LEBEN MIT EPILEPSIE - Information für Betroffene und Angehörige - Österreichische Gesellschaft für ...
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UNTER MITARBEIT VON Prim. Univ.Prof. DI Dr. Christoph Baumgartner Neurologische Abteilung, Krankenhaus Hietzing mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel; Karl Landsteiner Institut für Klinische Epilepsieforschung und Kognitive Neurologie; Medizinische Fakultät, Sigmund Freud Privatuniversität, Wien OÄ Assoc.Prof. Priv.Doz. Dr. Silvia Bonelli-Nauer, PhD Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Wien OÄ Priv.Doz. Dr. Judith Dobesberger Universitätsklinik für Neurologie, Christian-Doppler-Klinik, Universitätsklinikum der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg Prim. Priv.Doz. Dr. Michael Feichtinger Abteilung für Neurologie, LKH Hochsteiermark, Bruck an der Mur Ao. Univ.Prof. Dr. Martha Feucht Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Medizinische Universität Wien OA Dr. Paolo Gallmetzer Barmherzige Brüder Krankenhaus Wien, Abteilung für Neurologie, Neurologische Rehabilitation und Akutgeriatrie, Wien Priv.Doz. Dr. Gudrun Gröppel Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Medizinische Universität Wien Prim. Priv.Doz. Dr. Edda Haberlandt Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde, Krankenhaus Dornbirn Priv.Doz. Dr. Giorgi Kuchukhidze, PhD Universitätsklinik für Neurologie, Christian-Doppler-Klinik, Universitätsklinikum der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg OA Ao. Univ.Prof. Dr. Gerhard Luef Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Innsbruck Ao. Univ.Prof. Dr. Ekaterina Pataraia, MBA Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Wien Ltd. OÄ Priv.Doz. Dr. Susanne Pirker Neurologische Abteilung, Krankenhaus Hietzing mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel; Karl Landsteiner Institut für Klinische Epilepsieforschung und Kognitive Neurologie, Wien Mag.a Elisabeth Pless Epilepsie Interessensgemeinschaft Österreich, Graz OA Dr. Christian Rauscher Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Universitätsklinikum der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg Prim. Univ.Prof. Dr. Mag. Eugen Trinka, FRCP Universitätsklinik für Neurologie, Christian-Doppler-Klinik, Universitätsklinikum der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg Dr. Iris Unterberger Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Innsbruck Prim. Priv.Doz. Dr. Tim J. von Oertzen, FRCP Klinik für Neurologie 1, Neuromed Campus, Kepler Universitätsklinikum GmbH, Linz 2
INHALT INHALT Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Was ist Epilepsie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Diagnostische Abklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Notfall – Erste-Hilfe-Maßnahmen bei epileptischen Anfällen . . . . . . . . . . . . . 15 Medikamentöse Therapie der Epilepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Operative Therapie der Epilepsie bei Erwachsenen (Epilepsiechirurgie) . . . . 23 Operative Therapie der Epilepsie bei Kindern (Epilepsiechirurgie) . . . . . . . . 27 Mein Kind hat Epilepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Leben mit Epilepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Zertifizierte Anfallsambulanzen in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Epilepsie-Monitoring-Units in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Selbsthilfegruppen in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Internet-Seiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .48 IMPRESSUM: Eigentümer, Herausgeber und Medieninhaber: Österreichische Gesellschaft für Epileptologie. Sekretariat: Hermanngasse 18/1/4, 1070 Wien. Tel.: +43-(0)1-890 34 74, Fax: +43-(0)1-890 34 74-25, E-Mail: oegfe@studio12.co.at. Redaktionsanschrift: Update Europe – Gesellschaft für ärztliche Fortbildung GmbH, Lazarettgasse 19/4, A-1090 Wien, Tel.: +43-(0)1-405 57 34, Fax: +43-(0)1-402 13 41 18. Für den Inhalt verantwortlich (in alphabetischer Reihenfolge): Prim. Univ.Prof. DI Dr. Christoph Baumgartner, OÄ Assoc.Prof. PD Dr. Silvia Bonel- li-Nauer, PhD, OÄ PD Dr. Judith Dobesberger, Prim. PD Dr. Michael Feichtinger, Ao. Univ.Prof. Dr. Martha Feucht, OA Dr. Paolo Gallmetzer, Dr. Gudrun Gröppel, Prim. PD Dr. Edda Haberlandt, PD Dr. Giorgi Kuchukhidze, OA Ao. Univ.Prof. Dr. Gerhard Luef, Ao. Univ.Prof. Dr. Ekaterina Pataraia, Mag.a Elisabeth Pless, OÄ PD Dr. Susanne Pirker, OA Dr. Christian Rauscher, Prim. Univ.Prof. Dr. Mag. Eugen Trinka, OÄ PD Dr. Iris Unterberger, Prim. PD Dr. Tim J. von Oertzen. Titelgestaltung: Martin Lachmair; www.creativedirector.cc, Wolkersdorf. Layout: Update Europe. Lektorat: Update Europe – Gesellschaft für ärztliche Fortbildung, Lazarettgasse 19/4, A-1090 Wien. Fotos: ©Fotolia.Auflage: 10.000 Stück. Copyright 2019 by Österreichische Gesellschaft für Epileptologie. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher schrift- licher Genehmigung der Österreichischen Gesellschaft für Epileptologie. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. 3
VORWORT VORWORT Epilepsie ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen. In den letzten Jahren konnten ent- scheidende Fortschritte in der Diagnostik und Therapie erzielt werden. Dennoch ist die Epilepsie noch immer häufig mit Informationsdefiziten, Fehleinschätzungen und Vorurteilen verbunden. Es ist ein zentrales Anliegen der Österreichischen Gesellschaft für Epileptologie (ÖGfE), Betrof- fene, Angehörige und die Allgemeinbevölkerung über diese Erkrankung auf dem neuesten Stand zu informieren. Deshalb freuen wir uns, Ihnen nun eine ergänzte und überarbeitete Version der PatientInnenbroschüre „Leben mit Epilepsie“ vorlegen zu können, die auch wichtige Teilgebiete der pädiatrischen Epileptologie abdeckt. Die PatientInnenbroschüre wurde von ExpertInnen der Österreichischen Gesellschaft für Epileptologie mit dem Ziel erarbeitet, wesentliche Aspekte der Erscheinungsformen, Ursachen, Diagnostik und Therapie sowie soziale Aspekte dieser Erkran- kung darzustellen. Ein differenziertes Wissen über Epilepsie erleichtert den Umgang mit der Erkrankung und ermöglicht einen offeneren Austausch zwischen den PatientInnen, ÄrztInnen und ihrem sozialen Umfeld. Die vorliegende PatientInnenbroschüre sollte somit in Ergänzung zum persönlichen Gespräch mit ÄrztInnen eine wertvolle Informationsgrundlage und Orientierungshilfe darstellen. Prim. Priv.Doz. Dr. Edda Haberlandt Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde, Krankenhaus Dornbirn 4
