Kulturelle Heterogenität in Kitas - Anforderungen an Fachkräfte - Weiterbildungsinitiative ...

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INKLUSION
                                                                                                                  I                      Annika Sulzer

                                                                                                                                         Kulturelle Heterogenität in Kitas
                                                                                                                                         Anforderungen an Fachkräfte

Kinder mit Migrationshintergrund sind keine homogene Gruppe. Sie unterscheiden sich hinsichtlich des sozio-
ökonomischen Status‘ ihrer Familie, der Bildungsabschlüsse der Eltern, ihrer Religion, Sprache und vielem mehr.
Frühpädagogische Fachkräfte, deren Einrichtungen von einer großen kulturellen Heterogenität geprägt sind,
stehen vor der Herausforderung, jedes Kind vor dem Hintergrund seiner unterschiedlichen Zugehörigkeiten
wahrzunehmen, individuelle Bedürfnisse aufzugreifen und Stereotypisierungen vorzubeugen. Diese Expertise
geht der Frage nach, welche Kompetenzen frühpädagogische Fachkräfte benötigen, um im Sinne der Inklusion
professionell mit kultureller Heterogenität umgehen zu können.

                                                                                                                              WiFF Expertisen | 34
ISBN 978-3-86379-059-2
Die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) stellt alle Ergebnisse in Form
                                                                                                                                                                                                                 von Print- und Online-Publikationen zur Verfügung.
                                                                                                                                                                                                                 Alle Publikationen sind erhältlich unter: www.weiterbildungsinitiative.de

                                                                                                                                                                                                                                     WiFF Expertisen                                                                                                                                                               WiFF Studien                                                                               WiFF Wegweiser                                                                                                                  WiFF Kooperationen
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Weiterbildung
                                                                                                                                                                                                                 Wissenschaftliche Ana­ly-                                                                                                                                                       Ergebnisberichte der                                                                     Exemplarisches Praxis-                                                                                                                 Produkte und Ergebnis-
                                                                                                                                                                                                                 sen und Berichte zu aktu-                                                                                                                                                       WiFF-eigenen Forschun-                                                                   material als Orientierungs-                                                                                                            berichte aus der Zu-
                                                                                                                                                                                                                 ellen Fachdiskussionen,                                                                                                                                                         gen und Erhebungen zur                                                                   hilfe für die Konzeption                                                                                                               sammenarbeit mit unter-
Die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) ist ein Projekt des Bundesministe-                                                                                                               offenen Fragestellungen                                                                                                                                                         Vermessung der Aus- und                                                                  und den Vergleich von                                                                                                                  schiedlichen Partnern
riums für Bildung und Forschung, der Robert Bosch Stiftung und des Deutschen Jugendinstituts e.V.                                                                                                                und verwandten Themen                                                                                                                                                           Weiterbildungslandschaft                                                                 kompetenzorientierten                                                                                                                  und Initiativen im Feld
Die drei Partner setzen sich dafür ein, im frühpädagogischen Weiterbildungssystem in Deutsch-                                                                                                                    von WiFF                                                                                                                                                                        in der Frühpädagogik                                                                     Weiterbildungsangeboten                                                                                                                der Frühpädagogik
land mehr Transparenz herzustellen, die Qualität der Angebote zu sichern und anschlussfähige
Bildungswege zu fördern.
                                                                                                                                                                                                                 Zuletzt erschienen                                                                                                                                                              Zuletzt erschienen                                                                       Zuletzt erschienen                                                                                                                     Zuletzt erschienen

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 DURCHLÄSSIGKEIT
                                                                                                                                                                                                                 INKLUSION

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 AUSBILDUNG
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      ELEMENTARDIDAKTIK
                                                                                                                                                                                                                 I                                                                                                                                                                               D                                                                                                                                                                                                                               A
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Autorengruppe Berufsfachschule

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Qualifikationsprofil „Frühpädagogik“ –
                                                                                                                                                                                                                                        Ulrich Heimlich                                                                                                                                                            Joanna Dudek/Johanna Gebrande                                                                                                                                                                                              Berufsfachschule
                                                                                                                                                                                                                                        Kinder mit Behinderung –                                                                                                                                                   Quereinstiege in den Erzieherinnenberuf
                                                                                                                                                                                                                                        Anforderungen an eine inklusive Frühpädagogik                                                                                                                              Strategien zur Gewinnung zusätzlicher Fachkräfte in
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   Kindertageseinrichtungen

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Frühe Bildung –
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Bedeutung und Aufgaben
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 der pädagogischen
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Fachkraft
                                                                                                     Kinder mit Behinderungen besuchen immer häufiger reguläre Kindertageseinrichtungen. Das Konzept der                                                                          Quereinstiege in die Ausbildung und in das Berufsfeld von Erzieherinnen und Erziehern haben aufgrund des                                                                                                                        Grundlagen für die kompetenz­
                                                                                                                                                                                                                                                                                  erhöhten Fachkräftebedarfs eine zunehmende Bedeutung. Die vorliegende Expertise stellt die Möglichkeiten
                                                                                                     Inklusion bietet die Grundlage für eine gemeinsame Bildung, Betreuung und Erziehung aller Kinder. Ulrich
                                                                                                                                                                                                                                                                                  der Zugänge und Qualifizierung für Quereinsteigende dar. Der Fokus liegt dabei auf der sogenannten Externen­
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  orientierte Weiterbildung
                                                                                                     Heimlich zeigt in dieser Expertise auf, wie das Konzept bei Kindern mit Behinderung umgesetzt werden kann
                                                                                                     und welche Anforderungen es an pädagogische Fachkräfte stellt.                                                                                                               prüfung – einer Prüfung, die das Nachholen des Berufsabschlusses der Erzieherin / des Erziehers ermöglicht –
                                                                                                                                                                                                                                                                                  und auf der Teilzeitausbildung. Weitere Möglichkeiten für einen Quereinstieg in das Berufsfeld werden exem­
                                                                                                                                                                                                                                                                                  plarisch anhand von fünf länderspezifischen Maßnahmen aufgezeigt.

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            WiFF Wegweiser Weiterbildung | 4

                                                                                                                                                                                                                             WiFF Expertisen | 33                                                                                                                                                                                WiFF Studien | 19                                                                                                                                                                                                                             WiFF Kooperationen | 4
                                                                                                     ISBN 978-3-86379-083-7                                                                                                                                                       ISBN 978-3-86379-070-7                                                                                                                                                                                                                                                                                 ISBN 978-3-86379-082-0

                                                                                                                                                                                                                                                                         DRUCK_Umschlag_Dudek_Gebrande.indd 1                                                                                                                                                            13.08.12 12:22   DRUCK_WW_Frühe_Bildung.indd 1                                                                    15.11.11 14:55
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                               DRUCK_Koop_Qualifikationsprofil_Umschlag.indd 1                                                                   14.01.13 13:26

                                                                                                                                                                                                                 Band 33:                                                                                                                                                                        Band 19:                                                                                 Band 4:                                                                                                                                Band 4:
                                                                                                                                                                                                                 Ulrich Heimlich: Kinder mit Behin-                                                                                                                                              Joanna Dudek/Johanna Gebrande:                                                           Frühe Bildung – Bedeutung                                                                                                              Autorengruppe Berufsfach-
                                                                                                                                                                                                                 derung – Anforderungen an eine                                                                                                                                                  Quereinstiege in den Erzieherinnen­­                                                     und Aufgaben der                                                                                                                       schule: Qualifikationsprofil
                                                                                                                                                                                                                 inklusive Pädagogik                                                                                                                                                             beruf                                                                                    pädagogischen Fachkraft                                                                                                                „Frühpädagogik“ – Berufs-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 fachschule

