeder Erwachsene nachweisbar langsamer, denn
denn als Kinder lernen wir     ab diesem Moment nahm man als Kind die zweite Hand zu Hilfe. Diese These belegt eine Un-
                               tersuchung von Chinesen, die ihre Zahlen mit anderen Fingerbewegungen darstellen. Auf Chi-
anhand der Finger unserer
                               nesisch kann man mit einer Hand bis zehn zählen. Chinesen rechnen erst ab der Zahl elf
Hände zu zählen.               nachprüfbar langsamer, denn erst für die Elf zogen sie als Kinder beim Rechnen die zweite
                               Hand hinzu. Man erkennt an den Gehirnen Erwachsener deutlich, wie sie etwas gelernt haben.

Noch beim Erwachsenen          Will man Kindern Grundlagen für das Lernen von Mathematik vermitteln, sollte man im Kin-
                               dergarten häufig Fingerspiele machen. Hat man die Wahl, Kinder vor einen Laptop zu setzen
lässt sich erkennen, wie er    oder sie mit Fingerspielen zu beschäftigen, ist die Bewegung, also das Fingerspiel, die sinn-
einst zählen gelernt hat.      volle Entscheidung. Eine wichtige Einsicht darf hier nicht vergessen werden: Kinder brauchen
                               etwas anderes als Erwachsene, denn sie lernen noch rasant, und dadurch bildet sich ihr Ge-
                               hirn. Auch bei Erwachsenen schrumpft das Gehirn, wenn es nicht trainiert wird. Ein gutes Bei-
                               spiel hierfür sind die weit verbreiteten Navigationsgeräte für Autos. Wenn ein solches Gerät
                               benutzt wird, findet die Orientierungsleistung nicht mehr im Gehirn statt, und der entspre-
                               chende Teil des Gehirns wird kleiner.

                               12
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer

Wie wichtig der Bewegungsaspekt beim Lernen ist, konnte in einer Studie mit Studenten be-
legt werden. Die Teilnehmer hatten die Aufgabe, innerhalb von fünfzehn Stunden in einem
Labor 64 erfundene Objekte zu erlernen, die sich in der Form und im Namen unterschieden.
Diese Objekte gehörten zudem zu acht verschiedenen Kategorien. Bis auf einen Teilnehmer
waren alle Studenten nach fünfzehn Stunden hierzu in der Lage. Entscheidend war jedoch,
dass sie in zwei Gruppen aufgeteilt wurden, die auf unterschiedliche Art und Weise lernten.
Die eine Gruppe musste lediglich auf die Objekte deuten. Die andere Gruppe musste eine
pantomimische Bewegung machen, die zu dem jeweiligen Objekt passte. Bei dem abschlie-
ßenden Test zeigte sich, dass die Gruppe, die alle Objekte über eine Bewegung erlernt hatte,
signifikant schneller war. In dieser Studie ging es um kategoriales Denken. Wie schnell man
über Objekte nachdenken kann, hängt offensichtlich davon ab, wie man diese Objekte er-
lernt hat.

Durch die Art und Weise des Lernens ergibt sich ein entscheidender Unterschied in der Leis-             Durch die Art und Weise des
tungsfähigkeit. Wer mit Bewegung lernt, trainiert einen anderen Hirnbereich.
                                                                                                        Lernens ergibt sich ein ent-

Ein Mausklick hingegen ist lediglich eine sinnlose Zeigebewegung. Nur wer auf andere Weise              scheidender Unterschied in
lernt, steigert seine Denkfähigkeit. Wer die Dinge begreift, „bespielt“ ein Drittel seines Gehirns
                                                                                                        der Leistungsfähigkeit. Wer
mehr. Wer einen Inhalt „googelt“, hat weniger Chancen, ihn im Gedächtnis zu behalten als
durch das Lesen eines Zeitungsartikels oder eines Buches. Unser Gehirn speichert ihn des-               mit Bewegung lernt, trainiert
halb nicht ab, weil es weiß, dass man ihn jederzeit wieder googeln kann. Zudem braucht man
                                                                                                        einen anderen Hirnbereich.
zum Googeln möglichst viel Vorwissen, da man die enorme Menge der gefundenen Informa-
tionen sinnvoll sortieren muss. Um zu entscheiden, welche Informationen etwas taugen, muss
man demnach vorgebildet sein. Je mehr ein Mensch bereits weiß, desto besser kann er die
gegoogelten Informationen nutzen. Ein Erwachsener kann durchaus von Google profitieren, in
der Schule hingegen ist es nicht sinnvoll, Informationen auf diese Weise zu suchen. Schüle-
rinnen und Schüler sollten unbedingt ohne dieses Hilfsmittel lernen, denn nur so bilden sich
ihre Synapsen aus, und nur so bleiben ihnen die Informationen länger im Gedächtnis.
Entscheidend hierfür ist, dass beim Lernen auch die Verarbeitungstiefe unterschiedlich ist.
Sie hängt davon ab, wo die aktivierten Verknüpfungen im Gehirn angesiedelt sind und wie
viele aktiviert werden. Um komplexere Fragen zu beantworten, benötigt man sehr viele
Synapsen, die tiefer im Gehirn sitzen. Lernt man etwas auf diese Weise, bleibt es daher
länger in Erinnerung.