WAS IST EPILEPSIE? WAS IST EPILEPSIE? Bei einem epileptischen Anfall kommt es zu überschießenden Entladungen von Nervenzellen des menschlichen Gehirns, vergleichbar mit einem Gewitter im Gehirn. Dies führt zu einer kurzen Funktionsstörung der betroffenen Nervenzell- verbände. Um die Vorgänge bei einem epileptischen Anfall verstehen zu können, muss man über den Aufbau des Gehirns ein wenig Bescheid wissen. ■ Wie funktioniert das Gehirn? Dadurch wird die normale Funktion dieser Nervenzellverbände gestört. Oft gelingt es Das menschliche Gehirn besteht aus ca. dem Gehirn, diese Störung in dem betroffe- 30 Milliarden Nervenzellen. Die Nervenzel- nen Teil beschränkt zu halten. Dies gelingt len bestehen aus einem Zellkörper und Zell- jedoch nicht immer, sodass sich die epilepti- fortsätzen. Die Nervenzellen können über sche Aktivität bzw. das Gewitter in angren- zahlreiche Schaltstellen, so genannte Synap- zende Teile oder in das gesamte Gehirn aus- sen, Informationen miteinander austau- breiten kann. Die epileptischen Entladungen schen. Wenn eine Nervenzelle aktiv ist, wird dauern jedoch nur kurz, in der Regel unter entlang der Zellfortsätze ein elektrischer zwei Minuten, und werden dann durch Impuls an die Synapsen weitergeleitet. Dort schützende bzw. anfallsunterdrückende wird ein chemischer Überträger- oder Abwehrvorgänge des Gehirns aktiv beendet. Botenstoff (Transmitter) freigesetzt, der die Nach dem Anfall sind die Nervenzellen anschließenden Zellen in ihrer Funktion durch die überschießende Aktivität oft aktivieren oder hemmen kann. Dadurch erschöpft bzw. werden durch die anfallsun- kann die Aktivität der Nervenzellen des terdrückenden Mechanismen gehemmt, d.h., menschlichen Gehirns in einem komplizier- es bedarf einer gewissen Zeit, bis sich das ten Netzwerk miteinander fein abgestimmt Gehirn nach einem epileptischen Anfall werden, ähnlich wie die Stromversorgung in erholt hat und wieder normal funktionieren einer großen Stadt. Die geordnete Funktion kann. Diese Phase bezeichnet man auch als dieses Netzwerks ist für die Verarbeitung „postiktalen Zustand“. Durch bestimmte von Sinneseindrücken, die Durchführung Medikamente (Antiepileptika) kann einer- von Bewegungen, die Sprache, unser Den- seits die Entstehung von epileptischen Ent- ken und Fühlen sowie insgesamt für die ladungen unterdrückt werden, zum anderen Steuerung unserer Körperfunktionen verant- kann die Ausbreitung der Entladungen über wortlich. Somit stellt das Gehirn die Schalt- die Synapsen und somit das Übergreifen der zentrale unseres Körpers dar. Entladungen auf andere Hirnabschnitte ein- gedämmt werden. ■ Was passiert bei einem epilepti- schen Anfall im Gehirn? ■ Wie sehen epileptische Anfälle aus? Anfallsklassifikation Bei einem epileptischen Anfall kommt es plötzlich zu heftigen und gleichzeitigen Ent- Das Aussehen von epileptischen Anfällen ladungen in einem Teil der Nervenzellen des richtet sich danach, welche Nervenzellver- menschlichen Gehirns, die mit einem bände von den epileptischen Entladungen Gewitter verglichen werden können. erfasst werden. Deshalb können epileptische 5
WAS IST EPILEPSIE? Anfälle sehr verschieden aussehen. epileptische Aktivität von Beginn an Netz- Circa zwei Drittel der Anfälle entstehen in werke in beiden Hirnhälften, man spricht einem relativ umschriebenen, auf eine Hälf- dann von generalisierten Anfällen. Auch te des Gehirns beschränkten Netzwerk und diese Anfälle können ganz unterschiedlich werden deshalb als fokale Anfälle bezeich- aussehen: net. Die Anfallssymptome hängen von der • Generalisierte tonisch-klonische Anfälle Funktion der betroffenen Gehirnregion ab, (früher: Grand-Mal-Anfälle) sind durch z.B.: Bewusstseinsverlust, Sturz, Verkrampfung • Veränderungen der Wahrnehmung (komi- am ganzen Körper, Zuckungen der Arme sches aufsteigendes Gefühl aus der und Beine und einen nachfolgenden Magengegend, unbegründetes Angstge- Erschöpfungs- oder Verwirrtheitszustand fühl, Vertrautheits- oder Fremdheitsgefühl) gekennzeichnet. – diese Anfälle werden als fokal • Absencen äußern sich in einer kurzen sensible/sensorische, kognitive oder auto- Abwesenheit. nome Anfälle (früher: Auren) bezeichnet; • Myoklonische Anfälle bestehen in einem • Zuckungen oder Verkrampfungen des kurzen Zucken der Arme, seltener der Gesichts, der Arme oder Beine bei erhalte- Beine oder des Gesichts wie beim nem Bewusstsein (fokal motorische Anfäl- Erschrecken, wobei das Bewusstsein erhal- le) oder ten bleibt. • Einschränkung des Bewusstseins, verbun- • Tonische Anfälle sind durch kurze, wenige den mit merkwürdigen Verhaltensweisen Sekunden anhaltende Verkrampfungen der (Nesteln, Schmatzen, Kaubewegungen), Arme, Beine, des Gesichts und des Rump- von denen die Betroffenen nichts wissen fes gekennzeichnet. Diese Anfälle führen (fokale, nicht bewusst erlebte Anfälle). oft zu Stürzen mit entsprechenden Verlet- Bei ca. einem Drittel der Anfälle erfasst die zungen. • Atonische Anfälle führen zu einem kurzen Verlust der Muskelspannung, wodurch der Stirnlappen Scheitellappen Patient/die Patientin ebenfalls stürzen kann. Zumeist können sich Erkrankte entweder gar nicht oder nur zu einem Teil an den Anfall erinnern, sodass die genaue Beobach- tung und nachfolgende Beschreibung des Anfalls durch Verwandte, Bekannte oder sonstige ZeugInnen für die/den behandeln- de/n Ärztin/Arzt ganz entscheidend sind. ■ Wann spricht man von Epilepsie? Epileptische Anfälle können auftreten als • provozierte oder akut symptomatische Anfälle, Schläfenlappen • unprovozierte Anfälle. Hinterhauptlappen Provozierte oder akut symptomatische Abb. 1: Einteilung der Großhirnrinde in Anfälle werden durch einen erkennbaren, Gehirnlappen unmittelbaren Auslöser verursacht wie eine 6
