Lernen von Hirnkontrolle - Klinische Anwendung von Brain-Computer Interfaces - De ...

 
WEITER LESEN
Lernen von Hirnkontrolle - Klinische Anwendung von Brain-Computer Interfaces - De ...
Übersichtsartikel

    Neuroforum 2015 · 21:130–143                          Niels Birbaumer1,2 · Ujwal Chaudhary1
    DOI 10.1007/s12269-015-0023-3                         1 Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie,
    © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
                                                            Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland
                                                          2 IRCCS, Ospedale San Camillo, Venedig, Italy

                                                          Lernen von Hirnkontrolle –
                                                          Klinische Anwendung von
                                                          Brain-Computer Interfaces

    Einleitung                                            Jahrhundert stark von arabischen Wis-                   te durch die Entwicklung der Psychophy-
                                                          senschaftlern geprägt war, wurde aber                   siologie in der Humanforschung des 20.
    Vermutlich ist die Idee, Gedanken direkt,             bereits früh erkannt, dass Verhalten und                Jahrhunderts, auf der anderen Seite durch
    ohne Umweg über die Motorik in Bewe-                  Denken hirnabhängig ist, um schließ-                    die neurophysiologische Tierforschung,
    gung umzusetzen, so alt wie die Mensch-               lich in der Frührenaissance zur Gewiss-                 besonders die Ableitung von einzelnen
    heit. Magisches und religiöses Denken                 heit zu werden. Damit rückte allerdings                 Neuronen, die man hörbar und sichtbar
    geht häufig davon aus, dass mit Denken                eine mechanistische Vorstellung in den                  machen konnte und damit Messappara-
    und Fühlen die Vorgänge um uns beein-                 Vordergrund, welche das Hirn als inne-                  te und externe Geräte ansteuern konnte.
    flussbar oder sogar steuerbar sind. Inte-             res Organ mit mehr oder weniger auto-                       Der Begriff des „Gehirn-Compu-
    ressanterweise wurde diese Vorstellung                nomen Funktionskreisen – vergleichbar                   ter-Interfaces“ (Brain Computer Inter-
    seit der Renaissance und später im 18.                dem gastrointestinalen System – ansah                   face, BCI) wurde von dem französischen
    und 19. Jahrhundert, als klar wurde, dass             und somit die Beeinflussbarkeit der Hirn-               Neurophysiologen Jaques Vidal erstmals
    das Gehirn als Träger unserer seelischen              funktionen durch willentliche Vorgänge                  gebraucht, der bereits 1973 die potenziel-
    Vorgänge fungiert, als irrational einge-              und Lernen als nicht relevant angesehen                 len Anwendungen der direkten Compu-
    stuft und in den Hintergrund der philo-               wurde. Wiederbelebt wurde dieser vor-                   tersteuerung durch Hirnvorgänge vor-
    sophischen und wissenschaftlichen Über-               mittelalterliche Traum von der direkten                 aussah. Etwa zur selben Zeit entwickelte
    legungen gedrängt: Im Rahmen der west-                Manipulation der Umgebung durch Den-                    sich Psychophysiologie im Rahmen der
    lichen Philosophie, welche im 11. und 12.             ken und Vorstellungen auf der einen Sei-                Untersuchungen zum Erlernen der Kon-

    Abb. 1 8 Fokusierung der Hirnaktivität (BOLD) auf die Zielregion (anteriore Insel) im Laufe des Erlernens von Selbstregulation
    mit real-time funktioneller Resonanztomografie (rt-fMRI) Neurofeedback. a Neurofeedback-Training der vorderern Inselre-
    gion von Sitzung 1 bis Sitzung 5 (von oben nach unten, Sitzungen 3–4 sind nicht gezeigt). Man erkennt, dass sich der gelern-
    te BOLD-Anstieg (rot-gelb) zunehmend auf die Inselregion beschränkt. b Quantitativ lässt sich dieser Effekt als Abfall der Zahl
    der Aktivierungscluster (rot) und simultanen Anstieg der durchschnittlichen Distanz zwischen den Clustern (blau) abbilden.
    Aus: Birbaumer et al (2013). Learned regulation of Brain Metabolism. Trends in Cogn. Sc., 17, 295–302

