Kinder psychisch kranker Eltern Erfahrung - Unterstützung - Information ...wie geht es eigentlich den Kindern? - Seelenerbe eV
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Kinderpsy_Um251007 30.10.2007 12:33 Uhr Seite 1 Forum Kinder psychisch kranker Eltern - Heidelberg und Rhein-Neckar-Kreis ...wie geht es eigentlich den Kindern? Kinder psychisch kranker Eltern Erfahrung – Unterstützung – Information
Kinderpsy_Um251007 30.10.2007 12:33 Uhr Seite 2 IMPRESSUM Herausgeber: Forum Kinder psychisch kranker Eltern Verfasser: Forum Kinder psychisch kranker Eltern Druck und Layout: R & R Communications GmbH Das Medienhaus Kolpingstraße 1, 69181 Leimen Auflage: 1000 Stück 2. aktualisierte Auflage, Oktober 2007 Eine Gewähr für die Vollständigkeit und Richtigkeit kann im Gliederungspunkt 7 nicht übernommen werden. Deckblatt: Bild von S. K., Titel: Mutter
Kinderpsy_251007 30.10.2007 12:44 Uhr Seite 1 Einleitung Kinder und Jugendliche aus Familien mit einem Im Anschluss an die Tagung haben Teilneh- psychisch kranken Elternteil werden in der Pra- mer/-innen aus den unterschiedlichen Bereichen xis und Forschung immer noch zu wenig beach- ihr Interesse an einer weiteren Auseinanderset- tet. In der Regel geraten sie erst ins Blickfeld, zung mit dem Thema bekundet. Diese große wenn sie selbst psychische Störungen aufwei- Resonanz nahm die Planungsgruppe zum sen, Probleme in Kindergarten und Schule auf- Anlass unter Einbezug von betroffenen, jetzt treten oder das Jugendamt intervenieren muss. erwachsenen Kindern ein berufs- und einrich- Über ihre Alltagssorgen ist wenig bekannt. Sie tungsübergreifendes „Forum Kinder psychisch werden zu oft mit ihren Fragen und Nöten, kranker Eltern“ zu bilden. ihren Loyalitätskonflikten und Schuldgefühlen Das Forum hat das Ziel mit den vorhandenen alleine gelassen. Eine Mauer des Schweigens Institutionen und Angeboten in der Region für umgibt diese Kinder, oft sind sie isoliert. Kinder psychisch kranker Eltern eine Versor- Was gilt es zu tun, um den „vergessenen gungsstruktur zu entwickeln. Unter Nutzung Kindern“ der Psychiatriereform die nötige Auf- der Schnittstellen und Ressourcen gilt es ein merksamkeit und Unterstützung zukommen Netzwerk an Hilfs- und Unterstützungsmöglich- zu lassen? keiten aufzubauen. Um diesen Kindern helfen zu können, muss Ein Ergebnis der Aktivitäten des Forums ist deren problematische familiäre Situation ins diese Broschüre. Bewusstsein der Öffentlichkeit, der Facheinrich- In dieser Broschüre berichten die Mitglieder des tungen der Psychiatrie, der Fachpersonen, die Forums von ihren Erfahrungen und Betroffene mit Kindern arbeiten, und der betroffenen Fami- kommen zu Wort, d.h. jetzt erwachsene Kinder lienmitglieder rücken. psychisch kranker Eltern. Nur wenn wir – vor 2001 veranstaltete der Arbeitskreis „Rehabilita- allem die „Profis“ – genauer hinhören und tion psychisch kranker Menschen“ eine Fachta- „begreifen“, wo die Nöte der Kinder lagen und gung mit dem Thema „..wie geht es eigentlich liegen, können wir Sprachrohr sein und für hilf- den Kindern?“. Neben Fachbeiträgen und Erfah- reiche Unterstützungsstrukturen für die jetzt rungsberichten sollte eine Diskussion darüber betroffenen Kinder sorgen. angestoßen werden, wie in unserer Region die Die Berichte geben gleichzeitig einen Überblick Situation der Kinder psychisch kranker Eltern über die Angebotsstrukturen in der Region und verbessert werden kann. Einblick in Konzepte und Aufgaben. Die Tagung erfuhr in der Öffentlichkeit, bei den Mit dieser Broschüre wollen wir sensibilisieren, Facheinrichtungen der Psychiatrie, wie bei den informieren, Orientierung geben und zur Ver- Fachleuten in Schulen, Kindergärten, Jugendäm- netzung der Dienste und Fachleute in den unter- tern, Erziehungsberatungsstellen, Sozialpäd- schiedlichen Bereichen wie Psychiatrie, Pädia- agogische Familienhilfen u.a.m. sehr große trie, Pädagogik und Kinder- und Jugendhilfe bei- Beachtung. tragen. Bei der Tagung wurde deutlich, dass den Mitar- Die Broschüre richtet sich an Fachleute aus den beitern/-innen in all den genannten Bereichen genannten Bereichen, Betroffene, die interes- die problematische Situation der Kinder psy- sierte Öffentlichkeit sowie an die jetzt erwach- chisch kranker Eltern ein großes Anliegen ist. senen Kinder psychisch kranker Eltern. Übereinstimmend wird ein beachtlicher Bedarf Wir danken Allen für ihre Beiträge. Den Betroffe- an Information, Aufklärung, Beratung, Koopera- nen möchten wir unseren besondern Dank aus- tionspartnern und einem Netzwerk an Hilfs- und sprechen. Mit ihrer Offenheit rücken sie die „ver- Unterstützungsangeboten gesehen. gessenen Kinder“ in unser Bewusstsein. 1
Kinderpsy_251007 30.10.2007 12:44 Uhr Seite 2 Gliederung 1. Die Kinder psychisch kranker Eltern 3. Beratung und Betreuung psychisch kranker erwachsener Menschen „Schau mich an, damit ich weiß, wer ich bin!“ Erstberatung und Vermittlung, Kontakt- Über die Bedürfnisse von Kindern mit und Informationsstelle am Gesundheits- psychisch kranken Eltern amt, Landratsamt Rhein-Neckar-Kreis Ein Erfahrungsbericht 4 (Bericht von Heidi Flassak) 32 Kind einer psychisch kranken Mutter Sozialpsychiatrischer Dienst für S. K., Erfahrungen - psychisch kranke Menschen, Tagebuchaufzeichnungen 10 Diakonisches Werk Heidelberg (Bericht mit Fallbeispiel von Birgit Hanpft) 33 Selbsthilfegruppe für erwachsene Kinder psychisch kranker Eltern Betreutes Wohnen für psychisch Warum eine Selbsthilfegruppe für kranke Menschen: erwachsene Kinder? 14 Sozialpsychiatrischer Hilfsverein Wiesloch (Bericht mit Fallbeispiel von Annemarie Damm) 35 2. Beratung und Betreuung von Kindern psychisch kranker Eltern Heidelberger Werkgemeinschaft (Bericht mit Fallbeispiel von BALANCE - Beratungs- und Orientie- Carola Kreuzburg) 37 rungsangebot für Kinder psychisch kranker Eltern des Zentrums für Psycho- soziale Medizin, Universitätsklinikum 4. Psychiatrische Behandlung psychisch Heidelberg (Bericht von Christl Bött- kranker Eltern cher-Herget und Brigitte Bach-Ba) 16 Psychiatrisches Zentrum Nordbaden „KipkE“ - Ansprechpartner für Kinder und Mutter-Kind Behandlung bei Jugendliche aus Familien mit psychischer postpartalen Störungen Erkrankung, Bürgerkreis für psychosoziale (Bericht von Elvira Rave) 39 Arbeit e.V., Sinsheim (Bericht mit Fallbei- spiel von Christine Mohler) 21 Mutter-Kind Behandlung bei psychischen Erkrankungen der „Kinder psychisch kranker Eltern“, Mutter, Schwerpunkt Persönlichkeits- Kooperationsprojekt des Diakonischen störungen (Bericht von Bernd Werks im Neckar-Odenwald-Kreis Abendschein) 40 (Bericht von Josette Binder-Wais) Informationsblatt für Eltern 26 Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg Kinderprojekt „KiP“, Weinsberger Mutter-Kind Behandlung in der Hilfsverein für psychisch Kranke e.V. Allgemeinpsychiatrie (Bericht von Christiane Baum) 30 (Bericht von Dr. Corinna Reck) 42 2