WAS IST EPILEPSIE? akute Erkrankung des Gehirns (Hirnentzün- dungen, Hirnverletzungen, Schlaganfall etc.) oder entstehen im Rahmen einer allge- meinen Erkrankung bzw. Störung (Einnah- me oder Absetzen von Alkohol, Drogen, bestimmten Medikamenten, extremer Schlaf- entzug, Stoffwechselstörungen [Unterzucke- rung u.a.], hohes Fieber etc.). Diese Anfälle haben eine günstige Prognose, d.h., bei Behebung, Wegfall oder Vermeidung der auslösenden Ursache treten im Allgemeinen keine weiteren Anfälle auf. Deshalb muss hier zumeist keine medikamentöse Therapie begonnen werden. Bei den unprovozierten Anfällen kann Abb. 3: Generalisierter Anfall man keinen unmittelbaren Auslöser für die Anfälle feststellen. Dementsprechend ist das Risiko für das Auftreten weiterer Anfälle • bei einem unprovozierten Anfall, verbun- höher und liegt zwischen 30 und 50%. den mit einer Wahrscheinlichkeit von min- Risikofaktoren für das Auftreten weite- destens 60% in den nächsten 10 Jahren rer Anfälle sind dabei das Vorhandensein weitere Anfälle zu erleiden, die vergleich- von epilepsietypischen Veränderungen im bar ist mit dem Rückfallrisiko nach zwei Elektroenzephalogramm (EEG) und das nicht provozierten Anfällen. Dieses Rück- Vorliegen einer für die Anfälle ursächlichen fallrisiko muss für jede individuelle Person Veränderung in der Magnetresonanztomo- exakt erhoben werden, wobei hier die graphie (MRT). Anamnese und die Ergebnisse der EEG- Von einer Epilepsie spricht man, und MRT-Untersuchungen ganz entschei- • wenn mindestens zwei nicht provozierte dende prognostische Aussagen ermögli- Anfälle im Abstand von mehr als 24 Stun- chen. den auftreten. • bei Diagnose eines Epilepsiesyndroms (z.B. Absence-Epilepsie, juvenile myoklo- nische Epilepsie etc.). In diesen Fällen besteht ein sehr hohes Risiko für das Auf- treten von weiteren Anfällen, sodass eine dauerhafte medikamentöse Therapie mit anfallsunterdrückenden Medikamenten, so genannten Antiepileptika, generell emp- fohlen wird – bei einem Rückfallrisiko von mehr als 60% ist in diesem Fall auch nach einem einzelnen nicht provozierten Anfall eine Therapie anzuraten. Abb. 2: Fokaler Anfall 7
WAS IST EPILEPSIE? ■ Wie häufig sind Epilepsien und in 60. Lebensjahr), wobei im Alter von über 70 welchem Lebensalter kann man Jahren sogar mehr Menschen erstmals an an einer Epilepsie erkranken? Epilepsie erkranken als in den ersten zehn Lebensjahren, d.h., das Neuauftreten einer Epileptische Anfälle und Epilepsien kom- Epilepsie im höheren Lebensalter ist häufig men in allen Ethnien, Kulturen und sozialen und keine Seltenheit. Schichten gleich häufig vor. So litten viele prominente Persönlichkeiten, z.B. Sokrates, ■ Welche Ursachen haben Epilepsien? Julius Cäsar, Jeanne d’Arc, Napoleon, Char- les Dickens, Fjodor Dostojewski, Vincent Man unterscheidet van Gogh oder Alfred Nobel, an Epilepsie. • genetische Ursachen 5–10% aller Menschen erleiden zumin- • strukturelle Ursachen dest einmal in ihrem Leben einen epilepti- • infektiöse Ursachen schen Anfall. Die Wahrscheinlichkeit, im • metabolische Ursachen Laufe des Lebens an einer Epilepsie zu • immunvermittelte Ursachen erkranken, liegt bei über 5%. Die Prävalenz • unbekannte Ursache der Epilepsie liegt bei 8–12 pro 1.000, d.h., in Österreich leben derzeit 71.000–106.000 • Genetische Ursachen an Epilepsie erkrankte Menschen. Die Epi- Bei diesen Epilepsien besteht eine ange- lepsie zählt somit zu den häufigsten neuro- borene Disposition für epileptische Anfälle, logischen Erkrankungen. d.h., die Anfälle werden durch eine oder Die Neuerkrankungsrate in Abhängigkeit auch mehrere bekannte oder vermutete Gen- des Alters (altersabhängige Häufigkeit) mutationen verursacht. Bei manchen, aller- zeigt einen zweigipfeligen Verlauf mit dings seltenen Epilepsieformen konnten die einem ersten Häufigkeitsgipfel in der Kind- zugrundeliegenden Genmutationen bereits heit (ein Drittel der Epilepsien beginnt in der aufgeklärt werden; in den meisten Fällen Kindheit) und einem zweiten Häufigkeits- sind wahrscheinlich mehrere Genmutatio- gipfel im höheren Lebensalter (ein Drittel nen verantwortlich, die derzeit noch nicht der Epilepsien beginnt nach dem bekannt sind. Wichtig ist, dass die Abb. 4: Berühmte Persönlichkeiten mit Epilepsie © TOK56 – Fotolia.com, Jaap – istockphoto.com, xyno – istockphoto.com, duncan 1890 – istockphoto.com, 8
WAS IST EPILEPSIE? meisten Genmutationen bei den betroffenen stoffwechsels Pyridoxin-abhängige Anfälle, Personen neu (de novo) auftreten, also nicht zerebralen Folsäuremangel. In vielen Fällen ererbt sind. Zudem führen identische Gen- ist eine ganz spezielle Therapie möglich mutationen oft zu ganz unterschiedlichen und/oder erforderlich. Epilepsieformen. Auch bei genetischen Epi- lepsien können Umgebungsfaktoren ent- • Immunvermittelte Ursachen scheidend zur Ausdrucksform der Erkran- Bei diesen Epilepsieformen werden die kung beitragen. Merke: Genetisch bedeutet Anfälle durch autoimmunvermittelte Ent- nicht vererbt! zündungen des Zentralnervensystems, sog. Autoimmunenzephalitiden verursacht, d.h. • Strukturelle Ursachen der Körper bildet (fälschlich) Abwehrstoffe Strukturelle Veränderungen in der Bildge- (sog. Antikörper) gegen seine eigenen Ner- bung (Magnetresonanztomographie) können venzellen. Diese Autoimmunenzephalitiden mit einem signifikant erhöhten Epilepsieri- können zunehmend häufiger durch Nach- siko verbunden sein. Hier sind einerseits weis der entsprechenden Antikörper im Blut erworbene strukturelle Veränderungen (z.B. oder Nervenwasser (Liquor) nachgewiesen nach einem Schlaganfall, nach einer Hirn- werden. Der entsprechende Nachweis ist verletzung, bei einem Hirntumor, Narben- sehr wichtig, da sich daraus sehr effektive bildungen im Schläfenlappen wie mesiale (sog. immunmodulatorische) Therapiemög- Temporallappensklerose) oder aber angebo- lichkeiten ergeben. rene (zum Teil genetisch bedingte) Verände- rungen (z.B. Fehlbildungen der kortikalen • Unbekannte Ursache Entwicklung) zu nennen. In vielen Fällen kann trotz aller diagnosti- schen Anstrengungen keine definitive Ursa- • Infektiöse Ursachen che für die Epilepsie der/des Betroffenen Infektionen wie z.B. Neurozystizerkose, gefunden werden, man spricht dann von Tuberkulose, HIV, zerebrale Malaria, sub- Epilepsie unbekannter Ursache. akute sklerosierende Panenzephalitis, zere- brale Toxoplasmose und kongenitale Infek- ■ Wichtige Epilepsiesyndrome tionen, z.B. durch den Zika- oder Zytomega- (Auswahl) lievirus, gehören weltweit zu den häufigsten Ursachen für Epilepsien, sind aber in • Genetische Epilepsiesyndrome Europa weniger häufig. Für diese Epilepsie- Rolando-Epilepsie formen gibt es ganz spezielle Behandlungs- Die Rolando-Epilepsie ist eines der häu- möglichkeiten. figsten Epilepsiesyndrome im Kindesalter und macht bis zu 20% aller Epilepsien aus. • Metabolische Ursachen Das Alter bei Erkrankungsbeginn liegt bei Eine Vielzahl von Stoffwechselerkrankun- 5–10 Jahren. Die fokalen Anfälle beginnen gen führt auch zu epileptischen Anfällen, die oft mit Kribbeln, eingeschlafenem Gefühl, dann ein wesentliches Kernsymptom der Zucken und Verkrampfung im Bereich des Erkrankung darstellen. Bei diesen Stoff- Gesichtes (v.a. Mundwinkel) und Rachens, wechselerkrankungen besteht ein (oft gene- oftmals entwickeln sich daraus auch bilate- tisch verursachter oder erworbener) Stoff- ral tonisch-klonische Krämpfe. Die Anfälle wechseldefekt, der Symptome im gesamten treten häufig in der Nacht bzw. in der Auf- Körper verursachen kann wie z.B. Porphy- wachphase am Morgen auf. Die Prognose rie, Urämie, Störungen des Aminosäure- ist günstig; nahezu immer hören die Anfälle 9
