Kulturelle Heterogenität in Kitas - Anforderungen an Fachkräfte - Weiterbildungsinitiative ...
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INKLUSION I Annika Sulzer Kulturelle Heterogenität in Kitas Anforderungen an Fachkräfte Kinder mit Migrationshintergrund sind keine homogene Gruppe. Sie unterscheiden sich hinsichtlich des sozio- ökonomischen Status‘ ihrer Familie, der Bildungsabschlüsse der Eltern, ihrer Religion, Sprache und vielem mehr. Frühpädagogische Fachkräfte, deren Einrichtungen von einer großen kulturellen Heterogenität geprägt sind, stehen vor der Herausforderung, jedes Kind vor dem Hintergrund seiner unterschiedlichen Zugehörigkeiten wahrzunehmen, individuelle Bedürfnisse aufzugreifen und Stereotypisierungen vorzubeugen. Diese Expertise geht der Frage nach, welche Kompetenzen frühpädagogische Fachkräfte benötigen, um im Sinne der Inklusion professionell mit kultureller Heterogenität umgehen zu können. WiFF Expertisen | 34 ISBN 978-3-86379-059-2
Die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) stellt alle Ergebnisse in Form von Print- und Online-Publikationen zur Verfügung. Alle Publikationen sind erhältlich unter: www.weiterbildungsinitiative.de WiFF Expertisen WiFF Studien WiFF Wegweiser WiFF Kooperationen Weiterbildung Wissenschaftliche Analy- Ergebnisberichte der Exemplarisches Praxis- Produkte und Ergebnis- sen und Berichte zu aktu- WiFF-eigenen Forschun- material als Orientierungs- berichte aus der Zu- ellen Fachdiskussionen, gen und Erhebungen zur hilfe für die Konzeption sammenarbeit mit unter- Die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) ist ein Projekt des Bundesministe- offenen Fragestellungen Vermessung der Aus- und und den Vergleich von schiedlichen Partnern riums für Bildung und Forschung, der Robert Bosch Stiftung und des Deutschen Jugendinstituts e.V. und verwandten Themen Weiterbildungslandschaft kompetenzorientierten und Initiativen im Feld Die drei Partner setzen sich dafür ein, im frühpädagogischen Weiterbildungssystem in Deutsch- von WiFF in der Frühpädagogik Weiterbildungsangeboten der Frühpädagogik land mehr Transparenz herzustellen, die Qualität der Angebote zu sichern und anschlussfähige Bildungswege zu fördern. Zuletzt erschienen Zuletzt erschienen Zuletzt erschienen Zuletzt erschienen DURCHLÄSSIGKEIT INKLUSION AUSBILDUNG ELEMENTARDIDAKTIK I D A Autorengruppe Berufsfachschule Qualifikationsprofil „Frühpädagogik“ – Ulrich Heimlich Joanna Dudek/Johanna Gebrande Berufsfachschule Kinder mit Behinderung – Quereinstiege in den Erzieherinnenberuf Anforderungen an eine inklusive Frühpädagogik Strategien zur Gewinnung zusätzlicher Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen Frühe Bildung – Bedeutung und Aufgaben der pädagogischen Fachkraft Kinder mit Behinderungen besuchen immer häufiger reguläre Kindertageseinrichtungen. Das Konzept der Quereinstiege in die Ausbildung und in das Berufsfeld von Erzieherinnen und Erziehern haben aufgrund des Grundlagen für die kompetenz erhöhten Fachkräftebedarfs eine zunehmende Bedeutung. Die vorliegende Expertise stellt die Möglichkeiten Inklusion bietet die Grundlage für eine gemeinsame Bildung, Betreuung und Erziehung aller Kinder. Ulrich der Zugänge und Qualifizierung für Quereinsteigende dar. Der Fokus liegt dabei auf der sogenannten Externen orientierte Weiterbildung Heimlich zeigt in dieser Expertise auf, wie das Konzept bei Kindern mit Behinderung umgesetzt werden kann und welche Anforderungen es an pädagogische Fachkräfte stellt. prüfung – einer Prüfung, die das Nachholen des Berufsabschlusses der Erzieherin / des Erziehers ermöglicht – und auf der Teilzeitausbildung. Weitere Möglichkeiten für einen Quereinstieg in das Berufsfeld werden exem plarisch anhand von fünf länderspezifischen Maßnahmen aufgezeigt. WiFF Wegweiser Weiterbildung | 4 WiFF Expertisen | 33 WiFF Studien | 19 WiFF Kooperationen | 4 ISBN 978-3-86379-083-7 ISBN 978-3-86379-070-7 ISBN 978-3-86379-082-0 DRUCK_Umschlag_Dudek_Gebrande.indd 1 13.08.12 12:22 DRUCK_WW_Frühe_Bildung.indd 1 15.11.11 14:55 DRUCK_Koop_Qualifikationsprofil_Umschlag.indd 1 14.01.13 13:26 Band 33: Band 19: Band 4: Band 4: Ulrich Heimlich: Kinder mit Behin- Joanna Dudek/Johanna Gebrande: Frühe Bildung – Bedeutung Autorengruppe Berufsfach- derung – Anforderungen an eine Quereinstiege in den Erzieherinnen und Aufgaben der schule: Qualifikationsprofil inklusive Pädagogik beruf pädagogischen Fachkraft „Frühpädagogik“ – Berufs- fachschule Band 32: Band 18: Band 3: Band 3: Hiltrud Otto/Lisa Schröder/Ariane Norbert Schreiber: Die Ausbildung Zusammenarbeit mit Eltern Expertengruppe „Anschluss- Gernhardt: Kulturelle Heterogenität von Kinderpflegerinnen und fähige Bildungswege“: Band 2: in Kitas – Weiterbildungsformate Sozialassistentinnen Kindheitspädagogische Kinder in den ersten drei für Fachkräfte Bachelorstudiengänge und © 2013 Deutsches Jugendinstitut e. V. Band 17: Lebensjahren anschlussfähige Bildungswege Band 30: Pamela Oberhuemer: Fort- und Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) Simone Seitz/Nina-Kathrin Finnern/ Weiterbildung frühpädagogischer Band 1: Band 2: Sprachliche Bildung Nockherstraße 2, 81541 München Natascha Korff/Anja Thim: Kinder Fachkräfte im europäischen Expertengruppe Berufs mit besonderen Bedürfnissen – Vergleich begleitende Weiterbildung: Telefon: +49 (0)89 62306-173 / -249 Tagesbetreuung in den ersten drei Qualität in der Fort- und Band 16: E-Mail: info@weiterbildungsinitiative.de Lebensjahren Jan Leygraf: Struktur und Orga Weiterbildung von päda- gogischen Fachkräften in Band 29: nisation der Ausbildung von Kindertageseinrichtungen Drorit Lengyel: Sprachstands- Ezieherinnen und Erziehern Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e. V. (DJI) feststellung bei mehrsprachigen Band 1: Band 15: Lektorat: Jürgen Barthelmes Kindern im Elementarbereich Karin Beher/Michael Walter: Autorengruppe Fachschul wesen: Qualifikationsprofil Gestaltung, Satz: Brandung, Leipzig Qualifikationen und Weiter- „Frühpädagogik“ – Fach bildung frühpädagogischer Titelfoto: BeTa-Artworks © Fotolia.com Fachkräfte schule / Fachakademie Druck: Henrich Druck + Medien GmbH, Frankfurt a. M. www.weiterbildungsinitiative.de Stand: März 2013 ISBN 978-3-86379-059-2
Annika Sulzer Kulturelle Heterogenität in Kitas Anforderungen an Fachkräfte Eine Expertise der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF)