In Lernumgebungen sind Computer in der Regel „Lernverhinderungsmaschinen“. Werden sie
eingesetzt, findet das Lernen nicht im Gehirn statt. Es gibt zwar durchaus sinnvolle Möglich-
keiten, Computer in Lernsituationen einzusetzen, aber dies muss sehr bewusst und in einem
besonderen Zusammenhang geschehen. Nach einer Studie des Münchner Wirtschaftsfor-
schungsinstituts – zugrunde lagen die Daten einer Viertelmillion Schülerinnen und Schüler –
schnitten bei den Schulleistungen die Fünfzehnjährigen, die einen Computer in ihrem Ju-
gendzimmer haben, schlechter ab als diejenigen ohne diese Geräte. Ein weiterer Beleg: Der
Bürgermeister von Birmingham, Alabama, kaufte 15.000 Computer für Brennpunktschulen.
Nach drei Jahren wurde die begleitende Studie abgebrochen, weil man feststellte, dass die
Schülerinnen und Schüler, die einen Computer bekommen hatten, schlechtere Leistungen
zeigten als diejenigen, die keinen bekamen. Im Umgang mit Computern im Lernbereich müs-
sen demzufolge die Einsatzmöglichkeiten genau bedacht werden. Alles andere ist unverant-
wortlich.

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Am Beispiel des Golfspiels möchte ich verdeutlichen, wie sich das Gehirn entwickelt. Zu-
                               nächst sind beim Golfen weite Schläge notwendig, um den Ball in die Nähe des Lochs zu be-
                               kommen. Danach ist es sinnvoll, immer kleinere Schläge einzusetzen, bis zum Einlochen.

                               Einerseits sind also große Lernschritte nötig, andererseits auch kleine Schritte. Große Schritte
                               sind notwendig, um schnell zum Ziel zu kommen. Kleine Schritte braucht man, um genau das
                               Ziel zu treffen. Dies ist eine Analogie zum Lernen. Die Synapsen ändern sich am Anfang, in der
                               frühen Kindheit, sehr schnell. Später wird dieser Prozess langsamer. Ein Kind lernt sehr viel
                               schneller als ein Erwachsener. Zwanzigjährige haben nur noch zehn Prozent der Lernge-
Das Gehirn gleicht einem       schwindigkeit von Zehnjährigen. In diesem Zusammenhang ist die Erkenntnis wichtig, dass
                               das Gehirn einem „paradoxen Schuhkarton“ gleicht: Je mehr in einem Gehirn bereits enthal-
paradoxen Schuhkarton: Je
                               ten ist, desto mehr passt noch hinein. Am Beispiel des Sprachenlernens lässt sich das gut ver-
mehr in einem Gehirn enthal-   deutlichen: Beherrscht jemand bereits mehrere Sprachen, so fällt es ihm leichter, noch eine
                               weitere zu erlernen, als jemandem, der nur eine Sprache kann. Das liegt daran, dass die
ten ist, desto mehr passt      Sprachzentren in seinem Gehirn differenzierter ausgebildet sind. Damit können diese Viel-
noch hinein.                   sprachler sehr schnell eine neue Sprache adaptieren.

                               Die Fähigkeit zum lebenslangen Lernen wird im Kindergarten und in der Grundschule ange-
                               legt. Das bedeutet, dass es sinnvoll ist, das Lernen im Kindesalter zu fördern. Die Neurowis-
                               senschaft belegt dies. Das bedeutet auch, dass die Kosten für Bildung bei uns zu einem
                               großen Teil falsch eingesetzt werden. Es ist nicht sinnvoll, Milliarden in die Umschulung von Ar-
                               beitslosen und in die Fortbildung von Erwachsenen zu investieren. Je früher investiert wird,
                               desto höher ist die Rendite für Bildungsinvestitionen. Der größte Teil unserer enormen Bil-
                               dungskosten sollte deshalb in Kindergärten und Grundschulen fließen. Das würde zu einem
                               gewaltigen Bildungsgewinn führen und Probleme mit mangelhaft ausgebildeten Erwachse-
                               nen langfristig vermeiden.

                               Wenn wir vom Wachstum der Nervenzellen im Gehirn sprechen, so stellt sich die Frage, was
                               genau eigentlich wächst. Der Neuroanatom Paul Flechsig hat bereits vor hundert Jahren Bil-
                               der zur Gehirnentwicklung angefertigt. Er stellte fest, dass nicht die Menge der Nervenzellen
                               oder Nervenfasern wächst, sondern die Fettummantelung der Nervenfasern. Die Impulse an
                               den Nervenfasern mit Fettummantelung werden fünfunddreißigmal so schnell geleitet wie an
                               denjenigen, die noch keine Fettummantelung aufweisen. Im Gehirn eines Säuglings ist zwar
                               alles bereits vorhanden und auch miteinander verbunden, aber die Verbindungen sind noch
                               sehr langsam. Beim Erwachsenen hingegen besteht das Gehirn zu sechzig Prozent aus Fett.
                               Die Fettummantelung sorgt dafür, dass die Nervenfasern schnell miteinander kommunizieren
                               können. Und diese Kommunikation zwischen den Modulen stellt die eigentliche Informati-
                               onsverarbeitung dar.