WAS IST EPILEPSIE? mit Ende der Pubertät auf, die Medikamen- epilepsien zu den häufigsten Epilepsiefor- te sind nicht immer erforderlich und können men. Eine Temporallappenepilepsie ist ein spätestens in der Pubertät abgesetzt werden. meist bei Jugendlichen und Erwachsenen beginnendes Epilepsiesyndrom. Absence-Epilepsie des Schulalters Die Absence-Epilepsie des Schulalters ist Mesiale Temporallappenepilepsie eine der häufigsten Epilepsien im Kindesal- Die mesiale, d.h. von inneren Bereichen ter. Das Alter bei Erkrankungsbeginn liegt des Gehirns (Hippocampus) ausgehende bei 4–8 Jahren. Anfallsformen umfassen Temporallappenepilepsie zählt zu den häu- generalisierte Absencen, die unbehandelt bis figsten Epilepsieformen überhaupt. In der zu mehr als 100-mal am Tag auftreten kön- Krankheitsgeschichte findet sich oft ein so nen, bei 40% der Erkrankten sind auch genanntes auslösendes Ereignis wie z.B. generalisierte Krämpfe möglich. Bei ca. komplizierte Fieberkrämpfe, eine Hirnver- zwei Drittel der Betroffenen kann durch eine letzung oder eine Infektion des Gehirns im entsprechende Therapie langfristig Anfalls- Alter von unter 5 Jahren. Es folgt ein an- freiheit erreicht werden. fallsfreies Intervall, im Volksschulalter oder später treten dann erstmals Anfälle ohne Fie- Juvenile Myoklonische Epilepsie ber auf. In dieser Phase sprechen die Anfäl- Die Juvenile Myoklonische Epilepsie ist le oft noch gut auf Medikamente an und mit 5–10% aller Epilepsien eines der häu- viele Betroffene werden unter Therapie figsten Epilepsiesyndrome. Das Alter bei zunächst anfallsfrei. Im Weiteren kommt es Erkrankungsbeginn liegt bei 12–18 Jahren. jedoch bei 70–80% der Erkrankten zu Die Betroffenen leiden immer an Myoklo- Anfällen, die auf Medikamente nur unzurei- nien (plötzliche, unwillkürliche Muskelzu- chend ansprechen. Bei diesen PatientInnen ckungen), häufig an generalisierten Krämp- sollte frühzeitig ein epilepsiechirurgischer fen sowie seltener auch an Absencen. Die Eingriff erwogen werden, wodurch in vielen Anfälle treten typischerweise in den ersten Fällen Anfallsfreiheit erreicht werden kann. zwei Stunden nach dem Aufwachen am Morgen oder nach dem Mittagsschlaf auf, Andere Temporallappenepilepsien definitive Anfallsauslöser sind Schlafentzug Hier sind einerseits Betroffene mit nach- und Alkohol. Dieses Epilepsiesyndrom ist weisbaren Veränderungen im Gehirn (z.B. gut behandelbar, bei 85% der Erkrankten Hirntumore, Gefäßmissbildungen und kann Anfallsfreiheit erreicht werden. Aller- -läsionen, Störungen der Hirnrindenarchi- dings besteht ein sehr hohes Risiko für das tektur (fokale kortikale Dysplasien), Verän- Wiederauftreten von Anfällen nach dem derungen nach Entzündungen und Läsionen Absetzen der Medikamente. Von vielen nach Gehirnverletzungen) anzuführen. Bei ÄrztInnen wird deshalb eine lebenslange schlechtem Ansprechen auf eine medika- Therapie empfohlen. mentöse Therapie bietet auch für diese PatientInnen ein epilepsiechirurgischer Ein- • Epilepsien aufgrund von Ursachen griff hohe Erfolgschancen für Anfallsfrei- in der Gehirnstruktur und im Stoff- heit. Andererseits findet man bei vielen wechsel Betroffenen auch keine Veränderung in der Temporallappenepilepsien Magnetresonanztomographie des Gehirns Circa 60% der fokalen Anfälle entstehen (sog. MR-negative Temporallappenepilep- im Schläfenlappen (Temporallappen). Dem- sien oder Temporallappenepilepsien unbe- entsprechend gehören die Temporallappen- kannter Ursache). 10
WAS IST EPILEPSIE? Frontallappenepilepsien ist eine verzögerte oder eingeschränkte Circa 30% der fokalen Anfälle entstehen geistige Entwicklung. im Stirnlappen (Frontallappen), die Frontal- lappenepilepsien sind somit die zweithäu- ■ Prognose – wie verläuft eine figste Epilepsieform mit fokalen Anfällen. Epilepsie? Ursächlich können Frontallappenepilepsien aufgrund von Läsionen der Gehirnstruktur In vielen Fällen kann heute durch eine (Tumore, Gefäßmissbildungen, fokale korti- genaue diagnostische Abklärung bereits zu kale Dysplasien etc.), Frontallappenepilep- Beginn der Epilepsie eine genaue Prognose sien mit normaler Magnetresonanztomogra- für die Behandelbarkeit gestellt werden. phie (sog. MR-negative Frontallappenepi- Epilepsieerkrankungen haben eine jeweils lepsien oder Frontallappenepilepsien unbe- unterschiedliche Prognose: kannter Ursache) und schließlich genetisch Insgesamt kann bei ca. zwei Drittel der verursachte Frontallappenepilepsien (z.B. EpilepsiepatientInnen durch eine antiepilepti- autosomal dominante nächtliche Frontallap- sche Therapie anhaltende Anfallsfreiheit penepilepsie) unterschieden werden. erreicht werden, bei ca. der Hälfte dieser Betroffenen kann die Therapie langfristig West-Syndrom wieder abgesetzt werden. Eine Epilepsie gilt Das West-Syndrom ist ein frühkindliches als „überwunden bei PatientInnen mit einem Epilepsiesyndrom mit unterschiedlichen altersabhängigen Epilepsiesyndrom, die jen- Ursachen, wobei zumeist vor, während oder seits des entsprechenden Alters sind, und bei nach der Geburt entstandene Hirnschädi- PatientInnen, die mindestens 10 Jahre gungen verantwortlich gemacht werden kön- anfallsfrei sind und seit mindestens 5 Jahren nen. Der Erkrankungsbeginn liegt im 3.–8. keine Antiepileptika mehr einnehmen“. Lebensmonat. Die Anfälle manifestieren Beim übrigen Drittel entwickelt sich eine sich als epileptische Spasmen, die durch schwer behandelbare oder therapieresistente kurz dauernde, oft mehrfach hintereinander Epilepsie (Anfälle trotz maximaler Therapie). auftretende Verkrampfungen des ganzen Körpers gekennzeichnet sind. Fast immer bestehen auch Verzögerungen der motori- schen und geistigen Entwicklung. Das klini- sche Bild einer epileptischen Enzephalopa- thie soll konsequent mit Cortison behandelt werden. Lennox-Gastaut-Syndrom Die Häufigkeit des Lennox-Gastaut-Syn- droms liegt bei ca. 5% aller kindlichen Epi- lepsien. Das Alter bei Erkrankungsbeginn liegt bei 3–5 Jahren. Die Erkrankten leiden typischerweise an mehreren unterschiedli- chen, zumeist schwer behandelbaren An- fallsformen wie tonischen Anfällen, atypi- schen Absencen, generalisierten Krämpfen, atonischen Anfällen, myoklonischen bzw. myoklonisch-atonischen Anfällen. Häufig 11