Vorwort Die deutsche Einwanderungsgesellschaft wird vielfach proklamiert, die Erwartungen an Kinder tageseinrichtungen sind entsprechend hoch: Frühpädagogische Fachkräfte haben den gesell schaftlichen Auftrag, Kinder und ihre Familien so in den vorschulischen Alltag zu integrieren, dass Chancen auf Bildung und Teilhabe von Anfang an erhöht werden. Diese Forderung ist nicht neu. Schon die interkulturelle Pädagogik der 1990er Jahre entwickelte Ansätze für den pädagogischen Umgang mit kultureller Heterogenität. Diese Ansätze aufzugreifen und mit dem Paradigma der Inklusion zu verbinden, bietet die Chance, Migrationshintergrund als eine Heterogenitätsdimension unter anderen wahrzunehmen, sensibel zu werden für die Wechselwirkungen mit anderen Heterogenitätsmerkmalen und kategoriale Zuschreibungen zu vermeiden. Diese Anforderung ist für frühpädagogische Fachkräfte z. T. neu und es ist Aufgabe berufsbegleitender Weiterbildung, sie hierfür zu qualifizieren. Mit der vorliegenden Expertise „Kulturelle Heterogenität in Kitas – Anforderungen an Fachkräfte“ macht Annika Sulzer eine Bestandsaufnahme zu Lebenslagen von Kindern in der Migrationsge sellschaft und bildungspolitischen Reaktionen hierauf. Vor diesem Hintergrund beschreibt sie professionelles Handeln in ausgewählten Handlungsfeldern und verbindet interkulturelle und inklusive frühpädagogische Ansätze. Abschließend stellt sie die hierfür benötigten Kompetenzen vor und gibt Empfehlungen, wie die Professionalisierung der Fachkräfte unterstützt werden kann. Die Expertise wurde im Auftrag der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) erstellt und ist Teil des Wegweisers Weiterbildung „Inklusion: Kulturelle Heterogenität in Kin dertageseinrichtungen“. Die Verantwortung für die fachliche Aufbereitung der Inhalte liegt bei der Autorin. Die Expertise, deren Ergebnisse auch in weitere Projektarbeiten einfließen, dient der Entwicklung von Weiterbildungsangeboten und soll zudem den fachlichen und fachpolitischen Diskurs anregen. Unser Dank gilt Angelika Diller, die die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte von Beginn an bis zu ihrem Ausscheiden in den Ruhestand als Projektleitung begleitet und auch diese Publikation intensiv betreut hat. München, im März 2013 Anke König Projektleitung WiFF 4
Inhalt 1 Einleitung 6 1.1 Fragen, Ziele, Aufbau 6 1.2 Begriffe, Paradigmen, Thematische Aspekte 8 2 Gesellschaftlicher Bezugsrahmen 10 2.1 Lebenslagen von Kindern in der Einwanderungsgesellschaft 10 2.1.1 Dynamiken in der Migrationsgesellschaft 10 2.1.2 Heterogene Sozialisationskontexte 13 2.2 Exkurs: Standards in Bildungsplänen und Qualitätsinstrumenten 17 3 Pädagogische Professionalität: Handlungsfelder und Merkmale 22 3.1 Eckpfeiler einer „interkulturellen“ Frühpädagogik 22 3.2 Ausgewählte Handlungsfelder 29 3.2.1 Identitätsentwicklung und soziale Bildungsprozesse 30 3.2.2 Förderung von Mehrsprachigkeit und Deutsch als Zweitsprache 34 3.2.3 Religion(en): Sozialisation und Bildung 40 3.2.4 Kooperation mit Eltern und Familien 44 3.2.4.1 Bildungs- und Erziehungspartnerschaft 45 3.2.4.2 Unterstützung der Familie 50 3.2.5 Organisationsentwicklung 50 4 Zusammenfassung: Kompetenzen für professionelles Handeln 55 5 Schlussbetrachtung 61 6 Literatur 65 7 Anhang 85 5
Annika Sulzer –– Reaktion des wissenschaftlichen Fachdiskurses auf 1 Einleitung die veränderte Heterogenität der Gesellschaft, da mit verbundene kritische Anfragen an die Disziplin der Interkulturellen Pädagogik sowie Suchbewe gungen für eine „Pädagogik der Vielfalt“ –– Erhöhte bildungspolitische Aufmerksamkeit ge 1.1 Fragen, Ziele, Aufbau genüber der Ungleichbehandlung von Kindern mit Migrationshintergrund, gepaart mit der Suche nach Was ist nötig, um Kindern und Familien mit Migra Strategien, die wirkungsvoll das Recht von Kindern tionshintergrund in Kindertageseinrichtungen passen auf gleichberechtigtes Aufwachsen und auf chan de Angebote zu machen und ihnen chancengleiche cengleiche Bildung, Betreuung und Erziehung in Bedingungen für Bildung, Betreuung und Erziehung Kindertageseinrichtungen realisieren. bieten zu können? Welche Kompetenzen benötigen Erzieherinnen und Erzieher, um diese Ansprüche in Für Erzieherinnen und Erzieher ist der Anspruch, Kul der Praxis qualifiziert einlösen zu können? tur bzw. Ethnizität in ihrer Praxis zu berücksichtigen Diese Frage hat Hochkonjunktur und beschäftigt oft in mehrfacher Hinsicht ein „heißes Eisen“: zahlreiche Träger, Fachverbände und Kindertagesein –– Das Thema Migration und Integration ist emotio richtungen. Dabei geht es auch um eine Neubestim nal besetzt und (nicht nur) in Deutschland immer mung dessen, was Qualitätsansprüche einer pädagogi wieder Gegenstand erhitzter politischer Diskurse, schen Praxis sind, die die ethnisch-kulturelle Herkunft die in das alltägliche Miteinander der Kindertages von Kindern und Familien in der Kindertageseinrich einrichtung hineinwirken (Butterwegge / Hentges tung aufgreift – einem rechtlich bindenden Anspruch 2009; Castles 2009). im Feld der Kindertagesbetreuung (SGB XIII §22 (3)). –– Viele Erzieherinnen und Erzieher erfahren die Ar Die Beschäftigung mit kultureller Diversität in beit mit Familien als Verunsicherung ihrer eigenen Kindertageseinrichtungen ist kein Neuland und hat Person, wenn die soziokulturellen Erfahrungen bereits eine 30-jährige Geschichte. Pädagogische divergieren. Konzepte und die Professionalisierung zur „interkul –– Die Anforderungen sind in diesem Feld in den turellen“ Gestaltung frühpädagogischer Praxis sind in letzten Jahren erheblich erweitert worden, Kom Deutschland als Reaktion auf die Immigration von Fa petenzentwicklung jedoch war nicht immer syste milien und deren Kindern entwickelt worden. Für die matischer Gegenstand der Ausbildung. Entwicklung des Fachdiskurses in der Frühpädagogik spielten Erfahrungen aus regionalen Praxis(modell-) Die Qualität der pädagogischen Praxis im Umgang projekten eine große Rolle. 1 mit kultureller Differenz wird jedoch begrenzt, wenn Folgende gesellschaftliche Entwicklungen haben Fachkräfte sich unsicher fühlen, auf welcher fachli in den letzten Jahren dazu beigetragen, vorhandene chen Grundlage sie handeln, mit der Folge, dass sie frühpädagogische Konzepte und Qualitätsansprüche dann davon Abstand nehmen, auf die Relevanz von zur „interkulturell“ pädagogischen Arbeit mit Blick Kultur im Leben der Kinder einzugehen (Rosken 2009, auf ihre Chancen und Risiken zu überdenken bzw. zu S. 106 ff.; Gaitanides 2007). erweitern: Weiterbildung in diesem Feld ist mit einem Konglo –– Ethnische, sprachliche und religiöse Pluralisierung merat an Erwartungen konfrontiert, was die Festigung der deutschen Gesellschaft der professionellen Identität, die Professionalisierung in einzelnen Handlungsfeldern sowie die Passung der Angebote für die zum Teil deutlich divergierenden Arbeitskontexte der Fachkräfte in den Kindertages 1 Frühe Beispiele sind: „Deutsche und Ausländer im Stadtteil – Integration durch den Kindergarten“ (Robert Bosch Stiftung einrichtungen vor Ort angeht. 1994), Modellprojekte einzelner Kommunen wie München, Frankfurt, Berlin, das Projekt „Kindersituationen“ (Preissing 1998) und Modellvorhaben des Deutschen Jugendinstituts wie „Multikulturelles Kinderleben“ (1999 – 2001). 6