130 |   Neuroforum 4 · 2015
Lernen von Hirnkontrolle - Klinische Anwendung von Brain-Computer Interfaces - De ...
trolle physiologischer Vorgänge als „Bio-      Einzelzellableitung an nicht-humanen         im Rahmen chronischer neurologischer
feedback“, was später, sofern Hirnprozes-      Primaten und andererseits durch die kli-     Erkrankungen wurden Mikroelektroden
se erlernt wurden, als „Neurofeedback“         nischen Erfolge der Neurofeedback-For-       in den motorischen Kortex implantiert,
bezeichnet wurde. Die ersten Arbeiten          schung am Menschen.                          welche mit Hand-Robotern oder Hand-
zur Selbstkontrolle des Alpha-Rhythmus             Über implantierte Mikroelektroden im     Arm-Orthosen verbunden wurden. Die
erschienen 1962, verfasst von Joe Kamiya       motorischen Kortex von Affen konnte ge-      Patienten konnten relativ rasch lernen,
und zeigten, dass gesunde Versuchsper-         zeigt werden, dass die Tiere innerhalb re-   durch Denken der Bewegung das Feuern
sonen rasch lernen konnten, die Alpha-         lativ kurzer Zeit lernten, mit Änderungen    ihrer motorischen Zellen so zu beeinflus-
Aktivität (8–13 Hz) des eigenen Elektro-       ihrer Aktionspotenzialsequenzen aus ein-     sen, dass sie mit den peripheren Neuro-
enzephalogramms (EEG) willentlich zu           zelnen motorischen Zellen auf dem Bild-      prothesen vital wichtige Bewegungsse-
verändern, wenn sie darüber kontinuier-        schirm eines Computers Lichtsignale in       quenzen wie Trinken erlernen konnten
liche Rückmeldung z. B. in Form eines          vorgegebene Richtungen zu bewegen,           [3, 5].
an- und abschwellenden Tones erhiel-           bzw. mit der Aktivität von nur wenigen           Diese Humanversuche an teilweise Ge-
ten. Diese Bemühungen erhielten aller-         motorischen Zellen komplexe Arm- und         lähmten zeigen, dass komplexe natürliche
dings in den späten 70er und frühen 80er       Handbewegungen einer Prothese zu steu-       Bewegungen direkt von wenigen Nerven-
Jahren des vorigen Jahrhunderts einen          ern (Fetz 1969). Die mathematischen Al-      zellen des Gehirns gesteuert werden kön-
„Dämpfer“, nachdem Tierversuche zur            gorithmen zur Übersetzung der Aktions-       nen, wobei in der Regel 30–100 Zellen aus-
Selbstkontrolle und dem instrumentel-          potenzialsequenzen in gezielte Bewegun-      reichen. Dies ist angesichts der Komplexi-
len Lernen von Körpervorgängen, welche         gen waren dabei verblüffend einfache li-     tät des Bewegungsapparates und der zu-
aus dem Laboratorium von Neal E. Mil-          neare Differenzialgleichungen. Diese Er-     grunde liegenden neurophysiologischen
ler an der Rockefeller University stamm-       gebnisse aus der Primatenforschung wur-      Vorgänge erstaunlich, zeigt aber, dass
te, sich als nicht replizierbar herausstell-   den in denselben Laboratorien, vor allem     die Situation, zumindest was die Bewe-
ten (siehe Exkurs 1). Erst am Beginn des       von John Donoghue an der Brown Uni-          gungssteuerung betrifft, nicht so kompli-
21. Jahrhunderts begann die rasche Ent-        versity und Andrew Schwartz an der Uni-      ziert ist wie angenommen. Diese direk-
wicklung der Brain-Computer-Interface          versity of Pittsburgh auf den Menschen       ten Übertragungen vom Tierversuch auf
Forschung, wiederum befeuert von zwei          übertragen: Patienten mit Lähmungen          den menschlichen Patienten waren aller-
methodischen Zugängen: einerseits von          der Extremitäten nach Schlaganfall oder      dings therapeutisch wenig relevant, da die

                                                                             STATE OF THE ART

                                                                           • Scissors                      • Surgical Plates
                                                                           • Retractors                    • Instrument Care
                                                                           • Magnifiers                      & Sterilization
                                                                           • Probes & Hooks                • Rongeurs
                                                                           • Bone Instruments              • Scalpels & Knives
                                                                           • Animal Identification         • Clamps
                                                                           • Hemostats                     • Pins & Holders
                                                                           • Forceps                       • Needles & Needle
                                                                           • Surgical & Laboratory           Holders
                                                                             Equipment                     • Student Quality
                                                                           • Feeding Needles                 Instruments
                                                                           • Spatulae & Spoons             • And Much More
                                                                           • Wound Closure

                                                                     F I N E S U R G I C A L I N S T R U M E N T S F O R R E S E A R C H TM
                                                                  Visit us at finescience.de or call ++49 (0) 6221 90 50 50
Lernen von Hirnkontrolle - Klinische Anwendung von Brain-Computer Interfaces - De ...
Zusammenfassung · Abstract

        Neuroforum 2015 · 21:130–143 DOI 10.1007/s12269-015-0023-3
        © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

        N. Birbaumer · U. Chaudhary
        Lernen von Hirnkontrolle – Klinische Anwendung von Brain-Computer Interfaces
        Zusammenfassung
        Brain-Computer Interfaces (Gehirn-Computer       von Elektroden in das Gehirn waren CLIS-Pa-       tät eine erstaunliche Wiederherstellung der
        -Schnittstellen, BCI) nutzen neuroelektrische    tienten nicht in der Lage, zu kommunizieren.      motorischen Funktion sowohl auf der motori-
        und metabolische Hirnaktivität, um periphe-      Wir entwickelten ein theoretisches Modell,        schen als auch auf neuronaler Ebene mit BCI
        re Geräte und Computer ohne Vermittlung          das dieses grundlegende Defizit des instru-       erreichen können. Nach umfangreichem BCI-
        des motorischen Systems zu bedienen. Um          mentellen Lernens der Hirnkontrolle und der       Training kombiniert mit verhaltensorientier-
        die Gehirn-Computer-Schnittstelle zu aktivie-    willentlichen Kommunikation erklärt: Patien-      ter Physiotherapie konnte eine signifikante
        ren, müssen die Personen ein gewisses Aus-       ten mit vollständiger Lähmung löschen ziel-       Verbesserung der motorischen Funktion bei
        maß an Hirnkontrolle erlernen. Es zeigte sich,   gerichtetes reaktionsorientiertes Denken und      dieser bisher unbehandelbaren Lähmungen
        dass die Selbstkontrolle der Hirnaktivität den   Absichten. Daher wurde ein reflexives klassi-     erreicht werden. Zusammenfassend lässt sich
        Prinzipien des Fertigkeiten-Lernens und des      sches Konditionierungsverfahren entwickelt        sagen, dass die klinischen Anwendungen von
        instrumentellen Konditionierens folgt. Diese     und mithilfe der Messung der metabolischen        Gehirn-Maschine-Schnittstellen bei gut defi-
        Übersicht konzentriert sich auf die klinische    Hirnsignale mit Nah-Infrarot-Spektroskopie        nierten und umschriebenen neurologischen
        Anwendung von Gehirn-Computer-Schnitt-           (NIRS) waren CLIS-Patienten in der Lage, ein-     Erkrankungen überraschend positive Wirkun-
        stellen bei gelähmten Patienten mit Locked-      fache Fragen mit einer „ja“- oder „nein“-Hirn-    gen gezeigt haben. Die Anwendung von Ge-
        in Syndrom und/oder vollständigem Locked-        antwort zu beantworten. Die bisher erhobe-        hirn-Computer-Schnittstellen bei psychiatri-
        in Syndrom (CLIS). Es wurde gezeigt, dass        nen Daten zeigen, dass erstmals CLIS-Patien-      schen und klinisch-psychologischen Störun-
        EEG-basierte Gehirn-Computer-Schnittstellen      ten mit einem solchen BCI-System kommuni-         gen hat bisher jedoch nicht zu einer wesentli-
        die Auswahl von Buchstaben und Wörtern in        zieren können, indem sie metabolische Hirn-       chen Verbesserung dieser komplexen Verhal-
        einem Computermenü mithilfe verschiede-          signale und einfache reflexive Lernaufgaben       tensstörungen geführt.
        ner EEG-Signale ermöglichen. Bei Patienten       verwenden.
        mit vollständigem Locked-in Syndrom ohne             Schließlich werden Gehirn-Maschine-           Schlüßelwörter
        jede Muskelkontrolle, insbesondere der Au-       Schnittstellen und Rehabilitation bei chroni-     Gehirn-Computer-Zwischenstelle ·
        genbewegungen, waren EEG-basierte Ge-            schem Schlaganfall beschrieben und gezeigt,       Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ·
        hirn-Computer-Schnittstellen jedoch nicht        dass chronische Schlaganfallpatienten oh-         Komplettes Locked-in Syndrom (CLIS) ·
        erfolgreich. Sogar nach der Implantatation       ne jede Restbewegung der oberen Extremi-          Neuroprothesen