DIAGNOSTISCHE ABKLÄRUNG DIAGNOSTISCHE ABKLÄRUNG ■ Anamnese gel, Fieber, Alkohol, Drogen, Medikamente, (Erhebung der Krankheitsgeschichte) Unterzuckerung etc.) zu erheben. Weitere Eckpunkte der Anamnese beinhalten die Eine sorgfältige Anamnese ist die entschei- Abklärung möglicher ursächlicher Faktoren dende Voraussetzung für eine richtige Dia- für das Auftreten einer Epilepsie (Schwan- gnose. Letztlich erfolgt die Diagnose „Epi- gerschafts- bzw. Geburtskomplikationen, lepsie“ aufgrund der Anamnese. An erster Störung der frühkindlichen Entwicklung, Stelle steht hier die Anfallsbeschreibung, Fieberkrämpfe, schwere Kopfverletzungen, einerseits durch die Betroffenen selbst (Vor- Entzündungen des Gehirns) sowie die Fami- zeichen, Veränderung der Wahrnehmung, lienanamnese hinsichtlich Anfallserkran- motorische Entäußerungen bei erhaltenem kungen. Bewusstsein) sowie insbesondere die Außen- Die beiden wesentlichen Zusatzuntersu- anamnese durch andere Personen wie Ver- chungen in der Epilepsiediagnostik sind die wandte, Bekannte oder sonstige ZeugInnen. Elektroenzephalographie (EEG) und die Die Außenanamnese ist von entscheidender Magnetresonanztomographie (MRT). Bedeutung, da zumeist entweder für die gesamte Dauer des Anfalls oder für Teile ■ Elektroenzephalographie (EEG) davon eine Erinnerungslücke seitens der Erkrankten besteht. Im EEG wird die elektrische Aktivität des Auch Symptome nach dem Anfall (postikta- menschlichen Gehirns gemessen. Das EEG le Symptome) sind für die Differenzialdia- des Gehirns entspricht also dem EKG des gnose wichtig (Dämmerzustand bzw. anhal- Herzens. Das EEG beantwortet somit die tende Gedächtnisstörung, Verwirrung bzw. Frage: Wie funktioniert das Gehirn? Unruhe, Muskelkater, kleinste Blutungen im Vor der Untersuchung sollte man sich die Gesicht und am Rumpf etc.). Zudem sind Haare waschen. Für die Untersuchung wer- allfällige auslösende Faktoren (Schlafman- den Elektroden an bestimmten, genau defi- nierten Punkten am Kopf platziert, mit denen die elektrische Aktivität abgeleitet werden kann. Eine EEG-Ableitung dauert 20–30 Minuten, es entsteht keine Strahlen- belastung. Während der Untersuchung sollte man sich möglichst entspannen und die Augen geschlossen halten. Auf Anweisung der EEG-Assistenz sind verschiedene Auf- gaben auszuführen (Augen öffnen und schließen, Faust machen, zählen etc.). Zudem kommen so genannte Aktivierungs- methoden (vermehrtes Atmen = Hyperventi- lation bzw. Flackerlichtstimulation) zur Anwendung. Insbesondere bei kleinen Kin- dern kann die Durchführung eines EEGs Abb. 5: Elektroenzephalographie (EEG) eine große Herausforderung sein, so dass 12
DIAGNOSTISCHE ABKLÄRUNG Abb. 6: Normale Gehirnwellen Abb. 7: Gehirnwellen während eines epilep- (Elektroenzephalogramm) tischen Anfalls (generalisierte Epilepsie; Elektroenzephalogramm) man Sie bitten wird, das Kind müde zur schließt somit eine Epilepsie nicht aus! Untersuchung zu bringen. Man wird ver- Das EEG ist einerseits wichtig für die Diffe- suchsweise den Zeitpunkt für den optimalen renzialdiagnose, um epileptische von nicht- Termin im Tagesverlauf individuell festlegen. epileptischen Anfällen zu unterscheiden, Das Ziel der EEG-Untersuchung ist der andererseits kann das EEG bei PatientInnen Nachweis von epilepsietypischen Verände- mit epileptischen Anfällen bei der Zuord- rungen (so genannte „Spikes“ oder Spitzen), nung zu einer bestimmten Epilepsieform die einen direkten Hinweis auf pathologisch helfen. entladende Nervenzellen geben und somit In differenzialdiagnostisch unklaren Fällen die Diagnose Epilepsie bestätigen können. sollte zur Diagnosesicherung die Aufzeich- Bei den meisten PatientInnen mit Epilepsie nung eines Anfalls und des entsprechenden treten derartige Entladungen auch zwischen EEGs mittels intensiver Video-EEG-Über- den Anfällen auf, ohne dass die Betroffenen wachung im Krankenhaus angestrebt wer- davon etwas merken. Das EEG sollte mög- den. Im Vorfeld können hier Videoaufzeich- lichst frühzeitig nach einem Anfall durchge- nungen mit privaten Videokameras oder führt werden, da die Empfindlichkeit inner- Mobiltelefonen von anfallsverdächtigen halb der ersten 12–24 Stunden am höchsten Ereignissen hilfreich sein, diese sind für die ist. Bei unauffälligem Wach-EEG sollten ein endgültige Diagnostik jedoch zumeist nicht Schlaf-EEG (epilepsietypische Entladungen ausreichend. treten im Schlaf häufiger auf als im Wachzu- stand) und/oder ein Schlafentzugs-EEG ■ Magnetresonanztomographie (MRT) durchgeführt werden. Das EEG besitzt eine hohe Genauigkeit – 90% der Erkrankten mit Zur Abklärung der Ursache einer Epilep- epilepsietypischen Veränderungen im EEG sie muss die Struktur des Gehirns untersucht leiden auch tatsächlich an einer Epilepsie. werden. Die Frage lautet hier: Wie sieht das Umgekehrt ist jedoch zu bedenken, dass Gehirn aus? Die Methode der Wahl ist hier sich bei 10% der EpilepsiepatientInnen die Magnetresonanztomographie (MRT). keine epilepsietypischen Veränderungen Die MRT ist eine moderne bildgebende nachweisen lassen: Ein normales EEG Untersuchungsmethode, die zur Messung 13
DIAGNOSTISCHE ABKLÄRUNG starke Magnetfelder verwendet und dadurch genaue Bilder des Gehirns liefert. Eine ähn- liche Methode ist die Computertomogra- phie, die zur Messung Röntgenstrahlen benutzt. Die Computertomographie des Kopfes (kraniale CT = CCT) kann in der Akutsituation zum Ausschluss von akut bedrohlichen Erkrankungen durchgeführt werden. Jedenfalls ist dann im Intervall ergänzend eine MRT anzuschließen, da die Genauigkeit der MRT für den Nachweis von kleinen Veränderungen der Gehirnstruktur (Tumoren, Gefäßmissbildungen, Hippocam- Abb. 9: Durchführung der MRT-Untersuchung pusatrophien bzw. -sklerosen [Schrumpfung bzw. Narbe des Hippocampus], kortikale speziellen Epilepsieprotokoll zu erfolgen, da Fehlbildungen bzw. Dysplasien) wesentlich bei vielen PatientInnen mit einem unauffäl- höher ist als jene der CCT. Eine CCT als ligen Befund aus einer routinemäßig durch- alleinige Methode zur Abklärung der geführten Magnetresonanztomographie erst Gehirnstruktur ist somit nicht ausreichend. bei entsprechend gezielter Untersuchung Ein weiterer Vorteil bei der MRT-Untersu- Veränderungen nachgewiesen werden kön- chung ist die fehlende Strahlenbelastung. nen. Bei der