Einleitung Fragen und Ziel anwenden (Lanfranchi 2010; Otten 2009; Kalpaka Diese Expertise gibt einen Überblick über den derzei 2001). Was ein professionelles Handeln im Umgang tigen Stand der fachwissenschaftlichen Diskussion mit kultureller Differenz für das Handlungsfeld „Arbeit im Umgang mit kultureller Diversität in Kinderta in Kindertageseinrichtungen“ ausmacht, erschließt geseinrichtungen. Dabei wird folgenden Fragen sich demnach erst mit der Kenntnis der Anforderun nachgegangen: gen in diesem Feld. –– Welche Anforderungen stellen sich aus fachwis Diese Expertise konzentriert sich thematisch ins senschaftlicher Sicht an die Professionalität von gesamt auf die Kindertageseinrichtung – ein Sektor, Erzieherinnen und Erzieher, wenn es um die Gestal der im Bereich der frühkindlichen Bildung, Erziehung tung einer frühpädagogischen Praxis geht, die die und Betreuung durch Kinder und Familien derzeit in ethnisch-kulturelle Herkunft der Kinder und Fami Deutschland am stärksten frequentiert wird und der lien in der Kindertageseinrichtung berücksichtigt? das derzeitige Hauptarbeitsfeld von Erzieherinnen –– Welche Kompetenzen benötigen sie für diese Ar und Erziehern bildet. Fokussiert wird die Altersspanne beit? der Kinder von drei bis sechs Jahren. 2 Aufbau der Expertise Vorgehensweise und Reichweite Das, was als „professionell“ gilt, ist eng an berufsspe Für diese Expertise wurden umfangreiche Recher zifische Normen, Werte und Standards gebunden. Sie chen in der wissenschaftlichen Fachliteratur der sind aufs Engste mit dem gesellschaftlichen Kontext Frühpädagogik, der Interkulturellen Pädagogik und verbunden, in dem die pägagogische Praxis situiert ist der Allgemeinen Erziehungswissenschaft durchge (Hormel 2010; Badawia u.a. 2003). Dies wird in Kapitel 2 führt. Das Interesse galt der Rezeption theoretischer ausgeführt, das die Lebenslagen der Kinder und deren und empirischer Arbeiten, die zum Umgang mit Familien in den Blick nimmt. In Kapitel 2.2 erfolgt ein kultureller Differenz in frühkindlichen Bildungsein Exkurs über Aussagen zur Qualität im Umgang mit richtungen Erkenntnisse liefern sowie pädagogische kultureller Differenz, wie sie in den Bildungsplänen Programmatiken systematisieren, die in Deutschland der Bundesländer ausgeführt sind. als einflussreich gelten können. Um die Fachdebatte Kapitel 3 gibt einen Überblick über einflussreiche in einen größeren Zusammenhang zu stellen, wurde Programmatiken zur „interkulturell“ pädagogischen auch Fachliteratur aus dem angloamerikanischen Arbeit in der Kindertageseinrichtung, das heißt: Raum hinzugezogen, da diese sich als einflussreich zentrale Kriterien für die Orientierungsqualität der für die deutsche Debatte darstellt. pädagogischen Arbeit. Der Mehrdimensionalität des Themas „Kulturelle Kapitel 3.1 erläutert theoretische Grundannahmen Diversität in Kindertageseinrichtungen“ konnte in des gegenwärtigen Fachdiskurses, die Werte und den Recherchen bedingt entsprochen werden. Dafür Normen für eine „interkulturelle“ Gestaltung pädago gibt es folgende Gründe: gischer Praxis definieren. Für ausgewählte Handlungs –– Die frühpädagogische wissenschaftliche Literatur felder werden in Kapitel 3.2 inhaltliche Grundlagen zum Thema ist erst wenig systematisiert, etwa in beschrieben und jeweils konkretisiert, welche Ansprü Form von systematisierenden Handbüchern oder che sich für die Umsetzung an Fachkräfte ergeben. Forschungsbänden mit Metaanalysen. Kapitel 4 fasst auf der Basis der vorangegangenen –– Wissensbestände werden gegenwärtig in der Fa Ausführungen zusammen, welche Kompetenzen milien- und Kindheitsforschung, Spracherwerbs Fachkräfte dabei unterstützen können, um die in Ka- forschung, Migrations- und Milieuforschung eher pitel 3 dargestellten Anforderungen so umzusetzen, segmentiert entwickelt. dass sie fachkundig arbeiten und sich als professionell –– Pädagogische Arbeiten berücksichtigen kaum erleben. Erkenntnisse aus der Psychologie und Soziologie – Der Aufbau berücksichtigt, dass „Interkulturelle Kom petenz“ stets in Bezug zu einem Handlungsfeld definiert 2 Zur Berücksichtigung kultureller Vielfalt für Kinder im Alter bis zu werden sollte, in dem die Personen diese Kompetenzen drei Jahren vgl.: Borke u. a. 2011. 7
Annika Sulzer und umgekehrt. Der für das Feld notwendige inter senschaft sei aufgefordert, Theorien zu entwickeln, disziplinäre Forschungsdialog ist für den Bereich um diese Phänomene angemessen zu erforschen und der Kindertageseinrichtungen erst in Anfängen die pädagogische Praxis habe Kultur als Identitätsres- entwickelt. source respektvoll zu achten (Nieke 2010). Als Konsens hat sich ein Verständnis durchgesetzt, Soweit möglich wurde die Fachliteratur der Bezugs Kultur reflexiv zu verwenden. Kultur ist keine von disziplinen (Migrations- und Rassismusforschung, vorneherein als stets relevante, fixe und einzig be Kindheits- und Spracherwerbsforschung) recherchiert deutsame Kategorie der Zugehörigkeit. Kultur wird und in Verbindung zur pädagogischen Fachliteratur verstanden als „Repertoire von Bedeutungsmustern gesetzt. und Zeichensystemen (Werte, Normen, Bräuche und Das Erfahrungswissen aus Modellprojekten, Praxis andere Verhaltensregeln, allgemeine Wissensbestän entwicklung oder Praxiskonzepten ist in der entspre de und ‚Selbstverständlichkeiten‘ Traditionen, Rituale, chenden Fachliteratur (noch) nicht adäquat abgebildet. Routine, Glaubensvorstellungen, Mythen usw.), über Das ist Ausdruck der generell (noch) nicht