Kinder psychisch kranker Eltern Erfahrung - Unterstützung - Information ...wie geht es eigentlich den Kindern? - Seelenerbe eV

Die Seite wird erstellt Luis Wiedemann
 
WEITER LESEN
Kinderpsy_Um251007                                                                30.10.2007   12:33 Uhr   Seite 1

  Forum Kinder psychisch kranker Eltern - Heidelberg und Rhein-Neckar-Kreis   ...wie geht es eigentlich den Kindern?

                                                                              Kinder
                                                                              psychisch kranker Eltern
                                                                              Erfahrung – Unterstützung – Information
Kinderpsy_Um251007       30.10.2007        12:33 Uhr    Seite 2

        IMPRESSUM
        Herausgeber:
        Forum Kinder psychisch kranker Eltern
        Verfasser:
        Forum Kinder psychisch kranker Eltern
        Druck und Layout:
        R & R Communications GmbH
        Das Medienhaus
        Kolpingstraße 1, 69181 Leimen
        Auflage:
        1000 Stück
        2. aktualisierte Auflage, Oktober 2007
        Eine Gewähr für die Vollständigkeit und Richtigkeit kann im Gliederungspunkt 7
        nicht übernommen werden.
        Deckblatt: Bild von S. K., Titel: Mutter
Kinderpsy_251007      30.10.2007        12:44 Uhr       Seite 1

        Einleitung

        Kinder und Jugendliche aus Familien mit einem           Im Anschluss an die Tagung haben Teilneh-
        psychisch kranken Elternteil werden in der Pra-         mer/-innen aus den unterschiedlichen Bereichen
        xis und Forschung immer noch zu wenig beach-            ihr Interesse an einer weiteren Auseinanderset-
        tet. In der Regel geraten sie erst ins Blickfeld,       zung mit dem Thema bekundet. Diese große
        wenn sie selbst psychische Störungen aufwei-            Resonanz nahm die Planungsgruppe zum
        sen, Probleme in Kindergarten und Schule auf-           Anlass unter Einbezug von betroffenen, jetzt
        treten oder das Jugendamt intervenieren muss.           erwachsenen Kindern ein berufs- und einrich-
        Über ihre Alltagssorgen ist wenig bekannt. Sie          tungsübergreifendes „Forum Kinder psychisch
        werden zu oft mit ihren Fragen und Nöten,               kranker Eltern“ zu bilden.
        ihren Loyalitätskonflikten und Schuldgefühlen           Das Forum hat das Ziel mit den vorhandenen
        alleine gelassen. Eine Mauer des Schweigens             Institutionen und Angeboten in der Region für
        umgibt diese Kinder, oft sind sie isoliert.             Kinder psychisch kranker Eltern eine Versor-
        Was gilt es zu tun, um den „vergessenen                 gungsstruktur zu entwickeln. Unter Nutzung
        Kindern“ der Psychiatriereform die nötige Auf-          der Schnittstellen und Ressourcen gilt es ein
        merksamkeit und Unterstützung zukommen                  Netzwerk an Hilfs- und Unterstützungsmöglich-
        zu lassen?                                              keiten aufzubauen.
        Um diesen Kindern helfen zu können, muss                Ein Ergebnis der Aktivitäten des Forums ist
        deren problematische familiäre Situation ins            diese Broschüre.
        Bewusstsein der Öffentlichkeit, der Facheinrich-        In dieser Broschüre berichten die Mitglieder des
        tungen der Psychiatrie, der Fachpersonen, die           Forums von ihren Erfahrungen und Betroffene
        mit Kindern arbeiten, und der betroffenen Fami-         kommen zu Wort, d.h. jetzt erwachsene Kinder
        lienmitglieder rücken.                                  psychisch kranker Eltern. Nur wenn wir – vor
        2001 veranstaltete der Arbeitskreis „Rehabilita-        allem die „Profis“ – genauer hinhören und
        tion psychisch kranker Menschen“ eine Fachta-           „begreifen“, wo die Nöte der Kinder lagen und
        gung mit dem Thema „..wie geht es eigentlich            liegen, können wir Sprachrohr sein und für hilf-
        den Kindern?“. Neben Fachbeiträgen und Erfah-           reiche Unterstützungsstrukturen für die jetzt
        rungsberichten sollte eine Diskussion darüber           betroffenen Kinder sorgen.
        angestoßen werden, wie in unserer Region die            Die Berichte geben gleichzeitig einen Überblick
        Situation der Kinder psychisch kranker Eltern           über die Angebotsstrukturen in der Region und
        verbessert werden kann.                                 Einblick in Konzepte und Aufgaben.
        Die Tagung erfuhr in der Öffentlichkeit, bei den        Mit dieser Broschüre wollen wir sensibilisieren,
        Facheinrichtungen der Psychiatrie, wie bei den          informieren, Orientierung geben und zur Ver-
        Fachleuten in Schulen, Kindergärten, Jugendäm-          netzung der Dienste und Fachleute in den unter-
        tern, Erziehungsberatungsstellen, Sozialpäd-            schiedlichen Bereichen wie Psychiatrie, Pädia-
        agogische Familienhilfen u.a.m. sehr große              trie, Pädagogik und Kinder- und Jugendhilfe bei-
        Beachtung.                                              tragen.
        Bei der Tagung wurde deutlich, dass den Mitar-          Die Broschüre richtet sich an Fachleute aus den
        beitern/-innen in all den genannten Bereichen           genannten Bereichen, Betroffene, die interes-
        die problematische Situation der Kinder psy-            sierte Öffentlichkeit sowie an die jetzt erwach-
        chisch kranker Eltern ein großes Anliegen ist.          senen Kinder psychisch kranker Eltern.
        Übereinstimmend wird ein beachtlicher Bedarf            Wir danken Allen für ihre Beiträge. Den Betroffe-
        an Information, Aufklärung, Beratung, Koopera-          nen möchten wir unseren besondern Dank aus-
        tionspartnern und einem Netzwerk an Hilfs- und          sprechen. Mit ihrer Offenheit rücken sie die „ver-
        Unterstützungsangeboten gesehen.                        gessenen Kinder“ in unser Bewusstsein.

                                                            1
Kinderpsy_251007     30.10.2007        12:44 Uhr           Seite 2

                                                                                                    Gliederung

        1. Die Kinder psychisch kranker Eltern                 3. Beratung und Betreuung psychisch
                                                                  kranker erwachsener Menschen
            „Schau mich an, damit ich weiß,
             wer ich bin!“                                        Erstberatung und Vermittlung, Kontakt-
             Über die Bedürfnisse von Kindern mit                  und Informationsstelle am Gesundheits-
             psychisch kranken Eltern                              amt, Landratsamt Rhein-Neckar-Kreis
             Ein Erfahrungsbericht                4                (Bericht von Heidi Flassak)         32

            Kind einer psychisch kranken Mutter                  Sozialpsychiatrischer Dienst für
             S. K., Erfahrungen -                                  psychisch kranke Menschen,
             Tagebuchaufzeichnungen              10                Diakonisches Werk Heidelberg (Bericht
                                                                   mit Fallbeispiel von Birgit Hanpft) 33
            Selbsthilfegruppe für erwachsene
             Kinder psychisch kranker Eltern                      Betreutes Wohnen für psychisch
             Warum eine Selbsthilfegruppe für                      kranke Menschen:
             erwachsene Kinder?                     14              Sozialpsychiatrischer Hilfsverein
                                                                      Wiesloch (Bericht mit Fallbeispiel
                                                                      von Annemarie Damm)                35
        2. Beratung und Betreuung von Kindern
           psychisch kranker Eltern                                   Heidelberger Werkgemeinschaft
                                                                       (Bericht mit Fallbeispiel von
            BALANCE - Beratungs- und Orientie-                        Carola Kreuzburg)                 37
             rungsangebot für Kinder psychisch
             kranker Eltern des Zentrums für Psycho-
             soziale Medizin, Universitätsklinikum             4. Psychiatrische Behandlung psychisch
             Heidelberg (Bericht von Christl Bött-                kranker Eltern
             cher-Herget und Brigitte Bach-Ba)     16
                                                                  Psychiatrisches Zentrum Nordbaden
            „KipkE“ - Ansprechpartner für Kinder und               Mutter-Kind Behandlung bei
             Jugendliche aus Familien mit psychischer                postpartalen Störungen
             Erkrankung, Bürgerkreis für psychosoziale               (Bericht von Elvira Rave)       39
             Arbeit e.V., Sinsheim (Bericht mit Fallbei-
             spiel von Christine Mohler)            21                Mutter-Kind Behandlung bei
                                                                       psychischen Erkrankungen der
            „Kinder psychisch kranker Eltern“,                        Mutter, Schwerpunkt Persönlichkeits-
             Kooperationsprojekt des Diakonischen                      störungen (Bericht von Bernd
             Werks im Neckar-Odenwald-Kreis                            Abendschein)                      40
             (Bericht von Josette Binder-Wais)
             Informationsblatt für Eltern       26                Psychiatrische Universitätsklinik
                                                                   Heidelberg
            Kinderprojekt „KiP“, Weinsberger                       Mutter-Kind Behandlung in der
             Hilfsverein für psychisch Kranke e.V.                   Allgemeinpsychiatrie
             (Bericht von Christiane Baum)         30                (Bericht von Dr. Corinna Reck)      42