Untersuchung müssen PatientIn- nen in einer etwa 70 bis 100 Zentimeter lan- ■ Differenzialdiagnose – womit kann gen Röhre liegen. Dies kann für Menschen eine Epilepsie verwechselt werden? mit Platzangst ein Problem darstellen. Bei Personen mit unterschiedlichen Implantaten Die diagnostische Unsicherheit bei Epi- (Herzschrittmacher, VP-Shunts, Vagusnerv- lepsie beträgt ca. 15–20%, d.h., bei diesen stimulator etc.) muss die MR-Tauglichkeit PatientInnen wird die Diagnose Epilepsie geprüft und vorher besprochen werden. fälschlich gestellt. Differenzialdiagnostisch Die MRT-Untersuchung hat nach einem sind hier in erster Linie Ohnmachten (kon- vulsive Synkopen), psychisch bedingte nichtepileptische Anfälle und Erkrankungen des Schlafs (Parasomnien) zu erwähnen. Im Säuglings- und Kleinkindesalter können Refluxepisoden, die Affektkrämpfe und der Pavor nocturnus als Anfall missgedeutet werden. Insbesondere bei PatientInnen, bei denen keine befriedigende Anfallskontrolle erzielt werden kann, muss die Diagnose des- halb hinterfragt werden. In diagnostisch unklaren Fällen sollte eine Video-EEG- Überwachung durchgeführt werden. Abb. 8: MRT-Darstellung der Struktur des Gehirns 14
NOTFALL – ERSTE-HILFE-MASSNAHMEN BEI EPILEPTISCHEN ANFÄLLEN NOTFALL – ERSTE-HILFE-MASSNAHMEN BEI EPILEPTISCHEN ANFÄLLEN Das Ziel der Ersten Hilfe ist es, den Betroffenen beizustehen, Ruhe zu bewahren, überlegt zu handeln und mögliche Verletzungen und negative Folgeerscheinungen zu verhindern. ■ Generalisierter tonisch-klonischer de Anfälle auftreten. Dies wird üblicherwei- Anfall se im Falle eines generalisierten tonisch-klo- nischen Anfalls ab Anfallsdauer > 3 Minuten Wenn möglich, sollte man versuchen, eine vereinbart. stürzende Person aufzufangen oder hinzule- Üblicherweise dauert nach einem generali- gen. Zudem sollten Verletzungen durch sierten Krampfanfall die Zeit der Bewusst- Anprallen gegen scharfe Gegenstände seinstrübung an und geht dann in einen (Ecken, Gläser etc.) vermieden werden. „Erholungsschlaf“ über. Nach einigen Stun- Nach Abklingen der motorischen Entäuße- den sind die meisten PatientInnen wieder rungen sollte die/der PatientIn in eine stabile vollkommen erholt. Trotz bester Absicht soll- Seitenlage gebracht werden. Wichtig ist die te kein Gegenstand in den Mund eingeführt Beobachtung der Symptome des Anfallsge- werden (Verletzungsgefahr für Finger und schehens, um später eine exakte Beschrei- Zähne, Gefahr des Verschluckens/Einatmens bung zu ermöglichen. Um die Dauer des abgebrochener Zähne oder Gegenstände) Anfalls abschätzen zu können, ist es wichtig, und die Betroffenen auf keinen Fall festge- möglichst zu Beginn und am Ende des halten werden (erhöht die Verletzungsge- Anfalls auf die Uhr zu schauen. fahr). Wenn es sich um einen ungewöhnlich lang Tabelle 1 gibt eine praktische Übersicht andauernden Anfall handelt, ist es sinnvoll, über Erste-Hilfe-Maßnahmen. möglichst rasch zu behandeln und nicht abzu- warten, bis eine medizinische Fachkraft ein- trifft. Bei Bedarf können verschiedene Medi- kamente für den Notfall verordnet werden: • Diazepamrektiolen (Klistier zum Einfüh- ren in den Anus/Mastdarm), • Midazolam als bukkale Lösung zur Ver- abreichung in die Backentaschen oder als Nasenspray, • Lorazepam als Nasenspray. Es ist sinnvoll, mit der/dem behandelnden Ärztin/Arzt über die Notwendigkeit zu spre- chen und ggf. das optimale Notfallmedika- ment und die exakte Dosierung festzulegen. Notfallmedikamente werden in der Regel nur benötigt, wenn ungewöhnlich lang anhalten- 15
NOTFALL – ERSTE-HILFE-MASSNAHMEN BEI EPILEPTISCHEN ANFÄLLEN Tabelle 1: Erste-Hilfe-Maßnahmen (Übersicht) JA NEIN Hektisch sein und Unruhe verbreiten, Ruhe bewahren, auf die Uhr schauen! sensationslustig zusehen und Smartphone-Aufnahmen machen. Bei Auftreten bekannter „Vorzeichen“ Betroffenen Gegenstände zwischen Ober- und Unterkiefer beim Hinlegen helfen. schieben. Den Patienten/die Patientin aus Gefahrenzone bergen (Wegziehen am Oberkörper)! Den Betroffenen/die Betroffene festhalten. Wenn möglich, gefährliche Gegenstände (Messer, Schere etc.) entfernen. Weichen Gegenstand unter den Kopf legen. Stabile Seitenlage. Dem Betroffenen/der Betroffenen beistehen, bis der Anfall vorüber ist bzw. bis er/sie wieder gänzlich Den Betroffenen/die Betroffene allein lassen. orientiert ist. Nach einem Anfall Hilfe anbieten. Übertrieben handeln. Rufen der Rettung/des Arztes/der Ärztin, wenn mehrere Anfälle hintereinander auftreten oder der IMMER die Rettung/den Arzt/die Ärztin rufen. Anfall länger als 5 Minuten dauert oder Verletzungen auftreten. 16
MEDIKAMENTÖSE THERAPIE DER EPILEPSIE MEDIKAMENTÖSE THERAPIE DER EPILEPSIE ■ Behandlungsziel von den Ergebnissen der Zusatzuntersuchun- gen (Elektroenzephalographie [EEG], Das Ziel einer medikamentösen Behand- Magnetresonanztomographie [MRT]) sowie lung besteht darin, das Wiederauftreten epi- auch von der individuellen Situation der leptischer Anfälle zu unterdrücken. Eine Betroffenen und den sozialen oder gesund- wesentliche Voraussetzung ist, dieses Ziel heitlichen Folgen eines epileptischen Anfalls ohne nennenswerte beeinträchtigende Ne- – z.B. bei Personen, die in der Öffentlichkeit benwirkungen für die PatientInnen zu er- stehen oder verletzungsträchtige Berufe möglichen. Es ist wünschenswert, ein Maxi- haben – beeinflusst. Spätestens nach dem mum an Lebensqualität unter Anfallsfreiheit zweiten unprovozierten Anfall sollte mit zu erreichen. Das Therapieziel lautet somit einer medikamentösen Therapie begonnen Anfallsfreiheit ohne Nebenwirkungen. werden. In einem vertrauensvollen, offenen Gespräch mit Ihrer/Ihrem behandelnden Ärztin/Arzt sollte das Therapieziel unter ■ Wie ist die Prognose medikamentös einem sorgfältigen Abwägen von Nutzen behandelter EpilepsiepatientInnen? und Risiken einer längerfristigen Behand- lung festgelegt werden. Bei etwa zwei Drittel aller Epilepsiepa- tientInnen kann mit einer medikamentösen ■ Wann soll mit einer medikamentösen Therapie Anfallsfreiheit erreicht werden. Therapie begonnen werden? Hierzu sollte die jeweilige Epilepsieform richtig diagnostiziert und das am besten Nicht jeder epileptische Anfall muss medi- geeignete Antiepileptikum ausgewählt wer- kamentös behandelt werden. Häufig liegt den. Nach mehrjähriger Anfallsfreiheit kann keine Epilepsie vor, sondern die Anfälle tre- abhängig vom Epilepsiesyndrom ein langsa- ten nur als Folge bestimmter Auslöser auf. mer, schrittweise durchgeführter Redukti- Bedeutende anfallsauslösende