systematisch das Gruppen oder Gesellschaften verfügen“ (Leiprecht etablierten Transferstruktur zwischen Wissenschaft 2001, S. 16). und Praxis in der Frühpädagogik (Rabe-Kleberg 2008; In der Fachliteratur wird der Begriff „Kultur“ oft mit Ueffing 2007, S. 45 f.). Angesichts des hohen Potenzials dem Begriff „Ethnizität“ synonym verwendet. Ethnizität einiger Praxisprojekte für Theoriebildung und For ist als Differenzkategorie sozialer Herstellungsprozesse schung wäre eine systematische Aufbereitung und zu begreifen. Dabei geht „um einen unterscheidbaren Analyse der Wissensbestände aus der Fachpraxis not Namen, um ein historisches Gebiet oder die Verbin wendig und erstrebenswert. dung dazu, um eines oder mehrere Momente einer gemeinsamen Kultur (Sprache, Bräuche, Religion) um Gruppensolidarität und - identität“ (Bader 1995, S. 82 f. 1.2 Begriffe, Paradigmen, nach Leiprecht 2001, S. 43 f.). Beide Begriffe fokussieren dynamische Herstel Thematische Aspekte lungsprozesse, die in Prozessen der Selbst- und Fremd Die Begriffe „interkulturell“, „Kultur“, „Migration“, beschreibung wirksam werden (Diehm / Kuhn 2006; „Ethnizität“ sind im Fachdiskurs vielschichtig besetzt. Eickelpasch / Rademacher 2004, S. 77 ff.; Ha 2004). Die Demnach gilt es, eine gewisse Eindeutigkeit über die Bedeutungen der Begriffe „Nation“, „Ethnizität“ und Begriffe herzustellen. „Kultur“sind nicht trennscharf (Mecheril 2010, S. 24). In dieser Expertise wird vorrangig der Begriff Kultur Ethnizität und Kultur als wissenschaftliche verwendet, und die Verbindungen sind mitzudenken. Analysekategorien „Ethnizität“ und „Kultur“ werden oft als Sammelka Als wissenschaftlicher Begriff ist „Kultur“ in der päda tegorie für ethnisch „Andere“ begriffen (Mecheril 2010, gogischen Fachdebatte immer wieder Gegenstand kri 2004; Kalpaka 2005). Dadurch erscheinen Deutsche tischer Auseinandersetzung (Gogolin / Krüger-Potratz ohne Migrationshintergrund in ihrer Ethnizität so, als 2010, S. 114 ff.). wären sie selbst nicht kulturell bzw. ethnisch verortet. Kritische Stimmen problematisieren seine begriff In Dominanzverhältnissen kann dies problematische liche Unschärfe, seine allzu fokussierte Verwendung Praxen der Bestimmung von Normalität und Abwei ausschließlich für die Personengruppe von Menschen chung tradieren, mittels derer Menschen eingeordnet mit (zugeschriebenem) Migrationshintergrund; es und in sozial ungleiche Positionen verwiesen werden bestehe das Dilemma, dass der Gebrauch des Kultur (Melter u.a. 2010; Eggers u.a. 2005; Wollrad 2005). Hier begriffs unabdingbar dazu führe, ihn als vorrangige wird der Kulturbegriff explizit auch auf Menschen Analysekategorie zu setzen, was Kulturalisierungen ohne Migrationshintergrund bezogen. befördert (Mecheril 2010). „Ethnizität“ bzw. „Kultur“ sind als alleinige Kate Befürwortende Einschätzungen betonen die Not gorie der Beobachtung und Analyse der Lebenslagen wendigkeit, ihn zu gebrauchen, da Kultur für Men von Personen nicht ausreichend. Diese Analysekate schen eine bedeutsame Ressource darstelle. Die Wis gorie macht nur als „Hilfskonstruktion“ Sinn, damit 8
Einleitung spezifische Teilausschnitte von Lebenslagen besser in richtungen zu werten, unabhängig von der Anzahl an den Fokus kommen können. „Kultur“ und „Ethnizi Kindern mit Migrationshintergrund (BMFSFJ 2005). tät“ sind stets eng verwoben mit anderen Merkmalen In der Interkulturellen Pädagogik ist der Begriff der Identifikation, wie Alter, Geschlecht, körperliche der „Interkulturalität“ bislang Gegenstand kritischer Fähigkeiten, sexuelle Orientierung (Prengel 2010; Auseinandersetzung gewesen: Lutz / Wenning 2002). Der Begriff provoziere, Verhaltensweisen und Handlungen von Menschen als kulturell „fixiert“ und Migration und „Migrationshintergrund“ „determiniert“ zu betrachten. Begegnungen zwischen Seit ein paar Jahren wird neben dem Kulturbegriff Personen könnten jedoch nicht auf ihre rein kulturel auch der Begriff der „Migration“ bzw. des „Migrations- le Zugehörigkeit und das Interkulturelle reduziert hintergrunds“ gebraucht (Mecheril u. a. 2010, S. 27 ff.). werden (Kalpaka 2005; Herwartz-Emden u. a. 2010, Nach der Definition des Mikrozensus sind damit „alle S. 202 ff., Gaitanides 2003). nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik „Interkulturalität“ unterstelle implizite Vorstellun Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutsch gen von Normalität und Abweichung, von „normaler“ land geborenen Ausländer und alle in Deutschland Gruppe mit „normaler“ Kultur (der Kinder ohne Migra als Deutsche geborenen mit zumindest einem zuge tionshintergrund) und „besonderer“ Gruppe mit „be wanderten oder als Ausländer geborenen Elternteil“ sonderer“ Kultur (Kinder mit Migrationshintergrund) gemeint (StBA 2011, S. 6). (Gogolin / Krüger-Potratz 2010, S. 132). Der Begriff „Migrationshintergrund“ umfasst in Im Fachdiskurs werden inzwischen neben dem dieser Definition in Deutschland geborene Kinder Begriff der „Interkulturellen Pädagogik“ alternativ deutscher Staatsangehörigkeit, eingebürgerte Kinder weitere Begriffe wie „Migrationspädagogik“ (Meche sowie ausländische Kinder (entlang der Staatsangehö ril 2010), „kultursensible Pädagogik“ (Borke u. a. 2011) rigkeit), auch in zweiter und dritter Generation. Der verwendet. In dieser Expertise wird der Begriff „inter Begriff wird dafür kritisiert, dass er Kinder stigmati kulturell“ gebraucht, um den Bezug zu dem umfang siert und etikettiert, die nicht über eigene Migrati reichen Fachwissen herzustellen, das in der gleich onserfahrung verfügen (Hamburger 2009). Er wird namigen akademischen Fachdisziplin entwickelt ist. genutzt, um auf sozialisatorisch relevante Aspekte Allerdings wird, um die oben genannte Problematik im Aufwachsen von Kindern einzugehen, da „die des Begriffs visuell zu verdeutlichen, im Fließtext der Migrationserfahrungen der (Groß-)Elterngeneration Begriff „interkulturell“ in Anführungszeichen gesetzt. sowohl den familiären Lebensalltag, die sprachliche Die Diskussionen um Begrifflichkeiten sind auch Sozialisation im frühen Kindesalter und die Identitäts Ausdruck eines umfassenden Paradigmenwechsels, entwicklungen (Fremd- und Selbstzuschreibungen) bei dem die „Interkulturelle Pädagogik“ sich verstärkt der Kinder als auch ihre Teilhabechancen nachhaltig an Prinzipien einer „Pädagogik der Vielfalt“/“diversity prägen“ (Butterwegge 2010, S. 23). In dieser