                                                           2
Kinderpsy_251007     30.10.2007        12:44 Uhr         Seite 3

        Gliederung

        5. Kinder- und Jugendhilfe /                              „Zwickmühle“ - Selbsthilfegruppe für
           Pädagogischer Bereich                                   Frauen mit postpartalen psychischen
                                                                   Erkrankungen in Heidelberg, Zentrum für
            Allgemeiner Sozialer Dienst des Amtes                 Psychosoziale Medizin, Universitäts-
             für Jugend und Soziales der Stadt                     klinikum Heidelberg                  53
             Weinheim (Interview mit Horst
             Dörsam)                             43               Schulprojekt im Verlauf der Projektzeit
                                                                   von „KipkE“, Bürgerkreis für psycho-
            Hilfemöglichkeiten für Kinder psychisch               soziale Arbeit e.V. (Christine Mohler) 54
             kranker Eltern des Gesundheitsamtes,
             Abteilung Kinder- und Jugendgesund-                  Antistigma-Arbeit an Schulen in Wies-
             heit, Landratsamt Rhein-Neckar-Kreis                  loch, Sozialpsychiatrischer Hilfsverein
             (Fallbeispiel von Dr. Britta Raue und                 e.V. (Koordination: Annemarie Damm
             Horst Münch)                          45              und Stefan Krauth)                     55

            Sozialpädagogische Familienhilfe                     Präventionsarbeit in außerschulischen
              AGFJ Familienhilfe-Stiftung                         Institutionen für Kinder; Fortbildung
               Heidelberg (Interview mit                           über psychische Erkrankungen für die
               Rainer Metzger)                    47               Abteilung Kindertagesstätten Heidelberg,
                                                                   Sozialpsychiatrischer Hilfsverein e.V.
               Jugendamt, Rhein-Neckar-Kreis                      (Annemarie Damm)                       56
                (Fallbeispiel von Waltraud Warth) 50
                                                                  Psychologische Beratung für Kinder
               Bürgerkreis für psychosoziale Arbeit               und Jugendliche im Internet:
                e.V. Sinsheim (Fallbeispiel von                    www.von-mir-aus.de, Psychologische
                Christine Mohler)                  21              Beratungsstellen in Heidelberg und
                                                                   im Rhein-Neckar-Kreis              57
            Kinder psychisch kranker Eltern im
             Kindergarten                                         Notinsel-Projekte im
             Möglichkeiten – Grenzen – Wünsche                     Rhein-Neckar-Kreis                    58
             (Bericht von Brigitte Hübinger)    51
                                                               7. Anhang

        6. Prävention                                             Hilfreiche Ansprechpartner
                                                                   und Adressen                          59
            „Hand-in-Hand“ - Perinatales Präventions-
             netz im Rhein-Neckar-Kreis, Psychiatri-
             sches Zentrum Nordbaden und
             Jugendamt des Landratsamtes Rhein-
             Neckar-Kreis                           52

                                                           3
Kinderpsy_251007      30.10.2007        12:44 Uhr       Seite 4

                                                                                 1. Die Kinder psychisch kranker Eltern

        „Schau mich an, damit ich weiß, wer ich bin!“
        Über die Bedürfnisse von Kindern mit psychisch kranken Eltern

        Ein Erfahrungsbericht                                   will das Augenmerk auf einen der zentralen
                                                                Aspekte lenken, den sich das Kind hat erst erar-
        Vorbemerkung                                            beiten müssen: Die Wieder-Wahrnehmung des
        Der folgende Bericht will den Blick auf zwei            eigenen Schamgefühls.
        Momente einer individuellen Entwicklung rich-
        ten, die chronologisch aufeinander folgen: Die          R Erster Teil
        Situation und Bedürfnisse eines Kindes, das             Das Kind einer psychisch kranken Mutter:
        unter dem Umstand der Mutter, die paranoid-             Gesehen werden
        schizophren ist, zu leben hat, und die Situation
        und Bedürfnisse des gleichen, aber nun erwach-          Als ich 11 Jahre alt war, brachte sich mein Vater
        senen Kindes, das versucht, sich von eben dieser        um. Wenige Jahre darauf zeigte meine Mutter
        Mutter zu lösen. Dieser Bericht ist dabei zum           erste Ansätze einer psychotischen Erkrankung,
        einen ein individueller, persönlicher Bericht und       was zum Zeitpunkt des Suizides des Vaters für
        zum anderen kann die Mannigfaltigkeit der               uns – meinen zwei Jahre jüngeren Bruder und
        Bedürfnisse von Kindern psychisch kranker               die Großeltern mütterlicherseits – noch nicht
        Eltern, erwachsen oder nicht, nicht mit nur             erkennbar war. Was war geschehen? Eines Tages
        einer Darstellung abgedeckt werden. Aus diesen          unterbreitete mir meine Mutter den Plan, dass
        beiden Gründen muss dieser Bericht deutliche            wir bald mit dem Rektor meiner Schule zusam-
        Grenzen ziehen und ist sich dabei seiner                menziehen würden. Zugegeben, eine reizvolle
        Beschränktheit bewusst. Eine Verallgemeine-             Vorstellung für einen Sechstklässler, war sie
        rungsfähigkeit des Folgenden liegt dabei nicht          doch verbunden mit einem Statusanstieg, mit
        im primären Interesse des Autors, vielmehr              einem Gefühl der Anerkennung, auch wenn ich
        kann es nur als Versuch gelten, das Erlebte als         dies mit diesen Worten damals nicht habe aus-
        aussagekräftiges Beispiel anzuführen. Ob dieses         drücken können. Trotzdem: Ich blieb skeptisch
        dann auch auf andere Kinder in gleicher Situati-        und wartete ab, was passieren würde. Zu
        on übertragen werden kann, soll der Beurtei-            unglaublich, wenn auch schmeichelhaft,
        lung des Lesers überlassen bleiben – nicht              erschien mir diese Entwicklung in meinem
        zuletzt deshalb, weil es sich im Folgenden um           Leben. Vielleicht hatte ich damals schon
        subjektiv normative Ausführungen handeln                gespürt, dass ein wichtiges Element im
        muss, von denen der Autor nur für sich selbst           Umgang mit dem Tod meines Vaters fehlte: Die
        behaupten kann, dass sie so wie beschrieben             kollektive Familientrauer. Kurz gesagt: Das ging
        zutreffen, wenngleich auch die Hoffnung                 mir etwas zu schnell. Nicht, dass ich es nicht
        besteht, dass andere darin etwas für sich               auch gewünscht hätte, sofort mit dem Rektor
        Brauchbares finden mögen – egal ob Fachmann             zusammen eine neue Familie zu sein, aber mein
        oder Laie. Der erste Teil handelt vom 14-jähri-         Gefühl konnte keinen Einklang erfahren und es
        gen Kind, das sich wünscht, von seiner Umwelt           sollte Recht behalten. Nach einiger Zeit passier-
        in seiner Lage erkannt zu werden; der zweite            te nämlich immer noch nichts in dieser Rich-
        Teil vom nun erwachsenen Kind, das auf der              tung, außer den immer wieder aufs Neue vorge-
        Suche nach seiner Identität ist. Der dritte Teil        tragenen Absichten meiner Mutter: „Ja, es wird