Kinderpsy_251007 30.10.2007 12:44 Uhr Seite 3 Gliederung 5. Kinder- und Jugendhilfe / „Zwickmühle“ - Selbsthilfegruppe für Pädagogischer Bereich Frauen mit postpartalen psychischen Erkrankungen in Heidelberg, Zentrum für Allgemeiner Sozialer Dienst des Amtes Psychosoziale Medizin, Universitäts- für Jugend und Soziales der Stadt klinikum Heidelberg 53 Weinheim (Interview mit Horst Dörsam) 43 Schulprojekt im Verlauf der Projektzeit von „KipkE“, Bürgerkreis für psycho- Hilfemöglichkeiten für Kinder psychisch soziale Arbeit e.V. (Christine Mohler) 54 kranker Eltern des Gesundheitsamtes, Abteilung Kinder- und Jugendgesund- Antistigma-Arbeit an Schulen in Wies- heit, Landratsamt Rhein-Neckar-Kreis loch, Sozialpsychiatrischer Hilfsverein (Fallbeispiel von Dr. Britta Raue und e.V. (Koordination: Annemarie Damm Horst Münch) 45 und Stefan Krauth) 55 Sozialpädagogische Familienhilfe Präventionsarbeit in außerschulischen AGFJ Familienhilfe-Stiftung Institutionen für Kinder; Fortbildung Heidelberg (Interview mit über psychische Erkrankungen für die Rainer Metzger) 47 Abteilung Kindertagesstätten Heidelberg, Sozialpsychiatrischer Hilfsverein e.V. Jugendamt, Rhein-Neckar-Kreis (Annemarie Damm) 56 (Fallbeispiel von Waltraud Warth) 50 Psychologische Beratung für Kinder Bürgerkreis für psychosoziale Arbeit und Jugendliche im Internet: e.V. Sinsheim (Fallbeispiel von www.von-mir-aus.de, Psychologische Christine Mohler) 21 Beratungsstellen in Heidelberg und im Rhein-Neckar-Kreis 57 Kinder psychisch kranker Eltern im Kindergarten Notinsel-Projekte im Möglichkeiten – Grenzen – Wünsche Rhein-Neckar-Kreis 58 (Bericht von Brigitte Hübinger) 51 7. Anhang 6. Prävention Hilfreiche Ansprechpartner und Adressen 59 „Hand-in-Hand“ - Perinatales Präventions- netz im Rhein-Neckar-Kreis, Psychiatri- sches Zentrum Nordbaden und Jugendamt des Landratsamtes Rhein- Neckar-Kreis 52 3
Kinderpsy_251007 30.10.2007 12:44 Uhr Seite 4 1. Die Kinder psychisch kranker Eltern „Schau mich an, damit ich weiß, wer ich bin!“ Über die Bedürfnisse von Kindern mit psychisch kranken Eltern Ein Erfahrungsbericht will das Augenmerk auf einen der zentralen Aspekte lenken, den sich das Kind hat erst erar- Vorbemerkung beiten müssen: Die Wieder-Wahrnehmung des Der folgende Bericht will den Blick auf zwei eigenen Schamgefühls. Momente einer individuellen Entwicklung rich- ten, die chronologisch aufeinander folgen: Die R Erster Teil Situation und Bedürfnisse eines Kindes, das Das Kind einer psychisch kranken Mutter: unter dem Umstand der Mutter, die paranoid- Gesehen werden schizophren ist, zu leben hat, und die Situation und Bedürfnisse des gleichen, aber nun erwach- Als ich 11 Jahre alt war, brachte sich mein Vater senen Kindes, das versucht, sich von eben dieser um. Wenige Jahre darauf zeigte meine Mutter Mutter zu lösen. Dieser Bericht ist dabei zum erste Ansätze einer psychotischen Erkrankung, einen ein individueller, persönlicher Bericht und was zum Zeitpunkt des Suizides des Vaters für zum anderen kann die Mannigfaltigkeit der uns – meinen zwei Jahre jüngeren Bruder und Bedürfnisse von Kindern psychisch kranker die Großeltern mütterlicherseits – noch nicht Eltern, erwachsen oder nicht, nicht mit nur erkennbar war. Was war geschehen? Eines Tages einer Darstellung abgedeckt werden. Aus diesen unterbreitete mir meine Mutter den Plan, dass beiden Gründen muss dieser Bericht deutliche wir bald mit dem Rektor meiner Schule zusam- Grenzen ziehen und ist sich dabei seiner menziehen würden. Zugegeben, eine reizvolle Beschränktheit bewusst. Eine Verallgemeine- Vorstellung für einen Sechstklässler, war sie rungsfähigkeit des Folgenden liegt dabei nicht doch verbunden mit einem Statusanstieg, mit im primären Interesse des Autors, vielmehr einem Gefühl der Anerkennung, auch wenn ich kann es nur als Versuch gelten, das Erlebte als dies mit diesen Worten damals nicht habe aus- aussagekräftiges Beispiel anzuführen. Ob dieses drücken können. Trotzdem: Ich blieb skeptisch dann auch auf andere Kinder in gleicher Situati- und wartete ab, was passieren würde. Zu on übertragen werden kann, soll der Beurtei- unglaublich, wenn auch schmeichelhaft, lung des Lesers überlassen bleiben – nicht erschien mir diese Entwicklung in meinem zuletzt deshalb, weil es sich im Folgenden um Leben. Vielleicht hatte ich damals schon subjektiv normative Ausführungen handeln gespürt, dass ein wichtiges Element im muss, von denen der Autor nur für sich selbst Umgang mit dem Tod meines Vaters fehlte: Die behaupten kann, dass sie so wie beschrieben kollektive Familientrauer. Kurz gesagt: Das ging zutreffen, wenngleich auch die Hoffnung mir etwas zu schnell. Nicht, dass ich es nicht besteht, dass andere darin etwas für sich auch gewünscht hätte, sofort mit dem Rektor Brauchbares finden mögen – egal ob Fachmann zusammen eine neue Familie zu sein, aber mein oder Laie. Der erste Teil handelt vom 14-jähri- Gefühl konnte keinen Einklang erfahren und es gen Kind, das sich wünscht, von seiner Umwelt sollte Recht behalten. Nach einiger Zeit passier- in seiner Lage erkannt zu werden; der zweite te nämlich immer noch nichts in dieser Rich- Teil vom nun erwachsenen Kind, das auf der tung, außer den immer wieder aufs Neue vorge- Suche nach seiner Identität ist. Der dritte Teil tragenen Absichten meiner Mutter: „Ja, es wird 4
Kinderpsy_251007 30.10.2007 12:44 Uhr Seite 5 1. Die Kinder psychisch kranker Eltern bald passieren, wir treffen ihn bald…“ Die Ereig- ser Stelle entwickelte sich ein Bedürfnis, das als nisse, die sich stattdessen zutrugen, bekräftig- veranschaulichendes Beispiel für das gelten soll, ten hingegen meine Befürchtungen: Meine Mut- was an vielen anderen Stellen, mit vielen ande- ter fing an, meinen Rektor zu belästigen. Sie ren Menschen meines Umfeldes auch geschah: stand nachts vor seinem Haus und warf Steine Ich fragte mich, was er wusste. Ich fragte mich, ans Fenster oder überraschte des Sonntags mit wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. einem Kuchen in der Hand vor seiner Haustür. Doch darauf hatte ich keine Antwort und ver- Ich spürte, dass ihr Interesse auf keine gegen- suchte nur, so gut wie möglich den Anschein seitige Entsprechung stieß, ja, dass gar eine Art des normalen Schülers zu wahren, um hinsicht- Kampf stattfand, ein Bedrängen – und das berei- lich meiner familiären Situation nicht aufzufal- tete mir Unbehagen. Denn damit verwandelte len. sich die freudige Erwartung in bedrückende Und dabei hätte ich mir vor allem eines Scham und Angst, denn die Aktionen meiner gewünscht: Dass er auf mich zukommt und Mutter fanden zu jeder Tageszeit statt, verlager- sagt: „Ja, ich weiß um Deine Situation.“ Dass er ten sich aber immer mehr auf die Zeit der Dun- sagt: „Ich kann Dir leider nicht helfen, aber ich kelheit. Wie ich Jahre später erfuhr, stattete der weiß, dass es schwer für Dich sein muss.