Expertise education“ orientiert (Roth 2010; Mecheril 2009; Ham wird „Migrationshintergrund“ in der Definition des mes Di-Bernando/Schreiner 2011). Es erscheint notwen Mikrozensus und nach Auffassung von Christoph dig, die Diskussion über differenzierte Betrachtungs Butterwegge verwendet. weisen fortzuführen, die mit einem Begriffswechsel allein jedoch nicht abgeschlossen ist. Interkulturelle Pädagogik – Inklusion – Pädagogik Gegenstandsbereiche und Handlungsanforderun der Vielfalt gen für eine „interkulturelle“ Frühpädagogik werden Der Gegenstand der „interkulturellen“ Pädagogik ist für den Bereich der Kindertageseinrichtungen zuneh umfassender definiert als eine nur auf Kinder mit Mig mend mit Bezug zu Inklusion diskutiert: 3 In welcher rationshintergrund zielende Pädagogik: Eine Pädago Verbindung die „interkulturelle“ Frühpädagogik mit gik, welche die Entwicklung von Wertschätzung und Akzeptanz für ein Aufwachsen und Miteinander in ethnisch-kulturell heterogenen Umwelten unterstützt 3 Einen Überblick geben die Expertisen von Sulzer / Wagner 2011 und Prengel 2010, die Sammelbände von Hammes Di-Bernando / und entsprechende Prozesse der Bildung und Entwick Schreiner 2011 und Jungk u. a. 2011 sowie Albers 2011 und Forum lung begleitet, ist als Auftrag an alle Kindertagesein Menschenrechte 2011. 9
Annika Sulzer einer inklusiven Frühpädagogik steht, obliegt dem dynamischen Klärungsprozess. 2 Gesellschaftlicher Inklusion bemüht sich um eine Klärung dessen, wie unter Bedingungen von sozialer Heterogenität Bezugsrahmen das Recht von Kindern auf Bildung realisiert werden kann und wie Barrieren im Zugang zu Bildung abge baut werden können (Deutsche UNESCO-Kommission 2010). Die kulturelle, sprachliche, religiöse Zugehö 2.1 Lebenslagen von Kindern in rigkeit von Personen wird als eine bedeutsame He der Einwanderungsgesellschaft terogenitätsdimension unter vielen gefasst, die die Lebenslage von Personen beeinflusst. Hinweise auf Verbindungslinien werden in Kapitel 3 gegeben. 2.1.1 Dynamiken in der Migrationsgesellschaft Schwerpunkt: Lebenslagen von Kindern mit Migrationshintergrund 2010 lebten insgesamt fast 16 Mio. Menschen mit Mi In dieser Expertise wird der Schwerpunkt auf die Le grationshintergrund in Deutschland. Das entspricht benslagen von Kindern mit Migrationshintergrund einem Anteil von 19,3 % der Gesamtbevölkerung. Bei gelegt. Das ist einmal einer Schieflage im Fachdiskurs Kindern unter fünf Jahren sind es mit 34 % fast doppelt geschuldet. Zahlreiche Konzepte einer „interkulturel so viele. Der Anteil an Menschen mit Migrationshinter len“ Pädagogik zielen auf Kinder mit Migrationshin grund nimmt deutlich zu, je jünger die betrachteten tergrund bzw. auf gemischte Gruppen; Kinder ohne Altersgruppen sind. 4 Migrationshintergrund stehen als nicht-kulturell ver Der „Migrationshintergrund“ der Familien bezieht gleichsweise wenig im Fokus des wissenschaftlichen sich auf folgende Gruppen: Diskurses. Zum anderen sind, mit Blick auf Inklusion, –– Gruppe der Zuwanderinnen und Zuwanderer aus Kinder mit Migrationshintergrund in Deutschland den ehemaligen Anwerbestaaten mit langer Auf aktuell stärker gefährdet, Barrieren für einen Zugang enthaltsdauer zur Bildung zu erfahren, als Kinder ohne Migrations –– Gruppe von (Spät-)Aussiedlerinnen und Aussiedlern hintergrund. Es erfordert eine eigene fachliche An –– Neu zugewanderte Menschen strengung, die Barrieren zur Teilhabe und Strategien –– Personen mit Asyl. für deren Abbau in den Blick zu nehmen. Der Großteil der Personen mit Migrationshintergrund hat deutsche Staatsangehörigkeit (8 Mio. gegenüber circa 1 Mio. Ausländer), zwei Drittel sind zugewandert, ein Drittel in Deutschland geboren (StBA 2011 a, 2011 b). Ein Großteil der Kinder mit Migrationshintergrund bis zu sechs Jahren hat selbst keine direkte Migrations erfahrung (BMFSFJ 2011; BIB 2010, S. 39). Die Kinder sind in Deutschland geborene Nachkommen von Zugewanderten der zweiten und dritten Generation. Abbildung 1 zeigt die Verteilung in Bezug auf die Herkunftsländer der Eltern. 4 Detaillierte Ausführungen zu Anzahl, Herkunftsländern, Aufent- haltsdauer, Bildungsstand, Familienstand und Berechnungen für die Anzahl von Kindern mit Migrationshintergrund nach Alter gegliedert finden sich bei Krüger-Potratz / Schiffauer 2011; StBA 2011 a, 2011 c; BIB 2010, S.18 f.; SVR 2010, S. 96. 10
Gesellschaftlicher Bezugsrahmen Abbildung 1: Anteil an Familien mit Kindern bis 18 Jahren nach Herkunftsland 21 % Türkei 32 % Ehemalige Sowjetunion Polen 13 % EU 15 Ehemaliges Jugoslawien 9% Andere 10 % 15 % Quelle: BMFSFJ 2010, S. 4. Kinder mit Fluchterfahrung (beispielsweise unbe länder-, stadt- und stadtteilspezifisch sehr verschieden gleitete minderjährige Flüchtlinge, Kinder asyl- (vgl. Abb. 2). suchender Familien und auch Kinder, die irregulär in Der Großteil der Kinder mit Bezügen zur Migration Deutschland leben) sind zahlenmäßig statistisch bun in der Familie lebt in großstädtischen Verdichtungs desweit wenig erfasst und leben in ökonomisch und räumen mit hoher Zuwandererbevölkerung. Bei Groß sozial äußerst prekären Lebenslagen (Munoz 2007). städten mit über 500.000 Einwohnern liegt der Anteil Eine aktuelle Studie kommt bei der Frage, wie viele bei 49 %. Bei der Gruppe aller Kinder in den ersten drei Kinder mit irregulärem Aufenthaltsstatus in Deutsch Lebensjahren haben in Frankfurt 72 %, in München und land leben, auf Schätzungen von 1.000 bis 30.000 Kin Stuttgart über 50 % der Kinder und Jugendlichen einen der, umgerechnet beispielsweise für Hessen auf 100 bis Migrationshintergrund, bei den Kindern bis sechs 2.400 Kinder ohne Papiere und 300 bis 6.000 Kinder Jahren sind es in Stuttgart 59 %, in Köln 49 % (BIB 2010, in Nordrhein-Westfalen (Vogel / Aßner 2010, S. 26). 5 S. 18; SVR 2010, S. 97 f.). Die überwiegende Mehrheit Sie haben häufig sehr erschwerte Bedingungen beim dieser Kinder ist in Deutschland geboren und hat keine Zugang und bei der Nutzung von Kindertagesein Migrationserfahrung (StBA 2011, S. 20). richtungen. Wer hat mit wem zu tun? – Regionale Situation Die migrationsbedingte Vielfalt ist in Deutschland regional unterschiedlich ausgeprägt (SVR 2010, S. 113). Die Variation der Zusammensetzung der Kindergrup pen in den Kindertageseinrichtungen ist hier bundes 5 Berechnungen für Kinder im Alter von sechs bis 15 Jahren. Für die Situation jüngerer Kinder (bis Fünfjährige) sowie zur Größe die- ser Gruppe konstatieren die Autoren eine Forschungslücke. 11