                                                            4
Kinderpsy_251007         30.10.2007              12:44 Uhr   Seite 5

        1. Die Kinder psychisch kranker Eltern

        bald passieren, wir treffen ihn bald…“ Die Ereig-          ser Stelle entwickelte sich ein Bedürfnis, das als
        nisse, die sich stattdessen zutrugen, bekräftig-           veranschaulichendes Beispiel für das gelten soll,
        ten hingegen meine Befürchtungen: Meine Mut-               was an vielen anderen Stellen, mit vielen ande-
        ter fing an, meinen Rektor zu belästigen. Sie              ren Menschen meines Umfeldes auch geschah:
        stand nachts vor seinem Haus und warf Steine               Ich fragte mich, was er wusste. Ich fragte mich,
        ans Fenster oder überraschte des Sonntags mit              wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte.
        einem Kuchen in der Hand vor seiner Haustür.               Doch darauf hatte ich keine Antwort und ver-
        Ich spürte, dass ihr Interesse auf keine gegen-            suchte nur, so gut wie möglich den Anschein
        seitige Entsprechung stieß, ja, dass gar eine Art          des normalen Schülers zu wahren, um hinsicht-
        Kampf stattfand, ein Bedrängen – und das berei-            lich meiner familiären Situation nicht aufzufal-
        tete mir Unbehagen. Denn damit verwandelte                 len.
        sich die freudige Erwartung in bedrückende                 Und dabei hätte ich mir vor allem eines
        Scham und Angst, denn die Aktionen meiner                  gewünscht: Dass er auf mich zukommt und
        Mutter fanden zu jeder Tageszeit statt, verlager-          sagt: „Ja, ich weiß um Deine Situation.“ Dass er
        ten sich aber immer mehr auf die Zeit der Dun-             sagt: „Ich kann Dir leider nicht helfen, aber ich
        kelheit. Wie ich Jahre später erfuhr, stattete der         weiß, dass es schwer für Dich sein muss.“ Dass
        Rektor meinen Großeltern einmal einen Besuch               er also nichts anderes ausdrückt als: „Ich sehe
        ab, um diese über die Ereignisse und Aktionen              Dich“ und nicht stattdessen durch die Flure des
        ihrer Tochter aufzuklären. Leider stieß er dort            Gymnasiums läuft und mir dabei begegnet, als
        auf meine von Scham erfüllte Großmutter,                   sei ich ein weiterer unter den vielen unbekann-
        deren Reaktion vorwiegend darin bestand, sich              ten Schülern. Doch mein Wunsch blieb unerfüllt
        selbst die empfundene Schmach, die die eigene              und es versetzte mich in tiefe Unsicherheit, weil
        Tochter über die Familie gebracht hatte, nicht             sich dadurch nur der Eindruck verschärfte, dass
        einzugestehen, und die darauf eine „Es-wird-               sich meine Situation nicht wirklich von der
        schon-wieder-werden“-Haltung einnahm. Eine                 anderer Kinder unterscheidet und dass es
        Haltung, die sich als fatal herausstellen sollte,          gewollt ist, so zu tun, als sei nichts. Aber es
        denn es geschah daraufhin nichts, was in                   kam, wie bereits angedeutet, auch sonst nie-
        irgendeiner Weise zur Behandlung meiner Mut-               mand auf mich zu: Weder die Nachbarn, noch
        ter geführt hätte, und das sollte auch so blei-            die Eltern von Mitschülern, noch das Jugend-
        ben. Und was geschah mit mir? Im Laufe der                 amt, als meine Mutter Jahre später zwangsein-
        Zeit entwickelte meine Mutter immer mehr ihre              gewiesen wurde. Waren sie alle selbst überfor-
        Psychose. Die Anzeichen für eine geistige Krank-           dert? – Ich weiß es nicht. Kamen sie vielleicht
        heit verdeutlichten sich in ihren Ausprägungen:            doch auf mich zu, doch ich ließ sie nicht gewäh-
        Sie sprach zu Menschen, die nicht im Raum                  ren? – Ich weiß es nicht. Diese Fragen sollen
        waren, sie beschimpfte die Nachbarn und gute               lediglich dazu dienen, ein Gefühl für die Schwie-
        Bekannte und warf ihnen Verschwörungen vor,                rigkeit der Beurteilung der damaligen Lage aus
        deren Aktionen alleine gegen unsere Familie                meiner Sicht zu vermitteln. Ich weiß zwar mit
        gerichtet seien. Bei all dem ging mir mein Rek-            Sicherheit, dass ich nie von meinem Rektor
        tor nicht aus dem Kopf. Wie konnte er auch,                angesprochen wurde – denn wenn einen der
        denn meine Mutter hatte ihre Idee noch immer               eigene Rektor anspricht, dann vergisst man das
        nicht ganz vergessen und von Zeit zu Zeit sah              als Schüler in der Regel nicht – und daher dient
        ich ihn im Schulgebäude – und er sah mich.                 er auch als bestes Beispiel in diesem Zusammen-
        Aber kannte er mich auch? Wusste er, wer ich               hang. Ich weiß auch, dass ich mir sehr verloren
        war? Wusste er, wer meine Mutter war? An die-              und wie ein Einzelkämpfer vorkam, der alle Ver-

                                                               5
Kinderpsy_251007      30.10.2007        12:44 Uhr        Seite 6

                                                                                    1. Die Kinder psychisch kranker Eltern

        antwortung selbst zu tragen hat. Aber so haben           Vergangenheit. So unglaublich es erscheinen
        sich sicherlich auch viele Dinge auf subtilere Art       mag: Ich habe mich einfach gewehrt, die Aus-
        und Weise zugetragen, die mir deshalb nicht so           wirkungen meiner Vergangenheit auf mein jet-
        greifbar sind, wie das oben Beschriebene. Schon          ziges Leben anzuerkennen und anzunehmen,
        die Frage „Wie geht es Dir?“ kann als solches            obwohl es ja kognitiv betrachtet nur allzu offen-
        begriffen werden, liegt darin doch der erste –           sichtlich zu sein scheint. Daran wird für mich
        wenn ernst gemeinte – Versuch, sich dem                  vor allem deutlich, wie stark die Verdrängungs-
        Gegenüber zu nähern. An dieser Stelle habe ich           arbeit von mir selbst war – und noch immer ist.
        mit Sicherheit abgeblockt und gesagt: „Gut.“             Ich meine damit Ängste in ihrer diffusen und
        Und was soll der andere dann darauf sagen?               vielfältigen Form. Bei allem Anschein des per-
        Mein Wunsch, mein Bedürfnis, müsste demnach              sönlichen Fortschritts, der sich hier für den
        eine Eigeninitiative von außen fordern, die nicht        Leser über die dargestellten Erkenntnisse der
        darin besteht zu fragen, sondern zu sagen wie            Selbstreflektion ergeben muss, so ist noch
        es mir geht. Nicht: „Wie geht es Dir?“, sondern          nichts für mich persönlich zu irgendeinem
        „Ich weiß, Dir geht es nicht gut.“ Damit betrete         Abschluss gekommen – und das wird es wohl
        ich ein schwieriges Feld, denn wer traut sich            auch nie. Ziel ist es, mein Berufs- und Privatle-
        dies im Alltag zu? Wer ist die richtige Person,          ben unter einen Hut zu bringen, mich also nicht
        dies zu tun? Bei aller Schwierigkeit dieser Fra-         durch meine Arbeit auffressen zu lassen, mich
        gen, möchte ich an dieser Stelle nochmals beto-          aber auch nicht in meinen therapeutischen
        nen, dass mir die Anerkennung des Rektors, das           Bemühungen zu verlieren. Das ist deshalb nicht
        „Gesehen werden“, wichtig war. Dies zum einen            so einfach, weil gerade die Arbeitswelt den
        deshalb, um nur die Vertracktheit der Situation          Zwang zum „Normalsein“ impliziert. Es besteht
        zu veranschaulichen, in der ich mich befand:             hierbei die Gefahr, dass ich mich selbst dabei
        einen Wunsch zu haben, dessen Erfüllung an               vergesse und nicht genug darauf achte, auch
        gesellschaftlichen Konventionen scheitert, und           einen Ausgleich dafür zu schaffen, meiner Seele
        zum anderen, weil es, als theoretischer Faden            etwas Gutes zu tun. Also das zu vermeiden, was
        begriffen, seine Fortsetzung, wenn auch in               mir implizit durch das Verhalten meines Rek-
        anderer Hinsicht, im erwachsenen Alter findet.           tors mitgeteilt wurde: „Tu so, als sei alles in Ord-
        Mit dieser Fortsetzung befasst sich der zweite           nung – ich tue es auch.“ Darauf alleine zu ach-
        Teil.                                                    ten macht die abstrakte Beschreibung aller-
                                                                 dings noch nicht vollständig, ja gar missver-
        R Zweiter Teil                                           ständlich. Es muss erwähnt werden, dass das
        Das erwachsene Kind einer psychisch kranken              pure Schaffen eines Ausgleiches an sich nicht
        Mutter: Identitätsfindung                                reicht (etwa eines Hobbys), denn es bedarf auch
                                                                 der Fähigkeit des Einzelnen, sich diesem Aus-
        Identität ist für sich genommen selbst diffus            gleich hinzugeben. Umgangssprachlich könnte
        und schwer genug zu begreifen. Hinzu kommt,              man sagen: Man muss fähig sein, abzuschalten.
        dass sie sich ändern kann und dies auch konti-           – Und das bin ich nicht. Warum aber ist dem so?
        nuierlich tut. Nachdem mich seit der 11. Klasse          Die einfache Antwort auf diese Frage lautet:
        eine körperliche Belastung plagt – schlicht aus-         Weil ich mich selbst (noch) nicht als der ange-
        gedrückt: Ich werde ständig krank – hatte es             nommen habe, der ich bin! Dies ist deshalb von
        über 10 Jahre gebraucht, bis ich einen Zusam-            Wichtigkeit, weil ein gesundes Selbstwertge-
        menhang herstellen konnte zwischen diesen                fühl, eine zusammenhängende, konsistente
        psychosomatischen Beschwerden und meiner                 Identität, also schlicht die Voraussetzungen für