                               Die menschliche Hirnentwicklung ist die Voraussetzung dafür, dass wir in unserer intellektuel-
                               len Entwicklung so weit kommen. Verglichen mit anderen Lebewesen hat ein Kind eine extrem
                               lange Lernphase. Sein Gehirn beginnt mit einfachen Dingen zu lernen, dann kommen immer
                               komplexere Sachverhalte dazu. Doch gerade dieses lange Lernen des Menschen ist die Vo-
                               raussetzung für seine enorme Lernleistung. Das sich entwickelnde Gehirn ersetzt gewisser-
                               maßen den Lehrer, denn auch ein guter Lehrer wählt zuerst einfache Beispiele und dann immer
                               schwerere.

                               14
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer

Damit Sprachentwicklung stattfinden kann, muss mit dem Kind gesprochen werden. Die Mo-
dule im Gehirn müssen bespielt werden. Deshalb ist es so wichtig, so viel wie möglich mit
Kindern zu sprechen. Dabei spielen allerdings noch andere Sinne eine Rolle, vor allem das
Sehen. Das Kind verbindet das Gesicht und die Mimik des Sprechenden mit den Lauten, die
es hört. Und damit das Kind die Sprache richtig zuordnen kann, muss es erleben, dass sie aus
dem Mund eines lebenden Menschen kommt und nicht aus den Lautsprechern eines Fern-
sehers.

Im Jahr 2003 wurde eine amerikanische Studie publiziert, die man mit neun Monate alten Kin-
dern in einer Krabbelgruppe in Oregon durchgeführt hatte. Dreimal pro Woche las man den
Kindern zwanzig Minuten entweder Chinesisch oder Englisch vor, acht Wochen hindurch. Da-
nach konnten die Kinder, denen Chinesisch vorgelesen worden war, chinesische Laute bes-
ser unterscheiden. Die Kinder, denen Englisch vorgelesen worden war, konnten mit den
chinesischen Lauten nichts anfangen. Eine dritte Gruppe hörte dieselben Texte derselben Vor-
leser von einer CD oder von einer DVD, doch diese Kinder lernten nichts. Das beweist, dass
Bildschirmmedien bis zum Ende des zweiten Lebensjahrs völlig ungeeignet sind, um Kinder
etwas zu lehren. Babys brauchen unbedingt einen echten Menschen, der spricht. Daher sind
zum Beispiel DVDs des Disney-Konzerns, die speziell für Kleinkinder angepriesen werden,
schädlich für die Sprachentwicklung. Eine Studie an über tausend Babys aus dem Jahr 2007             Eine Studie an über tausend
zeigte auf, dass Babys in ihrer Entwicklung signifikant weiter waren, wenn ihre Eltern ihnen
                                                                                                     Babys aus dem Jahr 2007
jeden Tag vorlasen. Bildschirmmedien hingegen hatten einen negativen Einfluss. So waren
Babys, die vor diesen Medien saßen, doppelt so schlecht in ihrer Sprachentwicklung wie die           zeigte auf, dass Babys in
Babys von Eltern, die ihnen vorlasen. In den USA verklagen aufgrund solcher Erkenntnisse Eltern
                                                                                                     ihrer Entwicklung signifikant
den Disney-Konzern, denn die Sprachentwicklung ist die Eintrittskarte für jegliche Bildung.
                                                                                                     weiter waren, wenn ihre
Zu viel Medienkonsum führt bei Kindern außerdem zu Aufmerksamkeitsstörungen. So konnte
in deutschen Studien nachgewiesen werden, dass Playstation-Benutzer schlechter lesen und             Eltern ihnen jeden Tag vorla-
schreiben als Kinder, die solche Geräte nicht besitzen. In diesem Zusammenhang sind die fol-         sen. Bildschirmmedien
genden statistischen Daten aus den USA erschreckend: Für die Altersgruppe der untersuch-
ten Acht- bis Achtzehnjährigen ergab sich ein durchschnittlicher Medienkonsum von 10,45              hingegen hatten einen nega-
Stunden täglich. Auch wenn man davon ausgeht, dass mehrere Medien gleichzeitig genutzt               tiven Einfluss.
wurden, um auf diese hohe Stundenzahl zu kommen, ist das kein Grund zur Entwarnung.
Denn man weiß, dass dieses Multitasking ebenfalls Aufmerksamkeitsstörungen verursacht. Es
ist deshalb vollkommen unsinnig, Multitasking zu üben, wie es schon von manchen Pädago-
gen gefordert wurde. Mit solchen Übungen würde man Kindern Aufmerksamkeitsstörungen
regelrecht antrainieren. Aufgrund solcher Erkenntnisse und Zusammenhänge ist es immens
wichtig, Bildungsforschungs- und Hirnforschungsdaten gemeinsam zu betrachten.

Nun komme ich auf die am Anfang erwähnte zweite Eintrittskarte in Bildungsprozesse zurück
und möchte dies mit der Frage einleiten: Was kann man im Kindergarten tun, um Kindern bei-
zubringen, sich selbst im Griff zu haben? Als Beispiel kann der bekannte Marshmallow-Test
herangezogen werden. Bei dieser Testreihe wurden Vierjährige an einen Tisch gesetzt, auf dem
ein Teller mit einem Marshmallow stand. Die Versuchsleiterin erklärte jedem Kind, wenn es die-
ses Marshmallow während ihrer Abwesenheit nicht aufäße, bekäme es zur Belohnung zwei
Marshmallows. Dann verließ sie das Zimmer und die Kinder wurden dabei gefilmt, wie sie mit
ihrem Wunsch, das Marshmallow zu essen, kämpften.