Annika Sulzer Abbildung 2: Anteil der Personen mit Migrationshintergrund an der deutschen Gesamtbevölkerung unter 10 Jahren im Jahr 2010 Schleswig- Holstein Mecklenburg- Hamburg Vorpommern Bremen Niedersachsen Berlin Sachsen- Anhalt Brandenburg unter 20 % 20 bis unter 25 % Nordrhein- 25 bis unter 30 % Westfalen Sachsen 30 bis unter 35 % 35 bis unter 40 % Thüringen Hessen 40 % und mehr Rheinland-Pfalz Saarland Bayern Baden- Württemberg Quelle: StBA 2011: Mikrozensus 2010, S. 19. 12
Gesellschaftlicher Bezugsrahmen Diese Situation spiegelt sich in der Zusammensetzung Herkunftsregion in die Ankunftsregion mit dauer der Kindergruppen in den Einrichtungen: So besucht hafter Ansiedlung (in Deutschland gegenwärtig die beispielsweise im Stadtstaat Bremen über die Hälfte der häufigste Migrationsform) werden erweitert durch Kinder mit Migrationshintergrund eine Einrichtung, sogenannte temporäre und zirkuläre Migrationen, in der die Gruppen zu mehr als 50 % aus Kindern mit in denen häufige Ortswechsel stattfinden (Glick- Migrationshintergrund bestehen; eine ähnliche Situ Schiller / Faist 2010; Pries 2010). ation zeigt sich in Hamburg (56 %) (Bock-Famulla 2008). In Ländern wie Großbritannien und USA sind diese Die Heterogenität variiert zudem je nach sozialräum Phänomene bereits für viele Kindertageseinrichtungen lichem Einzugsgbiet: Realität, in Deutschland sind sie bis dato vor allem in –– Gruppen mit einem hohen Anteil an Kindern einer Grenzgebieten zu beobachten. Eigene temporäre oder ethnischen Herkunftsgruppe dauerhafte Wanderungen werden ein wahrscheinli –– Gruppen mit einem „Mixtum von altansässigen ches biografisches Element von jetzt aufwachsenden Monolingualen und Kindern mit Migrationshinter Kindern werden. grund“ (Gogolin / Krüger-Potratz 2010, S. 20) –– Gruppen mit Kindern aus verschiedenen ethni Konsequenzen für die pädagogische Praxis schen Herkunftsregionen Eine inklusive Frühpädagogik im Kontext von Migra –– Gruppen mit wenigen oder keinen Kindern mit tion zu realisieren, bedeutet daher, dass regional und Migrationshintergrund lokal unterschiedliche Strategien notwendig sind, um eine die Lebenslagen von Kindern und Familien auf Ausführliche Beschreibungen liefern das Berichtswe greifende pädagogische Praxis umzusetzen. Sie stellt sen aus Bildungsmonitorings von Bund und Ländern explizit auch Anforderungen an Fachkräfte, die mit sowie die Bertelsmann Stiftung. Die pädagogischen Kindern und Familien ohne Migrationshintergrund Fachkräfte müssen je nach Zusammensetzung der zu tun haben. Kindergruppe in Stadtgebieten oft ein „Höchstmaß an Die dynamische Entwicklung des Zu- und Abwan sprachlicher, kultureller und sozialer Heterogenität derungsgeschehens impliziert, dass Fachkräfte, Kin bewältigen“ (Gogolin / Krüger-Potratz 2010, S. 20). dertageseinrichtungen und Träger auf die sich vor Die Zuwanderung in vielen ländlichen Gebieten ist Ort verändernden Entwicklungen flexibel reagieren gering. Die Anforderungen für Fachkräfte sind hier können sollten, und dass diese kontinuierliche Flexibili- anders gelagert. Sie entwickeln Angebote für Kinder tät in der Planung von Angeboten eine Voraussetzung und Familien mit Migrationshintergrund in einem für die Qualität von Kindertageseinrichtungen bildet. Kontext, in dem sie als Minderheit oft nur mit geringer Im Zwölften Kinder- und Jugendbericht heißt es dazu: Infrastruktur für ihre Lebenslagen (Beratungen, Ver Die Konzepte müssen sich „auf unterschiedliche eine, Bildungsangebote) rechnen können (RAA 2010, Typen von Migranten und Migrantinnen, d. h. auf 2007). Eine spezifische Situation zeigt sich in ländli differierende Migrationsmotive, sprachliche Vielfalt, chen Regionen, in denen Aufnahmeeinrichtungen zeitliche Perspektiven hinsichtlich der Bleibeabsichten für Menschen, die Asyl suchen, eingerichtet sind. Die sowie auf unterschiedliche Einstellungen zur Her dort lebenden Kinder haben häufig keinen Zugang zu kunfts- und Ankunftsregion einstellen“ (2005, S. 73; Regeleinrichtungen (Gogolin u. a. 2003). vgl. dazu auch die vertiefenden Ausführungen bei Kinder leben regionalspezifisch demnach in ethnisch Mecheril u. a. 2010, SVR 2010 und Gogolin / Pries 2004). verschiedenen Kontexten, alle wachsen allerdings im Kontext einer multireligiösen und multikulturellen deutschen Gesellschaft auf. 2.1.2 Heterogene Sozialisationskontexte Prognosen gehen davon aus, dass kontinuierliche Migrationen, und zwar sowohl Einwanderung als Kinder in Deutschland wachsen gegenwärtig in hete auch Auswanderung, in Zukunft eher die Regel als rogenen Sozialisationskontexten auf. Familienformen, die Ausnahme sein werden. Auch die Formen von Mi Erziehungsstile, Werte und Normen werden vielfälti gration werden vielfältiger. Die „klassischen“ Formen ger, religiöse Formen diversifizieren sich und mehr von Migration, als einmalige Wanderung von einer sprachige Umwelten bilden eine häufige Erfahrung 13
Annika Sulzer junger Kinder. Kinder weisen vielfältige Identitätsbe Zuwanderungsströmen, überschneidet sich in der züge auf, ihr „Kindsein“ ist von vielfältigen Bezügen Einwanderungsgesellschaft auf vielfältige Weise mit durchdrungen, wie Wohnort, Geschlecht, körperliche einer Mehrheitsbevölkerung, die sich auch ihrerseits Fähigkeiten und sozialer Status. Erfahrungen von Ge immer weiter ausdifferenziert. Im Ergebnis entstehen meinsamkeit und Differenz in ihrer sozialen Umwelt so vielfältige und quer zu den ethnischen Herkunfts werden in zunehmendem Maße zu Grunderfahrungen gruppen liegende Milieus“ (SVR 2010, S. 112). von Kindern (Andresen/Hurrelmann 2010, S. 79 ff.; SVR Die Milieuforschung hat in den letzten Jahren die 2010, S. 113 ff.). Der Erkenntnisstand zu familiären Le Lebenswelt von Familien mit Migrationshintergrund bensformen, Bindungsverhältnissen und Erziehungs genauer in den Blick genommen und festgestellt, stilen nimmt vor allem mit Blick auf die Kinder im dass sich Migranten-Milieus weniger nach ethnischer Schulalter zu (Ecarius u. a. 2011; Herwartz-Emden u. a. Herkunft und sozialer Lage unterscheiden, „als viel 2010; Hagedorn u. a. 2010; Betz 2009, 2006; Alt 2006). mehr nach ihren Wertvorstellungen, Lebensstilen Die deutsche Kindheits- und Sozialisationsfor und ästhetischen Vorlieben“ (Merkle 2011, S. 88). In schung beginnt seit Kurzem, die Kinder bis zu