                                                             6
Kinderpsy_251007         30.10.2007              12:44 Uhr   Seite 7

        1. Die Kinder psychisch kranker Eltern

        ein authentisches Ich einen überhaupt erst in              der Verkürzung der Darstellung durchaus
        die Lage versetzt, sich selbst mit einer gewissen          bewusst bin und auch die damit einhergehen-
        inneren Ruhe zu begegnen. Daraus folgt die                 den Schwierigkeiten hinsichtlich einer daraus
        Frage: „Wer bin ich?“, denn um etwas – mich –              erfolgenden Ableitung von Handlungsvorgaben
        annehmen zu können, muss ich erst wissen, was              glaube zu erahnen. Das Beispiel des Rektors vor
        es anzunehmen gilt. Und damit sind zwei                    Augen besteht die angesprochene Verbindung
        grundlegende Aufgaben benannt, die meinen                  darin, dass niemand auf mich zukam und mir
        bisherigen therapeutischen Weg bestimmt                    von außen deutlich signalisiert hat, was mit mir
        haben.                                                     los war und was meine Situation für mich
        1. Herauszufinden, wer ich bin, was mich defi-             bedeuten muss. Und das ist nach wie vor der
        niert und wie ich mich dabei fühle, und 2. mit             Fall: Es gibt keine Unterstützung von außen, die
        dieser Erkenntnis leben zu können und mich,                Schwelle der Selbsterkenntnis zu überwinden,
        mein Jetzt und meine Vergangenheit zu akzep-               um daraus z. B. Hilfen zu formulieren, die es mir
        tieren. Beides findet ständig und beinahe gleich-          einfacher machen, mich der überbordenden Ver-
        zeitig statt. Dauernd lerne ich etwas Neues über           antwortung, der ich de facto zu Hause ausge-
        mich, und dauernd muss ich versuchen, mit                  setzt war und in meinem inneren Empfinden
        eben diesem Neuen klarzukommen. Erst nach                  noch immer bin, zu entziehen. Während ich
        mehr als drei Jahren Therapiearbeit war ich                innerlich das Gefühl habe, dass etwas nicht
        soweit, mich mit anderen erwachsenen Kindern               stimmt, dieses Gefühl aber nicht einfach so
        von psychisch kranken Eltern in Verbindung zu              annehmen kann, denn dafür brauche ich die
        setzen. Diese Kontaktaufnahme hat insofern                 Außenwelt, begegnet mir jene Außenwelt indif-
        etwas mit Identität zu tun, weil sich die Frage            ferent in Bezug auf meine Probleme und setzt
        „Wer bin ich?“ auch über die Rückmeldungen                 an die Stelle des Umgangs mit diesen Proble-
        anderer, also von außen, beantworten lässt und             men eine Schein-Normalität, die nicht mich,
        auch(!) beantworten muss, denn ich kann für                sondern das Umfeld von Verantwortung befreit.
        mich selbst keine Situationen generieren, in               Mit dieser Unsicherheit habe ich noch heute zu
        denen ich mich kennen lernen kann, ohne dabei              kämpfen. Sie äußert sich in Dingen wie sozialen
        in Kontakt mit anderen Menschen zu kommen.                 Ängsten, geringem Selbstwertgefühl (selbst bei
        Dass der Wunsch, nun auch „Gleichgesinnte“ zu              beachtenswerten Meriten), hohen, selbst
        treffen, so lange auf sich warten ließ, zeigt nur,         gestellten Anforderungen, der Unfähigkeit los-
        wie isoliert ich mich in meiner Situation wahr-            zulassen und abzuschalten und – in letzter Kon-
        genommen habe, oder anders formuliert: Wie                 sequenz – in schlechtem Schlaf mit, wie oben
        stark ich an dem „Glauben“ festhielt, normal zu            schon erwähnt, all seinen körperlichen Konse-
        sein und wie stark die Ängste waren und sind,              quenzen. Um diesen Dingen zu begegnen, um
        sich mit der eigenen Thematik an andere, an                mehr Sicherheit für und mehr Gewissheit über
        Fremde, zu wenden (etwa wegen Stigmatisie-                 mich zu erlangen, suchte ich dann den Kontakt
        rungsängsten) und darüber offen zu sprechen.               zu anderen und gründete eine Selbsthilfegrup-
        Kurz: Es zeigt, wie wenig ich mich selbst ange-            pe. Doch dafür musste ich, wie gesagt, erst
        nommen und daraus Konsequenzen für mein                    bereit werden. Ich musste quasi erst erkennen
        Leben und mein Handeln gezogen habe. Die                   lernen, welche Bedeutung diese für mich hat.
        Verbindung zum ersten Teil dieses Berichtes                Doch die Gruppe kann nur in ihrem geschützten
        herzustellen fällt an dieser Stelle nicht mehr             Rahmen ein Kontext der gegenseitigen Identifi-
        schwer. Dennoch – oder gerade deshalb – möch-              kation sein – und dies in all ihren Facetten, denn
        te ich darauf aufmerksam machen, dass ich mir              jeden bewegt anderes oder gleiches unter-

                                                               7
Kinderpsy_251007      30.10.2007        12:44 Uhr       Seite 8

                                                                                  1. Die Kinder psychisch kranker Eltern

        schiedlich. Der Wunsch danach, in meiner Situa-         Scham als solche noch zu erkennen. Dann wird
        tion gesehen und angenommen zu werden                   es schwierig, eine Antwort auf die Frage zu fin-
        bleibt also. Und er äußert sich in seinen Auswir-       den, was einen belastet. Was mich also belastet
        kungen, also in den oben beschriebenen Unsi-            ist Scham. In dem Moment, in dem die eigene
        cherheiten, in allen möglichen Situationen: Von         Mutter in aller Öffentlichkeit anfängt grundlos
        der Bekanntschaft auf dem Straßenfest bis hin           Menschen wie Nachbarn oder Verwandte zu
        zur romantischen Liebesbeziehung; vom Termin            beschimpfen, empfindet das Kind, der Jugendli-
        auf dem Bürgeramt bis hin zum Gespräch mit              che oder eben jeder Beteiligte ein Schamgefühl,
        dem Vorgesetzten. Der Wunsch bleibt vor allem           weil er sich in eben diesem Moment als mit der
        deshalb, weil mit der bisherigen Situation eine         schimpfenden Mutter identifiziert fühlt. Die
        innere Unruhe einhergeht, die viel Kraft kostet         Außenwelt scheint zu sagen: „Was macht die
        und damit eine Art konstante Belastung für              denn und wer ist das daneben?“ Für einen zufäl-
        mich bedeutet, von der ich mich gerne befreien          lig Beteiligten ist es recht leicht, sich davon zu
        würde. Diese Belastung gründet sich auf der             distanzieren. Dazu genügt oft räumliche
        Angst, ausgestoßen zu werden, eben nicht                Distanz. Für das Kind aber bleibt es schwierig,
        angenommen zu werden. Leider aber stößt die-            sich zu distanzieren. Zum einen, weil es sich der
        ser Wunsch im Erwachsenenalter auf ungünsti-            Mutter gegenüber loyal fühlt, zum anderen weil
        ge Voraussetzungen, weil sich andere Erwachse-          es im eigentlichen Sinne des Wortes abhängig
        ne einen Menschen als Gegenüber wünschen,               ist (etwa finanziell) und zuletzt, weil es gleichen
        der ein gerüttelt Maß an Selbstsicherheit mit-          Fleisches ist. Als Sohn bleibt man Sohn – und
        bringt.                                                 das vor allem in der Wahrnehmung der anderen.
                                                                Frage ich mich nun nach meiner inneren Unru-
        R Dritter Teil                                          he, so gibt mir die Scham folgende Antwort:
        Das Leben als Kind einer kranken Mutter im Rück-        Ich kann mich nicht einfach fallen lassen und
        blick: Aufwachsen mit Scham.                            ruhig werden, weil ich ständig versuche, die
                                                                Scham abzuschütteln. Ständig fühle ich mich
        Das bisher Gesagte kann für sich so stehen              auf dem Prüfstand, weil ich nicht das Gefühl
        gelassen werden. Aber die Betrachtung aller             habe, als der erkannt werden zu können, der ich
        Zusammenhänge oder Lebensbereiche kann                  bin, sondern immer auch als der, von dem ich
        unter verschiedenen Blickwinkeln stattfinden            der Sohn bin. Kurzum: Ich meine, nicht nur
        und jeweils neue Erkenntnisse und Einsichten            meine Persönlichkeit darstellen zu müssen, son-
        liefern. Die Suche nach Selbstsicherheit und            dern auch noch den unglaublich tiefen Graben
        Selbstwertgefühl, nach der Fähigkeit Abzuschal-         zuzuschütten, den das Verhalten meiner Mutter
        ten und ruhig zu schlafen, das Verlangen nach           aufgerissen hat. Ich meine dies, weil ich mich
        versicherndem Kontakt und Rückmeldung sind              für sie schäme – und weil ich mich für mich
        alles Kontexte, die sich auch unter dem Aspekt          schäme, denn sie ist ein Teil von mir.
        der Scham verstehen lassen. Und vielleicht ist          Frage ich nach meinem fehlenden Selbstwertge-
        die Scham gar eines der zentralsten Momente             fühl, so gibt mir der Blick auf die Scham die Ant-
        im Kampf um das eigene Wohlbefinden.                    wort, dass ich eigentlich nichts für mich selbst
        Scham zu erkennen fällt eigentlich nicht schwer,        aufbauen kann, auf das ich stolz sein kann. Die-
        so könnte man meinen. Was aber passiert, wenn           ses ändert nämlich nichts an der Situation mei-
        dieses Gefühl ständig da ist und durch einen            ner Mutter. Und damit bleibt die Scham da,
        dauernden Verdrängungsprozess zur Normali-              unerreichbar, sich mir entziehend – und sie
        tät wird? Dann wird es recht schwierig die              lähmt mich. Sie lähmt mich auch, Dinge zu