                                                                                           15
Manche Kinder hielten nur zehn Sekunden durch, andere eine Viertelstunde. Das Interessante
                                 an dieser Studie ist, dass die Kinder, die sich beherrschen konnten, in ihrem Leben bis zum
                                 College hin erfolgreicher waren. Fünfhundert Kinder wurden hierfür zwanzig Jahre lang un-
                                 tersucht. Die Fähigkeit, sich selbst im Griff zu haben, bestimmte ihr Leben also maßgeblich.
                                 Die beste Langzeitstudie zu diesem Thema stammt aus Neuseeland.

                                 In dieser Studie wurden im Jahr 1972 über tausend Neugeborene erfasst und untersucht.
                                 Mittlerweile sind alle Teilnehmer über vierzig Jahre alt. Über neunzig Prozent sind noch betei-
                                 ligt. In verschiedenen Lebensaltern wurde festgestellt, wie gut sich die Teilnehmer kontrollie-
                                 ren konnten. Dafür ermittelte man Werte für Eigenschaften wie Impulsivität, Aggressivität,
                                 Hyperaktivität oder Durchhaltevermögen und befragte sowohl Lehrer als auch Eltern. Aus den
                                 erhaltenen Werten errechnete man einen Durchschnittswert. Die beteiligten tausend Babys
                                 teilte man anhand dieses Wertes in fünf Gruppen auf. Das erstaunliche Ergebnis: Je kontrol-
                                 lierter die Testteilnehmer als Kinder waren, desto seltener waren sie als Erwachsener krank,
                                 desto seltener waren sie Raucher oder drogensüchtig. Sogar ihr Einkommen als Erwachsener
                                 war höher. Auch der IQ und der sozioökonomische Status von Kindern und Eltern wurden bei
                                 dieser Studie erfasst, so dass die Variablen herausgerechnet werden konnten. Die Fähigkeit
                                 zur Selbstkontrolle erwies sich für die Entwicklung der Kinder als ebenso wichtig wie der IQ
                                 und der ökonomische Hintergrund. Trotz dieser verblüffenden Erkenntnis spielt dieses Thema
                                 in der öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle. Dabei war sogar die Kriminalitätsrate in der
                                 Adoleszenz und im Erwachsenenalter eindeutig bei denjenigen höher, die sich als Kinder
                                 schlechter im Griff gehabt hatten.

Wie kann man Selbstkon-          Auch die menschliche Willenskraft muss trainiert werden, ebenso wie das Sprachzentrum.
                                 Denn sie ist, wie andere Fähigkeiten auch, nur zum Teil genetisch bestimmt. Unsere Selbst-
trolle üben? Wichtig ist, dass
                                 kontrolle besteht aus drei Faktoren: dem Arbeitsgedächtnis, der Inhibition und der Flexibilität.
dies ohne Druck von außen        Wie kann man Selbstkontrolle üben? Wichtig ist, dass dies ohne Druck von außen geschieht.
                                 Es ist kontraproduktiv, Kinder durch Drohungen zu etwas zu zwingen. Dabei lernen sie keine
geschieht. Es ist kontrapro-
                                 Selbstkontrolle, sondern Angst und Unterwerfung. Eine sinnvolle Übung wäre es hingegen, ein
duktiv, Kinder durch Drohun-     Projekt auszuwählen, bei dem etwas fertiggestellt werden muss, damit es Spaß macht. Ein
                                 gutes Beispiel hierfür ist gemeinschaftliches Singen. Es macht erst dann richtig Freude, wenn
gen zu etwas zu zwingen.         alle miteinander kooperieren und das Ergebnis entsprechend eindrucksvoll klingt.

                                 Auch Übungen, die Kinder darin trainieren, sich kontrolliert zu bewegen, sind hilfreich. Päda-
                                 gogen sollten also häufig Situationen initiieren, die es Kindern ermöglichen, bei einer Aufgabe
                                 durchzuhalten. Das Durchhaltevermögen zu trainieren, fördert die Selbstkontrolle.

                                 Die Zeitschrift „Science“ veröffentlichte 2011 ein Sonderheft über frühkindliche Erziehung.
                                 Darin wurde u. a. dargestellt, dass von solchen Übungen gerade die Jungen und Kinder mit
                                 ADHS am meisten profitieren. Aufgabe der Pädagogen ist es hierbei, dafür zu sorgen, dass
                                 die Tätigkeiten den Kindern Spaß machen, dass sie an ihre Fähigkeiten angepasst sind und bis
                                 zum Ende durchgeführt werden. Damit sie Freude bereiten, müssen die Aufgaben nach und
                                 nach schwieriger werden. Die wichtigsten Schulfächer sind deswegen Musik, Sport, Theater-
                                 spielen und kreatives Werken. In diesen Fächern lernen die Kinder Freude, Selbstvertrauen
                                 und soziale Bindungen.