“ Dass Rektor meinen Großeltern einmal einen Besuch er also nichts anderes ausdrückt als: „Ich sehe ab, um diese über die Ereignisse und Aktionen Dich“ und nicht stattdessen durch die Flure des ihrer Tochter aufzuklären. Leider stieß er dort Gymnasiums läuft und mir dabei begegnet, als auf meine von Scham erfüllte Großmutter, sei ich ein weiterer unter den vielen unbekann- deren Reaktion vorwiegend darin bestand, sich ten Schülern. Doch mein Wunsch blieb unerfüllt selbst die empfundene Schmach, die die eigene und es versetzte mich in tiefe Unsicherheit, weil Tochter über die Familie gebracht hatte, nicht sich dadurch nur der Eindruck verschärfte, dass einzugestehen, und die darauf eine „Es-wird- sich meine Situation nicht wirklich von der schon-wieder-werden“-Haltung einnahm. Eine anderer Kinder unterscheidet und dass es Haltung, die sich als fatal herausstellen sollte, gewollt ist, so zu tun, als sei nichts. Aber es denn es geschah daraufhin nichts, was in kam, wie bereits angedeutet, auch sonst nie- irgendeiner Weise zur Behandlung meiner Mut- mand auf mich zu: Weder die Nachbarn, noch ter geführt hätte, und das sollte auch so blei- die Eltern von Mitschülern, noch das Jugend- ben. Und was geschah mit mir? Im Laufe der amt, als meine Mutter Jahre später zwangsein- Zeit entwickelte meine Mutter immer mehr ihre gewiesen wurde. Waren sie alle selbst überfor- Psychose. Die Anzeichen für eine geistige Krank- dert? – Ich weiß es nicht. Kamen sie vielleicht heit verdeutlichten sich in ihren Ausprägungen: doch auf mich zu, doch ich ließ sie nicht gewäh- Sie sprach zu Menschen, die nicht im Raum ren? – Ich weiß es nicht. Diese Fragen sollen waren, sie beschimpfte die Nachbarn und gute lediglich dazu dienen, ein Gefühl für die Schwie- Bekannte und warf ihnen Verschwörungen vor, rigkeit der Beurteilung der damaligen Lage aus deren Aktionen alleine gegen unsere Familie meiner Sicht zu vermitteln. Ich weiß zwar mit gerichtet seien. Bei all dem ging mir mein Rek- Sicherheit, dass ich nie von meinem Rektor tor nicht aus dem Kopf. Wie konnte er auch, angesprochen wurde – denn wenn einen der denn meine Mutter hatte ihre Idee noch immer eigene Rektor anspricht, dann vergisst man das nicht ganz vergessen und von Zeit zu Zeit sah als Schüler in der Regel nicht – und daher dient ich ihn im Schulgebäude – und er sah mich. er auch als bestes Beispiel in diesem Zusammen- Aber kannte er mich auch? Wusste er, wer ich hang. Ich weiß auch, dass ich mir sehr verloren war? Wusste er, wer meine Mutter war? An die- und wie ein Einzelkämpfer vorkam, der alle Ver- 5
Kinderpsy_251007 30.10.2007 12:44 Uhr Seite 6 1. Die Kinder psychisch kranker Eltern antwortung selbst zu tragen hat. Aber so haben Vergangenheit. So unglaublich es erscheinen sich sicherlich auch viele Dinge auf subtilere Art mag: Ich habe mich einfach gewehrt, die Aus- und Weise zugetragen, die mir deshalb nicht so wirkungen meiner Vergangenheit auf mein jet- greifbar sind, wie das oben Beschriebene. Schon ziges Leben anzuerkennen und anzunehmen, die Frage „Wie geht es Dir?“ kann als solches obwohl es ja kognitiv betrachtet nur allzu offen- begriffen werden, liegt darin doch der erste – sichtlich zu sein scheint. Daran wird für mich wenn ernst gemeinte – Versuch, sich dem vor allem deutlich, wie stark die Verdrängungs- Gegenüber zu nähern. An dieser Stelle habe ich arbeit von mir selbst war – und noch immer ist. mit Sicherheit abgeblockt und gesagt: „Gut.“ Ich meine damit Ängste in ihrer diffusen und Und was soll der andere dann darauf sagen? vielfältigen Form. Bei allem Anschein des per- Mein Wunsch, mein Bedürfnis, müsste demnach sönlichen Fortschritts, der sich hier für den eine Eigeninitiative von außen fordern, die nicht Leser über die dargestellten Erkenntnisse der darin besteht zu fragen, sondern zu sagen wie Selbstreflektion ergeben muss, so ist noch es mir geht. Nicht: „Wie geht es Dir?“, sondern nichts für mich persönlich zu irgendeinem „Ich weiß, Dir geht es nicht gut.“ Damit betrete Abschluss gekommen – und das wird es wohl ich ein schwieriges Feld, denn wer traut sich auch nie. Ziel ist es, mein Berufs- und Privatle- dies im Alltag zu? Wer ist die richtige Person, ben unter einen Hut zu bringen, mich also nicht dies zu tun? Bei aller Schwierigkeit dieser Fra- durch meine Arbeit auffressen zu lassen, mich gen, möchte ich an dieser Stelle nochmals beto- aber auch nicht in meinen therapeutischen nen, dass mir die Anerkennung des Rektors, das Bemühungen zu verlieren. Das ist deshalb nicht „Gesehen werden“, wichtig war. Dies zum einen so einfach, weil gerade die Arbeitswelt den deshalb, um nur die Vertracktheit der Situation Zwang zum „Normalsein“ impliziert. Es besteht zu veranschaulichen, in der ich mich befand: hierbei die Gefahr, dass ich mich selbst dabei einen Wunsch zu haben, dessen Erfüllung an vergesse und nicht genug darauf achte, auch gesellschaftlichen Konventionen scheitert, und einen Ausgleich dafür zu schaffen, meiner Seele zum anderen, weil es, als theoretischer Faden etwas Gutes zu tun. Also das zu vermeiden, was begriffen, seine Fortsetzung, wenn auch in mir implizit durch das Verhalten meines Rek- anderer Hinsicht, im erwachsenen Alter findet. tors mitgeteilt wurde: „Tu so, als sei alles in Ord- Mit dieser Fortsetzung befasst sich der zweite nung – ich tue es auch.“ Darauf alleine zu ach- Teil. ten macht die abstrakte Beschreibung aller- dings noch nicht vollständig, ja gar missver- R Zweiter Teil ständlich. Es muss erwähnt werden, dass das Das erwachsene Kind einer psychisch kranken pure Schaffen eines Ausgleiches an sich nicht Mutter: Identitätsfindung reicht (etwa eines Hobbys), denn es bedarf auch der Fähigkeit des Einzelnen, sich diesem Aus- Identität ist für sich genommen selbst diffus gleich hinzugeben. Umgangssprachlich könnte und schwer genug zu begreifen. Hinzu kommt, man sagen: Man muss fähig sein, abzuschalten. dass sie sich ändern kann und dies auch konti- – Und das bin ich nicht. Warum aber ist dem so? nuierlich tut. Nachdem mich seit der 11. Klasse Die einfache Antwort auf diese Frage lautet: eine körperliche Belastung plagt – schlicht aus- Weil ich mich selbst (noch) nicht als der ange- gedrückt: Ich werde ständig krank – hatte es nommen habe, der ich bin! Dies ist deshalb von über 10 Jahre gebraucht, bis ich einen Zusam- Wichtigkeit, weil ein gesundes Selbstwertge- menhang herstellen konnte zwischen diesen fühl, eine zusammenhängende, konsistente psychosomatischen Beschwerden und meiner Identität, also schlicht die Voraussetzungen für 6