                                                            8
Kinderpsy_251007         30.10.2007              12:44 Uhr   Seite 9

        1. Die Kinder psychisch kranker Eltern

        genießen, denn dazu gehört, loslassen zu kön-              Wahrscheinlich als Schutzfunktion, wahrschein-
        nen. Doch nichts erfreut mich, denn nichts wün-            lich als natürliche Reaktion eines jeden Kindes,
        sche ich mir sehnlicher, als das Ende des Scham-           das einfach vorangehen will und sich nicht mit
        gefühls.                                                   langwierigen Selbstreflexionen aufhalten kann.
        Dieses Gefühl ist so allumfassend, so überbor-             Kurzum, ich musste das Schamgefühl gerade
        dend und alles bestimmend, dass sich kein                  beiseite schieben, um weiterleben zu können.
        Lebensbereich davon ausklammern lässt. Auch                Die Belastung wäre wohl zu groß gewesen.
        hier lässt sich die Aufzählung von oben wieder-            Umso mehr wäre die Anerkennung von außen in
        holen: Von der Bekanntschaft auf dem Straßen-              diesem Sinne gebraucht worden, die mir hätte
        fest bis hin zur romantischen Liebesbeziehung;             mitteilen können, dass ich mich nicht so zu schä-
        vom Termin auf dem Bürgeramt bis hin zum                   men brauche, denn ich bin nicht meine Mutter,
        Gespräch mit dem Vorgesetzten. Überall schä-               denn ich bin auch so gut, denn ich muss nicht
        me ich mich! Aber nicht, wegen der jeweiligen              für die Art und Weise meiner Mutter gerade ste-
        Situation selbst, sondern weil ich Angst davor             hen. Bekannte, öffentliche Stellen und Großel-
        habe, als der „Sohn von X“ erkannt zu werden;              tern haben, so muss ich leider sagen, in dieser
        weil ich Angst davor habe, mich plötzlich für              Hinsicht entweder nichts geleistet, oder gar die-
        etwas rechtfertigen zu müssen, das ich gar nicht           ses Gefühl der Verantwortungsübernahme gera-
        getan habe, das ich gar nicht bin. Und obwohl              de noch verstärkt, das in die gleiche Kerbe der
        gar keine Anzeichen dieses Argwohns der Ande-              Scham geschlagen hat: DU hast damit zu tun!
        ren zu sehen sind, schäme ich mich dennoch.                DU gehörst dazu! Und DU wirst dabei zur
        Denn wer kann mir glaubhaft versichern, dass               Rechenschaft gezogen!
        die anderen nicht vielleicht doch etwas denken?            Dieser Zusammenhang erfährt seine Ironie in
        Dies grenzt an Paranoia und mag etwas unreali-             der vertikalen Verantwortlichkeit im deutschen
        stisch erscheinen, doch das ist es nicht. Natür-           Sozialstaatssystem. Als Kind einer psychisch
        lich denke ich nicht: „Was mag der andere jetzt            kranken Mutter wird der Staat wohl auf mich
        denken? Weiß er etwas und sagt es nicht?“ –                zukommen, um von mir finanzielle Unterstüt-
        aber das Gefühl das ich habe, entspricht genau             zung zu fordern, sobald die Mittel meiner Mut-
        diesen zweifelnden Fragen. Hierbei kommt die               ter aufgebraucht sind. Auch das empfinde ich
        schon oben angedeutete Angst ins Spiel. Sie                als vereinheitlichende Wahrnehmung, auch das
        geht Hand in Hand mit der Scham, denn ich                  heißt für mich, dass eigentlich ich mich für
        fürchte mich vor dem beschämenden Moment                   meine Mutter rechtfertigen muss; dass ich mir
        und ich schäme mich für meine Angst und Unsi-              eigentlich schuldig vorkommen muss.
        cherheit. Wie ich von diesem Moment wegkom-                Wie gesagt, ich weiß nicht, was aus alledem
        me, wie ich die Scham und die Angst und alles,             folgt. Wichtig aber war sicherlich der Schritt, die
        was damit zusammenhängt „besiegen“ kann,                   Scham als Gefühl überhaupt erst wieder realisie-
        weiß ich nicht. Dafür ist mir das alles zu neu.            ren zu können. Die Gründung einer Selbsthilfe-
        Worauf es mir hier ankommt ist, zu zeigen, dass            gruppe und das Bedürfnis nach Kontakt ist
        sich in mir dieses jedem bekannte Gefühl zu                sicherlich ein Indiz auf dem Weg dorthin, denn
        einem versteckten Gegner entwickelt hat, den               man könnte das auch folgendermaßen ausdrük-
        es erst wieder zu entdecken galt: Die Scham war            ken: Ich konnte meine Scham zumindest soweit
        immer und überall dabei, sie war der Wald, den             überkommen, dass der Kontakt zu anderen Kin-
        ich vor lauter Bäumen nicht mehr sah. Sie grub             dern nun möglich war. Ein Kontakt, der in mei-
        sich in die Tiefen meines Selbst und ich wollte            nem Verständnis unbedingt nötig ist, aber dazu
        sie nicht wahrhaben. Aber warum?                           musste er erst möglich werden. Formelle oder

                                                               9
Kinderpsy_251007      30.10.2007        12:44 Uhr        Seite 10

                                                                                   1. Die Kinder psychisch kranker Eltern

        organisatorische Vorbedingungen gilt es dazu              der „Öffentlichkeit“ und im Leben zu kämpfen.
        zu erfüllen, wie etwa, dass eine solche Gruppe            Aus diesem Grunde ist das Interesse an einer
        überhaupt besteht. Aber auch und gerade die               zunehmenden Verbreitung des Themas „Kinder
        innere Möglichkeit muss da sein, denn ohne                psychisch kranker Eltern“ sehr groß, da sich nur
        Mitglieder ist jede Gruppe nichts. Diese Mög-             so die Stigmata und die Ängste auflösen können.
        lichkeit gründet auf einer Verringerung des               Der Zugang zum eigenen Verständnis wird näm-
        Schamgefühls, sich anderen zu öffnen, sich als            lich ungleich schwieriger gemacht, wenn man
        das zu zeigen, was man ist. Dies fällt leichter,          der „Außenwelt“ nicht offen begegnen kann und
        wenn man vom Umfeld gesehen wird, wenn das                dabei nach innen immer eine Art Doppelleben
        Umfeld signalisiert, dass man nicht mit seiner            führen muss: Ich als Ich und Ich als der, der ich
        Mutter gleichgesetzt wird.                                sein soll. „Gesehen werden“ ist also noch immer
        Das erwachsene Kind sucht also noch immer                 wichtig, aber mit anerkennender Toleranz, nicht
        nach Anerkennung und will gesehen werden, hat             mit Verachtung, denn Kinder psychisch kranker
        aber nun vielmehr bzw. jetzt erst recht mit der           Eltern brauchen es für ihr Selbstverständnis, sie
        Angst der Stigmatisierung und mit der Scham in            brauchen es für ihre Identität.

        Kind einer psychisch kranken Mutter
        S. K.
        Erfahrungen - Tagebuchaufzeichnungen

        Er 17, sie 15 Jahre alt, als ihre Jugend dem Krieg        weil ich ein Kind war, sehr lebendig, umtriebig
        zum Opfer fiel. Meine Eltern. Entwurzelt und              und laut. Oft hat sie mich einsperren müssen.
        vertrieben in der sensiblen Phase des Erwa-               Badezimmer fensterlos, Lichtschalter draußen.
        chens zum bewussten Sein und Wachsen. Sie                 Da musste ich drin bleiben bis ich ganz still und
        sprachen nie von Vergangenem, aber nachts in              keine Tränen mehr - nur noch atmen. Wenn sie
        ihren Träumen, da habe ich sie manchmal schrei-           dann aufschloss, sprach sie kein Wort, blickte
        en hören, da war ich noch sehr klein                      mich nur an und ich verstand, dass ich schlecht
        Wenn Gott wirklich so allmächtig und weise ist            und böse.
        wie er uns dargestellt wird, warum lässt er dann          Als ich in die Schule kam, begriff ich, dass es
        Menschen nicht erst dann Kinder bekommen,                 noch eine andere Sylvie geben musste. Hier
        wenn dieser nicht nur körperlich sondern auch             hatte ich keine Schwierigkeiten, war beliebt und
        seelisch reif ist? Mich jedenfalls gäbe es dann           fröhlich. einfach ein ganz normales Kind.
        nicht. Meinen Glauben gibt es auch nicht mehr.            Die Schule blieb meine Rettung, obwohl wir, bis
        Gestorben an dieser Frage, da war ich 16.                 ich sie beendete, sieben Mal umgezogen sind.
        Meine Mutter blieb 6 Monate eines jeden Jahres            Entwurzelung und Neubeginn. Beständigkeit
        für die Familie verschwunden. Später erfuhr ich,          nur in zwei Personen. Das kettet. Mit den Jahren
        dass sie dann in der Psychiatrie war und auch,            bekam Mutter die Familie mit ihrer Krankheit
        dass ich daran schuld sei. War die Mutter zu              immer mehr in den Griff. Gab es irgendwelche
        Hause, weinte sie viel und litt sehr unter mir,           Schwierigkeiten, bekam sie Depressionen und