                                 16
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer

Zum Schluss meiner Ausführungen noch ein wichtiger Hinweis zu dem Einfluss von Ernährung
auf die Gehirnfunktion. Sinkt der Blutzuckerspiegel, fällt das Frontalhirn als Erstes aus. Hung-
rige Kinder sind daher unruhig und nicht in der Lage, sich zu konzentrieren und zu lernen.
Eine Studie mit Richtern hat gezeigt, dass es Erwachsenen ebenso ergeht. Grundlage für
diese Studie waren tausend juristische Urteile, für die anhand der Aktenlage entschieden wer-
den musste, ob ein Delinquent wegen guter Führung entlassen werden konnte oder nicht. Um
ein solches Urteil zu fällen, muss ein Richter abwägen und differenziert denken können. Fühlte
sich ein Richter nicht mehr in der Lage, differenziert nachzudenken, entschied er sich dafür,
den Angeklagten nicht zu entlassen. Dies war immer dann der Fall, wenn ein Richter längere
Zeit nichts gegessen hatte. So betrug die Chance, dass jemand wegen guter Führung ent-
lassen wurde, bei Arbeitsbeginn des Richters 65 Prozent. Nach zweieinhalb Stunden Arbeit lag
diese Chance bei null Prozent. Nahm der Richter nun eine Mahlzeit zu sich, lag die Quote der
Entlassenen danach erneut bei 65 Prozent. Ob jemand frei kam oder nicht, hing also weitge-
hend davon ab, ob der zuständige Richter gerade etwas gegessen hatte. Diese erschreckenden
Ergebnisse belegen eindeutig, wie wichtig der Blutzuckerspiegel für die Frontalhirnfunktion ist.      In Deutschland gehen jeden

                                                                                                      Tag Millionen Kinder ohne
Zuletzt noch eine Studie aus der Zeitschrift „Pediatrics“, veröffentlicht im Herbst 2011. Für
diese Studie übten Kinder drei unterschiedliche Beschäftigungen aus. Eine Gruppe zeichnete,           Frühstück in die Schule.
eine Gruppe sah einen Tierfilm und eine weitere einen schnellen Cartoon. Alle Kinder muss-
                                                                                                      Dafür haben sie bereits Fern-
ten anschließend dieselben Aufgaben bewältigen. Sie mussten Kopf-Zeh-Knie-Schulter-Be-
wegungsübungen ausführen, Zahlen rückwärts aufsagen, einen Turm umbauen und eine                      sehen geschaut. Die Folgen
Belohnung aufschieben. Für jede dieser Tätigkeiten wird das Frontalhirn benötigt. Die Kinder,
                                                                                                      für ihre Lernfähigkeit sind
die den Cartoon gesehen hatten, bewältigten die Anforderungen sehr schlecht. Sehr gut er-
ledigten die Aufgaben jedoch die Kinder, die gezeichnet hatten.                                       katastrophal.

In Deutschland gehen jeden Tag Millionen Kinder ohne Frühstück in die Schule. Dafür haben             Es geht also nicht um Schul-
sie bereits Fernsehen geschaut. Die Folgen für ihre Lernfähigkeit sind katastrophal. Es geht          systeme und Lehrpläne, son-
also nicht um Schulsysteme und Lehrpläne, sondern darum, wie wir mit Kindern umgehen. Wir
sollten genau überlegen, was einem Kind gut tut. Ausreichend gesichertes Wissen durch um-             dern darum, wie wir mit
fangreiche Studien der Neurowissenschaft ist vorhanden, es muss nun auch umgesetzt und                Kindern umgehen.
in den Kindergärten und Schulen angewandt werden.

Bücher von Prof. Dr. Dr. Spitzer zum Thema (Auswahl):
Spitzer, M. (2012): Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen,
            München (Droemer Knaur).

Spitzer, M. (2010): Medizin für die Bildung: Ein Weg aus der Krise, Heidelberg (Spektrum).

Spitzer, M. (2005): Vorsicht Bildschirm! Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit
            und Gesellschaft, Stuttgart (Klett).

Spitzer, M. (2002): Lernen: Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Heidelberg (Spek-
            trum Akademischer Verlag).