                                                                                                                                                                                                                 Band 32:                                                                                                                                                                        Band 18:                                                                                 Band 3:                                                                                                                                Band 3:
                                                                                                                                                                                                                 Hiltrud Otto/Lisa Schröder/Ariane                                                                                                                                               Norbert Schreiber: Die Ausbildung                                                        Zusammenarbeit mit Eltern                                                                                                              Expertengruppe „Anschluss-
                                                                                                                                                                                                                 Gernhardt: Kulturelle Heterogenität                                                                                                                                             von Kinderpflegerinnen und                                                                                                                                                                                                      fähige Bildungswege“:
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          Band 2:
                                                                                                                                                                                                                 in Kitas – Weiterbildungs­formate                                                                                                                                               Sozial­assistentinnen                                                                                                                                                                                                           Kind­heitspädagogische
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          Kinder in den ersten drei
                                                                                                                                                                                                                 für Fachkräfte                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  Bachelorstudiengänge und
© 2013 Deutsches Jugendinstitut e. V.                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            Band 17:                                                                                 Lebensjahren
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 anschlussfähige Bildungs­wege
                                                                                                                                                                                                                 Band 30:                                                                                                                                                                        Pamela Oberhuemer: Fort- und
Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF)                                                                                                                                                      Simone Seitz/Nina-Kathrin Finnern/                                                                                                                                              Weiterbildung frühpädagogischer
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          Band 1:
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Band 2:
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          Sprachliche Bildung
Nockherstraße 2, 81541 München                                                                                                                                                                                   Natascha Korff/Anja Thim: Kinder                                                                                                                                                Fachkräfte im europäischen                                                                                                                                                                                                      Expertengruppe Berufs­
                                                                                                                                                                                                                 mit besonderen Bedürfnissen –                                                                                                                                                   Vergleich                                                                                                                                                                                                                       begleitende Weiterbildung:
Telefon: +49 (0)89 62306-173 / -249                                                                                                                                                                              Tagesbetreuung in den ersten drei                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                               Qualität in der Fort- und
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Band 16:
E-Mail: info@weiterbildungsinitiative.de                                                                                                                                                                         Lebensjahren
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Jan Leygraf: Struktur und Orga­
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Weiterbildung von päda-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 gogischen Fachkräften in
                                                                                                                                                                                                                 Band 29:                                                                                                                                                                        nisation der Ausbildung von
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Kindertageseinrichtungen
                                                                                                                                                                                                                 Drorit Lengyel: Sprachstands-                                                                                                                                                   Ezieherinnen und Erziehern
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e. V. (DJI)                                                                                                                                                                feststellung bei mehrsprachigen                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Band 1:
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Band 15:
Lektorat: Jürgen Barthelmes                                                                                                                                                                                      Kindern im Elementarbereich
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Karin Beher/Michael Walter:
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Autorengruppe Fachschul­
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 wesen: Qualifikationsprofil
Gestaltung, Satz: Brandung, Leipzig                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Qualifikationen und Weiter-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 „Frühpädagogik“ – Fach­
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 bildung frühpädagogischer
Titelfoto: BeTa-Artworks © Fotolia.com                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           Fachkräfte
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 schule / Fachakademie

Druck: Henrich Druck + Medien GmbH, Frankfurt a. M.

www.weiterbildungsinitiative.de                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     Stand: März 2013

ISBN 978-3-86379-059-2
Annika Sulzer

Kulturelle Heterogenität in Kitas
Anforderungen an Fachkräfte

Eine Expertise der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF)
Vorwort

    Die deutsche Einwanderungsgesellschaft wird vielfach proklamiert, die Erwartungen an Kinder­
    tageseinrichtungen sind entsprechend hoch: Frühpädagogische Fachkräfte haben den gesell­
    schaftlichen Auftrag, Kinder und ihre Familien so in den vorschulischen Alltag zu integrieren,
    dass Chancen auf Bildung und Teilhabe von Anfang an erhöht werden.

    Diese Forderung ist nicht neu. Schon die interkulturelle Pädagogik der 1990er Jahre entwickelte
    Ansätze für den pädagogischen Umgang mit kultureller Heterogenität. Diese Ansätze aufzugreifen
    und mit dem Paradigma der Inklusion zu verbinden, bietet die Chance, Migrationshintergrund
    als eine Heterogenitätsdimension unter anderen wahrzunehmen, sensibel zu werden für die
    Wechselwirkungen mit anderen Heterogenitätsmerkmalen und kategoriale Zuschreibungen zu
    vermeiden. Diese Anforderung ist für frühpädagogische Fachkräfte z. T. neu und es ist Aufgabe
    berufsbegleitender Weiterbildung, sie hierfür zu qualifizieren.

    Mit der vorliegenden Expertise „Kulturelle Heterogenität in Kitas – Anforderungen an Fachkräfte“
    macht Annika Sulzer eine Bestandsaufnahme zu Lebenslagen von Kindern in der Migrationsge­
    sellschaft und bildungspolitischen Reaktionen hierauf. Vor diesem Hintergrund beschreibt sie
    professionelles Handeln in ausgewählten Handlungsfeldern und verbindet interkulturelle und
    inklusive frühpädagogische Ansätze. Abschließend stellt sie die hierfür benötigten Kompetenzen
    vor und gibt Empfehlungen, wie die Professionalisierung der Fachkräfte unterstützt werden kann.

    Die Expertise wurde im Auftrag der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF)
    erstellt und ist Teil des Wegweisers Weiterbildung „Inklusion: Kulturelle Heterogenität in Kin­
    dertageseinrichtungen“. Die Verantwortung für die fachliche Aufbereitung der Inhalte liegt bei
    der Autorin. Die Expertise, deren Ergebnisse auch in weitere Projektarbeiten einfließen, dient der
    Entwicklung von Weiterbildungsangeboten und soll zudem den fachlichen und fachpolitischen
    Diskurs anregen.

    Unser Dank gilt Angelika Diller, die die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte
    von Beginn an bis zu ihrem Ausscheiden in den Ruhestand als Projektleitung begleitet und auch
    diese Publikation intensiv betreut hat.

    München, im März 2013

    Anke König
    Projektleitung WiFF

4


Inhalt

1   Einleitung                                                              6
    1.1 Fragen, Ziele, Aufbau                                               6
    1.2 Begriffe, Paradigmen, Thematische Aspekte                           8

2   Gesellschaftlicher Bezugsrahmen                                         10
    2.1 Lebenslagen von Kindern in der Einwanderungsgesellschaft            10
         2.1.1 Dynamiken in der Migrationsgesellschaft                      10
         2.1.2 Heterogene Sozialisationskontexte                            13
    2.2 Exkurs: Standards in Bildungsplänen und Qualitätsinstrumenten       17

3   Pädagogische Professionalität: Handlungsfelder und Merkmale             22
    3.1 Eckpfeiler einer „interkulturellen“ Frühpädagogik                   22
    3.2 Ausgewählte Handlungsfelder                                         29
        3.2.1 Identitätsentwicklung und soziale Bildungsprozesse            30
        3.2.2 Förderung von Mehrsprachigkeit und Deutsch als Zweitsprache   34
        3.2.3 Religion(en): Sozialisation und Bildung                       40
        3.2.4 Kooperation mit Eltern und Familien                           44
              3.2.4.1 Bildungs- und Erziehungspartnerschaft                 45
              3.2.4.2 Unterstützung der Familie                             50
        3.2.5 Organisationsentwicklung                                      50