                                                             10
Kinderpsy_251007         30.10.2007              12:44 Uhr   Seite 11

        1. Die Kinder psychisch kranker Eltern

        verschwand. Wie sie verschwand, tauchte Vater               und schreie sie hört mich ist genervt kommt erst
        auf, der Mann, der sonst nur einem Schatten                 als ich schon ganz still geworden bin, zusammen
        gleich, erwachte zum Leben, konnte spielen,                 gesunken und tränenleer, nichts mehr als ein Wim-
        lachen und Unsinn machen. Bald habe ich                     mern und Flehen. Sie schaut sich um und schimpft
        gehofft, sie möge nicht mehr wiederkommen                   über das viele Blut und darüber, dass sie nun schon
        und mich gehasst, ob meines schlechten                      wieder putzen muss.
        Wesens, bald habe ich Vater verachtet, weil er              Sie sieht mich nicht.
        mich einfach allein ließ, tat, als gäbe es mich             Sie sieht mich einfach nicht.
        gar nicht, kaum erschien sie wieder.
                                                                    Mit 12 Jahren habe ich meinen ersten Selbst-
        R Tagebuch:                                                 mordversuch unternommen, wozu brauchte ich
        Mir träumte: Ein Schloss. Da ist alles ganz weiß,           noch einen Körper? Sie brachte mich in die
        Böden. Decken, Türen, Türklinken.                           Psychiatrie und Tabletten sollten helfen. Ich war
        Und ganz leer. Kein Mobiliar, keine Bilder. Ich irre        noch sehr jung, aber ich wusste, dass sie es
        durch Hallen. Gänge, Zimmer und suche meine                 nicht taten, meine Mutter war das beste Beispiel
        Eltern, denn ich weiß ich bin hier zu Hause. Ich            dafür. Ich denke, es war auch der Zeitpunkt, da
        renne und schreie, werde immer verzweifelter, weil          ich begriff, dass von außen nie Rettung kommen
        da einfach niemand ist. Renne und schreie bis an            würde und ich sie in mir selbst finden musste.
        Atemlosigkeit schier erstickt. Und ich falle nieder         Ich flüchtete. Schuf mir eine ganz eigene, ge-
        und weine den Teppich rot. Ein Ozean hellroter Trä-         heime Welt, zu der niemand Zutritt hatte. Eine
        nen der wogt und zischt und leckt vom Boden die             Welt in der ich Träume, Wünsche, Hoffnungen
        Wände zur Decke hinauf. Ich blute das Schloss rot           leben konnte. Eine Welt, der die andere Welt
        bis ich ganz leer und still.                                nichts anhaben konnte. Und ich begann zu
                                                                    schreiben. Tagebuch. Buch um Buch, seit mei-
        Berührungen waren in unserer Familie eine Sel-              nem 12. Lebensjahr.
        tenheit, fast ein Tabu. Als ich älter wurde, fielen         Irgendwie zerfiel ich in zwei Teile, der eine zog
        selbst die, mich in ein dunkles Zimmer zu zerren            sich immer mehr in sich selbst zurück, der ande-
        weg und das war fast genauso schlimm wie das                re funktionierte nach außen hin immer besser.
        Schweigen mit dem ich nun gestraft wurde. Wie               So hat niemand etwas bemerkt. Alles womit ich
        lange das Schweigen dauern würde, wusste ich                nunmehr umgehe musste, waren Äußerlichkei-
        nie und es konnte schon geschehen, dass 14                  ten, denn meine Mutter bestimmte alles. Sie
        Tagen lang niemand mit mir sprach, niemand                  wollte eine blonde Tochter, also färbte sie mein
        mich zu sehen schien. Das ist als gäbe es dich              Haar, sie liebte grelle Farben, also musste ich in
        gar nicht. Das ist wie tot sein.                            orange, lila, hellgrün herumlaufen, sie bestimm-
                                                                    te die Zimmereinrichtung bis hin zu den Bildern
        R Tagebuch                                                  an der Wand. Als ich magersüchtig wurde,
        Mir träumte: Mutter und ich allein zu Hause. Sie ist        begriff sie nicht, warum mich der Arzt in die Kli-
        in einem Zimmer, ich in unserem weißgekachelten             nik einwies, ich gefiel ihr, mager und ohne
        Badezimmer. Ich bin verzweifelt und schmerzer-              Anzeichen welchen Geschlechtes.
        füllt und greife zu einem Messer, das riesig groß
        und sehr scharf. Ich schneide mich an ganzem Kör-           R Tagebuch:
        per auf, bin plötzlich überwältigt vom Anblick mei-         Und der Tod? Was soll so schrecklich sein an ihm?
        nes Blutes, dem Brüllen des Schmerzes, dass ich             Was soll schrecklicher sein als diese Tage an denen
        anfange zu schreien nach der Mutter. Ich schreie            nichts ist niemand und nicht ich. Ich will weg alles

                                                               11
Kinderpsy_251007        30.10.2007          12:44 Uhr         Seite 12

                                                                                          1. Die Kinder psychisch kranker Eltern

        los sein der Schutt der ich bin und den ich geschaf-           Ich will keine Nähe mehr zu anderen Menschen.
        fen habe weg nur weg und schlafen ohne Erinne-                 Manche reden Liebe und wenn ich das glaube gibt
        rung erwachen und unschuldig sein und umherlau-                ihnen das die Macht mich zu stoßen ins Dunkle
        fen mit offener Seele und riechen schmecken füh-               und ich habe doch so entsetzliche Angst davor.
        len und schauen und neugierig sein und erstaunen
        ob all der Wunder die tausendfach überall. Ich                 Mit 18 habe ich mich als Au-Pair nach Irland
        habe sie so satt meine Gegenwart meine Vergan-                 beworben und bin einen Tag nach meinem
        genheit in mir ist Gift und Galle möchte schreien              Schulabschluss abgereist. Das hat sie mir bis
        und schreien nie mehr aufhören klirrend greller                heute nicht verziehen.
        Ton bis alles zerspringt.                                      Die Familie zu verlassen hieß nicht ein neues
        Keiner merkt wie es mir geht, weil ich meine Rolle             Leben zu beginnen. lm Gegenteil. Ich blieb dem
        perfekt beherrsche. Innen drin da krepiere ich so              auf der Spur, was mir versagt geblieben war.
        unsagbar langsam unsagbar qualvoll dass da nur                 Liebe Wärme Geborgenheit. Verdammte Falle,
        noch Entsetzen noch lange denken zu müssen es                  denn ich suchte das, was ich als Liebe gelernt
        nicht zu schaffen mich zu töten.                               hatte inszenierte mir wieder und wieder Welt
                                                                       die ich kannte in Menschen denen ich reine
        Als ich ungefähr 17 Jahre alt war und lieber                   Benutzbarkeit, kalte Gleichgültigkeit.
        im Wald herumstreunte und auch manchmal                        Meine Sehnsüchte waren andere. Aber die
        draußen schlief, fiel ihr auf, dass ich anders                 glaubte ich mir nicht.
        war, als andere Mädchen meines Alters.
        Dieses Mal zu recht. Sie drängte mich, mit                     R Tagebuch:
        Freundinnen abends wegzugehen, aber meist                      So schrecklich ein Morgen alle Dinge in diesem Zim-
        wurde nichts daraus, weil sie, wollte ich gehen,               mer so leblos ich öffnete die Augen und blickte und
        zu weinen begann, ich dürfte sie nicht allein las-             brach ein in die Starre der Gegenstände. Da atmete
        sen. Sie ließ mich nur gehen, wenn sie die Ver-                Gleichgültigkeit ich blieb liegen und hörte auf zu
        abredung ausgemacht hatte. Verabredungen                       atmen bis es zu sehr wehtat. Die Uhr! Das Ticken der
        mit Arbeitskollegen meines Vaters, Verabredun-                 Uhr monotones Gleichmaß das macht verrückt und
        gen mit Männern, die mein Vater hätten sein                    ich bin dann doch aufgestanden. Mir träumte: Ich
        können.                                                        sitze nackt auf dem Boden meines Zimmers. Wände,
                                                                       Decke, Boden, alles ist mit rohen, roten Fleisch
        R Tagebuch                                                     bedeckt. Maden und Würmer kräuseln und kringeln
        Da lebt dieses entsetzliche Klagen wieder auf und              sich, fressen sich ohne Einhalten durch das stinken-
        nichts lebt in mir als grelle Angst. Bin in den Wald           de Fleisch. Manche fallen auf mich und ich weiß
        gelaufen. Moosiger Boden der weich und warm und                nicht, was sie mit mir tun. Schier unerträglich der
        ich ließ mich fallen und weinte musste husten und              Geruch nach verwesendem Fleisch. Blutstropfen fal-
        merkte daran ich lebe atme pulsiere merkte wie ich             len in meine Augen. Die Zimmertür steht weit auf
        es hasse und mein Taschenmesser berührt mein                   und ich sehe, dass draußen alles licht und freundlich
        Handgelenk. Ich sehe Blut. Mein Blut. Bin getröstet.           ist. Ich weiß ich könnte aufstehen und einfach
        Als das Blut versiegt bin ich wieder allein und klein          gehen, aber ich will nicht, fühle mich hier zu Hause
        und einsam und so dunkel die Welt und habe                     und sitze weiter still und schaue.
        geweint nach der Mutter, aber alles bleibt kalt und
        still und ich liege gekettet in Verzweiflung, zersplit-        Irgendwann sind alle Energien verbraucht. Tod
        terte Augen, elendes Bündel Nichts, das Dunkel                 ich sehnte mich nach nichts als nicht mehr den-
        bezwingt den Ungehorsam.                                       ken, nicht mehr fühlen zu müssen. Als ich