                                                                                             17
PD Dr. Zvi Penner                    Sprachförderung im Kita-Alltag*
                                     PD Dr. Zvi Penner
Der Sprachwissenschaftler und
Spracherwerbsforscher PD Dr. Zvi     Ich möchte Ihnen von der Praxis eines laufenden Projekts berichten, das in Offenbach durch-
Penner arbeitet seit den späten      geführt wird. Aus den vielen Bereichen, die zu diesem Projekt gehören, habe ich für meinen
80er Jahren an der Schnittstelle
                                     Vortrag einen Aspekt gewählt. Im Rahmen der „Fördermodelle für das explizite Lernen“ han-
zwischen psycholinguistischer,
                                     delt es sich dabei um ein Projekt zu dem untergeordneten Schwerpunkt „komplexe Bedeu-
klinischer Forschung und Praxis.
                                     tungen“. Hierzu werde ich Ihnen eine Situation aus einer Kita schildern, in der Kinder Verben
Die Schwerpunkte seiner Arbeit
                                     mit komplexen Bedeutungen lernen können.
sind:
• Normaler und gestörter Sprach-     Verben mit komplexen Bedeutungen stellen eine sehr große Herausforderung für Kinder dar,
  erwerb                             die Deutsch als Zweitsprache (DaZ) lernen sowie für alle Kinder, die sprachlich benachteiligt
• Störungen im Grammatikerwerb       sind und Schwierigkeiten beim Spracherwerb haben. Oft haben diese Kinder in ihrem Verb-
  und im Sprachverstehen             wortschatz Dauerprobleme mit den zusammengesetzten Verben. Solche Verben bestehen aus
• Phonologische Störungen            einer Vorsilbe und dem Verbstamm, hierzu gehören z. B. Verben mit den Vorsilben
  (Schwerpunkt Prosodie/Sprach-      „ab-”, „ein-”, „aus-” oder „auf-”, die häufig verwendet werden. Verben mit der Vorsilbe „ab-”
  rhythmus)                          werden auch im Mathematikunterricht oft benutzt. Sprachlich benachteiligten Kindern berei-
• Störungen im Erwerb des Wort-      tet es oft Schwierigkeiten, die Bedeutungsunterschiede zwischen ähnlichen Worten wie „ab-
  schatzes                           schneiden“ und „zerschneiden“ oder zwischen „abfüllen“, „auffüllen“, „umfüllen“ und
• Frühe Sprachförderung bei          „nachfüllen“ zu verstehen. Die entsprechenden Synapsen im Gehirn zum Spracherwerb sind
  Migrantenkindern                   vermutlich bei allen Kindern vorhanden, doch viele Kinder lernen schon von Beginn an ge-
• Präventive Frühintervention für    wissermaßen in die falsche Richtung.
  (Risiko-)Kinder im ersten und
  zweiten Lebensjahr                 Man kann solche Verben nicht anfassen, um sie zu lernen. Wie kann man also vorgehen, um
                                     sie erfolgreich zu vermitteln? Welche Schritte sind notwendig für ein entsprechendes Inter-
In zahlreichen Forschungsprojekten   ventionsprogramm im Kindergarten oder in der Schule?
an den Universitäten Bern und        Bei komplexen Verbwortfeldern erfordert die Vermittlung eine große Genauigkeit von den pä-
Konstanz hat PD Dr. Zvi Penner im
                                     dagogischen Fachkräften. Wir haben uns im Rahmen unseres Projekts zunächst drei grund-
Rahmen eines universitären Tech-
                                     legende Fragen gestellt:
nologie- und Know-how-Transfers
                                     • Was lernen die Kinder, wenn sie Verbbedeutungen im Deutschen lernen?
das Kon-Lab-Sprachförderpro-
                                     • Warum haben gerade die sprachlich Benachteiligten in diesem Bereich so große Schwie-
gramm für Kinder mit Verzögerun-
gen im Spracherwerb und
                                       rigkeiten, die zu Dauerproblemen werden?
Migrantenkinder entwickelt. Dieses   • Was muss ein Erzieher/eine Erzieherin oder ein Lehrer/eine Lehrerin wissen, um die Kinder
wird sowohl in sprachtherapeuti-       in diesem Bereich entsprechend fördern zu können? Welches Fachwissen ist nötig?
schen-logopädischen Einrichtun-
gen als auch in Kindergärten und     Von großem Interesse ist für uns zudem die Frage, was in der Praxis passiert, wenn solche Pro-
an deutschsprachigen Einrichtun-     jekte durchgeführt werden.
gen im nicht-deutschsprachigen
Ausland angewandt.                   In der Regel lernen Kinder einige tausend deutsche Verben bereits in der Vorschulzeit und ver-
                                     fügen, wenn sie in die Schule kommen, bereits über ein Wissen zu Wortfeldern. Im Beispiel
Der Kon-Lab-Ansatz wurde in den
                                     rechts oben sehen Sie Wortfelder aus dem Bereich „sauber machen“, hierzu gehören bei-
letzten zwei Jahren zum Lernpfad-
                                     spielsweise die Verben „putzen“, „waschen“, „schrubben“, „reinigen“ und „scheuern“. Doch
Programm erweitert, im Rahmen
                                     was geschieht bei Kindern, die solche Wortfelder nicht so gut beherrschen? Wenn ein Kind an-
dessen PD Dr. Zvi Penner innova-
tive Methoden für Sprachförderung
                                     fängt, Bedeutungen zu lernen, muss es sich in der Welt orientieren. Es lernt anfänglich mit
und frühkindliche Bildung entwik-    großen Schritten, und dabei ist entscheidend, dass die Richtung seines Lernens stimmt. Das
kelt hat.                            Kind lernt, indem es Handlungen beobachtet. Doch es muss beim Lernen viele ablenkende

                                     * Der Vortrag von PD Dr. Penner wird in Auszügen wiedergegeben, die dem gesprochenen Wort entsprechen.

                                     18
PD Dr. Zvi Penner

                                                                                               Abb. links: Wortfelder aus dem
                                                                                               Bereich „sauber machen“

Mehrdeutigkeiten in diesen Handlungen aussortieren. Jede Handlung enthält eigentlich zu
viele Informationen. Ich möchte dies anhand von einigen Beispielen verdeutlichen.