Kinderpsy_251007 30.10.2007 12:44 Uhr Seite 7 1. Die Kinder psychisch kranker Eltern ein authentisches Ich einen überhaupt erst in der Verkürzung der Darstellung durchaus die Lage versetzt, sich selbst mit einer gewissen bewusst bin und auch die damit einhergehen- inneren Ruhe zu begegnen. Daraus folgt die den Schwierigkeiten hinsichtlich einer daraus Frage: „Wer bin ich?“, denn um etwas – mich – erfolgenden Ableitung von Handlungsvorgaben annehmen zu können, muss ich erst wissen, was glaube zu erahnen. Das Beispiel des Rektors vor es anzunehmen gilt. Und damit sind zwei Augen besteht die angesprochene Verbindung grundlegende Aufgaben benannt, die meinen darin, dass niemand auf mich zukam und mir bisherigen therapeutischen Weg bestimmt von außen deutlich signalisiert hat, was mit mir haben. los war und was meine Situation für mich 1. Herauszufinden, wer ich bin, was mich defi- bedeuten muss. Und das ist nach wie vor der niert und wie ich mich dabei fühle, und 2. mit Fall: Es gibt keine Unterstützung von außen, die dieser Erkenntnis leben zu können und mich, Schwelle der Selbsterkenntnis zu überwinden, mein Jetzt und meine Vergangenheit zu akzep- um daraus z. B. Hilfen zu formulieren, die es mir tieren. Beides findet ständig und beinahe gleich- einfacher machen, mich der überbordenden Ver- zeitig statt. Dauernd lerne ich etwas Neues über antwortung, der ich de facto zu Hause ausge- mich, und dauernd muss ich versuchen, mit setzt war und in meinem inneren Empfinden eben diesem Neuen klarzukommen. Erst nach noch immer bin, zu entziehen. Während ich mehr als drei Jahren Therapiearbeit war ich innerlich das Gefühl habe, dass etwas nicht soweit, mich mit anderen erwachsenen Kindern stimmt, dieses Gefühl aber nicht einfach so von psychisch kranken Eltern in Verbindung zu annehmen kann, denn dafür brauche ich die setzen. Diese Kontaktaufnahme hat insofern Außenwelt, begegnet mir jene Außenwelt indif- etwas mit Identität zu tun, weil sich die Frage ferent in Bezug auf meine Probleme und setzt „Wer bin ich?“ auch über die Rückmeldungen an die Stelle des Umgangs mit diesen Proble- anderer, also von außen, beantworten lässt und men eine Schein-Normalität, die nicht mich, auch(!) beantworten muss, denn ich kann für sondern das Umfeld von Verantwortung befreit. mich selbst keine Situationen generieren, in Mit dieser Unsicherheit habe ich noch heute zu denen ich mich kennen lernen kann, ohne dabei kämpfen. Sie äußert sich in Dingen wie sozialen in Kontakt mit anderen Menschen zu kommen. Ängsten, geringem Selbstwertgefühl (selbst bei Dass der Wunsch, nun auch „Gleichgesinnte“ zu beachtenswerten Meriten), hohen, selbst treffen, so lange auf sich warten ließ, zeigt nur, gestellten Anforderungen, der Unfähigkeit los- wie isoliert ich mich in meiner Situation wahr- zulassen und abzuschalten und – in letzter Kon- genommen habe, oder anders formuliert: Wie sequenz – in schlechtem Schlaf mit, wie oben stark ich an dem „Glauben“ festhielt, normal zu schon erwähnt, all seinen körperlichen Konse- sein und wie stark die Ängste waren und sind, quenzen. Um diesen Dingen zu begegnen, um sich mit der eigenen Thematik an andere, an mehr Sicherheit für und mehr Gewissheit über Fremde, zu wenden (etwa wegen Stigmatisie- mich zu erlangen, suchte ich dann den Kontakt rungsängsten) und darüber offen zu sprechen. zu anderen und gründete eine Selbsthilfegrup- Kurz: Es zeigt, wie wenig ich mich selbst ange- pe. Doch dafür musste ich, wie gesagt, erst nommen und daraus Konsequenzen für mein bereit werden. Ich musste quasi erst erkennen Leben und mein Handeln gezogen habe. Die lernen, welche Bedeutung diese für mich hat. Verbindung zum ersten Teil dieses Berichtes Doch die Gruppe kann nur in ihrem geschützten herzustellen fällt an dieser Stelle nicht mehr Rahmen ein Kontext der gegenseitigen Identifi- schwer. Dennoch – oder gerade deshalb – möch- kation sein – und dies in all ihren Facetten, denn te ich darauf aufmerksam machen, dass ich mir jeden bewegt anderes oder gleiches unter- 7
Kinderpsy_251007 30.10.2007 12:44 Uhr Seite 8 1. Die Kinder psychisch kranker Eltern schiedlich. Der Wunsch danach, in meiner Situa- Scham als solche noch zu erkennen. Dann wird tion gesehen und angenommen zu werden es schwierig, eine Antwort auf die Frage zu fin- bleibt also. Und er äußert sich in seinen Auswir- den, was einen belastet. Was mich also belastet kungen, also in den oben beschriebenen Unsi- ist Scham. In dem Moment, in dem die eigene cherheiten, in allen möglichen Situationen: Von Mutter in aller Öffentlichkeit anfängt grundlos der Bekanntschaft auf dem Straßenfest bis hin Menschen wie Nachbarn oder Verwandte zu zur romantischen Liebesbeziehung; vom Termin beschimpfen, empfindet das Kind, der Jugendli- auf dem Bürgeramt bis hin zum Gespräch mit che oder eben jeder Beteiligte ein Schamgefühl, dem Vorgesetzten. Der Wunsch bleibt vor allem weil er sich in eben diesem Moment als mit der deshalb, weil mit der bisherigen Situation eine schimpfenden Mutter identifiziert fühlt. Die innere Unruhe einhergeht, die viel Kraft kostet Außenwelt scheint zu sagen: „Was macht die und damit eine Art konstante Belastung für denn und wer ist das daneben?“ Für einen zufäl- mich bedeutet, von der ich mich gerne befreien lig Beteiligten ist es recht leicht, sich davon zu würde. Diese Belastung gründet sich auf der distanzieren. Dazu genügt oft räumliche Angst, ausgestoßen zu werden, eben nicht Distanz. Für das Kind aber bleibt es schwierig, angenommen zu werden. Leider aber stößt die- sich zu distanzieren. Zum einen, weil es sich der ser Wunsch im Erwachsenenalter auf ungünsti- Mutter gegenüber loyal fühlt, zum anderen weil ge Voraussetzungen, weil sich andere Erwachse- es im eigentlichen Sinne des Wortes abhängig ne einen Menschen als Gegenüber wünschen, ist (etwa finanziell) und zuletzt, weil es gleichen der ein gerüttelt Maß an Selbstsicherheit mit- Fleisches ist. Als Sohn bleibt man Sohn – und bringt. das vor allem in der Wahrnehmung der anderen. Frage ich mich nun nach meiner inneren Unru- R Dritter Teil he, so gibt mir die Scham folgende Antwort: Das Leben als Kind einer kranken Mutter im Rück- Ich kann mich nicht einfach fallen lassen und blick: Aufwachsen mit Scham. ruhig werden, weil ich ständig versuche, die Scham abzuschütteln. Ständig fühle ich mich Das bisher Gesagte kann für sich so stehen auf dem Prüfstand, weil ich nicht das Gefühl gelassen werden. Aber die Betrachtung aller habe, als der erkannt werden zu können, der ich Zusammenhänge oder Lebensbereiche kann bin, sondern immer auch als der, von dem ich unter verschiedenen Blickwinkeln stattfinden der Sohn bin. Kurzum: Ich meine, nicht nur und jeweils neue Erkenntnisse und Einsichten meine Persönlichkeit darstellen zu müssen, son- liefern. Die Suche nach Selbstsicherheit und dern auch noch den unglaublich tiefen Graben Selbstwertgefühl, nach der Fähigkeit Abzuschal- zuzuschütten, den das Verhalten meiner Mutter ten und ruhig zu schlafen, das Verlangen nach aufgerissen hat. Ich meine dies, weil ich mich versicherndem Kontakt und Rückmeldung sind für sie schäme – und weil ich mich für mich alles Kontexte, die sich auch unter dem Aspekt schäme, denn sie ist ein Teil von mir. der Scham verstehen lassen. Und vielleicht ist Frage ich nach meinem fehlenden Selbstwertge- die Scham gar eines der zentralsten Momente fühl, so gibt mir der Blick auf die Scham die Ant- im Kampf um das eigene Wohlbefinden. wort, dass ich eigentlich nichts für mich selbst Scham zu erkennen fällt eigentlich nicht schwer, aufbauen kann, auf das ich stolz sein kann. Die- so könnte man meinen. Was aber passiert, wenn ses ändert nämlich nichts an der Situation mei- dieses Gefühl ständig da ist und durch einen ner Mutter. Und damit bleibt die Scham da, dauernden Verdrängungsprozess zur Normali- unerreichbar, sich mir entziehend – und sie tät wird? Dann wird es recht schwierig die lähmt mich. Sie lähmt mich auch, Dinge zu 8