        Learning of brain control: Clinical application of brain-computer interfaces
        Abstract
        Brain-Computer Interfaces (BCI) use neuro-       ter implantation of electrodes in the human       without any residual upper limb movement a
        electric and metabolic brain activity to acti-   brain, CLIS patients were unable to commu-        surprising recovery of motor function on the
        vate peripheral devices and computers with-      nicate. We developed a theoretical model ex-      motor level as well as on the brain level. After
        out mediation of the motor system. In order      plaining this fundamental deficit in instru-      extensive combined BMI training with behav-
        to activate the BCI persons have to learn a      mental learning of brain control and volun-       iorally oriented physiotherapy significant im-
        certain amount of brain control. Self-regula-    tary communication: patients in complete          provement in motor function was shown in
        tion of brain activity was found to follow the   paralysis extinguish goal-directed response-      these previously intractable paralysis. In con-
        principles of skill learning and instrumental    oriented thinking and intentions. Therefore a     clusion, clinical application of brain machine
        conditioning. This review focuses on the clin-   reflexive classical conditioning procedure was    interfaces in well-defined and circumscribed
        ical application of brain-computer interfac-     developed and metabolic brain signals mea-        neurological disorders have demonstrated
        es in paralyzed patients with locked-in syn-     sured with Near Infrared-Spectroscopy were        surprisingly positive effects. The application
        drome or/and complete locked-in syndrome         used in CLIS patients to answer simple ques-      of BCIs to psychiatric and clinical-psychologi-
        (CLIS). It was shown that EEG-based brain-       tions with a “yes”- or “no”-brain response. The   cal problems, however, at present did not re-
        computer interfaces allow selection of letters   data collected so far are promising and show      sult in substantial improvement of complex
        and words in a computer menue with differ-       that for the first time CLIS patients communi-    behavioral disorders.
        ent types of EEG signals. However, in patients   cate with such a BCI system using metabol-
        with complete locked-in syndrome with-           ic brain signals and simple reflexive learning    Keywords
        out any muscular control, particularly of eye    tasks. Finally, brain machine interfaces and      Brain-Computer Interfaces (BCI) ·
        movements, classical, EEG-based brain-com-       rehabilitation in chronic stroke are described    Amyotrophic Lateral Sclerosis (ALS) ·
        puter interfaces were not successful. Even af-   demonstrating in chronic stroke patients          Completely Locked-in Syndrome (CLIS)

    Patienten noch über willentliche Muskel-                Während die invasive Brain-Compu-                forschung zur Anwendung der Selbstre-
    kontrolle, vor allem im Bereich des Ge-              ter-Interface Forschung am Menschen in              gulation des Gehirns und des Neurofeed-
    sichts und der Augen verfügten, welche               den USA vorangetrieben wurde, entwi-                backs stetig weiter. Dabei erwiesen sich
    der willentlichen Steuerung sehr viel leich-         ckelte sich im europäischen Raum, vor al-           langsame Hirnpotenziale der menschli-
    ter zu unterwerfen ist als die Hirnaktivität.        lem in Deutschland die klinische Human-             chen Hirnrinde, welche den Erregungs-