4   Zusammenfassung: Kompetenzen für professionelles Handeln                55

5   Schlussbetrachtung                                                      61

6   Literatur                                                               65

7   Anhang                                                                  85

                                                                                 5
Annika Sulzer

                                                                    –– Reaktion des wissenschaftlichen Fachdiskurses auf
1 Einleitung                                                           die veränderte Heterogenität der Gesellschaft, da­
                                                                       mit verbundene kritische Anfragen an die Disziplin
                                                                       der Interkulturellen Pädagogik sowie Suchbewe­
                                                                       gungen für eine „Pädagogik der Vielfalt“
                                                                    –– Erhöhte bildungspolitische Aufmerksamkeit ge­
1.1 Fragen, Ziele, Aufbau                                              genüber der Ungleichbehandlung von Kindern mit
                                                                       Migrationshintergrund, gepaart mit der Suche nach
Was ist nötig, um Kindern und Familien mit Migra­                      Strategien, die wirkungsvoll das Recht von Kindern
tionshintergrund in Kindertageseinrichtungen passen­                   auf gleichberechtigtes Aufwachsen und auf chan­
de Angebote zu machen und ihnen chancengleiche                         cengleiche Bildung, Betreuung und Erziehung in
Bedingungen für Bildung, Betreuung und Erziehung                       Kindertageseinrichtungen realisieren.
bieten zu können? Welche Kompetenzen benötigen
Erzieherinnen und Erzieher, um diese Ansprüche in                   Für Erzieherinnen und Erzieher ist der Anspruch, Kul­
der Praxis qualifiziert einlösen zu können?                         tur bzw. Ethnizität in ihrer Praxis zu berücksichtigen
   Diese Frage hat Hochkonjunktur und beschäftigt                   oft in mehrfacher Hinsicht ein „heißes Eisen“:
zahlreiche Träger, Fachverbände und Kindertagesein­                 –– Das Thema Migration und Integration ist emotio­
richtungen. Dabei geht es auch um eine Neubestim­                      nal besetzt und (nicht nur) in Deutschland immer
mung dessen, was Qualitätsansprüche einer pädagogi­                    wieder Gegenstand erhitzter politischer Diskurse,
schen Praxis sind, die die ethnisch-kulturelle Herkunft                die in das alltägliche Miteinander der Kindertages­
von Kindern und Familien in der Kindertageseinrich­                    einrichtung hineinwirken (Butterwegge / Hentges
tung aufgreift – einem rechtlich bindenden Anspruch                    2009; Castles 2009).
im Feld der Kindertagesbetreuung (SGB XIII §22 (3)).                –– Viele Erzieherinnen und Erzieher erfahren die Ar­
   Die Beschäftigung mit kultureller Diversität in                     beit mit Familien als Verunsicherung ihrer eigenen
Kindertageseinrichtungen ist kein Neuland und hat                      Person, wenn die soziokulturellen Erfahrungen
bereits eine 30-jährige Geschichte. Pädagogische                       divergieren.
Konzepte und die Professionalisierung zur „interkul­                –– Die Anforderungen sind in diesem Feld in den
turellen“ Gestaltung frühpädagogischer Praxis sind in                  letzten Jahren erheblich erweitert worden, Kom­
Deutschland als Reaktion auf die Immigration von Fa­                   petenzentwicklung jedoch war nicht immer syste­
milien und deren Kindern entwickelt worden. Für die                    matischer Gegenstand der Ausbildung.
Entwicklung des Fachdiskurses in der Frühpädagogik
spielten Erfahrungen aus regionalen Praxis(modell-)                 Die Qualität der pädagogischen Praxis im Umgang
projekten eine große Rolle. 1                                       mit kultureller Differenz wird jedoch begrenzt, wenn
   Folgende gesellschaftliche Entwicklungen haben                   Fachkräfte sich unsicher fühlen, auf welcher fachli­
in den letzten Jahren dazu beigetragen, vorhandene                  chen Grundlage sie handeln, mit der Folge, dass sie
frühpädagogische Konzepte und Qualitätsansprüche                    dann davon Abstand nehmen, auf die Relevanz von
zur „interkulturell“ pädagogischen Arbeit mit Blick                 Kultur im Leben der Kinder einzugehen (Rosken 2009,
auf ihre Chancen und Risiken zu überdenken bzw. zu                  S. 106 ff.; Gaitanides 2007).
erweitern:                                                              Weiterbildung in diesem Feld ist mit einem Konglo­
–– Ethnische, sprachliche und religiöse Pluralisierung              merat an Erwartungen konfrontiert, was die Festigung
   der deutschen Gesellschaft                                       der professionellen Identität, die Professionalisierung
                                                                    in einzelnen Handlungsfeldern sowie die Passung der
                                                                    Angebote für die zum Teil deutlich divergierenden
                                                                    Arbeitskontexte der Fachkräfte in den Kindertages­
1   Frühe Beispiele sind: „Deutsche und Ausländer im Stadtteil –
    Integration durch den Kindergarten“ (Robert Bosch Stiftung      einrichtungen vor Ort angeht.
    1994), Modellprojekte einzelner Kommunen wie München,
    Frankfurt, Berlin, das Projekt „Kindersituationen“ (Preissing
    1998) und Modellvorhaben des Deutschen Jugendinstituts wie
    „Multikulturelles Kinderleben“ (1999 – 2001).

6
Einleitung

Fragen und Ziel                                            anwenden (Lanfranchi 2010; Otten 2009; Kalpaka
Diese Expertise gibt einen Überblick über den derzei­      2001). Was ein professionelles Handeln im Umgang
tigen Stand der fachwissenschaftlichen Diskussion          mit kultureller Differenz für das Handlungsfeld „Arbeit
im Umgang mit kultureller Diversität in Kinderta­          in Kindertageseinrichtungen“ ausmacht, erschließt
geseinrichtungen. Dabei wird folgenden Fragen              sich demnach erst mit der Kenntnis der Anforderun­
nachgegangen:                                              gen in diesem Feld.
–– Welche Anforderungen stellen sich aus fachwis­             Diese Expertise konzentriert sich thematisch ins­
   senschaftlicher Sicht an die Professionalität von       gesamt auf die Kindertageseinrichtung – ein Sektor,
   Erzieherinnen und Erzieher, wenn es um die Gestal­      der im Bereich der frühkindlichen Bildung, Erziehung
   tung einer frühpädagogischen Praxis geht, die die       und Betreuung durch Kinder und Familien derzeit in
   ethnisch-kulturelle Herkunft der Kinder und Fami­       Deutschland am stärksten frequentiert wird und der
   lien in der Kindertageseinrichtung berücksichtigt?      das derzeitige Hauptarbeitsfeld von Erzieherinnen
–– Welche Kompetenzen benötigen sie für diese Ar­          und Erziehern bildet. Fokussiert wird die Altersspanne
   beit?                                                   der Kinder von drei bis sechs Jahren. 2

Aufbau der Expertise                                       Vorgehensweise und Reichweite
Das, was als „professionell“ gilt, ist eng an berufsspe­   Für diese Expertise wurden umfangreiche Recher­
zifische Normen, Werte und Standards gebunden. Sie         chen in der wissenschaftlichen Fachliteratur der
sind aufs Engste mit dem gesellschaftlichen Kontext        Frühpädagogik, der Interkulturellen Pädagogik und
verbunden, in dem die pägagogische Praxis situiert ist     der Allgemeinen Erziehungswissenschaft durchge­
(Hormel 2010; Badawia u.a. 2003). Dies wird in Kapitel 2   führt. Das Interesse galt der Rezeption theoretischer
ausgeführt, das die Lebenslagen der Kinder und deren       und empirischer Arbeiten, die zum Umgang mit
Familien in den Blick nimmt. In Kapitel 2.2 erfolgt ein    kultureller Differenz in frühkindlichen Bildungsein­
Exkurs über Aussagen zur Qualität im Umgang mit            richtungen Erkenntnisse liefern sowie pädagogische
kultureller Differenz, wie sie in den Bildungsplänen       Programmatiken systematisieren, die in Deutschland
der Bundesländer ausgeführt sind.                          als einflussreich gelten können. Um die Fachdebatte
   Kapitel 3 gibt einen Überblick über einflussreiche      in einen größeren Zusammenhang zu stellen, wurde
Programmatiken zur „interkulturell“ pädagogischen          auch Fachliteratur aus dem angloamerikanischen
Arbeit in der Kindertageseinrichtung, das heißt:           Raum hinzugezogen, da diese sich als einflussreich
zentrale Kriterien für die Orientierungsqualität der       für die deutsche Debatte darstellt.
pädagogischen Arbeit.                                         Der Mehrdimensionalität des Themas „Kulturelle
   Kapitel 3.1 erläutert theoretische Grundannahmen        Diversität in Kindertageseinrichtungen“ konnte in
des gegenwärtigen Fachdiskurses, die Werte und             den Recherchen bedingt entsprochen werden. Dafür
Normen für eine „interkulturelle“ Gestaltung pädago­       gibt es folgende Gründe:
gischer Praxis definieren. Für ausgewählte Handlungs­      –– Die frühpädagogische wissenschaftliche Literatur
felder werden in Kapitel 3.2 inhaltliche Grundlagen           zum Thema ist erst wenig systematisiert, etwa in
beschrieben und jeweils konkretisiert, welche Ansprü­         Form von systematisierenden Handbüchern oder
che sich für die Umsetzung an Fachkräfte ergeben.             Forschungsbänden mit Metaanalysen.
   Kapitel 4 fasst auf der Basis der vorangegangenen       –– Wissensbestände werden gegenwärtig in der Fa­
Ausführungen zusammen, welche Kompetenzen                     milien- und Kindheitsforschung, Spracherwerbs­
Fachkräfte dabei unterstützen können, um die in Ka-           forschung, Migrations- und Milieuforschung eher
pitel 3 dargestellten Anforderungen so umzusetzen,            segmentiert entwickelt.
dass sie fachkundig arbeiten und sich als professionell    –– Pädagogische Arbeiten berücksichtigen kaum
erleben.                                                      Erkenntnisse aus der Psychologie und Soziologie –

Der Aufbau berücksichtigt, dass „Interkulturelle Kom­
petenz“ stets in Bezug zu einem Handlungsfeld definiert    2   Zur Berücksichtigung kultureller Vielfalt für Kinder im Alter bis zu
werden sollte, in dem die Personen diese Kompetenzen           drei Jahren vgl.: Borke u. a. 2011.