Kinderpsy_251007 30.10.2007 12:44 Uhr Seite 9 1. Die Kinder psychisch kranker Eltern genießen, denn dazu gehört, loslassen zu kön- Wahrscheinlich als Schutzfunktion, wahrschein- nen. Doch nichts erfreut mich, denn nichts wün- lich als natürliche Reaktion eines jeden Kindes, sche ich mir sehnlicher, als das Ende des Scham- das einfach vorangehen will und sich nicht mit gefühls. langwierigen Selbstreflexionen aufhalten kann. Dieses Gefühl ist so allumfassend, so überbor- Kurzum, ich musste das Schamgefühl gerade dend und alles bestimmend, dass sich kein beiseite schieben, um weiterleben zu können. Lebensbereich davon ausklammern lässt. Auch Die Belastung wäre wohl zu groß gewesen. hier lässt sich die Aufzählung von oben wieder- Umso mehr wäre die Anerkennung von außen in holen: Von der Bekanntschaft auf dem Straßen- diesem Sinne gebraucht worden, die mir hätte fest bis hin zur romantischen Liebesbeziehung; mitteilen können, dass ich mich nicht so zu schä- vom Termin auf dem Bürgeramt bis hin zum men brauche, denn ich bin nicht meine Mutter, Gespräch mit dem Vorgesetzten. Überall schä- denn ich bin auch so gut, denn ich muss nicht me ich mich! Aber nicht, wegen der jeweiligen für die Art und Weise meiner Mutter gerade ste- Situation selbst, sondern weil ich Angst davor hen. Bekannte, öffentliche Stellen und Großel- habe, als der „Sohn von X“ erkannt zu werden; tern haben, so muss ich leider sagen, in dieser weil ich Angst davor habe, mich plötzlich für Hinsicht entweder nichts geleistet, oder gar die- etwas rechtfertigen zu müssen, das ich gar nicht ses Gefühl der Verantwortungsübernahme gera- getan habe, das ich gar nicht bin. Und obwohl de noch verstärkt, das in die gleiche Kerbe der gar keine Anzeichen dieses Argwohns der Ande- Scham geschlagen hat: DU hast damit zu tun! ren zu sehen sind, schäme ich mich dennoch. DU gehörst dazu! Und DU wirst dabei zur Denn wer kann mir glaubhaft versichern, dass Rechenschaft gezogen! die anderen nicht vielleicht doch etwas denken? Dieser Zusammenhang erfährt seine Ironie in Dies grenzt an Paranoia und mag etwas unreali- der vertikalen Verantwortlichkeit im deutschen stisch erscheinen, doch das ist es nicht. Natür- Sozialstaatssystem. Als Kind einer psychisch lich denke ich nicht: „Was mag der andere jetzt kranken Mutter wird der Staat wohl auf mich denken? Weiß er etwas und sagt es nicht?“ – zukommen, um von mir finanzielle Unterstüt- aber das Gefühl das ich habe, entspricht genau zung zu fordern, sobald die Mittel meiner Mut- diesen zweifelnden Fragen. Hierbei kommt die ter aufgebraucht sind. Auch das empfinde ich schon oben angedeutete Angst ins Spiel. Sie als vereinheitlichende Wahrnehmung, auch das geht Hand in Hand mit der Scham, denn ich heißt für mich, dass eigentlich ich mich für fürchte mich vor dem beschämenden Moment meine Mutter rechtfertigen muss; dass ich mir und ich schäme mich für meine Angst und Unsi- eigentlich schuldig vorkommen muss. cherheit. Wie ich von diesem Moment wegkom- Wie gesagt, ich weiß nicht, was aus alledem me, wie ich die Scham und die Angst und alles, folgt. Wichtig aber war sicherlich der Schritt, die was damit zusammenhängt „besiegen“ kann, Scham als Gefühl überhaupt erst wieder realisie- weiß ich nicht. Dafür ist mir das alles zu neu. ren zu können. Die Gründung einer Selbsthilfe- Worauf es mir hier ankommt ist, zu zeigen, dass gruppe und das Bedürfnis nach Kontakt ist sich in mir dieses jedem bekannte Gefühl zu sicherlich ein Indiz auf dem Weg dorthin, denn einem versteckten Gegner entwickelt hat, den man könnte das auch folgendermaßen ausdrük- es erst wieder zu entdecken galt: Die Scham war ken: Ich konnte meine Scham zumindest soweit immer und überall dabei, sie war der Wald, den überkommen, dass der Kontakt zu anderen Kin- ich vor lauter Bäumen nicht mehr sah. Sie grub dern nun möglich war. Ein Kontakt, der in mei- sich in die Tiefen meines Selbst und ich wollte nem Verständnis unbedingt nötig ist, aber dazu sie nicht wahrhaben. Aber warum? musste er erst möglich werden. Formelle oder 9
Kinderpsy_251007 30.10.2007 12:44 Uhr Seite 10 1. Die Kinder psychisch kranker Eltern organisatorische Vorbedingungen gilt es dazu der „Öffentlichkeit“ und im Leben zu kämpfen. zu erfüllen, wie etwa, dass eine solche Gruppe Aus diesem Grunde ist das Interesse an einer überhaupt besteht. Aber auch und gerade die zunehmenden Verbreitung des Themas „Kinder innere Möglichkeit muss da sein, denn ohne psychisch kranker Eltern“ sehr groß, da sich nur Mitglieder ist jede Gruppe nichts. Diese Mög- so die Stigmata und die Ängste auflösen können. lichkeit gründet auf einer Verringerung des Der Zugang zum eigenen Verständnis wird näm- Schamgefühls, sich anderen zu öffnen, sich als lich ungleich schwieriger gemacht, wenn man das zu zeigen, was man ist. Dies fällt leichter, der „Außenwelt“ nicht offen begegnen kann und wenn man vom Umfeld gesehen wird, wenn das dabei nach innen immer eine Art Doppelleben Umfeld signalisiert, dass man nicht mit seiner führen muss: Ich als Ich und Ich als der, der ich Mutter gleichgesetzt wird. sein soll. „Gesehen werden“ ist also noch immer Das erwachsene Kind sucht also noch immer wichtig, aber mit anerkennender Toleranz, nicht nach Anerkennung und will gesehen werden, hat mit Verachtung, denn Kinder psychisch kranker aber nun vielmehr bzw. jetzt erst recht mit der Eltern brauchen es für ihr Selbstverständnis, sie Angst der Stigmatisierung und mit der Scham in brauchen es für ihre Identität. Kind einer psychisch kranken Mutter S. K. Erfahrungen - Tagebuchaufzeichnungen Er 17, sie 15 Jahre alt, als ihre Jugend dem Krieg weil ich ein Kind war, sehr lebendig, umtriebig zum Opfer fiel. Meine Eltern. Entwurzelt und und laut. Oft hat sie mich einsperren müssen. vertrieben in der sensiblen Phase des Erwa- Badezimmer fensterlos, Lichtschalter draußen. chens zum bewussten Sein und Wachsen. Sie Da musste ich drin bleiben bis ich ganz still und sprachen nie von Vergangenem, aber nachts in keine Tränen mehr - nur noch atmen. Wenn sie ihren Träumen, da habe ich sie manchmal schrei- dann aufschloss, sprach sie kein Wort, blickte en hören, da war ich noch sehr klein mich nur an und ich verstand, dass ich schlecht Wenn Gott wirklich so allmächtig und weise ist und böse. wie er uns dargestellt wird, warum lässt er dann Als ich in die Schule kam, begriff ich, dass es Menschen nicht erst dann Kinder bekommen, noch eine andere Sylvie geben musste. Hier wenn dieser nicht nur körperlich sondern auch hatte ich keine Schwierigkeiten, war beliebt und seelisch reif ist? Mich jedenfalls gäbe es dann fröhlich. einfach ein ganz normales Kind. nicht. Meinen Glauben gibt es auch nicht mehr. Die Schule blieb meine Rettung, obwohl wir, bis Gestorben an dieser Frage, da war ich 16. ich sie beendete, sieben Mal umgezogen sind. Meine Mutter blieb 6 Monate eines jeden Jahres Entwurzelung und Neubeginn. Beständigkeit für die Familie verschwunden. Später erfuhr ich, nur in zwei Personen. Das kettet. Mit den Jahren dass sie dann in der Psychiatrie war und auch, bekam Mutter die Familie mit ihrer Krankheit dass ich daran schuld sei. War die Mutter zu immer mehr in den Griff. Gab es irgendwelche Hause, weinte sie viel und litt sehr unter mir, Schwierigkeiten, bekam sie Depressionen und 10