132 |   Neuroforum 4 · 2015
Lernen von Hirnkontrolle - Klinische Anwendung von Brain-Computer Interfaces - De ...
zustand der apikalen Dendriten abbilden,      dern dies auch auf reale Situationen ohne    keiten (z. B. sportliche Aktivitäten) unter-
als besonders nützlich, sowohl für die        die Laboratoriumsumgebung ausdehnen          sucht worden sind. Dazu gehören anfangs
Grundlagenforschung zur Selbstregula-         konnten. Nach 20–100 Trainingsstunden        die bewusste, explizite Kontrolle mit Be-
tion des Gehirns als auch für die klinische   waren ein erheblicher Teil der Patienten     teiligung der Hirnregionen, die für kont-
Anwendung (siehe Neuroforum 1998, so-         in der Lage, sowohl die Erregbarkeit ihres   rollierte, bewusste Aufmerksamkeit ver-
wie Birbaumer et al. 1990). Gesunde und       Gehirns als auch das Auftreten der An-       antwortlich sind, mit zunehmender Wie-
neurologisch kranke Personen lernen in-       fälle zu unterdrücken (Kotchoubey et al.     derholung und Übung der Übergang zur
nerhalb weniger Stunden über unmit-           2001). Dabei zeigte sich, dass einige Per-   impliziten, automatischen Aufmerksam-
telbare Rückmeldung und positive Ver-         sonen ihre Hirnpotenziale zu jedem belie-    keitskontrolle mit abnehmender Nut-
stärkung, negative (erregend) und positi-     bigen Zeitpunkt in die gewünschte Rich-      zung von Aufmerksamkeitsressourcen.
ve (hemmend) langsame Hirnpotenziale          tung veränderten. Daraus entstand die        Der Automatisierungs- und Übungspro-
zu regulieren. Nach wenigen Stunden des       Idee, die erlernte Hirnkontrolle zur di-     zess verläuft exponentiell, wobei im Laufe
Trainings, bei dem die Personen die Än-       rekten Kommunikation mit der Außen-          des automatisierten Erwerbs zunehmend
derungen der langsamen Hirnpotenziale         welt zu verwenden.                           weniger kortikale Areale aktiviert werden
auf einem Bildschirm beobachten, zeigen                                                    und der Aufmerksamkeitsfokus sich auf
sich bei selbst erzeugter kortikaler Nega-    Hirnkontrolle als                            die mit der Übung befassten Hirnregio-
tivierung (Erregbarkeit) deutliche Verhal-    Fertigkeiten-Lernen                          nen beschränkt.
tensänderungen in motorischen, kogniti-       (Skill-Learning)                                 . Abb. 1 zeigt die ersten 5 Sitzungen
ven und emotionalen Bereichen, je nach                                                     einer gesunden Person beim Training der
dem Ort im Gehirn, an dem die Person          Der Lernprozess hinter dem Erwerb von        Selbstkontrolle der vorderen Inselregion
die selbst erzeugte Hirnregulation erlernt    Hirnkontrolle – unabhängig davon, ob         mit Neurofeedback des Magnetresonanz-
hat. In einer Serie von Studien an unbe-      es sich um neuroelektrische Aktivitäten      effektes. Die Versuchspersonen beobach-
handelbaren Epilepsiekranken konnten          der Einzelzellen oder des Elektroenze-       teten die Aktivierung der Inselregion in
wir nachweisen, dass selbst schwerst be-      phalogramms oder metabolische Verän-         einem funktionellen Magnetresonanz-
einträchtigte Personen erlernen konn-         derungen der Gehirndurchblutung han-         scanner in Form eines sich verlängernden
ten, die Erregbarkeit ihres Gehirns nicht     delt – verläuft analog jenen Lernvorgän-     roten Thermometers. Je mehr BOLD-Än-
nur im Laboratorium zu reduzieren, son-       gen, wie sie für den Erwerb von Fertig-      derungen in der Inselregion, umso stär-

                                                                                                                 Neuroforum 4 · 2015   | 133
Lernen von Hirnkontrolle - Klinische Anwendung von Brain-Computer Interfaces - De ...
Übersichtsartikel