                                                                  12
Kinderpsy_251007         30.10.2007              12:44 Uhr       Seite 13

        1. Die Kinder psychisch kranker Eltern

        28 Jahre alt war unternahm ich mehrere Selbst-                    geschafft. Darin schlummert wenn auch in
        mordversuche, aber untalentiert. Psychiatrie                      Maske die Wahrheit in jedem Wort.
        nur Apathie und Tabletten. Ich verstummte.                        Text einer 46 jährigen Frau, Tochter einer psy-
        Sprach ein halbes Jahr kein Wort mehr. Etwas                      chisch kranken Mutter, geschrieben aus der Sicht
        später begann ich eine Therapie habe noch                         ihrer Kindheit anlässlich einer Bürgerkreis-Austel-
        Jahre gebraucht mir selbst gewahr zu werden,                      lung im Rahmen des KipkE-Projektes 2001.
        ohne mein Blut sehen zu müssen ohne Rasier-                       Die Installation in der Ausstellung bestand aus
        klingen unter dem Kopfkissen zu schlafen.                         einem ca. 2 x 3 m großen schwarzen Spinnen-
        Jahre gebraucht, um mich und meine Geschich-                      netz vor gelbem Hintergrund, in dem unzählige
        te zu begreifen auch die meiner Eltern Jahre                      kleine Menschenfiguren sich bewegen, balancie-
        gebraucht vom Überleben ins Leben zu kom-                         ren, zu fallen drohen, sich festhalten, aufgefan-
        men. Ohne meine Tagebücher hätte ich es nicht                     gen sind usw.

                                                                          Wenn die Last immer schwerer
                                                                          und die Verantwortung immer größer,
                                                                          der Wunsch sich vor der Welt zu verstecken
                                                                          oder sich wegzuträumen wächst,
                                                                          der Kampf zermürbt
                                                                          und die Hoffnung schwindet,
                                                                          die Angst übermächtig
                                                                          und dem Balanceakt der Fall gewiss,
                                                                          wenn psychische Erkrankung
                                                                          zur drückenden Zeitbombe wird,
                                                                          dann tut es gut
                                                                          .von anderen gehört,
                                                                          .. gesehen,
                                                                          ... angesprochen zu werden.

                                                    Sylvia Kreutz
                                                  Titel: Ertrinken

                                                                     13
Kinderpsy_251007      30.10.2007        12:45 Uhr       Seite 14

                                                                                  1. Die Kinder psychisch kranker Eltern

                                                     A.P.
        Immer wieder
           Reiche ich Dir die Hand
        Immer wieder
           Erfahre ich Demütigung
        Immer wieder
        Erlebe ich Abwertung
        Das Unvermögen
        Ein anderes Leben zu begreifen
        Immer wieder
           Sehe ich Verzweiflung
        Immer wieder
           Spüre ich gescheiterte Bindungen
           Ich kann mich so schwer
           Von deinem Gefängnis abwenden
        Immer wieder
           Reiche ich Dir die Hand
           Die Trauer überwältigt mich
           Weil ich verstanden habe
           Dass Dir niemand helfen kann
           Du hast nicht aufgegeben
           Du wartest
        Ich kann nicht anders
        Immer wieder

        Selbsthilfegruppe für erwachsene Kinder
        psychisch kranker Eltern
        Warum eine Selbsthilfegruppe für erwachsene Kinder?

        Sie kämpfen mit Ängsten und den Belastungen              seit wenigen Jahren erste Ansätze von Unter-
        durch die psychische Krankheit des Elternteils,          stützung in ihrer schwierigen Situation. Da sie
        aber auch mit Ängsten vor einer Welt, die sie            selten deutliche Anzeichen von Belastungen zei-
        nicht versteht. Und dabei verstehen sie sich             gen, blieben sie lange Zeit völlig dem Blickfeld
        selbst nicht ganz, weil zuviel Belastendes für zu        ihres Umfeldes aber auch des wissenschaftli-
        lange als Normalität begriffen wurde.                    chen Erkenntnisinteresses entzogen. Dies gilt zu
                                                                 weiten Teilen auch heute noch, denn Kinder mit
        Über die Hintergründe von Kindern                        psychisch kranken Eltern haben kein offensicht-
        psychisch kranker Eltern und den Zielen                  liches Gipsbein, das sie überall und sofort
        der Selbsthilfegruppe.                                   erkenntlich macht, und sie wollen auch oft gar
        Kinder psychisch kranker Eltern erfahren erst            nicht erkannt werden.

                                                            14
Kinderpsy_251007         30.10.2007              12:45 Uhr   Seite 15

        1. Die Kinder psychisch kranker Eltern

        Sich schlecht fühlen wird völlig normal...                  Eine eigenständige Wahrnehmung seiner Per-
        Das liegt an noch immer bestehenden Stigmati-               sönlichkeit, fern von Stigma und Vertuschung,
        sierungen und damit zusammenhängenden                       von Scham und Verunsicherung ist von funda-
        Ängsten vor gesellschaftlichen Sanktionen. Es               mentaler Wichtigkeit für das eigene Selbstver-
        ist also eine Schutzfunktion nach außen und                 ständnis. Erst dann kann man anfangen zu ler-
        innen und insofern auch gut so. Aber langfristig            nen, mit seiner vollständigen Identität zu leben
        nehmen die Kinder zu viele Belastungen und                  und damit freier zu sein – sich selbst und ande-
        Verantwortungen auf sich, vom Ausfall der                   ren gegenüber. Gleichzeitig ist Anonymität der
        elterlichen Bedürfnisbefriedigung ganz zu                   Gruppe und seiner Mitglieder oberstes Gebot.
        schweigen.
                                                                    Die Selbsthilfegruppe
        Vermeidungsstrategien                                       für das Rhein-Neckar-Dreieck
        als Schutz vor der eigenen Familie                          Vorwiegend spricht die Selbsthilfegruppe
        Bezüglich der familiären Situation in der sich              (SHG) Menschen aus dem Rhein-Neckar-Dreieck
                                                                    an, (von Worms bis Speyer, Neckar-Odenwald-
        die Kinder befinden entstehen jahrelange emo-
                                                                    Kreis bis Dürkheim, sowie Heppenheim bis Neu-
        tionale Kämpfe nach innen (mit sich selbst) und
                                                                    stadt) und dessen Metropolen Heidelberg,
        außen (mit ihrem Umfeld). Dadurch entwickeln
                                                                    Mannheim und Ludwigshafen.
        sie oft Vermeidungsstrategien, um sich dem
                                                                    Sie richtet sich dabei an alle erwachsenen Kin-
        Ausmaß der Belastungen nicht bewusst werden
                                                                    der psychisch kranker Eltern. Unter „erwachsen“
        zu müssen. Dies lässt sie vermeintlich unauffäl-
                                                                    ist der Abschluss des 18. Lebensjahres zu verste-
        lig heranwachsen.
                                                                    hen und „Psychisch krank“ bezieht sich dabei
        Im Laufe der kindlichen und später adoleszenten
                                                                    auf die Diagnosen Schizophrenie, schizo-affekti-
        Entwicklung eines Menschen entstehen dadurch
                                                                    ve Psychose, Bipolarität, manisch-depressiv und
        aber Defizite, über die sich die Betroffenen oft
                                                                    endogene/schwere Depression. Die SHG-Mitglie-
        genug selbst nicht bewusst sind. Dies vor allem
                                                                    der selbst sollen nicht in diesem Sinne psy-
        deshalb, weil die ausbleibende Kommunikation
                                                                    chisch krank sein. Aber Psychosomatische
        über die eigene Entwicklungssituation das per-
                                                                    Beschwerden (bzw. Depressionen oder Essstö-
        sönliche Empfinden für sich selbst als nicht außer-
                                                                    rungen) sind damit nicht gemeint.
        gewöhnlich erscheinen lässt: Sich schlecht zu füh-
                                                                    Die Treffen der Gruppe finden zweimal monat-
        len erscheint dann als völlig normal!
                                                                    lich in Räumen des Zentrums für Psychosoziale
                                                                    Medizin, Universitätsklinikum Heidelberg,
        Lernen, freier zu sein!
                                                                    (Stadtteil Bergheim) statt. Wer gerne teilneh-
        Damit sind erwachsene Kinder psychisch kran-                men möchte, kann sich per Mail direkt an die
        ker Eltern in einem Kreis gefangen, der sich über           Gruppe wenden, per Telefon beim Selbsthilfebü-
        Jahre, gar Jahrzehnte aufgebaut hat, und der sie            ro erste Fragen klären oder einfach direkt zum
        daran hindert, ihre eigene Situation und sich               Treffen erscheinen. Die Treffen selbst sind eher
        selbst richtig zu beurteilen.                               locker organisiert. Sie werden jeweils von einem
        Zu helfen, diesen Kreis zu durchbrechen, hat                Gruppenmitglied moderiert. Das heißt, die
        sich die Selbsthilfegruppe Rhein-Neckar                     Gruppe findet selbst ihre Gesprächsthemen und
        „Erwachsene Kinder psychisch kranker Eltern“                versucht diese dann je nach Interessenlage und
        (EKpkE) zum Ziel gesetzt. Hier soll man sich vor-           Gewichtung zu besprechen. Ein professioneller
        wiegend über die eigene Situation und das per-              Moderator oder eine andere Person als dritte
        sönliche Selbstempfinden austauschen können.                Partei sind nicht vorhanden. In diesem Sinne ist