                                                                                                                                 7
Annika Sulzer

    und umgekehrt. Der für das Feld notwendige inter­      senschaft sei aufgefordert, Theorien zu entwickeln,
    disziplinäre Forschungsdialog ist für den Bereich      um diese Phänomene angemessen zu erforschen und
    der Kindertageseinrichtungen erst in Anfängen          die pädagogische Praxis habe Kultur als Identitätsres-
    entwickelt.                                            source respektvoll zu achten (Nieke 2010).
                                                               Als Konsens hat sich ein Verständnis durchgesetzt,
Soweit möglich wurde die Fachliteratur der Bezugs­         Kultur reflexiv zu verwenden. Kultur ist keine von
disziplinen (Migrations- und Rassismusforschung,           vorneherein als stets relevante, fixe und einzig be­
Kindheits- und Spracherwerbsforschung) recherchiert        deutsame Kategorie der Zugehörigkeit. Kultur wird
und in Verbindung zur pädagogischen Fachliteratur          verstanden als „Repertoire von Bedeutungsmustern
gesetzt.                                                   und Zeichensystemen (Werte, Normen, Bräuche und
   Das Erfahrungswissen aus Modellprojekten, Praxis­       andere Verhaltensregeln, allgemeine Wissensbestän­
entwicklung oder Praxiskonzepten ist in der entspre­       de und ‚Selbstverständlichkeiten‘ Traditionen, Rituale,
chenden Fachliteratur (noch) nicht adäquat abgebildet.     Routine, Glaubensvorstellungen, Mythen usw.), über
Das ist Ausdruck der generell (noch) nicht systematisch    das Gruppen oder Gesellschaften verfügen“ (Leiprecht
etablierten Transferstruktur zwischen Wissenschaft         2001, S. 16).
und Praxis in der Frühpädagogik (Rabe-Kleberg 2008;            In der Fachliteratur wird der Begriff „Kultur“ oft mit
Ueffing 2007, S. 45 f.). Angesichts des hohen Potenzials   dem Begriff „Ethnizität“ synonym verwendet. Ethnizität
einiger Praxisprojekte für Theoriebildung und For­         ist als Differenzkategorie sozialer Herstellungsprozesse
schung wäre eine systematische Aufbereitung und            zu begreifen. Dabei geht „um einen unterscheidbaren
Analyse der Wissensbestände aus der Fachpraxis not­        Namen, um ein historisches Gebiet oder die Verbin­
wendig und erstrebenswert.                                 dung dazu, um eines oder mehrere Momente einer
                                                           gemeinsamen Kultur (Sprache, Bräuche, Religion) um
                                                           Gruppensolidarität und - identität“ (Bader 1995, S. 82 f.
1.2 Begriffe, Paradigmen,                                  nach Leiprecht 2001, S. 43 f.).
                                                               Beide Begriffe fokussieren dynamische Herstel­
Thematische Aspekte
                                                           lungsprozesse, die in Prozessen der Selbst- und Fremd­
Die Begriffe „interkulturell“, „Kultur“, „Migration“,      beschreibung wirksam werden (Diehm / Kuhn 2006;
„Ethnizität“ sind im Fachdiskurs vielschichtig besetzt.    Eickelpasch / Rademacher 2004, S. 77 ff.; Ha 2004). Die
Demnach gilt es, eine gewisse Eindeutigkeit über die       Bedeutungen der Begriffe „Nation“, „Ethnizität“ und
Begriffe herzustellen.                                     „Kultur“sind nicht trennscharf (Mecheril 2010, S. 24).
                                                           In dieser Expertise wird vorrangig der Begriff Kultur
Ethnizität und Kultur als wissenschaftliche                verwendet, und die Verbindungen sind mitzudenken.
Analysekategorien                                              „Ethnizität“ und „Kultur“ werden oft als Sammelka­
Als wissenschaftlicher Begriff ist „Kultur“ in der päda­   tegorie für ethnisch „Andere“ begriffen (Mecheril 2010,
gogischen Fachdebatte immer wieder Gegenstand kri­         2004; Kalpaka 2005). Dadurch erscheinen Deutsche
tischer Auseinandersetzung (Gogolin / Krüger-Potratz       ohne Migrationshintergrund in ihrer Ethnizität so, als
2010, S. 114 ff.).                                         wären sie selbst nicht kulturell bzw. ethnisch verortet.
   Kritische Stimmen problematisieren seine begriff­       In Dominanzverhältnissen kann dies problematische
liche Unschärfe, seine allzu fokussierte Verwendung        Praxen der Bestimmung von Normalität und Abwei­
ausschließlich für die Personengruppe von Menschen         chung tradieren, mittels derer Menschen eingeordnet
mit (zugeschriebenem) Migrationshintergrund; es            und in sozial ungleiche Positionen verwiesen werden
bestehe das Dilemma, dass der Gebrauch des Kultur­         (Melter u.a. 2010; Eggers u.a. 2005; Wollrad 2005). Hier
begriffs unabdingbar dazu führe, ihn als vorrangige        wird der Kulturbegriff explizit auch auf Menschen
Analysekategorie zu setzen, was Kulturalisierungen         ohne Migrationshintergrund bezogen.
befördert (Mecheril 2010).                                     „Ethnizität“ bzw. „Kultur“ sind als alleinige Kate­
   Befürwortende Einschätzungen betonen die Not­           gorie der Beobachtung und Analyse der Lebenslagen
wendigkeit, ihn zu gebrauchen, da Kultur für Men­          von Personen nicht ausreichend. Diese Analysekate­
schen eine bedeutsame Ressource darstelle. Die Wis­        gorie macht nur als „Hilfskonstruktion“ Sinn, damit

8
Einleitung

spezifische Teilausschnitte von Lebenslagen besser in       richtungen zu werten, unabhängig von der Anzahl an
den Fokus kommen können. „Kultur“ und „Ethnizi­             Kindern mit Migrationshintergrund (BMFSFJ 2005).
tät“ sind stets eng verwoben mit anderen Merkmalen              In der Interkulturellen Pädagogik ist der Begriff
der Identifikation, wie Alter, Geschlecht, körperliche      der „Interkulturalität“ bislang Gegenstand kritischer
Fähigkeiten, sexuelle Orientierung (Prengel 2010;           Auseinandersetzung gewesen:
Lutz / Wenning 2002).                                           Der Begriff provoziere, Verhaltensweisen und
                                                            Handlungen von Menschen als kulturell „fixiert“ und
Migration und „Migrationshintergrund“                       „determiniert“ zu betrachten. Begegnungen zwischen
Seit ein paar Jahren wird neben dem Kulturbegriff           Personen könnten jedoch nicht auf ihre rein kulturel­
auch der Begriff der „Migration“ bzw. des „Migrations-      le Zugehörigkeit und das Interkulturelle reduziert
hintergrunds“ gebraucht (Mecheril u. a. 2010, S. 27 ff.).   werden (Kalpaka 2005; Herwartz-Emden u. a. 2010,
Nach der Definition des Mikrozensus sind damit „alle        S. 202 ff., Gaitanides 2003).
nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik             „Interkulturalität“ unterstelle implizite Vorstellun­
Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutsch­           gen von Normalität und Abweichung, von „normaler“
land geborenen Ausländer und alle in Deutschland            Gruppe mit „normaler“ Kultur (der Kinder ohne Migra­
als Deutsche geborenen mit zumindest einem zuge­            tionshintergrund) und „besonderer“ Gruppe mit „be­
wanderten oder als Ausländer geborenen Elternteil“          sonderer“ Kultur (Kinder mit Migrationshintergrund)
gemeint (StBA 2011, S. 6).                                  (Gogolin / Krüger-Potratz 2010, S. 132).
   Der Begriff „Migrationshintergrund“ umfasst in               Im Fachdiskurs werden inzwischen neben dem
dieser Definition in Deutschland geborene Kinder            Begriff der „Interkulturellen Pädagogik“ alternativ
deutscher Staatsangehörigkeit, eingebürgerte Kinder         weitere Begriffe wie „Migrationspädagogik“ (Meche­
sowie ausländische Kinder (entlang der Staatsangehö­        ril 2010), „kultursensible Pädagogik“ (Borke u. a. 2011)
rigkeit), auch in zweiter und dritter Generation. Der       verwendet. In dieser Expertise wird der Begriff „inter­
Begriff wird dafür kritisiert, dass er Kinder stigmati­     kulturell“ gebraucht, um den Bezug zu dem umfang­
siert und etikettiert, die nicht über eigene Migrati­       reichen Fachwissen herzustellen, das in der gleich­
onserfahrung verfügen (Hamburger 2009). Er wird             namigen akademischen Fachdisziplin entwickelt ist.
genutzt, um auf sozialisatorisch relevante Aspekte          Allerdings wird, um die oben genannte Problematik
im Aufwachsen von Kindern einzugehen, da „die               des Begriffs visuell zu verdeutlichen, im Fließtext der
Migrationserfahrungen der (Groß-)Elterngeneration           Begriff „interkulturell“ in Anführungszeichen gesetzt.
sowohl den familiären Lebensalltag, die sprachliche             Die Diskussionen um Begrifflichkeiten sind auch
Sozialisation im frühen Kindesalter und die Identitäts­     Ausdruck eines umfassenden Paradigmenwechsels,
entwicklungen (Fremd- und Selbstzuschreibungen)             bei dem die „Interkulturelle Pädagogik“ sich verstärkt
der Kinder als auch ihre Teilhabechancen nachhaltig         an Prinzipien einer „Pädagogik der Vielfalt“/“diversity
prägen“ (Butterwegge 2010, S. 23). In dieser Expertise      education“ orientiert (Roth 2010; Mecheril 2009; Ham­
wird „Migrationshintergrund“ in der Definition des          mes Di-Bernando/Schreiner 2011). Es erscheint notwen­
Mikrozensus und nach Auffassung von Christoph               dig, die Diskussion über differenzierte Betrachtungs­
Butterwegge verwendet.                                      weisen fortzuführen, die mit einem Begriffswechsel
                                                            allein jedoch nicht abgeschlossen ist.
Interkulturelle Pädagogik – Inklusion – Pädagogik               Gegenstandsbereiche und Handlungsanforderun­
der Vielfalt                                                gen für eine „interkulturelle“ Frühpädagogik werden
Der Gegenstand der „interkulturellen“ Pädagogik ist         für den Bereich der Kindertageseinrichtungen zuneh­
umfassender definiert als eine nur auf Kinder mit Mig­      mend mit Bezug zu Inklusion diskutiert: 3 In welcher
rationshintergrund zielende Pädagogik: Eine Pädago­         Verbindung die „interkulturelle“ Frühpädagogik mit
gik, welche die Entwicklung von Wertschätzung und
Akzeptanz für ein Aufwachsen und Miteinander in
ethnisch-kulturell heterogenen Umwelten unterstützt         3   Einen Überblick geben die Expertisen von Sulzer / Wagner 2011
                                                                und Prengel 2010, die Sammelbände von Hammes Di-Ber­nando /
und entsprechende Prozesse der Bildung und Entwick­             Schreiner 2011 und Jungk u. a. 2011 sowie Albers 2011 und Forum
lung begleitet, ist als Auftrag an alle Kindertagesein­         Menschenrechte 2011.