Kinderpsy_251007 30.10.2007 12:44 Uhr Seite 11 1. Die Kinder psychisch kranker Eltern verschwand. Wie sie verschwand, tauchte Vater und schreie sie hört mich ist genervt kommt erst auf, der Mann, der sonst nur einem Schatten als ich schon ganz still geworden bin, zusammen gleich, erwachte zum Leben, konnte spielen, gesunken und tränenleer, nichts mehr als ein Wim- lachen und Unsinn machen. Bald habe ich mern und Flehen. Sie schaut sich um und schimpft gehofft, sie möge nicht mehr wiederkommen über das viele Blut und darüber, dass sie nun schon und mich gehasst, ob meines schlechten wieder putzen muss. Wesens, bald habe ich Vater verachtet, weil er Sie sieht mich nicht. mich einfach allein ließ, tat, als gäbe es mich Sie sieht mich einfach nicht. gar nicht, kaum erschien sie wieder. Mit 12 Jahren habe ich meinen ersten Selbst- R Tagebuch: mordversuch unternommen, wozu brauchte ich Mir träumte: Ein Schloss. Da ist alles ganz weiß, noch einen Körper? Sie brachte mich in die Böden. Decken, Türen, Türklinken. Psychiatrie und Tabletten sollten helfen. Ich war Und ganz leer. Kein Mobiliar, keine Bilder. Ich irre noch sehr jung, aber ich wusste, dass sie es durch Hallen. Gänge, Zimmer und suche meine nicht taten, meine Mutter war das beste Beispiel Eltern, denn ich weiß ich bin hier zu Hause. Ich dafür. Ich denke, es war auch der Zeitpunkt, da renne und schreie, werde immer verzweifelter, weil ich begriff, dass von außen nie Rettung kommen da einfach niemand ist. Renne und schreie bis an würde und ich sie in mir selbst finden musste. Atemlosigkeit schier erstickt. Und ich falle nieder Ich flüchtete. Schuf mir eine ganz eigene, ge- und weine den Teppich rot. Ein Ozean hellroter Trä- heime Welt, zu der niemand Zutritt hatte. Eine nen der wogt und zischt und leckt vom Boden die Welt in der ich Träume, Wünsche, Hoffnungen Wände zur Decke hinauf. Ich blute das Schloss rot leben konnte. Eine Welt, der die andere Welt bis ich ganz leer und still. nichts anhaben konnte. Und ich begann zu schreiben. Tagebuch. Buch um Buch, seit mei- Berührungen waren in unserer Familie eine Sel- nem 12. Lebensjahr. tenheit, fast ein Tabu. Als ich älter wurde, fielen Irgendwie zerfiel ich in zwei Teile, der eine zog selbst die, mich in ein dunkles Zimmer zu zerren sich immer mehr in sich selbst zurück, der ande- weg und das war fast genauso schlimm wie das re funktionierte nach außen hin immer besser. Schweigen mit dem ich nun gestraft wurde. Wie So hat niemand etwas bemerkt. Alles womit ich lange das Schweigen dauern würde, wusste ich nunmehr umgehe musste, waren Äußerlichkei- nie und es konnte schon geschehen, dass 14 ten, denn meine Mutter bestimmte alles. Sie Tagen lang niemand mit mir sprach, niemand wollte eine blonde Tochter, also färbte sie mein mich zu sehen schien. Das ist als gäbe es dich Haar, sie liebte grelle Farben, also musste ich in gar nicht. Das ist wie tot sein. orange, lila, hellgrün herumlaufen, sie bestimm- te die Zimmereinrichtung bis hin zu den Bildern R Tagebuch an der Wand. Als ich magersüchtig wurde, Mir träumte: Mutter und ich allein zu Hause. Sie ist begriff sie nicht, warum mich der Arzt in die Kli- in einem Zimmer, ich in unserem weißgekachelten nik einwies, ich gefiel ihr, mager und ohne Badezimmer. Ich bin verzweifelt und schmerzer- Anzeichen welchen Geschlechtes. füllt und greife zu einem Messer, das riesig groß und sehr scharf. Ich schneide mich an ganzem Kör- R Tagebuch: per auf, bin plötzlich überwältigt vom Anblick mei- Und der Tod? Was soll so schrecklich sein an ihm? nes Blutes, dem Brüllen des Schmerzes, dass ich Was soll schrecklicher sein als diese Tage an denen anfange zu schreien nach der Mutter. Ich schreie nichts ist niemand und nicht ich. Ich will weg alles 11
Kinderpsy_251007 30.10.2007 12:44 Uhr Seite 12 1. Die Kinder psychisch kranker Eltern los sein der Schutt der ich bin und den ich geschaf- Ich will keine Nähe mehr zu anderen Menschen. fen habe weg nur weg und schlafen ohne Erinne- Manche reden Liebe und wenn ich das glaube gibt rung erwachen und unschuldig sein und umherlau- ihnen das die Macht mich zu stoßen ins Dunkle fen mit offener Seele und riechen schmecken füh- und ich habe doch so entsetzliche Angst davor. len und schauen und neugierig sein und erstaunen ob all der Wunder die tausendfach überall. Ich Mit 18 habe ich mich als Au-Pair nach Irland habe sie so satt meine Gegenwart meine Vergan- beworben und bin einen Tag nach meinem genheit in mir ist Gift und Galle möchte schreien Schulabschluss abgereist. Das hat sie mir bis und schreien nie mehr aufhören klirrend greller heute nicht verziehen. Ton bis alles zerspringt. Die Familie zu verlassen hieß nicht ein neues Keiner merkt wie es mir geht, weil ich meine Rolle Leben zu beginnen. lm Gegenteil. Ich blieb dem perfekt beherrsche. Innen drin da krepiere ich so auf der Spur, was mir versagt geblieben war. unsagbar langsam unsagbar qualvoll dass da nur Liebe Wärme Geborgenheit. Verdammte Falle, noch Entsetzen noch lange denken zu müssen es denn ich suchte das, was ich als Liebe gelernt nicht zu schaffen mich zu töten. hatte inszenierte mir wieder und wieder Welt die ich kannte in Menschen denen ich reine Als ich ungefähr 17 Jahre alt war und lieber Benutzbarkeit, kalte Gleichgültigkeit. im Wald herumstreunte und auch manchmal Meine Sehnsüchte waren andere. Aber die draußen schlief, fiel ihr auf, dass ich anders glaubte ich mir nicht. war, als andere Mädchen meines Alters. Dieses Mal zu recht. Sie drängte mich, mit R Tagebuch: Freundinnen abends wegzugehen, aber meist So schrecklich ein Morgen alle Dinge in diesem Zim- wurde nichts daraus, weil sie, wollte ich gehen, mer so leblos ich öffnete die Augen und blickte und zu weinen begann, ich dürfte sie nicht allein las- brach ein in die Starre der Gegenstände. Da atmete sen. Sie ließ mich nur gehen, wenn sie die Ver- Gleichgültigkeit ich blieb liegen und hörte auf zu abredung ausgemacht hatte. Verabredungen atmen bis es zu sehr wehtat. Die Uhr! Das Ticken der mit Arbeitskollegen meines Vaters, Verabredun- Uhr monotones Gleichmaß das macht verrückt und gen mit Männern, die mein Vater hätten sein ich bin dann doch aufgestanden. Mir träumte: Ich können. sitze nackt auf dem Boden meines Zimmers. Wände, Decke, Boden, alles ist mit rohen, roten Fleisch R Tagebuch bedeckt. Maden und Würmer kräuseln und kringeln Da lebt dieses entsetzliche Klagen wieder auf und sich, fressen sich ohne Einhalten durch das stinken- nichts lebt in mir als grelle Angst. Bin in den Wald de Fleisch. Manche fallen auf mich und ich weiß gelaufen. Moosiger Boden der weich und warm und nicht, was sie mit mir tun. Schier unerträglich der ich ließ mich fallen und weinte musste husten und Geruch nach verwesendem Fleisch. Blutstropfen fal- merkte daran ich lebe atme pulsiere merkte wie ich len in meine Augen. Die Zimmertür steht weit auf es hasse und mein Taschenmesser berührt mein und ich sehe, dass draußen alles licht und freundlich Handgelenk. Ich sehe Blut. Mein Blut. Bin getröstet. ist. Ich weiß ich könnte aufstehen und einfach Als das Blut versiegt bin ich wieder allein und klein gehen, aber ich will nicht, fühle mich hier zu Hause und einsam und so dunkel die Welt und habe und sitze weiter still und schaue. geweint nach der Mutter, aber alles bleibt kalt und still und ich liege gekettet in Verzweiflung, zersplit- Irgendwann sind alle Energien verbraucht. Tod terte Augen, elendes Bündel Nichts, das Dunkel ich sehnte mich nach nichts als nicht mehr den- bezwingt den Ungehorsam. ken, nicht mehr fühlen zu müssen. Als ich 12