                                                          die Inselregion ohne zusätzliche Aktivie-    Langzeitpotenzierung striataler Neuro-
        Exkurs 1
                                                          rung anderer Hirnareale aktiviert ist. Auf   nen notwendig sind, trotz intakter Bewe-
        Die Kurare-Tragödie                               der rechten Seite der Abbildung erkennt      gungskontrolle die Neurofeedbackaufga-
        1969 publizierte der bekannte amerikanische       man den Verlauf der Anzahl der aktivier-     be nicht erlernen.
        Experimentalpsychologe Neal E. Miller von
                                                          ten Areale in rot und die Vergrößerung           Diese eindeutigen Ergebnisse weisen
        der Rockefeller University in New York eine
        Arbeit in ‚Science‘, in der er die Möglichkeit    der durchschnittlichen Distanz zwischen      allerdings darauf hin, dass bei Störun-
        der willentlichen Kontrolle des autonomen         den aktivierten Hirnarealen über die Sit-    gen des kortiko-thalamo-striatalen Erre-
        Nervensystems behauptete und damit die            zungen in blau. Im Gegensatz zum expli-      gungskreises das instrumentelle, operan-
        Unabhängigkeit dieses Systems von willentli-      ziten Fertigkeiten-Lernen benötigt im-       te Erlernen von Fertigkeiten gestört oder
        chen (somato-motorischen) Einflüssen in Fra-      plizites Lernen keine bewusste Suche im      vollkommen unmöglich ist. Besonders
        ge stellte. Um diese Theorie zu stützen, führte
                                                          Gedächtnis, weshalb auch keine Inst-         dramatisch wird die Abhängigkeit der
        er und seine Mitarbeiter in den späten 60er,
        70er und 80er Jahren Experimente an Ratten        ruktionen an die Personen vor und wäh-       Selbstkontrolle des Gehirns von Beloh-
        durch, welche mit dem indianischen Pfeilgift      rend solcher Trainingsbedingungen not-       nungs- und Fertigkeitenlernen bei Per-
        Kurare gelähmt, künstlich ernährt und künst-      wendig sind. Die assoziative Verbindung      sonen mit instrumentellen Lerndefiziten,
        lich beatmet wurden und für erstaunlich lan-      zwischen der zu lernenden Hirnreaktion       bei denen die kontingente Gabe von Be-
        ge Zeit in diesem Zustand verblieben. Damit       und der Rückmeldung bzw. der positiven       lohnungsreizen keine assoziationsverstär-
        war eine willentlich-muskuläre Steuerung
        autonomer Funktionen und Hirnfunktionen           Verstärkung reicht aus, um die Stärke der    kende Wirkung mehr entfaltet. Dies ist
        über das motorische System ausgeschlos-           spezifischen Verbindungen zu erhöhen         vermutlich bei vollkommen gelähmten
        sen. Die Tiere wurden unter Kurarisierung         und die der nicht beteiligten Verbindun-     Patienten der Fall, bei denen keine ver-
        trainiert, verschiedene autonome Parameter,       gen zu reduzieren [2].                       lässlichen Kontingenzen (zeitliche Bezie-
        z. B. periphere Durchblutung, Nierendurch-            In mehreren Untersuchungen durch         hungen) zwischen willentlichen Reaktio-
        blutung, Hirnaktivität über instrumentelles
                                                          simultane Registrierung langsamer kor-       nen und deren Konsequenzen mehr mög-
        Belohnungslernen zu kontrollieren: Sie er-
        hielten z. B. für jeden Anstieg des Blutdrucks    tikaler Hirnpotenziale im Elektroenze-       lich sind.
        eine belohnende intrakranielle elektrische        phalogramm und funktioneller Magnet-
        Selbststimulation. In den ersten Jahren dieser    resonanztomografie (fMRI) bei epilepsie-     Brain-Computer Interface
        Experimente zeigte sich, dass die Tiere auch      kranken Personen und Gesunden konn-          (BCI) bei Patienten mit
        im paralysierten Zustand lernten, durch           ten wir zeigen, dass bei Personen, welche    Locked-in Syndrom
        instrumentelles Belohnungslernen die ver-
                                                          die neuroelektrische Kontrolle langsa-
        schiedenen physiologischen, autonomen
        Parameter zu kontrollieren und „willentlich“      mer Hirnpotenziale sehr schnell und gut      Hirnkommunikation bei Verlust
        zu steuern. Mitte der 70er Jahre allerdings       lernten, Regionen in den vorderen Basal-     motorischer Kontrolle
        wurde es im Laboratorium von N.E. Miller zu-      ganglien, vor allem des vorderen Stria-
        nehmend schwierig, die eigenen Ergebnisse         tums während des Lernprozesses akti-         Das Locked-in Syndrom, wie es nach
        zu replizieren, bis schließlich Ende der 70er,    viert sind, Personen, die keine neuroelek-   subkortikalen Schlaganfällen oder bei
        Anfang der 80er Jahre weder im Laboratrium
        von Neal Miller noch in irgend einem anderen      trische Selbstkontrolle des Gehirns er-      progressiven chronischen degenerati-
        Laboratorium weltweit eine Replikation die-       lernen, zeigen keine simultane Aktivie-      ven neurologischen Erkrankungen wie
        ser Anfangsergebnisse möglich war. Einer der      rung der Basalganglien. Diese Ergebnis-      der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS)
        Versuchsleiter dieser Untersuchungen suchte       se sind in einem Versuch von Koralek et      vorkommt, ist natürlich das wichtigs-
        den Freitod, andere wie z. B. Barry Dworkin       al. (2012) an Ratten bestätigt worden. Die   te Krankheitsbild, um den Nutzen von
        (1989) versuchten, über Veränderungen der
                                                          Tiere lernten die intrazelluläre Feuerra-    BCI nachzuweisen. Dabei muss aller-
        Versuchsanordnung und der Kurarisierung
        die Ergebnisse zu replizieren, allerdings         te von zwei benachbarten Zellen im mo-       dings zwischen Locked-in (LI) Syndrom
        ohne Erfolg. Damit ist die ursprüngliche von      torischen Kortex zu erhöhen und gleich-      und dem kompletten Locked-in Syndrom
        Miller aufgeworfene Frage weiterhin un-           zeitig die der benachbarten Zelle zu er-     (CLIS abgekürzt) unterschieden werden.
        geklärt, ob das willentliche Erlernen und die     niedrigen: Die Belohnung wurde gege-         Beim Locked-in Syndrom sind alle Kör-
        Selbstkontrolle von autonomen Funktionen          ben, wenn die Tiere die Aktionspoten-        permuskeln ausgeschaltet, allerdings be-
        und vermutlich auch von Hirnfunktionen
                                                          zialfrequenz in einer Zelle erhöhten und     steht noch Kontrolle der Augenmuskeln
        ohne Vermittlung des motorischen Systems
        überhaupt möglich ist. Diese Frage könnte         gleichzeitig in der anderen erniedrigten.    oder aber einzelner Gesichtsmuskeln.
        allerdings mit Brain-Computer Interfaces bei      Der Lernverlauf entspricht dem exponen-      Auch der externe Sphinkter ist in einzel-
        komplett gelähmten, künstlich ernährten           tiellen Lernverlauf von Fertigkeiten-Ler-    nen Fällen weiterhin willentlich kontrol-
        und künstlich beatmeten Patienten geklärt         nen, eine Kreuz-Korrelation der Akti-        lierbar. Beim kompletten Locked-in Syn-
        werden.                                           vität der motorischen kortikalen Zellen      drom (CLIS) sind alle Muskeln des wil-
                                                          und Zellen im vorderen Striatum zeigt im     lentlichen motorischen Systems gelähmt.
                                                          Verlauf des Lernens einen zunehmenden            Die ersten Patienten, bei denen ein
    ker spricht das Rückmeldesignal an. Man               Zusammenhang der Oszillationen. Dar-         BCI zur direkten Hirnkommunika-
    erkennt, dass in der ersten Sitzung noch              über hinaus konnten jene Tiere, die kei-     tion untersucht wurden, waren Patien-
    eine Vielzahl von Arealen mit-aktiviert               ne NMDA-Rezeptoren aufwiesen (gene-          ten mit fortgeschrittener Amyotropher
    werden, während in der fünften Sitzung                tische Knockout – Ratten), welche für die    Lateralsklerose, aber erhaltenen Augen-

134 |   Neuroforum 4 · 2015
dung für einen Anstieg bzw. Abfall der
                                                                                                      kortikalen Negativierung (Erregbarkeit).
                                                                                                      Nach Erlernen der Selbstkontrolle langsa-
                                                                                                      mer Hirnpotenziale wurden die Buchsta-
                                                                                                      ben des deutschen Alphabets in der Rei-
                                                                                                      henfolge ihrer Häufigkeit auf einem Bild-
                                                                                                      schirm dargeboten, und da die Perso-
                                                                                                      nen noch Kontrolle über die Augenmus-
                                                                                                      keln hatten, mussten sie lernen, eine Ta-
                                                                                                      fel mit etwa 8 bzw. 16 Buchstaben so lan-
                                                                                                      ge zu teilen, bis der gewünschte Buchstabe
                                                                                                      auf dem Bildschirm erschien. Sie mussten
                                                                                                      also gleichzeitig den gewünschten Buch-
                                                                                                      staben im Gedächtnis behalten und die
                                                                                                      Buchstabentafel mit Veränderungen ihrer
                                                                                                      langsamen Hirnpotenziale manipulieren.
                                                                                                      Dies ist eine schwierige Aufgabe, die ge-
                                                                                                      teilte Aufmerksamkeit erfordert und von
                                                                                                      Patienten mit Locked-in Syndrom nach
Abb. 2 8 Buchstabenselektion mit langsamen Hirnpotenzialen (LP). Der Patient HPS mit fortgeschrit-
                                                                                                      langen Trainingszeiten (Wochen bis Mo-
tener ALS (Amyotropher Lateralsklerose) im Locked-in Zustand wählte mit Gedanken, welche die LP
veränderten, aus einer Buchstabensequenz die Buchstaben für diesen Brief aus (aus Birbaumer et al.,   naten) bewältigt wurde.
Nature 1999)                                                                                              . Abb. 2 zeigt den ersten in der Lite-
                                                                                                      ratur publizierten Patienten, der nach
                                                                                                      einem Training von mehr als einem Jahr
muskeln [1]. Die Patienten lernten vor-               men Hirnpotenziale willentlich zu steu-         den abgebildeten Brief mit Hirnaktivität
erst, über Neurofeedback ihre langsa-                 ern, d. h. sie erhielten visuelle Rückmel-