                                                                                                                             9
Annika Sulzer

einer inklusiven Frühpädagogik steht, obliegt dem
dynamischen Klärungsprozess.                             2 Gesellschaftlicher
   Inklusion bemüht sich um eine Klärung dessen,
wie unter Bedingungen von sozialer Heterogenität         Bezugsrahmen
das Recht von Kindern auf Bildung realisiert werden
kann und wie Barrieren im Zugang zu Bildung abge­
baut werden können (Deutsche UNESCO-Kommission
2010). Die kulturelle, sprachliche, religiöse Zugehö­    2.1 Lebenslagen von Kindern in
rigkeit von Personen wird als eine bedeutsame He­
                                                         der Einwanderungsgesellschaft
terogenitätsdimension unter vielen gefasst, die die
Lebenslage von Personen beeinflusst. Hinweise auf
Verbindungslinien werden in Kapitel 3 gegeben.           2.1.1 Dynamiken in der
                                                         Migrationsgesellschaft
Schwerpunkt: Lebenslagen von Kindern mit
Migrationshintergrund                                    2010 lebten insgesamt fast 16 Mio. Menschen mit Mi­
In dieser Expertise wird der Schwerpunkt auf die Le­     grationshintergrund in Deutschland. Das entspricht
benslagen von Kindern mit Migrationshintergrund          einem Anteil von 19,3 % der Gesamtbevölkerung. Bei
gelegt. Das ist einmal einer Schieflage im Fachdiskurs   Kindern unter fünf Jahren sind es mit 34 % fast doppelt
geschuldet. Zahlreiche Konzepte einer „interkulturel­    so viele. Der Anteil an Menschen mit Migrationshinter­
len“ Pädagogik zielen auf Kinder mit Migrationshin­      grund nimmt deutlich zu, je jünger die betrachteten
tergrund bzw. auf gemischte Gruppen; Kinder ohne         Altersgruppen sind. 4
Migrationshintergrund stehen als nicht-kulturell ver­       Der „Migrationshintergrund“ der Familien bezieht
gleichsweise wenig im Fokus des wissenschaftlichen       sich auf folgende Gruppen:
Diskurses. Zum anderen sind, mit Blick auf Inklusion,    –– Gruppe der Zuwanderinnen und Zuwanderer aus
Kinder mit Migrationshintergrund in Deutschland             den ehemaligen Anwerbestaaten mit langer Auf­
aktuell stärker gefährdet, Barrieren für einen Zugang       enthaltsdauer
zur Bildung zu erfahren, als Kinder ohne Migrations­     –– Gruppe von (Spät-)Aussiedlerinnen und Aussiedlern
hintergrund. Es erfordert eine eigene fachliche An­      –– Neu zugewanderte Menschen
strengung, die Barrieren zur Teilhabe und Strategien     –– Personen mit Asyl.
für deren Abbau in den Blick zu nehmen.
                                                         Der Großteil der Personen mit Migrationshintergrund
                                                         hat deutsche Staatsangehörigkeit (8 Mio. gegenüber
                                                         circa 1 Mio. Ausländer), zwei Drittel sind zugewandert,
                                                         ein Drittel in Deutschland geboren (StBA 2011 a, 2011 b).
                                                            Ein Großteil der Kinder mit Migrationshintergrund
                                                         bis zu sechs Jahren hat selbst keine direkte Migrations­
                                                         erfahrung (BMFSFJ 2011; BIB 2010, S. 39). Die Kinder
                                                         sind in Deutschland geborene Nachkommen von
                                                         Zugewanderten der zweiten und dritten Generation.
                                                            Abbildung 1 zeigt die Verteilung in Bezug auf die
                                                         Herkunftsländer der Eltern.

                                                         4   Detaillierte Ausführungen zu Anzahl, Herkunftsländern, Aufent-
                                                             haltsdauer, Bildungsstand, Familienstand und Berechnungen
                                                             für die Anzahl von Kindern mit Migrationshintergrund nach Alter
                                                             gegliedert finden sich bei Krüger-Potratz / Schiffauer 2011; StBA
                                                             2011 a, 2011 c; BIB 2010, S.18 f.; SVR 2010, S. 96.

10
Gesellschaftlicher Bezugsrahmen

Abbildung 1: Anteil an Familien mit Kindern bis 18 Jahren nach Herkunftsland

                                           21 %
                                                                        Türkei
     32 %
                                                                        Ehemalige Sowjetunion

                                                                        Polen

                                                       13 %
                                                                        EU 15

                                                                        Ehemaliges Jugoslawien

            9%                                                          Andere
                                              10 %

                             15 %

Quelle: BMFSFJ 2010, S. 4.

Kinder mit Fluchterfahrung (beispielsweise unbe­                        länder-, stadt- und stadtteilspezifisch sehr verschieden
gleitete minderjährige Flüchtlinge, Kinder asyl-                        (vgl. Abb. 2).
suchender Familien und auch Kinder, die irregulär in                       Der Großteil der Kinder mit Bezügen zur Migration
Deutschland leben) sind zahlenmäßig statistisch bun­                    in der Familie lebt in großstädtischen Verdichtungs­
desweit wenig erfasst und leben in ökonomisch und                       räumen mit hoher Zuwandererbevölkerung. Bei Groß­
sozial äußerst prekären Lebenslagen (Munoz 2007).                       städten mit über 500.000 Einwohnern liegt der Anteil
   Eine aktuelle Studie kommt bei der Frage, wie viele                  bei 49 %. Bei der Gruppe aller Kinder in den ersten drei
Kinder mit irregulärem Aufenthaltsstatus in Deutsch­                    Lebensjahren haben in Frankfurt 72 %, in München und
land leben, auf Schätzungen von 1.000 bis 30.000 Kin­                   Stuttgart über 50 % der Kinder und Jugendlichen einen
der, umgerechnet beispielsweise für Hessen auf 100 bis                  Migrationshintergrund, bei den Kindern bis sechs
2.400 Kinder ohne Papiere und 300 bis 6.000 Kinder                      Jahren sind es in Stuttgart 59 %, in Köln 49 % (BIB 2010,
in Nordrhein-Westfalen (Vogel / Aßner 2010, S. 26). 5                   S. 18; SVR 2010, S. 97 f.). Die überwiegende Mehrheit
Sie haben häufig sehr erschwerte Bedingungen beim                       dieser Kinder ist in Deutschland geboren und hat keine
Zugang und bei der Nutzung von Kindertagesein­                          Migrationserfahrung (StBA 2011, S. 20).
richtungen.

Wer hat mit wem zu tun? – Regionale Situation
Die migrationsbedingte Vielfalt ist in Deutschland
regional unterschiedlich ausgeprägt (SVR 2010, S. 113).
Die Variation der Zusammensetzung der Kindergrup­
pen in den Kindertageseinrichtungen ist hier bundes­

5   Berechnungen für Kinder im Alter von sechs bis 15 Jahren. Für die
    Situation jüngerer Kinder (bis Fünfjährige) sowie zur Größe die-
    ser Gruppe konstatieren die Autoren eine Forschungslücke.