Kinderpsy_251007 30.10.2007 12:44 Uhr Seite 13 1. Die Kinder psychisch kranker Eltern 28 Jahre alt war unternahm ich mehrere Selbst- geschafft. Darin schlummert wenn auch in mordversuche, aber untalentiert. Psychiatrie Maske die Wahrheit in jedem Wort. nur Apathie und Tabletten. Ich verstummte. Text einer 46 jährigen Frau, Tochter einer psy- Sprach ein halbes Jahr kein Wort mehr. Etwas chisch kranken Mutter, geschrieben aus der Sicht später begann ich eine Therapie habe noch ihrer Kindheit anlässlich einer Bürgerkreis-Austel- Jahre gebraucht mir selbst gewahr zu werden, lung im Rahmen des KipkE-Projektes 2001. ohne mein Blut sehen zu müssen ohne Rasier- Die Installation in der Ausstellung bestand aus klingen unter dem Kopfkissen zu schlafen. einem ca. 2 x 3 m großen schwarzen Spinnen- Jahre gebraucht, um mich und meine Geschich- netz vor gelbem Hintergrund, in dem unzählige te zu begreifen auch die meiner Eltern Jahre kleine Menschenfiguren sich bewegen, balancie- gebraucht vom Überleben ins Leben zu kom- ren, zu fallen drohen, sich festhalten, aufgefan- men. Ohne meine Tagebücher hätte ich es nicht gen sind usw. Wenn die Last immer schwerer und die Verantwortung immer größer, der Wunsch sich vor der Welt zu verstecken oder sich wegzuträumen wächst, der Kampf zermürbt und die Hoffnung schwindet, die Angst übermächtig und dem Balanceakt der Fall gewiss, wenn psychische Erkrankung zur drückenden Zeitbombe wird, dann tut es gut .von anderen gehört, .. gesehen, ... angesprochen zu werden. Sylvia Kreutz Titel: Ertrinken 13
Kinderpsy_251007 30.10.2007 12:45 Uhr Seite 14 1. Die Kinder psychisch kranker Eltern A.P. Immer wieder Reiche ich Dir die Hand Immer wieder Erfahre ich Demütigung Immer wieder Erlebe ich Abwertung Das Unvermögen Ein anderes Leben zu begreifen Immer wieder Sehe ich Verzweiflung Immer wieder Spüre ich gescheiterte Bindungen Ich kann mich so schwer Von deinem Gefängnis abwenden Immer wieder Reiche ich Dir die Hand Die Trauer überwältigt mich Weil ich verstanden habe Dass Dir niemand helfen kann Du hast nicht aufgegeben Du wartest Ich kann nicht anders Immer wieder Selbsthilfegruppe für erwachsene Kinder psychisch kranker Eltern Warum eine Selbsthilfegruppe für erwachsene Kinder? Sie kämpfen mit Ängsten und den Belastungen seit wenigen Jahren erste Ansätze von Unter- durch die psychische Krankheit des Elternteils, stützung in ihrer schwierigen Situation. Da sie aber auch mit Ängsten vor einer Welt, die sie selten deutliche Anzeichen von Belastungen zei- nicht versteht. Und dabei verstehen sie sich gen, blieben sie lange Zeit völlig dem Blickfeld selbst nicht ganz, weil zuviel Belastendes für zu ihres Umfeldes aber auch des wissenschaftli- lange als Normalität begriffen wurde. chen Erkenntnisinteresses entzogen. Dies gilt zu weiten Teilen auch heute noch, denn Kinder mit Über die Hintergründe von Kindern psychisch kranken Eltern haben kein offensicht- psychisch kranker Eltern und den Zielen liches Gipsbein, das sie überall und sofort der Selbsthilfegruppe. erkenntlich macht, und sie wollen auch oft gar Kinder psychisch kranker Eltern erfahren erst nicht erkannt werden. 14
Kinderpsy_251007 30.10.2007 12:45 Uhr Seite 15 1. Die Kinder psychisch kranker Eltern Sich schlecht fühlen wird völlig normal... Eine eigenständige Wahrnehmung seiner Per- Das liegt an noch immer bestehenden Stigmati- sönlichkeit, fern von Stigma und Vertuschung, sierungen und damit zusammenhängenden von Scham und Verunsicherung ist von funda- Ängsten vor gesellschaftlichen Sanktionen. Es mentaler Wichtigkeit für das eigene Selbstver- ist also eine Schutzfunktion nach außen und ständnis. Erst dann kann man anfangen zu ler- innen und insofern auch gut so. Aber langfristig nen, mit seiner vollständigen Identität zu leben nehmen die Kinder zu viele Belastungen und und damit freier zu sein – sich selbst und ande- Verantwortungen auf sich, vom Ausfall der ren gegenüber. Gleichzeitig ist Anonymität der elterlichen Bedürfnisbefriedigung ganz zu Gruppe und seiner Mitglieder oberstes Gebot. schweigen. Die Selbsthilfegruppe Vermeidungsstrategien für das Rhein-Neckar-Dreieck als Schutz vor der eigenen Familie Vorwiegend spricht die Selbsthilfegruppe Bezüglich der familiären Situation in der sich (SHG) Menschen aus dem Rhein-Neckar-Dreieck an, (von Worms bis Speyer, Neckar-Odenwald- die Kinder befinden entstehen jahrelange emo- Kreis bis Dürkheim, sowie Heppenheim bis Neu- tionale Kämpfe nach innen (mit sich selbst) und stadt) und dessen Metropolen Heidelberg, außen (mit ihrem Umfeld). Dadurch entwickeln Mannheim und Ludwigshafen. sie oft Vermeidungsstrategien, um sich dem Sie richtet sich dabei an alle erwachsenen Kin- Ausmaß der Belastungen nicht bewusst werden der psychisch kranker Eltern. Unter „erwachsen“ zu müssen. Dies lässt sie vermeintlich unauffäl- ist der Abschluss des 18. Lebensjahres zu verste- lig heranwachsen. hen und „Psychisch krank“ bezieht sich dabei Im Laufe der kindlichen und später adoleszenten auf die Diagnosen Schizophrenie, schizo-affekti- Entwicklung eines Menschen entstehen dadurch ve Psychose, Bipolarität, manisch-depressiv und aber Defizite, über die sich die Betroffenen oft endogene/schwere Depression. Die SHG-Mitglie- genug selbst nicht bewusst sind. Dies vor allem der selbst sollen nicht in diesem Sinne psy- deshalb, weil die ausbleibende Kommunikation chisch krank sein. Aber Psychosomatische über die eigene Entwicklungssituation das per- Beschwerden (bzw. Depressionen oder Essstö- sönliche Empfinden für sich selbst als nicht außer- rungen) sind damit nicht gemeint. gewöhnlich erscheinen lässt: Sich schlecht zu füh- Die Treffen der Gruppe finden zweimal monat- len erscheint dann als völlig normal! lich in Räumen des Zentrums für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Heidelberg, Lernen, freier zu sein! (Stadtteil Bergheim) statt. Wer gerne teilneh- Damit sind erwachsene Kinder psychisch kran- men möchte, kann sich per Mail direkt an die ker Eltern in einem Kreis gefangen, der sich über Gruppe wenden, per Telefon beim Selbsthilfebü- Jahre, gar Jahrzehnte aufgebaut hat, und der sie ro erste Fragen klären oder einfach direkt zum daran hindert, ihre eigene Situation und sich Treffen erscheinen. Die Treffen selbst sind eher selbst richtig zu beurteilen. locker organisiert. Sie werden jeweils von einem Zu helfen, diesen Kreis zu durchbrechen, hat Gruppenmitglied moderiert. Das heißt, die sich die Selbsthilfegruppe Rhein-Neckar Gruppe findet selbst ihre Gesprächsthemen und „Erwachsene Kinder psychisch kranker Eltern“ versucht diese dann je nach Interessenlage und (EKpkE) zum Ziel gesetzt. Hier soll man sich vor- Gewichtung zu besprechen. Ein professioneller wiegend über die eigene Situation und das per- Moderator oder eine andere Person als dritte sönliche Selbstempfinden austauschen können. Partei sind nicht vorhanden. In diesem Sinne ist 15