Unser erstes Beispiel zeigt, wie eine Flasche unter einem Hahn mit Wasser gefüllt wird. Die-
ser Vorgang wird mit dem Verb „einfüllen“ beschrieben. Auch im nächsten Beispiel geht es
darum, etwas voll zu machen. Hier wird aus einer Flasche Saft in ein Glas eingeschenkt. Doch
zu diesem Vorgang heißt das passende Verb „eingießen“. In unserem dritten Beispiel wird in
einen Topf mit Wasser aus einer Tüte Suppenpulver gerührt, und jetzt heißt es „einschütten“.
Woher und warum wissen Erwachsene das? Wenn Sie darüber nachdenken, werden Sie fest-
stellen, dass Sie es nicht bewusst wissen und es selbst nicht erklären können.

Die gezeigten Handlungen führen alle zu Veränderungen mit einem Behälter und einer Flüs-
sigkeit, trotzdem werden sie mit verschiedenen Verben bezeichnet. Wie können Kinder diese
Differenzen erkennen? Um Kinder gezielt beim Lernen dieser Differenzen zu fördern, benöti-
gen pädagogische Fachkräfte lerntheoretisches und wissenschaftliches Grundwissen. Sie
müssen wissen, dass Kinder mit Bausteinen der „Bewegung-im-Raum“ arbeiten.

Ein Drittel unseres Gehirns ist mit Bewegung befasst, und jede Handlung ist im Grunde eine
Variante von Bewegung-im-Raum. Jede Bewegung besteht aus den drei Bausteinen „Quelle –
Strecke – Ziel“. Zur Verdeutlichung erläutere ich Ihnen das an dem folgenden Schema:
• Es gibt immer eine Quelle der Bewegung, und es stellt sich die Frage: Was geschieht am An-
  fangspunkt?
• Dann folgt die Strecke der Bewegung mit der Frage: Was geschieht auf dem Weg?
• Und schließlich haben wir den dritten Baustein, das Ziel: Was geschieht am Ziel der Bewe-
  gung?

                                                                                        19
Ein Kind beobachtet diese drei Bausteine einer Handlung genau. Das Kind sieht die Bewegung
                                  und überlegt, wo die wichtigste Veränderung stattfindet: am Anfang der Bewegung, während
                                  der Bewegung oder am Ende?

                                  Als Beispiel sei der Unterschied zwischen den Verben „füllen“ und „gießen“ genannt. Bei dem
                                  Verb „füllen“ passiert vor allem etwas am Ziel, also am Ende der Bewegung. Das Ergebnis
                                  der Bewegung ist eine Veränderung, die Menge in einem Behälter nimmt zu. Bei dem Verb
                                  „gießen“ gibt es jedoch einen anderen Schwerpunkt – wo kommt das Wasser her, und wie
                                  gelangt das Wasser in den Zielbehälter? Die Quelle muss ebenfalls ein Behälter sein, und die
                                  Flüssigkeit muss ein Strahl sein, damit man von „Gießen“ spricht. Die Frage ist, wo die wich-
„gießen“: Gravitation mit einem   tigste Veränderung der Bewegung-im-Raum stattfindet. Gießen kann man zudem prinzipiell
Strahl                            nur eine Flüssigkeit, hingegen Sand oder Zucker schüttet oder füllt man ein.

                                  Etwa im Alter von drei Jahren – beim Kindergarteneintritt – kennen viele Kinder solche Verben.
                                  Doch Kindern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, können diese Verben große Schwie-
                                  rigkeiten bereiten. Eventuell ist die Muttersprache dieser Kinder ganz anders strukturiert, sie
                                  kommt vielleicht ohne solche Bausteine aus. Die Kinder weichen daher häufig auf eine andere
                                  Strategie aus und versuchen, rein assoziativ zu lernen. Lernt ein Kind im Kindergarten, dass
                                  Blumen gegossen werden, so folgert es daraus fälschlicherweise, dass das Verb „gießen“
                                  immer „den Blumen Wasser geben“ bedeutet. Das Kind prägt sich die Beobachtung einer be-
                                  stimmten Situation ein. Es lernt situativ und bildet keine Bedeutungskategorie zu dem Verb
                                  „gießen“. Nun hat das Verb „gießen“ aber mit Blumen nicht zwangsweise zu tun und wird auch
Entscheidend ist, dass            in anderen Zusammenhängen verwendet. Entscheidend ist deshalb, dass Kinder die Bedeu-
                                  tung eines Verbes situationsunabhängig lernen. Denn erst dann sind sie in der Lage, das Verb
Kinder die Bedeutung eines
                                  in unterschiedlichen Zusammenhängen zu verwenden und zu verstehen.
Verbes situationsunabhängig
                                  Vor diesem Hintergrund ist es sehr wichtig, den Kindern im Kindergarten diese Kategorien-
lernen.                           bildung zu ermöglichen. Jeder Pädagoge, jede Pädagogin sollten über Wissen zu solchen
Erst dann sind sie in der         Wortfeldern der deutschen Sprache verfügen und darüber, wie sich Kinder diese Wortfelder
                                  aneignen. Die deutsche Sprache benutzt spezifische Bausteine, um die Bewegung-im-Raum
Lage, das Verb in unter-          zu verdeutlichen. Es ist eine Eigenart des Deutschen, Vorsilben mit Verben zu verbinden, wo-
schiedlichen Zusammenhän-         durch unzählige Wortzusammensetzungen entstehen. Die Vorsilbe und der Verbstamm erge-
                                  ben zusammen eine neue Einheit, als Beispiel seien die Verben „werfen“ und „abwerfen“
gen zu verwenden und zu           genannt. In unseren Untersuchungen stellten wir fest, dass manche Kinder noch am Ende der
                                  Grundschulzeit den Unterschied zwischen diesen beiden Verben nicht verstehen. In vielen an-
verstehen.
                                  deren Sprachen würden zwei verschiedene Verben für diese Tätigkeiten verwendet.