                                                                                                                                 11
Annika Sulzer

Abbildung 2: Anteil der Personen mit Migrationshintergrund an der deutschen
Gesamtbevölkerung unter 10 Jahren im Jahr 2010

                                                Schleswig-
                                                 Holstein
                                                                          Mecklenburg-
                                                  Hamburg                 Vorpommern

                                     Bremen

                                              Niedersachsen

                                                                                    Berlin
                                                                   Sachsen-
                                                                    Anhalt
                                                                                     Brandenburg

                                                                                                   unter 20 %

                                                                                                   20 bis unter 25 %
                  Nordrhein-
                                                                                                   25 bis unter 30 %
                  Westfalen                                                       Sachsen
                                                                                                   30 bis unter 35 %

                                                                                                   35 bis unter 40 %
                                                              Thüringen
                                    Hessen                                                         40 % und mehr

         Rheinland-Pfalz

         Saarland
                                                                      Bayern

                                 Baden-
                               Württemberg

Quelle: StBA 2011: Mikrozensus 2010, S. 19.

12
Gesellschaftlicher Bezugsrahmen

Diese Situation spiegelt sich in der Zusammensetzung      Herkunftsregion in die Ankunftsregion mit dauer­
der Kindergruppen in den Einrichtungen: So besucht        hafter Ansiedlung (in Deutschland gegenwärtig die
beispielsweise im Stadtstaat Bremen über die Hälfte der   häufigste Migrationsform) werden erweitert durch
Kinder mit Migrationshintergrund eine Einrichtung,        sogenannte temporäre und zirkuläre Migrationen,
in der die Gruppen zu mehr als 50 % aus Kindern mit       in denen häufige Ortswechsel stattfinden (Glick-
Migrationshintergrund bestehen; eine ähnliche Situ­       Schiller / Faist 2010; Pries 2010).
ation zeigt sich in Hamburg (56 %) (Bock-Famulla 2008).      In Ländern wie Großbritannien und USA sind diese
   Die Heterogenität variiert zudem je nach sozialräum­   Phänomene bereits für viele Kindertageseinrichtungen
lichem Einzugsgbiet:                                      Realität, in Deutschland sind sie bis dato vor allem in
–– Gruppen mit einem hohen Anteil an Kindern einer        Grenzgebieten zu beobachten. Eigene temporäre oder
   ethnischen Herkunftsgruppe                             dauerhafte Wanderungen werden ein wahrscheinli­
–– Gruppen mit einem „Mixtum von altansässigen            ches biografisches Element von jetzt aufwachsenden
   Monolingualen und Kindern mit Migrationshinter­        Kindern werden.
   grund“ (Gogolin / Krüger-Potratz 2010, S. 20)
–– Gruppen mit Kindern aus verschiedenen ethni­           Konsequenzen für die pädagogische Praxis
   schen Herkunftsregionen                                Eine inklusive Frühpädagogik im Kontext von Migra­
–– Gruppen mit wenigen oder keinen Kindern mit            tion zu realisieren, bedeutet daher, dass regional und
   Migrationshintergrund                                  lokal unterschiedliche Strategien notwendig sind, um
                                                          eine die Lebenslagen von Kindern und Familien auf­
Ausführliche Beschreibungen liefern das Berichtswe­       greifende pädagogische Praxis umzusetzen. Sie stellt
sen aus Bildungsmonitorings von Bund und Ländern          explizit auch Anforderungen an Fachkräfte, die mit
sowie die Bertelsmann Stiftung. Die pädagogischen         Kindern und Familien ohne Migrationshintergrund
Fachkräfte müssen je nach Zusammensetzung der             zu tun haben.
Kindergruppe in Stadtgebieten oft ein „Höchstmaß an          Die dynamische Entwicklung des Zu- und Abwan­
sprachlicher, kultureller und sozialer Heterogenität      derungsgeschehens impliziert, dass Fachkräfte, Kin­
bewältigen“ (Gogolin / Krüger-Potratz 2010, S. 20).       dertageseinrichtungen und Träger auf die sich vor
   Die Zuwanderung in vielen ländlichen Gebieten ist      Ort verändernden Entwicklungen flexibel reagieren
gering. Die Anforderungen für Fachkräfte sind hier        können sollten, und dass diese kontinuierliche Flexibili-
anders gelagert. Sie entwickeln Angebote für Kinder       tät in der Planung von Angeboten eine Voraussetzung
und Familien mit Migrationshintergrund in einem           für die Qualität von Kindertageseinrichtungen bildet.
Kontext, in dem sie als Minderheit oft nur mit geringer   Im Zwölften Kinder- und Jugendbericht heißt es dazu:
Infrastruktur für ihre Lebenslagen (Beratungen, Ver­         Die Konzepte müssen sich „auf unterschiedliche
eine, Bildungsangebote) rechnen können (RAA 2010,         Typen von Migranten und Migrantinnen, d. h. auf
2007). Eine spezifische Situation zeigt sich in ländli­   differierende Migrationsmotive, sprachliche Vielfalt,
chen Regionen, in denen Aufnahmeeinrichtungen             zeitliche Perspektiven hinsichtlich der Bleibeabsichten
für Menschen, die Asyl suchen, eingerichtet sind. Die     sowie auf unterschiedliche Einstellungen zur Her­
dort lebenden Kinder haben häufig keinen Zugang zu        kunfts- und Ankunftsregion einstellen“ (2005, S. 73;
Regeleinrichtungen (Gogolin u. a. 2003).                  vgl. dazu auch die vertiefenden Ausführungen bei
   Kinder leben regionalspezifisch demnach in ethnisch    Mecheril u. a. 2010, SVR 2010 und Gogolin / Pries 2004).
verschiedenen Kontexten, alle wachsen allerdings im
Kontext einer multireligiösen und multikulturellen
deutschen Gesellschaft auf.                               2.1.2 Heterogene Sozialisationskontexte
   Prognosen gehen davon aus, dass kontinuierliche
Migrationen, und zwar sowohl Einwanderung als             Kinder in Deutschland wachsen gegenwärtig in hete­
auch Auswanderung, in Zukunft eher die Regel als          rogenen Sozialisationskontexten auf. Familienformen,
die Ausnahme sein werden. Auch die Formen von Mi­         Erziehungsstile, Werte und Normen werden vielfälti­
gration werden vielfältiger. Die „klassischen“ Formen     ger, religiöse Formen diversifizieren sich und mehr­
von Migration, als einmalige Wanderung von einer          sprachige Umwelten bilden eine häufige Erfahrung