                                               FiberOptoMeter II
                                                                FOM-02M
                                                  Optogenetic Stimulation
                                                    and Fluorescence
                                         EW

                                                    Measurement via
                                        N

                                                      the Same Fiber

                                          GCaMP5
                                       Fluorescence

                                           Velocity

                                             Data kindly provided by
                                             F. Fuhrmann and Dr. S. Remy
    L1 - L4: collimation lenses
                                             DZNE Bonn
    F1 - F4: bandpass filters
    Dm1 - Dm2: dicroic mirrors
    PMT: photomultipier module

   Developed in the Konnerth Lab, TU München, Germany
                                                                                                            Phone: +49-(0)7141-97302-30
   The FOM-02M was designed in collaboration with                                                           http://www.npielectronic.com
   Dr. Hongbo Jia, Suzhou Institute of Biomedical Engineering and Technology                                 support@npielectronic.com

                                                                                                                           Neuroforum 4 · 2015   | 135
Übersichtsartikel

                                                         ben aus einer Buchstabentafel mit allen        der Lage war, mit einem BCI, welches
        Exkurs 2 beschreibt das Prinzip
        der Nah-Infrarot-Spektroskopie                   Buchstaben des Alphabets mithilfe des          EEG-Signale verwendete, kommunizie-
        (NIRS) im Kontext eines BCI-Sys-                 P300-ereigniskorrelierten Potenzials aus-      ren konnte.
        tems                                             zuwählen. Diese von E. Donchin entwi-              Wir gingen davon aus, dass die Ursa-
                                                         ckelte Methode hat den Vorteil, dass sie       che für diese mangelnde Fertigkeit bei
        Mit NIRS lässt sich die hämodynamische Re-
        aktion nach Gehirnaktivierung messen: Diese      kein langwieriges Training benötigt: Die       CLIS im schlechten Signal-Rausch-Ver-
        neuronale Aktivierung ist eng an die vasku-      Buchstaben des Alphabets werden nach-          hältnis der EEG-Signale an der Schädel-
        läre Reaktion gebunden - >„Neuro-vaskuläre       einander rasch mit Lichtbalken beleuch-        oberfläche liegen musste. Aus diesem
        Kopplung“. Die neuronale Aktivierung nach        tet und die Person konzentriert sich nur       Grund wurden in unserer Klinik bei zwei
        Reizung wird von Transmitterausschüttung,        auf den gewünschten Buchstaben inner-          Patienten die EEG-Elektroden invasiv an
        Änderungen der Zellumgebung (z. B. Glia-
        zellen), Vasodilation und –konstriktion und      halb der beleuchteten Buchstaben, der ein      der Kortexoberfläche implantiert, sodass
        Blutflussänderungen gefolgt. NIRS misst die      erhöhtes P300-Potenzial produziert, wel-       die Patienten mit dem direkten elektro-
        vaskuläre Antwort der zerebralen Blutgefäße:     ches dann den gewünschten Buchstaben           kortikografischen Signal von der Kortex-
        Licht im Infrarotspektrum (650–900 mm)           am oberen Rand des Bildschirms erschei-        oberfläche mit einem sehr viel breiteren
        wird benutzt, um Blutflussänderungen und         nen lässt. Auch dafür ist natürlich intak-     Frequenzspektrum von 0–100 Hz kom-
        Oxygenierung des zerebralen Blutes zu er-
                                                         te Vigilanz und Aufmerksamkeit ebenso          munizieren lernen sollten. Bei zwei CLIS-
        fassen. Licht in dieser Wellenlänge dringt
        tiefer in das Hirngewebe ein und wird von        notwendig wie ein intaktes visuelles Fixa-     Patienten wurden die Elektroden neuro-
        oxy (HbO) und dexy-hämoglobin (HbR) ab-          tionssystem. BCI-Systeme, bei denen die        chirurgisch über der linken frontalen He-
        sorbiert, das Ausmaß des rück-reflektierten      Darbietung der Buchstaben akustisch er-        misphäre implantiert, beide Patienten
        Lichtes an die NIRS-Sensoren (Optoden) misst     folgt, zeigen eine weit geringere Präzision,   sollten mit zwei unterschiedlichen Vor-
        also HbO und HbR des zerebralen Blutflus-        d. h. es passieren sehr viel mehr Fehler bei   stellungen (z. B. Vorstellung einer Fin-
        ses. Das Licht durchdringt Schädelknochen
                                                         der Auswahl von Buchstaben, wenn sie           gerbewegung und Vorstellung einer Bein-
        und –häute (wenn es nicht direkt am Kortex
        gemessen wird) und tritt abgeschwächt – je       akustisch dargeboten werden. Die bes-          bewegung) auf einfache Fragen mit „ja“
        nach Absorption – wieder aus und wird von        ten akustischen BCIs erreichen bei Lo-         (Vorstellung einer Fingerbewegung) oder
        der Detektor Optode aufgenommen. Von             cked-in Patienten maximal 65 % korrek-         „nein“ (Vorstellung einer Beinbewegung)
        der Schädeloberfläche aus gemessen ist die       te Buchstabenauswahl, was deshalb prob-        antworten. Trotz langer Trainingszeiten
        örtliche Auflösung in Zentimetern, am Kortex     lematisch ist, da viele dieser Patienten nur   ergab sich bei keinem der beiden Patien-
        selbst in Millimetern. Die zeitliche Auflösung
        liegt im Sekundenbereich, die zeitliche La-      über eingeschränkte Sehfähigkeit und ge-       ten ein ausreichender Trainingserfolg,
        tenz nach Reizung beträgt ein bis mehrere        ringe Konzentration verfügen.                  der eine brauchbare Kommunikationsra-
        Sekunden. Der Zusammenhang zwischen                  Nachdem der Nachweis der Hirn-             te von über 60–65 % der Antworten über
        neuronalen Zellantworten und die in der          kommunikation erbracht war, konzen-            einen längeren Zeitraum von Wochen
        Nachbarschaft gemessene NIRS-Änderung ist        trierte sich die Forschung naturgemäß          ergab. Offensichtlich ist das Problem der
        sehr hoch und bildet daher gut die summier-
                                                         auf die Anwendung von BCIs bei Pa-             Hirnkommunikation bei komplett einge-
        te Aktivität des Nervengewebes ab.
                                                         tienten mit komplettem Locked-in Syn-          schlossenen Patienten kein methodisch-
                                                         drom, bei denen auch andere assistierte        elektrophysiologisches Problem, sondern
    ohne jede motorische Beteiligung schrei-             Kommunikationssysteme, wie z. B. Au-           hängt mit Veränderungen der Lernpro-
    ben konnte.                                          genbewegungssysteme oder elektromyo-           zesse, welche die Kontrolle von Hirnak-
       Abgesehen von den exzessiv langen                 grafisch gesteuerte Kommunikationssys-         tivitäten steuern, zusammen.
    Trainingszeiten hatten die ersten Brain-             teme nicht mehr funktionieren. Für diese
    Computer Interfaces natürlich das Prob-              Patienten bleibt nur noch die Hirnaktivi-      Löschung des zielgerichteten
    lem, dass diese Personen im Prinzip auch             tät als zumindest potenziell dem Willen        Denkens
    mit Augenmuskeln oder einzelnen Ge-                  unterworfen, welche von der Intaktheit
    sichtsmuskeln die Buchstaben auf der                 des motorischen Systems nicht abhängt.         Auf der Grundlage der lernpsychologi-
    Buchstabentafel auswählen konnten, was                   Allerdings zeigte sich, dass bei kom-      schen Literatur muss man annehmen,
    keinerlei Trainingszeiten erfordert und              plett Locked-in Patienten (CLIS) mit           dass im komplett eingeschlossenen Zu-
    auch angesichts der Automatisierung der              ALS die beschriebenen BCI-Systeme, die         stand alle zielgerichteten intentionalen
    Muskelkontrolle geringe Aufmerksam-                  intakte Aufmerksamkeitsfunktionen und          Gedanken und Vorstellungen entweder
    keitsenergie bindet. Trotzdem stellte der            meist auch intakte Willensfunktionen er-       einem teilweisen oder vollständigen Ex-
    Nachweis der ersten direkten Hirnkom-                fordern, keine befriedigenden Kommu-           tinktionsprozess unterliegen: Alle Absich-
    munikation einen wesentlichen Fort-                  nikationsraten, welche in der Regel über       ten und gedachten Intentionen werden in
    schritt dar, der auch bei Patienten mit              65 % korrekte Buchstabenauswahl liegen         diesem Zustand nicht von der gewünsch-
    Locked-in Syndrom nach subkortikalem                 müssen, ermöglichten. In einer Über-           ten Konsequenz gefolgt, was im Laufe von
    Schlaganfall erfolgreich erprobt wurde:              sicht im Jahre 2008 (Kübler und Birbau-        Wochen bis Monaten zum langsamen
    Sellers et al. (2014) trainierten einen Pa-          mer 2008) ergab sich, dass bis auf einen       Verschwinden zielgerichteter Vorstel-
    tienten nach pontinem Schlaganfall mit               schlecht dokumentierten japanischen Be-        lungen und intentionalen Denkens füh-
    rudimentärer Augenkontrolle, Buchsta-                richt kein komplett Locked-in Patient in       ren müsste. Denkbar wäre auch eine Art