sechs der Population der Menschen mit Migrationshinter Jahren in den Blick zu nehmen und räumt noch einige grund sei eine bemerkenswerte Vielfalt von Lebens Lücken ein, was „die Muster der Lebensführung und auffassungen und Lebensweisen festzustellen und der den Alltag von Kindern im Alter zwischen vier und acht Bezugspunkt „Migrationshintergrund“ angesichts der Jahren, insbesondere auch in pädagogischen Instituti diversen Lebenswelten letztlich wenig aussagekräftig, onen wie dem Kindergarten“ angeht (Grunert / Krüger um die Lebensrealität von Migrantinnen und Migran 2006, S. 231). ten zu erfassen (Merkle 2011; Merkle / Wippermann 2009; Betz 2009, 2005). „Kinder mit Migrationshintergrund“ und ihre Familien sind keine homogene Gruppe Kinder mit Migrationshintergrund wachsen Die Anzahl von Kindern mit eigener Migrationserfah tendenziell in Risikolagen auf rung nimmt in Deutschland kontinuierlich ab – die Die Sozialisationskontexte junger Kinder sind eben Mehrzahl der Kinder ist in Deutschland geboren und falls heterogen hinsichtlich ihrer Chancen auf Teilhabe hat die deutsche Staatsbürgerschaft (vgl. Kap. 2.1.1). an der Gesellschaft und der Risiken für Ausgrenzung. Ihr Migrationshintergrund ist überwiegend vermittelt Zahlreiche Studien 6 weisen mit Blick auf Risikola über Eltern und Verwandtschaft. Wie stark die Familie gen darauf hin, dass das Bildungssystem Kinder mit Bezüge zu dem Herkunftsland hält, ist dabei sehr un Migrationshintergrund strukturell benachteiligt, was terschiedlich; ebenso verschieden ist,wie bedeutsam das Erreichen von Schulabschlüssen sowie den Erwerb die ethnische Zugehörigkeit durch die Familienmit von Kompetenzen betrifft. Werden Bildungsbiografi glieder und durch die Kinder erlebt wird. en als auf vorgängigen Erfahrungen und Entscheidun Einen Überblick über den Stand der Forschung zu gen aufbauend angesehen, so ist bedenklich, dass sich Familien geben neben der Berichterstattung der Bun Entwicklungsverzögerungen und Kompetenzdefizite desregierung (BMFSFJ 2011, 2000) auch Ecarius (2011, im weiteren Entwicklungsverlauf potenzieren und 2007), Fuhrer/Uslucan 2005 und Herwartz-Emden u.a. damit das Risiko für Problemlagen erhöhen. (2010, S. 42 ff.). Im „Handbuch Familie und Migration“ In zahlreichen (Bildungs-)Berichterstattungen wird spezifisch auf die Eltern-Kind-Beziehungen, werden drei Faktoren für drohende oder reale soziale Gender-Beziehungen, Erziehungsstile, Vater- / Mutter schaft und familiäre Netzwerke eingegangen (Fischer/ Springer 2011; Leyendecker 2011). Zu beobachten sind zunehmend fluide Formen von 6 Hierzu ist inzwischen ein große Menge an Literatur erschienen, Ethnizität, die nicht mehr zwingend einer bestimmten die allerdings sich nur in wenigen Punkten auf die Kinderta- geseinrichtungen bezieht. Einen Überblick zur Situation von Nationalkultur zugeordnet werden können: Kindern mit Migrationshintergrund in Bildungseinrichtungen „Die ethnische, sprachliche und religiöse Plurali geben Analysen des Sachverständigenrats für Migration und Integration (SVR 2010, S. 137 ff.), die aktuellen Bildungsberichte sierung der Zuwanderungsbevölkerung, hervorge (2010, 2008, 2006), Overwien / Prengel 2007 sowie eine aktuelle gangen aus den großen und vielen neuen kleineren Studie der Bertelsmann Stiftung (www.chancen-spiegel.de). 14
Gesellschaftlicher Bezugsrahmen und bildungsbiografische Benachteiligung identifi perlichen Entwicklung; sie haben weniger Zutrauen in ziert: (geringe) ökonomische Ressourcen und sozio ihre eigenen Fähigkeiten und Zukunftsperspektiven. 8 ökonomischer Status der Familie sowie die (geringe) Es „besteht auch ein Zusammenhang zwischen Bildungsqualifikation der Eltern. Diese Faktoren gesundheitlicher Entwicklung (körperlich und see beschreiben statistisch gesehen Risikolagen für junge lisch) und materieller Versorgung. Ernährungs- und Kinder (Konsortium Bildungsberichterstattung 2012, Gesundheitsverhalten sind beeinträchtigt (…). Auch 2010, 2008; BMAS 2008; Herwartz-Emden u. a. 2010, emotionale Instabilität und Verhaltensauffälligkeiten Leu / Prein 2010). der Kinder sind nicht selten Begleiterscheinungen von Knapp 30 % der in Deutschland lebenden Kinder bis Armut und sozialer Ausgrenzung. Darunter leiden zu einem Alter von 18 Jahren wachsen in mindestens nicht zuletzt die Beziehungen zu Gleichaltrigen, die einer der Risikolagen auf. Kinder mit Migrations bereits durch den begrenzten Zugang zu materiellen hintergrund sind innerhalb dieser Gruppe mit 42 % Gütern und Freizeitaktivitäten erschwert werden“ überproportional vertreten (Konsortium Bildungsbe (BMAS 2008, S. 89 ff.). Ergebnisse aus kindzentrierter richterstattung 2012, S. 27 ff.). Sozialberichterstattung geben Hinweise darauf, dass Die Wahrscheinlichkeit, in einer Risikolage aufzu Kinder 9 Armutslagen in der Familie unterschiedlich wachsen, ist geografisch verschieden hoch (vgl. Abb. 3). bewältigen (Walper / Riedel 2008). 40 % der Kinder in Stadtstaaten wachsen in mehr als einer Risikolage auf, in Regionen, die zum Teil bereits Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen haben in seit einigen Jahren Armutslagen aufweisen (ebd.; vielfacher Weise mit diesen Konstellationen zu tun. Rauschenbach u. a. 2009). Insbesondere in Einzugsgebieten, in denen viele Fami 12 % der Kinder in Deutschland wachsen gegenwär lien in Armutslagen leben, ergeben sich für die Arbeit tig in Armutslagen auf. Die Kinderarmut ist deutlich in den Kindergruppen komplexe Herausforderungen. stärker gestiegen als die Armut der Gesamtbevölke Auf fachlicher Ebene sollten Fachkräfte in Kinderta rung (BMAS 2011, 2008; Hübenthal 2009, S.10 ff.). 