Kinderpsy_251007 30.10.2007 12:45 Uhr Seite 16 1. Die Kinder psychisch kranker Eltern die Gruppe tatsächlich eine reine Selbsthilfe- Bei Interesse sind weitere gruppe. Alle Mitglieder sind gleichgestellt, Informationen zu finden unter: wobei die Schweigepflicht aller natürlich an Internet: http://de.geocities.com/ekpke_hd oberster Stelle für die Wahrung der Privatsphä- E-Mail: ekpke_hd@yahoo.de re steht. Heidelberger Selbsthilfe- und ProjekteBüro Alte Eppelheimer Straße 38 Selbsthilfe ersetzt nicht Therapie (Hinterhaus links, 1.OG) Die Selbsthilfegruppe "Erwachsene Kinder psy- 69115 Heidelberg chisch kranker Eltern" Rhein-Neckar hat sich also Tel. 06221 - 18 42 90 · Fax 06221 - 16 13 31 gegründet, um dem ausgebliebenen Hilfsange- E-Mail: selbsthilfe@paritaet-hd.de bot in der Kindheit nun die Selbsthilfe entgegen www.selbsthilfe-heidelberg.de zu setzen. Bürozeiten: Es gilt dabei zu beachten: Die Gruppe kann und Mo 10.00 - 13.00 Uhr Di 14.00 - 16.00 Uhr will keine Therapie oder Therapieersatz sein, Mi 10.00 - 13.00 Uhr Do 14.00 - 18.00 Uhr sondern sie versteht sich als ergänzendes Ele- sowie nach Vereinbarung ment in der Lebenswelt seiner Mitglieder. Weitere Informationen: Bundesweites Netzwerk www.netz-und-boden.de 2. Beratung und Betreuung von Kindern psychisch kranker Eltern Balance – Beratungs- und Orientierungsangebot für Kinder psychisch kranker Eltern Angebot des Zentrums für Psychosoziale Medizin des Universitätsklinikums Heidelberg Brigitte Bach-Ba, Diplom-Sozialarbeiterin, Systemische Familientherapeutin Christl Böttcher- Herget, Lehrerin, Erzieherin, Familientherapeutin Seit April 2002 gibt es am Universitätsklinikum kranker Menschen veranstaltet wurde, die sich Heidelberg eine Beratungsstelle für Kinder psy- dieser Zielgruppe widmete. chisch kranker Eltern, die von der Allgemeinen Hier wurde ein großer Bedarf an Beratung für Psychiatrischen Klinik und der Klinik für Kinder– Kinder und Jugendliche mit psychisch kranken und Jugendpsychiatrie getragen wird. Eltern aufgezeigt. Besonders deutlich wurde Die Idee zu unserem Angebot hatte sich entwik- herausgestellt, dass ein akuter Mangel an Ange- kelt, nachdem zum Anlass des Welttages der boten in unserer Region besteht. Seelischen Gesundheit 2001 eine Fachtagung Die Fachwelt hat diese Kinder lange Zeit verges- des Psychiatrie-Arbeitskreises Heidelberg und sen, obwohl Angehörigenarbeit z.B. in der des Arbeitskreises Rehabilitation psychisch Erwachsenenpsychiatrie seit vielen Jahren zu den 16
Kinderpsy_251007 30.10.2007 12:45 Uhr Seite 17 2. Beratung und Betreuung von Kindern psychisch kranker Eltern selbstverständlichen Angeboten der psychiatri- und weitgehend kostenlos, das bedeutet, dass schen Behandlungs- und Betreuungspraxis Kinder und Jugendliche, wie auch die Mitarbei- gehört. Die Kinder der Patienten wurden von den ter anderer Einrichtungen und Institutionen psychiatrischen Behandlern in Bezug auf den ohne Krankenschein und Überweisung beraten erkrankten Elternteil als Belastungs- oder Stabili- werden, um den Zugang zu uns zu erleichtern sierungsfaktor wahrgenommen. Nur im Falle und Schwellenangst zu vermindern. Kranke einer eigenen psychiatrischen Erkrankung rück- Eltern, die Patienten unserer Allgemeinambu- ten die Kinder in das Interesse der Psychiatrie. lanz sind und zu uns kommen, werden im Rah- Seit einigen Jahren hat ein Umdenken stattge- men der üblichen Ambulanzleistungen abge- funden und punktuell werden nun Unterstüt- rechnet. Kranke Eltern, die nicht Patienten unse- zungsangebote ins Leben gerufen, die die Pro- rer Klinik sind, benötigen einen Überweisungs- bleme dieser Kinder und Jugendlichen zu ihrem schein vom Hausarzt. Aufgabengebiet erklären. Die Zusammenarbeit mit den Jugendämtern, Besonders die Erkenntnis, dass das Risiko für die den sozialpsychiatrischen Einrichtungen, dem Kinder selbst zu erkranken, bei optimalem Familiengericht und der Verfahrenspflege ist Umgang der Familie mit der Erkrankung sinkt, ein wichtiger Bestandteil unseres Konzepts. trug zu diesem Umdenken bei. Als eine Reaktion auf diese Erkenntnisse ent- Theoretischer Hintergrund unserer Arbeit stand unser Beratungsangebot. Die Arbeit von Balance umfasst familienthera- Die Besetzung unseres Angebotes mit Mitarbei- peutische, sozialpädagogische und pädagogi- tern aus beiden Abteilungen der Psychiatri- sche Elemente und weist kindbezogene, eltern- schen Klinik führt zwei verschiedene Blickwinkel bezogene und auf die Eltern-Kind-Beziehung zusammen, um eine umfassende Sichtweise der ausgerichtete Anteile auf. Problematik zu gewährleisten. Während die Kin- Nach einer Kontaktaufnahme zu den betroffe- der- und Jugendpsychiatrie den Fokus auf das nen Eltern und deren Kindern wird ein psycho- erkrankte Kind legt, die Erwachsenenpsychiatrie sozialer Befund erhoben und daran anschlie- den erkrankten Elternteil im Blickpunkt hat, ßend versucht, über eine Ermittlung des Hilfsbe- wird in der Zusammenarbeit eine Zuständig- darfs der Familie, fallbezogene Orientierungs- keit für das belastete Kind, das (noch) nicht möglichkeiten, Angebote und Hilfen im sozia- erkrankt ist, in den Mittelpunkt gestellt. Die len Netzwerk der Region zu besprechen und Mitarbeiter können auf psychiatrisches Fach- gegebenenfalls Kontakte und Fallbesprechun- wissen zurückgreifen und kennen die Auswir- gen zu initiieren. kungen der verschiedenen psychiatrischen Dia- Die Arbeit mit den Eltern kann in verschiede- gnosen der Eltern. Dies ist ein wichtiger Faktor nen Zusammensetzungen (Einzelkontakt mit bei der Arbeit mit deren Kindern. dem erkrankten Elternteil, Paargespräche, Ein- Balance ist eine Anlaufstelle für Kinder und zelkontakt mit dem gesunden Elternteil) statt- Jugendliche mit psychisch kranken Eltern, für finden. Hier sollen die vorhandenen Ressourcen die Eltern selbst und für alle Personen, die zu der Eltern gestärkt werden, das Erziehungsver- Betroffenen Kontakt haben und eine Beratung halten der Eltern reflektiert und über Unsicher- wünschen. Unser Angebot ist offen für Ratsu- heiten im Umgang mit dem Kind oder Jugend- chende aus unserer Region und für Patienten lichen bezüglich der Entwicklung, der Schule, unserer Klinik. Wir arbeiten für Kinder, Jugendli- der Freizeitgestaltung usw. gesprochen wer- che, weitere Angehörige und für Helfer/-innen den. Die Gespräche mit den Familien sollen die psychosozialer Berufsgruppen niederschwellig Einzel- und Gruppenarbeit mit den Kindern 17
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