136 |   Neuroforum 4 · 2015
Vergessens- und kognitiver Atrophiepro-        längerem CLIS. Dies bedeutet, dass viele     gebaut. Es mussten daher für CLIS-Pa-
zess, bei dem angesichts der Effektlosig-      Kommunikationsversuche an den Vigi-          tienten Versuchsanordnungen erprobt
keit die allgemeine Intention und der Wil-     lanzschwankungen scheitern müssen.           werden, welche intentionale, willentli-
le, Kontrolle über die soziale Umgebung                                                     che Aufmerksamkeit und zielgerichtetes
auszuüben, verloren geht. Ein derartiger       Denken und Bewegung                          Denken umgehen. Wir entwickelten da-
pathopsychologischer Vorgang hat natür-                                                     her in unserem Laboratorium nach Zeiten
lich auch ein Nachlassen oder Verschwin-       In dieser Situation wird die enge Verbin-    langen Experimentierens eine Versuchs-
den kontrollierter Aufmerksamkeit, die         dung von Denken und Bewegung in der          anordnung, welche auf reflexives, klassi-
ja für Willenshandlungen notwendig ist,        Entwicklung kognitiver und sprachnaher       sches Konditionieren ohne verstärkte wil-
zur Folge. Über einige Jahre wurde an ei-      Prozesse besonders deutlich. Bereits Aris-   lentliche Aufmerksamkeitskonzentration
nigen CLIS-Patienten mit verschiedenen         toteles äußerte den Verdacht, dass inten-    funktionieren kann (s. unten). Weiterhin
elektroenzephalografischen Signalen die        tionales Denken an die Entwicklung einer     konnten wir in einer Serie von Untersu-
willentliche Steuerung und Auswahl von         zielgerichteten, dem Willen unterworfe-      chungen mit Neurofeedback des BOLD-
Buchstaben bzw. „Ja“-„Nein“-Antworten          nen Bewegung gebunden ist:                   Effekts im funktionellen Kernspinto-
ohne Erfolg trainiert: Dabei zeigte sich al-       Seele (psychische Vorgänge) ist iden-    mogramm [2] zeigen, dass gesunde und
lerdings auch, dass im Zustand des völ-        tisch mit der Produktion von Bewegung bei    kranke Personen die Veränderung der
ligen Eingeschlossenseins der normale          Tieren… Wir können von Bewegungen des        Hirndurchblutung einzelner umschrie-
zirkadiane Rhythmus teilweise verloren         Körpers auf ähnliche Bewegungen der See-     bener kortikaler und subkortikaler Area-
geht und sich bei den Patienten (meist         le schließen… Die Denkprozesse und Vor-      le mithilfe des funktionellen Kernspinto-
bei geschlossenen Augen) auch während          stellungen der Seele sind wie Bewegung an    mogramms sehr viel schneller lernen als
des Tages und während der Trainingssit-        Vermeidung und Annäherung geknüpft;          die Kontrolle neuroelektrischer Vorgän-
zungen kurze, aber häufige Schlafphasen        und so ist es bei allen Arten von Bewegun-   ge und die Kontrolle des Elektroenzepha-
und Phasen des Einnickens mit Phasen           gen (Aristoteles 384–322 v. Chr.)            logramms. Wenngleich die Ursache für
der Aufmerksamkeit abwechseln. Insge-              Im 19. Jahrhundert haben Carpen-         diese überlegene Kontrollierbarkeit un-
samt zeigt das EEG in diesen Zuständen         ter und andere und schließlich William       klar ist, könnte dies mit der Tatsache zu-
eine deutliche Verlangsamung, Frequen-         James diese Idee aus der Antike zu einer     sammenhängen, dass unsere Denkpro-
zen über 10 Hz verschwinden meist nach         „motorischen Theorie des Denkens“ aus-       zesse (sprich neuroelektrischen Vorgän-