Faktoren sind: ons- und schließlich Absetzversuch erfol- Alkohol, Drogen, anfallsprovozierende gen. Dabei wird bewusst das Risiko des Medikamente, abruptes Absetzen mancher Wiederauftretens eines Anfalls eingegangen, Medikamente nach Medikamentenmiss- um die Chance einer dauerhaften Anfalls- brauch, „Blutsalzentgleisungen“, „niedriger freiheit ohne Therapie beurteilen zu können. Blutzucker“ bei Diabeteserkrankten, schwere Auf einen Absetzversuch sollte man ver- Erkrankungen wie zum Beispiel fieberhafte zichten, wenn das EEG unter Therapie noch Infektionen etc. Auch für Fieberkrämpfe zei- deutliche Zeichen einer erhöhten Anfallsnei- gen aktuelle Untersuchungen, dass eine gung zeigt. Sollte es während der Redukti- medikamentöse Dauerbehandlung weder das onsphase oder nach dem Absetzen des Rückfallrisiko senkt noch das Entstehen Antiepileptikums zu einem neuerlichen einer Epilepsie verhindert. Die Behandlung Anfall kommen, soll die ursprüngliche The- mit Medikamenten gegen Anfälle (Antiepi- rapie wieder eingenommen werden. Selbst leptika) wird daher bei einem unkomplizier- nach erfolgreichem Absetzen der Antiepi- ten Fieberkrampfleiden nicht empfohlen. leptika müssen weiterhin alle anfallsauslö- Ob bereits nach einem ersten Anfall behan- senden Faktoren (Alkoholgenuss, Schlafent- delt werden sollte oder nicht, wird wesentlich zug) gemieden werden. 17
MEDIKAMENTÖSE THERAPIE DER EPILEPSIE ■ Warum ist die Behandlung mit nur „ausdosiert“ werden sollte. Dies bedeutet, einem Medikament zu bevorzugen? dass die Dosis in abgesprochenen Schritten solange erhöht wird, bis Anfallsfreiheit Als Monotherapie wird eine Behandlung erreicht werden kann oder störende, uner- mit nur einem Medikament, als Kombinati- wünschte Nebenwirkungen auftreten. Man- onstherapie eine Behandlung mit zwei, drei gelndes Ausdosieren und zu frühes Umstellen oder mehreren Medikamenten bezeichnet. der Medikamente führen oft zur Fehleinschät- In der Behandlung der Epilepsie führt die zung einer vermeintlichen Therapieresistenz Monotherapie mit einem Antiepileptikum und dadurch zur Verzögerung der Anfallskon- bereits bei ca. zwei Drittel der Betroffenen trolle. Um Nebenwirkungen gering zu halten, zur Anfallsfreiheit. Vorteile einer Monothe- ist eine langsame Dosissteigerung üblich. rapie bestehen in der Verringerung des Risi- kos für Nebenwirkungen, dem Vermeiden • Regelmäßige Medikamenteneinnahme einer gegenseitigen Beeinflussung von ver- Die regelmäßige Medikamenteneinnahme schiedenen Antiepileptika (Wechselwirkun- ist eine der wichtigsten Voraussetzungen in gen), der besseren Überschaubarkeit der der Behandlung der Epilepsie. Vor allem ein Therapie und der größeren Verlässlichkeit abruptes Absetzen kann zu einer Zunahme der Medikamenteneinnahme. der Anfälle oder sogar zu einem anhaltenden epileptischen Anfall („Status epilepticus“) ■ Wann ist eine Kombinations- mit Lebensbedrohung führen. Für den Fall, therapie notwendig? dass die Einnahme eines Medikamentes ver- gessen wurde, ist es günstig, die „versäum- Bei PatientInnen mit schwer behandelba- te“ Dosis innerhalb der nächsten Stunden ren Epilepsien wird häufig eine Kombinati- nachträglich einzunehmen. Das Auftreten onstherapie aus zwei, drei oder mehreren von starken Nebenwirkungen ist nur aus- Antiepileptika notwendig. Die jeweils am nahmsweise zu befürchten. besten geeignete Kombination sowie die Verträglichkeit müssen für jede/n Erkrank- ■ Welche Medikamente stehen zur te/n individuell ermittelt werden. In der Behandlung der Epilepsie zur Regel werden behandelnde ÄrztInnen erst Verfügung? nach zwei erfolglosen Monotherapien zu einer Kombinationstherapie raten. Wann Als Antiepileptika oder Antikonvulsiva immer möglich, wird die medikamentöse werden Medikamente bezeichnet, die in der Einstellung ambulant vorgenommen; bei Behandlung der Epilepsie zum Einsatz kom- schwierigen Kombinationstherapien oder men. Die bislang zur Verfügung stehenden bei umfangreicher medikamentöser Thera- Antiepileptika können die Anfälle als pieumstellung ist manchmal eine stationäre wesentliches Symptom der Epilepsie unter- Aufnahme notwendig. drücken, aber die Epilepsie nicht heilen. Die systematische medikamentöse Be- ■ Welche Grundsätze sind bei der handlung der Epilepsien begann in der Mitte medikamentösen Therapie zu des 19. Jahrhunderts mit der Entdeckung der beachten? antiepileptischen Wirkung von Brom (Kali- umbromid). Bis um 1970 wurden fünf wei- • „Ausdosieren“ des Antiepileptikums tere Antiepileptika entwickelt: Phenobarbi- Ein wichtiger Therapieleitsatz besteht tal (1911), Ethosuximid (1958), Carbamaze- darin, dass jedes antiepileptische Medikament pin (1963) und Valproinsäure (1973). Ab 18
MEDIKAMENTÖSE THERAPIE DER EPILEPSIE 1990 wurden die so genannten „neuen“ stanz. Die/der PatientIn muss ausführlich und Antiepileptika eingeführt, die teils eine verständlich über den Ablauf der Studie und deutlich bessere Verträglichkeit im Ver- die vorliegenden Erfahrungen mit der Prüf- gleich zu den „alten“ Standardantiepileptika substanz aufgeklärt werden. Die Möglichkeit bieten. Das bedeutet aber nicht, dass die einer Teilnahme an wissenschaftlichen Un- „alten“ Antiepileptika ihren Wert verloren tersuchungen sollte mit Ihrer/Ihrem behan- haben. Im Rahmen der antiepileptischen delnden Ärztin/Arzt besprochen werden. Behandlung sollte jenes Medikament ausge- wählt werden, welches bei der jeweiligen ■ Welche Nebenwirkungen können Anfalls- bzw. Epilepsieform am besten unter Antiepileptika auftreten? wirkt und gut verträglich ist. Wichtige zusätzliche Entscheidungshilfen für die Nebenwirkungen sind nicht beabsichtigte Wahl des geeigneten Antiepileptikums sind Wirkungen eines Medikamentes. Grund- das Alter der/des Betroffenen sowie das Vor- sätzlich kann zwischen dosisabhängigen liegen etwaiger Begleiterkrankungen bzw. und nicht dosisabhängigen Nebenwirkungen die Verordnung zusätzlicher Medikamente. unterschieden werden: Für Frauen im gebärfähigen Alter oder in • Dosisabhängige Nebenwirkungen treten der Schwangerschaft liegen spezielle Thera- meist erst bei höheren Medikamenten- pieempfehlungen vor. dosen in Erscheinung und bilden sich Einen Überblick über die derzeit zur Ver- nach einer Dosisverringerung zurück. fügung stehenden Antiepileptika gibt Tabel- • Nicht dosisabhängige Nebenwirkungen, le 2 (Seite 20). auch als idiosynkratische Nebenwirkun- gen bezeichnet, zeigen sich schon bei Medikamentenstudien geringer Dosis und verschwinden erst bei Jedes Arzneimittel