                                                                                                                  13
Annika Sulzer

junger Kinder. Kinder weisen vielfältige Identitätsbe­     Zuwanderungsströmen, überschneidet sich in der
züge auf, ihr „Kindsein“ ist von vielfältigen Bezügen      Einwanderungsgesellschaft auf vielfältige Weise mit
durchdrungen, wie Wohnort, Geschlecht, körperliche         einer Mehrheitsbevölkerung, die sich auch ihrerseits
Fähigkeiten und sozialer Status. Erfahrungen von Ge­       immer weiter ausdifferenziert. Im Ergebnis entstehen
meinsamkeit und Differenz in ihrer sozialen Umwelt         so vielfältige und quer zu den ethnischen Herkunfts­
werden in zunehmendem Maße zu Grunderfahrungen             gruppen liegende Milieus“ (SVR 2010, S. 112).
von Kindern (Andresen/Hurrelmann 2010, S. 79 ff.; SVR         Die Milieuforschung hat in den letzten Jahren die
2010, S. 113 ff.). Der Erkenntnisstand zu familiären Le­   Lebenswelt von Familien mit Migrationshintergrund
bensformen, Bindungsverhältnissen und Erziehungs­          genauer in den Blick genommen und festgestellt,
stilen nimmt vor allem mit Blick auf die Kinder im         dass sich Migranten-Milieus weniger nach ethnischer
Schulalter zu (Ecarius u. a. 2011; Herwartz-Emden u. a.    Herkunft und sozialer Lage unterscheiden, „als viel­
2010; Hagedorn u. a. 2010; Betz 2009, 2006; Alt 2006).     mehr nach ihren Wertvorstellungen, Lebensstilen
   Die deutsche Kindheits- und Sozialisationsfor­          und ästhetischen Vorlieben“ (Merkle 2011, S. 88). In
schung beginnt seit Kurzem, die Kinder bis zu sechs        der Population der Menschen mit Migrationshinter­
Jahren in den Blick zu nehmen und räumt noch einige        grund sei eine bemerkenswerte Vielfalt von Lebens­
Lücken ein, was „die Muster der Lebensführung und          auffassungen und Lebensweisen festzustellen und der
den Alltag von Kindern im Alter zwischen vier und acht     Bezugspunkt „Migrationshintergrund“ angesichts der
Jahren, insbesondere auch in pädagogischen Instituti­      diversen Lebenswelten letztlich wenig aussagekräftig,
onen wie dem Kindergarten“ angeht (Grunert / Krüger        um die Lebensrealität von Migrantinnen und Migran­
2006, S. 231).                                             ten zu erfassen (Merkle 2011; Merkle / Wippermann
                                                           2009; Betz 2009, 2005).
„Kinder mit Migrationshintergrund“ und ihre
Familien sind keine homogene Gruppe                        Kinder mit Migrationshintergrund wachsen
Die Anzahl von Kindern mit eigener Migrationserfah­        tendenziell in Risikolagen auf
rung nimmt in Deutschland kontinuierlich ab – die          Die Sozialisationskontexte junger Kinder sind eben­
Mehrzahl der Kinder ist in Deutschland geboren und         falls heterogen hinsichtlich ihrer Chancen auf Teilhabe
hat die deutsche Staatsbürgerschaft (vgl. Kap. 2.1.1).     an der Gesellschaft und der Risiken für Aus­grenzung.
Ihr Migrationshintergrund ist überwiegend vermittelt          Zahlreiche Studien 6 weisen mit Blick auf Risikola­
über Eltern und Verwandtschaft. Wie stark die Familie      gen darauf hin, dass das Bildungssystem Kinder mit
Bezüge zu dem Herkunftsland hält, ist dabei sehr un­       Migrationshintergrund strukturell benachteiligt, was
terschiedlich; ebenso verschieden ist,wie bedeutsam        das Erreichen von Schulabschlüssen sowie den Erwerb
die ethnische Zugehörigkeit durch die Familienmit­         von Kompetenzen betrifft. Werden Bildungsbiografi­
glieder und durch die Kinder erlebt wird.                  en als auf vorgängigen Erfahrungen und Entscheidun­
   Einen Überblick über den Stand der Forschung zu         gen aufbauend angesehen, so ist bedenklich, dass sich
Familien geben neben der Berichterstattung der Bun­        Entwicklungsverzögerungen und Kompetenzdefizite
desregierung (BMFSFJ 2011, 2000) auch Ecarius (2011,       im weiteren Entwicklungsverlauf potenzieren und
2007), Fuhrer/Uslucan 2005 und Herwartz-Emden u.a.         damit das Risiko für Problemlagen erhöhen.
(2010, S. 42 ff.). Im „Handbuch Familie und Migration“        In zahlreichen (Bildungs-)Berichterstattungen
wird spezifisch auf die Eltern-Kind-Beziehungen,           werden drei Faktoren für drohende oder reale soziale
Gender-Beziehungen, Erziehungsstile, Vater- / Mutter­
schaft und familiäre Netzwerke eingegangen (Fischer/
Springer 2011; Leyendecker 2011).
   Zu beobachten sind zunehmend fluide Formen von          6   Hierzu ist inzwischen ein große Menge an Literatur erschienen,
Ethnizität, die nicht mehr zwingend einer bestimmten           die allerdings sich nur in wenigen Punkten auf die Kinderta-
                                                               geseinrichtungen bezieht. Einen Überblick zur Situation von
Nationalkultur zugeordnet werden können:                       Kindern mit Migrationshintergrund in Bildungseinrichtungen
   „Die ethnische, sprachliche und religiöse Plurali­          geben Analysen des Sachverständigenrats für Migration und
                                                               Integration (SVR 2010, S. 137 ff.), die aktuellen Bildungsberichte
sierung der Zuwanderungsbevölkerung, hervorge­                 (2010, 2008, 2006), Overwien / Prengel 2007 sowie eine aktuelle
gangen aus den großen und vielen neuen kleineren               Studie der Bertelsmann Stiftung (www.chancen-spiegel.de).

14
Gesellschaftlicher Bezugsrahmen

und bildungsbiografische Benachteiligung identifi­                   perlichen Entwicklung; sie haben weniger Zutrauen in
ziert: (geringe) ökonomische Ressourcen und sozio­                   ihre eigenen Fähigkeiten und Zukunftsperspektiven. 8
ökonomischer Status der Familie sowie die (geringe)                     Es „besteht auch ein Zusammenhang zwischen
Bildungsqualifikation der Eltern. Diese Faktoren                     gesundheitlicher Entwicklung (körperlich und see­
beschreiben statistisch gesehen Risikolagen für junge                lisch) und materieller Versorgung. Ernährungs- und
Kinder (Konsortium Bildungsberichterstattung 2012,                   Gesundheitsverhalten sind beeinträchtigt (…). Auch
2010, 2008; BMAS 2008; Herwartz-Emden u. a. 2010,                    emotionale Instabilität und Verhaltensauffälligkeiten
Leu / Prein 2010).                                                   der Kinder sind nicht selten Begleiterscheinungen von
   Knapp 30 % der in Deutschland lebenden Kinder bis                 Armut und sozialer Ausgrenzung. Darunter leiden
zu einem Alter von 18 Jahren wachsen in mindestens                   nicht zuletzt die Beziehungen zu Gleichaltrigen, die
einer der Risikolagen auf. Kinder mit Migrations­                    bereits durch den begrenzten Zugang zu materiellen
hintergrund sind innerhalb dieser Gruppe mit 42 %                    Gütern und Freizeitaktivitäten erschwert werden“
überproportional vertreten (Konsortium Bildungsbe­                   (BMAS 2008, S. 89 ff.). Ergebnisse aus kindzentrierter
richterstattung 2012, S. 27 ff.).                                    Sozialberichterstattung geben Hinweise darauf, dass
   Die Wahrscheinlichkeit, in einer Risikolage aufzu­                Kinder 9 Armutslagen in der Familie unterschiedlich
wachsen, ist geografisch verschieden hoch (vgl. Abb. 3).             bewältigen (Walper / Riedel 2008).
40 % der Kinder in Stadtstaaten wachsen in mehr als
einer Risikolage auf, in Regionen, die zum Teil bereits              Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen haben in
seit einigen Jahren Armutslagen aufweisen (ebd.;                     vielfacher Weise mit diesen Konstellationen zu tun.
Rauschenbach u. a. 2009).                                            Insbesondere in Einzugsgebieten, in denen viele Fami­
   12 % der Kinder in Deutschland wachsen gegenwär­                  lien in Armutslagen leben, ergeben sich für die Arbeit
tig in Armutslagen auf. Die Kinderarmut ist deutlich                 in den Kindergruppen komplexe Herausforderungen.
stärker gestiegen als die Armut der Gesamtbevölke­                   Auf fachlicher Ebene sollten Fachkräfte in Kinderta­
rung (BMAS 2011, 2008; Hübenthal 2009, S.10 ff.). 7                  geseinrichtungen in die Lage versetzt werden, die
   Kinder mit Migrationshintergrund haben ein be­                    jeweiligen Sozialisationskontexte der Kinder und ihrer
sonders hohes Risiko, in Armut aufzuwachsen, das                     Familien analysieren zu lernen, um entsprechend le­
Risiko dafür ist zwei Mal höher als bei Kindern ohne                 bensweltorientierte Strategien für deren individuelle
Migrationshintergrund (Autorengruppe Bildungsbe­                     Unterstützung anbieten zu können.
richterstattung 2010, S. 29 ff.). Innerhalb dieser Gruppe               Auch Auswirkungen sozialer Segregation beein­
sind Familien türkischer Herkunft überproportional                   flussen die Lebenslagen von Kindern. Insbesondere in
häufig betroffen (40,5 %) gegenüber Familien italie­                 Ballungsräumen weisen Kindertageseinrichtungen,
nischer Herkunft (23 %) oder Aussiedlerfamilien (26 %)               die in räumlicher Nähe voneinander liegen, eine
(Herwartz-Emden u. a. 2010, S. 29 ff.).                              deutlich verschiedene Verteilung von Kindern in Be­
   Armut, verstanden als Mangel an Chancen der Ver­                  zug auf sozialen Status und Migrationshintergrund
wirklichung und Teilhabe, umfasst nicht nur materiel­                der dort lebenden Familien auf. Diese Entwicklungen
le Armut. Diese Lebenslage schließt auch das Wohnen,                 werden seitens bildungspolitischer Berichterstattung
den Erfolg in Bildungsinstitutionen, die sozialen Kon­               problematisiert (Baumert 2011; Autorengruppe Bil­
takte sowie die physische und psychische Gesundheit                  dungsberichterstattung 2008; Leu 2007).10
mit ein. Kinder, die in ihrer Lebenslage von Armut
bedroht oder betroffen sind, haben ein höheres Risiko
für Entwicklungsverzögerungen, Beeinträchtigungen
                                                                     8   Zur Definition von Armut und zu den Auswirkungen von Armuts-
der kognitiven, sprachlichen, motorischen und kör­                       lagen auf Kinder: Hurrelmann / Andresen 2010 (World Vision Kin-
                                                                         derstudie); OECD 2009; Studie mit KiTa- / Grundschulkindern von
                                                                         ISS-AWO: Holz 2006, 2003; Holz u. a. 2006; Hock u. a. 2000. Zur
                                                                         Lage von Kindern: UNICEF 2010; Andresen 2008. Zur Kinderar-
                                                                         mut: Hübenthal 2009. Überblickswerke: Herwartz-Emden u. a.
                                                                         2010, S. 23 ff.; Andresen 2008; Walper 2008.
7   Aufschluss geben hierzu auch kommunale Monitorings und
                                                                     9   Die Daten beziehen sich auf Kinder im Grundschulalter und älter.
    föderale Sozialberichterstattungen sowie die Berichterstattung
    der Bertelsmann Stiftung.                                        10 Für aktuelle Daten vgl. Bock-Famulla / Lange 2011