7 geseinrichtungen in die Lage versetzt werden, die Kinder mit Migrationshintergrund haben ein be jeweiligen Sozialisationskontexte der Kinder und ihrer sonders hohes Risiko, in Armut aufzuwachsen, das Familien analysieren zu lernen, um entsprechend le Risiko dafür ist zwei Mal höher als bei Kindern ohne bensweltorientierte Strategien für deren individuelle Migrationshintergrund (Autorengruppe Bildungsbe Unterstützung anbieten zu können. richterstattung 2010, S. 29 ff.). Innerhalb dieser Gruppe Auch Auswirkungen sozialer Segregation beein sind Familien türkischer Herkunft überproportional flussen die Lebenslagen von Kindern. Insbesondere in häufig betroffen (40,5 %) gegenüber Familien italie Ballungsräumen weisen Kindertageseinrichtungen, nischer Herkunft (23 %) oder Aussiedlerfamilien (26 %) die in räumlicher Nähe voneinander liegen, eine (Herwartz-Emden u. a. 2010, S. 29 ff.). deutlich verschiedene Verteilung von Kindern in Be Armut, verstanden als Mangel an Chancen der Ver zug auf sozialen Status und Migrationshintergrund wirklichung und Teilhabe, umfasst nicht nur materiel der dort lebenden Familien auf. Diese Entwicklungen le Armut. Diese Lebenslage schließt auch das Wohnen, werden seitens bildungspolitischer Berichterstattung den Erfolg in Bildungsinstitutionen, die sozialen Kon problematisiert (Baumert 2011; Autorengruppe Bil takte sowie die physische und psychische Gesundheit dungsberichterstattung 2008; Leu 2007).10 mit ein. Kinder, die in ihrer Lebenslage von Armut bedroht oder betroffen sind, haben ein höheres Risiko für Entwicklungsverzögerungen, Beeinträchtigungen 8 Zur Definition von Armut und zu den Auswirkungen von Armuts- der kognitiven, sprachlichen, motorischen und kör lagen auf Kinder: Hurrelmann / Andresen 2010 (World Vision Kin- derstudie); OECD 2009; Studie mit KiTa- / Grundschulkindern von ISS-AWO: Holz 2006, 2003; Holz u. a. 2006; Hock u. a. 2000. Zur Lage von Kindern: UNICEF 2010; Andresen 2008. Zur Kinderar- mut: Hübenthal 2009. Überblickswerke: Herwartz-Emden u. a. 2010, S. 23 ff.; Andresen 2008; Walper 2008. 7 Aufschluss geben hierzu auch kommunale Monitorings und 9 Die Daten beziehen sich auf Kinder im Grundschulalter und älter. föderale Sozialberichterstattungen sowie die Berichterstattung der Bertelsmann Stiftung. 10 Für aktuelle Daten vgl. Bock-Famulla / Lange 2011 15
Annika Sulzer Abbildung 3: Anteil der unter 18-Jährigen nach Risikolagen der Eltern im Jahr 2010 (in %) 24 16 9 9 Schleswig- 40 30 Holstein 34 15 20 6 17 42 14 25 31 Mecklenburg- 21 Hamburg Vorpommern 44 Bremen 22 25 31 21 20 11 13 35 Berlin 29 Niedersachsen 26 21 17 12 5 7 33 Soziales Risiko Brandenburg 16 21 Sachsen- Risiko bildungsfernes 12 Anhalt 34 Elternhaus 26 Finanzielles Risiko Nordrhein- 31 15 24 Westfalen 4 Mindestens eine Risikolage 11 26 4 Sachsen 15 12 Von drei Risikolagen betroffen: 8 Thüringen Unter 3 % 29 Hessen 19 3 bis unter 5 % 13 9 5 bis unter 7 % Rheinland-Pfalz 7 bis unter 9 % 25 9 % und mehr 16 7 9 20 12 8 Saarland 6 23 Bayern 11 13 6 Baden- Württemberg Quelle: Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012, S. 26 nach Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Mikrozensus. 16
Gesellschaftlicher Bezugsrahmen Strategien zur Armutsminderung erfordern auf po 2.2 Exkurs: Standards litischer Ebene eine finanzielle Umverteilung und in Bildungsplänen und Strategieentwicklung in direktem Bezug zu kontinu ierlichen sozialräumlichen Analysen der Lebenslagen Qualitätsinstrumenten und Bedarfe von Kindern und Familien (ebd.; Bertram 2011; BMAS 2008, S. 101).11 Die Bildungspläne der Bundesländer sind bildungs Auch der rechtliche Aufenthaltsstatus der Kin politische Instrumente der Qualitätsentwicklung der kann eine Risikolage für Kinder darstellen. So und Steuerung. Sie liefern normative Orientierungs haben Kinder, Familien und Geschwisterkinder als rahmen für die pädagogische Qualität in Kinder Asylsuchende, als Illegalisierte oder als Flüchtlinge tageseinrichtungen, auf die die Fachkräfte sich in mit Duldungsstatus oft jahrelang permanente Blei ihrem Handeln beziehen sollen. Dies gilt auch für die beunsicherheit auszuhalten: „Diese existenzielle Gestaltung der pädagogischen Praxis im Umgang mit Unsicherheit verhindert eine mittelfristige Lebens kultureller Differenz. planung“ und bewirkt bei Kindern Verlustängste, Im Folgenden wird ein Kurzüberblick über Ergeb Verunsicherung, Hilflosigkeit und Zukunftsängste nisse einer diesbezüglichen Sichtung der Bildungs (Söhn 2010). pläne gegeben: 12 –– Welches Bild vom Kind liegt den Plänen zugrunde? Mit Blick auf soziale Risikolagen ist auch zu berück –– In welchen Bereichen werden ethnisch-kulturelle sichtigen, dass Kinder mit Migrationshintergrund in Aspekte berücksichtigt? Familien aufwachsen, die auf unterschiedliche Weise –– Welche Anforderungen werden an Fachkräfte aufgrund ihrer Sprache, Kultur, Religion oder kör gestellt? perlichen Merkmale Diskriminierungserfahrungen machen. Die Erfahrungen beziehen sich auf den re Die Realität von Deutschland als Einwanderungsge gulierten Zugang zum Arbeitsmarkt, auf regulierte sellschaft wird zwar in nahezu allen Bildungsplänen rechtliche und politische Teilhabemöglichkeiten als gesellschaftliche Grundsituation beachtet. Aller sowie auf die soziale Stereotypisierung, Defizitwahr dings gibt es deutliche Varianz, wie intensiv ethnisch- nehmung und Abwertung in der öffentlichen Debatte kulturelle Differenz dann in den Prinzipien zur Gestal sowie im Bildungswesen. In Deutschland sind dies laut tung der pädagogischen Arbeit aufgegriffen wird. aktueller EU-Berichterstattung vor allem Familien mit arabischem und türkischem Hintergrund, People of Bild vom Kind Color, Roma und Sinti-Gemeinschaften sowie Per Ein großer Teil der Bildungspläne nimmt einen di sonen muslimischen und jüdischen Glaubens. Auch versitätsbewussten Blick auf Kinder ein. Beispielhaft Personen mit unsicherem rechtlichen Aufenthaltssta dafür ist das Berliner Bildungsprogramm, „das die Be tus zählen dazu (Herwatz-Emden u. a. 2010; SVR 2010, dingungen von Diversität und Differenz systematisch S. 137 ff.; ECRI 2009, 2004; ENAR 2009; Motakef 2007). einarbeitet“ (Neumann 2005, S. 197) sowie „Gleichheit und Unterschiede“ als eine der zentralen Grundlagen ihres Bildungsverständnisses versteht, mit der Anfor derung, die individuelle Verschiedenheit der Kinder anzuerkennen und zu achten (BBP 2004, S. 21 ff.). Die Berücksichtigung ethnischer Diversität wird als Quer 12 Eine diesbezügliche Analyse liegt bislang nicht veröffentlicht vor. Erfasst wurden die Bildungspläne Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hessen, Mecklenburg- Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein. Die Analyse lässt sich hier nicht erschöpfend 11 KECK Atlas der Bertelsmann Stiftung, die das Instrument sozial- darstellen, da nur zentrale Charakteristika skizziert werden. Vgl. räumlicher Lebenslagenerhebung für junge Kinder etablieren zu ersten Einschätzungen: Diehm 2009; Neumann 2005, S. 197 f. will (www.keck-atlas.de). Mein Dank gilt Anja Jungen für die Mitarbeit an diesem Kapitel. 17
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