                                  Abschließend möchte ich Ihnen unsere Förderpraxis näher bringen. Im Kindergarten versu-
                                  chen wir, Alltagssituationen so zu gestalten, dass sie für die Kinder interessant sind, aber nicht
                                  zu fremd. Wir inszenieren Situationen wie nach einem Drehbuch. In der Theorie mag das ein-
                                  fach klingen, doch die Umsetzung der theoretischen Erkenntnisse in die Praxis ist eine große
                                  Herausforderung. Man kann für solche Inszenierungen beispielsweise Verben aus dem Ma-
                                  thematikunterricht wählen. Welche Bedeutungsbausteine haben diese Verben? Wie kann man
                                  diese in einer Handlung so konkret veranschaulichen, dass die Kinder sie verstehen können?
                                  Ziel ist es, die Bedeutungsbausteine, die eigentlich abstrakt sind, gewissermaßen „zum An-
                                  fassen“ darzustellen.

                                  20
PD Dr. Zvi Penner

Hierzu entwickeln wir für Erzieher und Erzieherinnen Animationen, die solche Bausteine ver-         wiegen
anschaulichen. Beim folgenden Beispiel geht es um die Verben „wiegen“ und „abwiegen“. Wir
inszenieren hierfür Handlungen mit Objekten. Eine Waage wird benötigt, am besten eine klas-
sische Balkenwaage, da diese für die Kinder anschaulicher als eine Digitalwaage ist. Wiegen
bedeutet, das Gewicht eines Objektes festzulegen, in der Regel mit vorgegebenen Gewich-
ten. Der zu wiegende Gegenstand wird zunächst in eine Waagschale gelegt, dann werden so
lange Gewichte auf die andere Waagschale gelegt, bis sich die beiden Waagschalen im Gleich-
gewicht befinden. Wiegen ist also diese Handlung, die das Gewicht eines Gegenstandes er-
mittelt.                                                                                           abwiegen

Bei der Tätigkeit des „Abwiegens“ verläuft die Handlung genau umgekehrt. Zuerst wird fest-
gelegt, wie schwer eine Menge sein soll (z. B. Zucker zum Backen), und die entsprechenden
Gewichte werden als Erstes in eine Waagschale gelegt. Dann kommt in die andere Waag-
schale das abzuwiegende Material, bis beide Waagschalen im Gleichgewicht sind und damit
das gewünschte Gewicht erreicht ist.

                                                                                                   abwiegen
Hierbei geht es um das Prinzip des Kontrastes. Es gibt eine Grundbedeutung des Verbs „wie-
gen“ und eine erweiterte Bedeutung „abwiegen“. Anschaulich lässt sich dies lernen, wenn
man beispielsweise mit einem Kochrezept arbeitet.

Ein Projekt, das wir in der städtischen Kita 4 in Offenbach durchführten, beschäftigt sich mit
dem Thema Ernährung und dem Unterthema „Haltbarkeit von Lebensmitteln“. Was macht
man, wenn man sehr viele Erdbeeren hat und diese verbrauchen muss? Wir stellen Erdbeer-
marmelade her. Im Rahmen dieses Projekts können etliche inszenierte Handlungen durchge-
führt werden. Wir kochen also nicht einfach die Marmelade nach einem Rezept, sondern
inszenieren alle beteiligten Handlungen derart, dass sie genau die Bedeutungsbausteine für
die Verben enthalten.

Abschließend gehe ich auf ein Beispiel zu den Verben „schneiden – abschneiden – zer-
schneiden“ ein.

Die Erdbeeren konnten von den Kindern entweder „abgeschnitten“ (die Blätter wurden ent-
fernt) oder „geschnitten“ werden (die Erdbeeren wurden zerteilt). Die Kinder durften wählen,
welche der beiden Handlungen sie durchführen wollten. Analysiert man diese Frequenz im
Nachhinein, lässt sich erkennen, wie man diese Inszenierung noch verbessern könnte. Es
wäre sinnvoller, beide Handlungen von allen Kindern nacheinander durchführen zu lassen.
Dabei wird noch deutlicher, dass „abschneiden“ das Ende einer Handlung darstellt. Die Blät-
ter kommen weg. Wichtig ist zudem, dass die sprachliche Begleitung zum richtigen Moment
stattfindet. Findet sie zu früh oder zu spät statt, und ist sie nicht exakt auf die Handlung ab-
gestimmt, so bewirkt sie nichts. Erst wenn das Resultat – „abschneiden“ – vollbracht ist, muss
auch die Sprache dazu vermittelt werden; nun ist der Moment, um das Verb zu lernen.

Mit unseren Unterrichtsmaterialien versuchen wir, Pädagogen und Pädagoginnen entspre-
chendes theoretisches Wissen zu vermitteln, damit sie solche komplexen Inszenierungen er-
folgreich durchführen können.

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