                                                               15
Kinderpsy_251007      30.10.2007        12:45 Uhr       Seite 16

                                                                                      1. Die Kinder psychisch kranker Eltern

        die Gruppe tatsächlich eine reine Selbsthilfe-
                                                                   Bei Interesse sind weitere
        gruppe. Alle Mitglieder sind gleichgestellt,
                                                                   Informationen zu finden unter:
        wobei die Schweigepflicht aller natürlich an
                                                                   Internet: http://de.geocities.com/ekpke_hd
        oberster Stelle für die Wahrung der Privatsphä-
                                                                   E-Mail: ekpke_hd@yahoo.de
        re steht.
                                                                   Heidelberger Selbsthilfe- und ProjekteBüro
                                                                   Alte Eppelheimer Straße 38
        Selbsthilfe ersetzt nicht Therapie
                                                                   (Hinterhaus links, 1.OG)
        Die Selbsthilfegruppe "Erwachsene Kinder psy-              69115 Heidelberg
        chisch kranker Eltern" Rhein-Neckar hat sich also          Tel. 06221 - 18 42 90 · Fax 06221 - 16 13 31
        gegründet, um dem ausgebliebenen Hilfsange-                E-Mail: selbsthilfe@paritaet-hd.de
        bot in der Kindheit nun die Selbsthilfe entgegen           www.selbsthilfe-heidelberg.de
        zu setzen.                                                 Bürozeiten:
        Es gilt dabei zu beachten: Die Gruppe kann und             Mo 10.00 - 13.00 Uhr Di 14.00 - 16.00 Uhr
        will keine Therapie oder Therapieersatz sein,              Mi 10.00 - 13.00 Uhr Do 14.00 - 18.00 Uhr
        sondern sie versteht sich als ergänzendes Ele-             sowie nach Vereinbarung
        ment in der Lebenswelt seiner Mitglieder.
                                                                   Weitere Informationen: Bundesweites
                                                                   Netzwerk www.netz-und-boden.de

                                                             2. Beratung und Betreuung von Kindern psychisch kranker Eltern

        Balance – Beratungs- und
        Orientierungsangebot für Kinder
        psychisch kranker Eltern
        Angebot des Zentrums für Psychosoziale Medizin
        des Universitätsklinikums Heidelberg
        Brigitte Bach-Ba, Diplom-Sozialarbeiterin, Systemische Familientherapeutin
        Christl Böttcher- Herget, Lehrerin, Erzieherin, Familientherapeutin

        Seit April 2002 gibt es am Universitätsklinikum          kranker Menschen veranstaltet wurde, die sich
        Heidelberg eine Beratungsstelle für Kinder psy-          dieser Zielgruppe widmete.
        chisch kranker Eltern, die von der Allgemeinen           Hier wurde ein großer Bedarf an Beratung für
        Psychiatrischen Klinik und der Klinik für Kinder–        Kinder und Jugendliche mit psychisch kranken
        und Jugendpsychiatrie getragen wird.                     Eltern aufgezeigt. Besonders deutlich wurde
        Die Idee zu unserem Angebot hatte sich entwik-           herausgestellt, dass ein akuter Mangel an Ange-
        kelt, nachdem zum Anlass des Welttages der               boten in unserer Region besteht.
        Seelischen Gesundheit 2001 eine Fachtagung               Die Fachwelt hat diese Kinder lange Zeit verges-
        des Psychiatrie-Arbeitskreises Heidelberg und            sen, obwohl Angehörigenarbeit z.B. in der
        des Arbeitskreises Rehabilitation psychisch              Erwachsenenpsychiatrie seit vielen Jahren zu den

                                                            16
Kinderpsy_251007        30.10.2007           12:45 Uhr           Seite 17

        2. Beratung und Betreuung von Kindern psychisch kranker Eltern

        selbstverständlichen Angeboten der psychiatri-                   und weitgehend kostenlos, das bedeutet, dass
        schen Behandlungs- und Betreuungspraxis                          Kinder und Jugendliche, wie auch die Mitarbei-
        gehört. Die Kinder der Patienten wurden von den                  ter anderer Einrichtungen und Institutionen
        psychiatrischen Behandlern in Bezug auf den                      ohne Krankenschein und Überweisung beraten
        erkrankten Elternteil als Belastungs- oder Stabili-              werden, um den Zugang zu uns zu erleichtern
        sierungsfaktor wahrgenommen. Nur im Falle                        und Schwellenangst zu vermindern. Kranke
        einer eigenen psychiatrischen Erkrankung rück-                   Eltern, die Patienten unserer Allgemeinambu-
        ten die Kinder in das Interesse der Psychiatrie.                 lanz sind und zu uns kommen, werden im Rah-
        Seit einigen Jahren hat ein Umdenken stattge-                    men der üblichen Ambulanzleistungen abge-
        funden und punktuell werden nun Unterstüt-                       rechnet. Kranke Eltern, die nicht Patienten unse-
        zungsangebote ins Leben gerufen, die die Pro-                    rer Klinik sind, benötigen einen Überweisungs-
        bleme dieser Kinder und Jugendlichen zu ihrem                    schein vom Hausarzt.
        Aufgabengebiet erklären.                                         Die Zusammenarbeit mit den Jugendämtern,
        Besonders die Erkenntnis, dass das Risiko für die                den sozialpsychiatrischen Einrichtungen, dem
        Kinder selbst zu erkranken, bei optimalem                        Familiengericht und der Verfahrenspflege ist
        Umgang der Familie mit der Erkrankung sinkt,                     ein wichtiger Bestandteil unseres Konzepts.
        trug zu diesem Umdenken bei.
        Als eine Reaktion auf diese Erkenntnisse ent-                    Theoretischer Hintergrund unserer Arbeit
        stand unser Beratungsangebot.                                    Die Arbeit von Balance umfasst familienthera-
        Die Besetzung unseres Angebotes mit Mitarbei-                    peutische, sozialpädagogische und pädagogi-
        tern aus beiden Abteilungen der Psychiatri-                      sche Elemente und weist kindbezogene, eltern-
        schen Klinik führt zwei verschiedene Blickwinkel                 bezogene und auf die Eltern-Kind-Beziehung
        zusammen, um eine umfassende Sichtweise der                      ausgerichtete Anteile auf.
        Problematik zu gewährleisten. Während die Kin-                   Nach einer Kontaktaufnahme zu den betroffe-
        der- und Jugendpsychiatrie den Fokus auf das                     nen Eltern und deren Kindern wird ein psycho-
        erkrankte Kind legt, die Erwachsenenpsychiatrie                  sozialer Befund erhoben und daran anschlie-
        den erkrankten Elternteil im Blickpunkt hat,                     ßend versucht, über eine Ermittlung des Hilfsbe-
        wird in der Zusammenarbeit eine Zuständig-                       darfs der Familie, fallbezogene Orientierungs-
        keit für das belastete Kind, das (noch) nicht                    möglichkeiten, Angebote und Hilfen im sozia-
        erkrankt ist, in den Mittelpunkt gestellt. Die                   len Netzwerk der Region zu besprechen und
        Mitarbeiter können auf psychiatrisches Fach-                     gegebenenfalls Kontakte und Fallbesprechun-
        wissen zurückgreifen und kennen die Auswir-                      gen zu initiieren.
        kungen der verschiedenen psychiatrischen Dia-                    Die Arbeit mit den Eltern kann in verschiede-
        gnosen der Eltern. Dies ist ein wichtiger Faktor                 nen Zusammensetzungen (Einzelkontakt mit
        bei der Arbeit mit deren Kindern.                                dem erkrankten Elternteil, Paargespräche, Ein-
        Balance ist eine Anlaufstelle für Kinder und                     zelkontakt mit dem gesunden Elternteil) statt-
        Jugendliche mit psychisch kranken Eltern, für                    finden. Hier sollen die vorhandenen Ressourcen
        die Eltern selbst und für alle Personen, die zu                  der Eltern gestärkt werden, das Erziehungsver-
        Betroffenen Kontakt haben und eine Beratung                      halten der Eltern reflektiert und über Unsicher-
        wünschen. Unser Angebot ist offen für Ratsu-                     heiten im Umgang mit dem Kind oder Jugend-
        chende aus unserer Region und für Patienten                      lichen bezüglich der Entwicklung, der Schule,
        unserer Klinik. Wir arbeiten für Kinder, Jugendli-               der Freizeitgestaltung usw. gesprochen wer-
        che, weitere Angehörige und für Helfer/-innen                    den. Die Gespräche mit den Familien sollen die
        psychosozialer Berufsgruppen niederschwellig                     Einzel- und Gruppenarbeit mit den Kindern

                                                                    17
Sie können auch lesen