                                                                                                                                      15
Annika Sulzer

Abbildung 3: Anteil der unter 18-Jährigen nach Risikolagen der Eltern
im Jahr 2010 (in %)

                                                                                 24
                                                                           16
                                                                  9    9

                                                             Schleswig-                                                                                          40
                                                                                                                                                            30
                                                              Holstein                             34
                                                                                                                                                   15
                                                                                             20                                                         6
                                                                                       17
                                                                  42             14

                                                      25
                                                            31                                                                           Mecklenburg-
                                             21
                                                                            Hamburg                                                      Vorpommern

                                                                                                                                                                                          44
                                             Bremen
                                                                                                                                                                          22         25
                                                                                                  31                                                                            21

                                                                                            20
                                                                                11    13

                                                                                                                                         35                                    Berlin                   29
                                                                       Niedersachsen                                                26                                                             21

                                                                                                                           17                                                             12
                                                                                                                                                                                               5
                                                                                                                                7
                                  33
                                                                                                                                                                                                                 Soziales Risiko
                                                                                                                                                                                     Brandenburg
                        16
                             21                                                                                        Sachsen-
                                                                                                                                                                                                                 Risiko bildungsfernes
                  12
                                                                                                                        Anhalt                                                  34                               Elternhaus
                                                                                                                                                                           26
                                                                                                                                                                                                                 Finanzielles Risiko
                 Nordrhein-                                                                                           31                                         15
                                                                                                                 24
                 Westfalen                                                                                                                                            4                                          Mindestens eine Risikolage
                                                                                                        11
                                                                  26                                         4                                                   Sachsen
                                                            15
                                                      12                                                                                                                                                     Von drei Risikolagen betroffen:
                                             8                                                          Thüringen
                                                                                                                                                                                                                 Unter 3 %
                             29
                                             Hessen
                       19                                                                                                                                                                                        3 bis unter 5 %
                  13
             9
                                                                                                                                                                                                                 5 bis unter 7 %

        Rheinland-Pfalz                                                                                                                                                                                          7 bis unter 9 %

                       25                                                                                                                                                                                        9 % und mehr
                 16
         7   9
                                                                                                                                              20
                                                                                                                                         12
                                                                                                                                    8
        Saarland                                                                                                                6

                                                             23
                                                                                                                                Bayern
                                                 11    13
                                         6

                                         Baden-
                                       Württemberg

Quelle: Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012, S. 26 nach Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Mikrozensus.

16
Gesellschaftlicher Bezugsrahmen

Strategien zur Armutsminderung erfordern auf po­                       2.2 Exkurs: Standards
litischer Ebene eine finanzielle Umverteilung und
                                                                       in Bildungsplänen und
Strategieentwicklung in direktem Bezug zu kontinu­
ierlichen sozialräumlichen Analysen der Lebenslagen                    Qualitätsinstrumenten
und Bedarfe von Kindern und Familien (ebd.; Bertram
2011; BMAS 2008, S. 101).11                                            Die Bildungspläne der Bundesländer sind bildungs­
   Auch der rechtliche Aufenthaltsstatus der Kin­                      politische Instrumente der Qualitätsentwicklung
der kann eine Risikolage für Kinder darstellen. So                     und Steuerung. Sie liefern normative Orientierungs­
haben Kinder, Familien und Geschwisterkinder als                       rahmen für die pädagogische Qualität in Kinder­
Asylsuchende, als Illegalisierte oder als Flüchtlinge                  tageseinrichtungen, auf die die Fachkräfte sich in
mit Duldungsstatus oft jahrelang permanente Blei­                      ihrem Handeln beziehen sollen. Dies gilt auch für die
beunsicherheit auszuhalten: „Diese existenzielle                       Gestaltung der pädagogischen Praxis im Umgang mit
Unsicherheit verhindert eine mittelfristige Lebens­                    kultureller Differenz.
planung“ und bewirkt bei Kindern Verlustängste,                           Im Folgenden wird ein Kurzüberblick über Ergeb­
Verunsicherung, Hilflosigkeit und Zukunftsängste                       nisse einer diesbezüglichen Sichtung der Bildungs­
(Söhn 2010).                                                           pläne gegeben: 12
                                                                       –– Welches Bild vom Kind liegt den Plänen zugrunde?
Mit Blick auf soziale Risikolagen ist auch zu berück­                  –– In welchen Bereichen werden ethnisch-kulturelle
sichtigen, dass Kinder mit Migrationshintergrund in                       Aspekte berücksichtigt?
Familien aufwachsen, die auf unterschiedliche Weise                    –– Welche Anforderungen werden an Fachkräfte
aufgrund ihrer Sprache, Kultur, Religion oder kör­                        gestellt?
perlichen Merkmale Diskriminierungserfahrungen
machen. Die Erfahrungen beziehen sich auf den re­                      Die Realität von Deutschland als Einwanderungsge­
gulierten Zugang zum Arbeitsmarkt, auf regulierte                      sellschaft wird zwar in nahezu allen Bildungsplänen
rechtliche und politische Teilhabemöglichkeiten                        als gesellschaftliche Grundsituation beachtet. Aller­
sowie auf die soziale Stereotypisierung, Defizitwahr­                  dings gibt es deutliche Varianz, wie intensiv ethnisch-
nehmung und Abwertung in der öffentlichen Debatte                      kulturelle Differenz dann in den Prinzipien zur Gestal­
sowie im Bildungswesen. In Deutschland sind dies laut                  tung der pädagogischen Arbeit aufgegriffen wird.
aktueller EU-Berichterstattung vor allem Familien mit
arabischem und türkischem Hintergrund, People of                       Bild vom Kind
Color, Roma und Sinti-Gemeinschaften sowie Per­                        Ein großer Teil der Bildungspläne nimmt einen di­
sonen muslimischen und jüdischen Glaubens. Auch                        versitätsbewussten Blick auf Kinder ein. Beispielhaft
Personen mit unsicherem rechtlichen Aufenthaltssta­                    dafür ist das Berliner Bildungsprogramm, „das die Be­
tus zählen dazu (Herwatz-Emden u. a. 2010; SVR 2010,                   dingungen von Diversität und Differenz systematisch
S. 137 ff.; ECRI 2009, 2004; ENAR 2009; Motakef 2007).                 einarbeitet“ (Neumann 2005, S. 197) sowie „Gleichheit
                                                                       und Unterschiede“ als eine der zentralen Grundlagen
                                                                       ihres Bildungsverständnisses versteht, mit der Anfor­
                                                                       derung, die individuelle Verschiedenheit der Kinder
                                                                       anzuerkennen und zu achten (BBP 2004, S. 21 ff.). Die
                                                                       Berücksichtigung ethnischer Diversität wird als Quer­

                                                                       12 Eine diesbezügliche Analyse liegt bislang nicht veröffentlicht
                                                                          vor. Erfasst wurden die Bildungspläne Baden-Württemberg,
                                                                          Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hessen, Mecklenburg-
                                                                          Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt,
                                                                          Schleswig-Holstein. Die Analyse lässt sich hier nicht erschöpfend
11   KECK Atlas der Bertelsmann Stiftung, die das Instrument sozial-      darstellen, da nur zentrale Charakteristika skizziert werden. Vgl.
     räumlicher Lebenslagenerhebung für junge Kinder etablieren           zu ersten Einschätzungen: Diehm 2009; Neumann 2005, S. 197 f.
     will (www.keck-atlas.de).                                            Mein Dank gilt Anja Jungen für die Mitarbeit an diesem Kapitel.

                                                                                                                                         17
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