muss vor der Zulassung gänzlichem Absetzen des Medikaments. im Rahmen von genau kontrollierten Studien Die häufigsten Nebenwirkungen sind auf seine Sicherheit und Wirksamkeit geprüft dosisabhängig. Sie können abhängig vom werden. Von mehreren Hundert möglichen Antiepileptikum sehr verschieden sein. Häu- Wirkstoffen bekommen nur einige wenige fig treten sie in Form von Schwindel, Übel- Substanzen eine Zulassung zur Behandlung keit, Gangunsicherheit, Zittern, Doppelse- beim kranken Menschen. Die Prüfung eines hen und Müdigkeit in Erscheinung. neuen Medikamentes erfordert vier Phasen Dosisunabhängige Nebenwirkungen kön- (vom evtl. Tierversuch bis zur wissenschaft- nen sich in allergischen Hautausschlägen, lichen Untersuchung nach erfolgter Zulas- Veränderungen des Blutbildes durch Schädi- sung eines Medikamentes). gung des Knochenmarks oder Schädigungen PatientInnen, denen mit den bereits zuge- der Leber und Niere ausdrücken. lassenen Medikamenten nicht ausreichend Das Auftreten von Nebenwirkungen soll- geholfen werden kann, können an solchen ten PatientInnen unbedingt mit der/dem „Medikamentenstudien“ zur Erprobung betreuenden Ärztin/Arzt besprechen, um neuer Antiepileptika teilnehmen. Durch die gemeinsam die weitere Vorgangsweise Teilnahme an einer wissenschaftlichen Un- (Beobachten, Verringerung oder Abset- tersuchung erhalten Betroffene die Chance, zen/Umstellen des Medikaments, zusätzli- ein neues Medikament bereits Jahre vor der che notwendige Untersuchungen etc.) fest- Zulassung nutzen zu können, tragen aber das zulegen. Für bestimmte Gruppen von Risiko der geringeren Erfahrung bezüglich Betroffenen (Kinder, Frauen, ältere oder der Sicherheit und Wirksamkeit der Prüfsub- geistig behinderte PatientInnen) gelten eini- 19
MEDIKAMENTÖSE THERAPIE DER EPILEPSIE ge Besonderheiten; diese sollten mit wirkungen ist auch dem Beipackzettel zu der/dem betreuenden Ärztin/Arzt bespro- entnehmen. Zu bedenken ist allerdings, dass chen werden. Die Art der möglichen Neben- am Beipackzettel alle, auch äußerst seltene Tabelle 2: Derzeit in Österreich verfügbare Medikamente zur Behandlung der Epilepsie (Übersicht)* Wirkstoff Produktname Brivaracetam Briviact® Carbamazepin Neurotop®, Tegretol®, diverse Generika Clobazam Frisium® Clonazepam Rivotril® Diazepam Gewacalm®, Psychopax® Eslicarbazepin Zebinix® Ethosuximid Petinimid® Felbamat Taloxa® Gabapentin Neurontin®, diverse Generika Kaliumbromid DibroBe® Lacosamid Vimpat® Lamotrigin Lamictal®, diverse Generika Levetiracetam Keppra®, diverse Generika Lorazepam Temesta® Midazolam Dormicum®, Midazolam-Injektionslösungen Nitrazepam Mogadon® Oxcarbazepin Trileptal® Perampanel Fycompa® Phenytoin Epanutin®, Epilan D® Pregabalin Lyrica®, diverse Generika Primidon Mysoline® Rufinamid Inovelon® Sultiam Ospolot® Topiramat Topamax®, diverse Generika Valproat Convulex®, Depakine®, Natriumvalproat®, diverse Generika Vigabatrin Sabril® Zonisamid Zonegran® * Quelle/Stand: Austria Codex (2018) 20
MEDIKAMENTÖSE THERAPIE DER EPILEPSIE Nebenwirkungen aufgelistet sind. Das The- abhängig. So können zum Beispiel Magen- rapieziel bei Behandlungsbeginn ist Anfalls- Darm-Erkrankungen, Nierenerkrankungen, freiheit bei Nebenwirkungsfreiheit! Schwangerschaft oder auch andere gleich- zeitig eingenommene Medikamente zu einer ■ Wechselwirkungen mit anderen Veränderung der Werte führen (unerwartet Medikamenten tiefe oder hohe Werte). Zur Beurteilung der Serumspiegel wird Wechselwirkungen zwischen Medikamen- die Abgrenzung des so genannten „therapeu- ten bedeuten eine gegenseitige Beeinflus- tischen Serumspiegelbereiches“ vom toxi- sung ihrer Wirkungen oder Nebenwirkun- schen Serumspiegelbereich herangezogen. gen. Die gleichzeitige Einnahme mehrerer • Der „therapeutische Bereich“ umfasst jene Medikamente kann zu deren Wirkungsver- Serumkonzentrationen, bei denen für die stärkung oder -verringerung führen. Dies meisten PatientInnen eine gute anfallsfreie hängt davon ab, ob ein Medikament den Wirkung ohne nennenswerte Nebenwir- Abbau des anderen im Körper beschleunigt kungen zu erwarten ist. oder hemmt. Derartige Medikamentenwech- • Der „toxische Bereich“ umfasst jene selwirkungen können innerhalb der ver- Serumkonzentrationen, bei dem für die schiedenen Antiepileptika beobachtet wer- meisten PatientInnen dosisabhängige den, aber vor allem auch zwischen Antiepi- Nebenwirkungen zu erwarten sind. leptika und anderen Medikamenten wie Zu beachten ist, dass jede/jeder PatientIn Antibiotika, Antibabypille, Blutdruckmedi- einen individuellen therapeutischen und kamenten, Blutverdünnungsmedikamenten, toxischen Bereich hat. Befindet sich z.B. Ihr Cholesterinsenkern, Schmerzmitteln und vor Serumspiegel unterhalb des „therapeuti- allem auch Psychopharmaka. schen Bereiches“ und Sie sind anfallsfrei, Der Großteil der Wechselwirkungen zwi- dann ist für Sie der relativ niedrige Serum- schen Medikamenten ist unbedeutend, weni- spiegel therapeutisch wirksam. Eine Dosis- ge können zu ernsthaften Störungen und erhöhung ist nicht erforderlich. Werden Problemen führen. umgekehrt Betroffene erst mit Serumspie- geln im so genannten „toxischen Bereich“ ■ Welchen Sinn haben Blutspiegel- anfallsfrei, ohne dass Nebenwirkungen bestimmungen während der bestehen, so ist eine Dosisreduktion nicht Behandlung? erforderlich, da für diese Personen offen- sichtlich der toxische Bereich höher liegt. Die Konzentration von Medikamenten im Der Serumspiegel der Antiepileptika wird Blut wird durch den Begriff „Blutspiegel“ meist morgens im nüchternen Zustand vor bzw. „Plasma- oder Serumspiegel“ beschrie- der Tabletteneinnahme bestimmt. Der ben. Der Serumspiegel steht mit der Medika- Serumspiegel der Antiepileptika kann für mentenkonzentration im Gehirn in engem die/den Ärztin/Arzt in Zusammenhang mit Zusammenhang. Unter regelmäßiger Ein- den Angaben der PatientInnen für die Steue- nahme der Medikation werden nach etwa rung der Therapie wie z.B. im Rahmen einer 3–6 Wochen stabile Blutspiegelwerte Neueinstellung mit einem Antiepileptikum, erreicht. Sie sind jedoch vom individuell bei Umstellung, bei fehlender Wirksamkeit unterschiedlichen Ausmaß der Aufnahme im eines Antiepileptikums trotz hoher Dosie- Magen-Darm-Trakt sowie von der Ge- rung und bei Verdacht auf das Bestehen von schwindigkeit des Umbaus (in der Leber) Nebenwirkungen wichtig sein. Wann die und der Ausscheidung (über Harn und Stuhl) Untersuchung des Serumspiegels erforder- 21
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