                                                                                                                 Neuroforum 4 · 2015   | 137
Übersichtsartikel

                                                                                                               Abb. 3 9 Brain-Machine-
                                                                                                               Interface (BMI) für vollkom-
                                                                                                               men eingeschlossene Pa-
                                                                                                               tienten mit ALS (Amyotro-
                                                                                                               phe Lateralsklerose). 4 CLIS
                                                                                                               Patienten (completely lo-
                                                                                                               cked-in state). Das BMI-
                                                                                                               System besteht aus einem
                                                                                                               NIRS (Nah-Infrarot-Spekt-
                                                                                                               roskopie)-System (links) zur
                                                                                                               Klassifikation von „Ja“ und
                                                                                                               „Nein“-gedanklichen Ant-
                                                                                                               worten und (rechts) aus
                                                                                                               einem EEG-System, das bei
                                                                                                               Abfall der Vigilanz die Be-
                                                                                                               fragungssequenz unter-
                                                                                                               bricht (s. Text für Erläute-
                                                                                                               rung). Nach Chaudhary et
                                                                                                               al (under review)

    ge der Nervenzellen) keine Sinnessysteme    Da CLIS-Patienten nicht transportabel,       oder Schlaf vorhanden ist. Das BCI-Sys-
    und Rezeptoren für ihre eigene Aktivität    künstlich ernährt und künstlich beatmet      tem besteht aus einfachen Fragen, welche
    im Gehirn besitzen. Nervenzellen schei-     in familiärer Pflege sind, muss das BCI-     der Patient „im Kopf“ reflektorisch mit
    nen bezüglich der Rückmeldung über          System in der häuslichen Umgebung an-        „ja“ oder „nein“ beantworten soll. Vor-
    ihren eigenen Aktivitätszustand „immun      wendbar sein. Zur Steuerung und Mes-         erst erhält der Patient viele hunderte Fra-
    zu sein“. Umgangssprachlich formu-          sung der Hirndurchblutung wird ein           gen mit bekannter Antwort, meist Wis-
    liert: Wir nehmen unsere Denkprozes-        tragbares Nahinfrarot-Spektroskopie-ge-      sensfragen oder Fragen aus dem persön-
    se nicht wahr. Im Gegensatz dazu weist      räte verwendet (NIRS), welches Verände-      lichen Bereich („Berlin ist die Hauptstadt
    das Gefäßsystem des Gehirns umfangrei-      rungen der Oxygenierung und Deoxyge-         von Spanien“, „Berlin ist die Hauptstadt
    che Druck- und Flusssensoren auf, die das   nierung größerer Hirnareale über die Re-     von Deutschland“). Die Veränderung
    Gehirn kontinuierlich über den vaskulä-     flexion von Licht misst. Am Kopf des Pa-     der Oxygenierung auf diese Fragen wer-
    ren Status auch der kleineren Blutgefä-     tienten werden kleine Laser-Lichtquellen     den über 15 s nach Beendigung der Frage
    ße informieren, sodass das Gehirn selbst    angebracht, das Licht durchdringt Kopf-      erfasst und über lineare und nicht-linea-
    über diese Rückmeldung den Flusszu-         haut und Schädeldecke und je nach Ab-        re Klassifikationsalgorithmen der Unter-
    stand und damit Sauerstoff und Glukose-     sorptionsgrad – bedingt durch die Durch-     schied in der Oxygenierung zwischen den
    transport innerhalb enger Grenzen regu-     blutung – wird die Reflexion des Lichtes     Hirnantworten „ja“ und „nein“ berech-
    lieren kann.                                aus der Kortexoberfläche über empfindli-     net. Zeigt sich über einen längeren Fra-
                                                che Sensoren, welche die reflektierte Ab-    gezeitraum eine Antwortgenauigkeit von
    Ein BCI-System für                          sorption messen, erfasst. Gleichzeitig re-   über 70 % auf Fragen mit bekannter Ant-
    vollständig Gelähmte                        gistriert unser System die EEG-Hirnos-       wort, können offene Fragen gestellt wer-
                                                zillationen und unterbricht den Kommu-       den („Du möchtest umgedreht werden“,
    . Abb. 3 zeigt den Aufbau eines tragba-     nikationsprozess, wenn Anzeichen des         „Du hast Schmerzen?“). Naturgemäß
    ren BCI-Systems, wie es heute erfolg-       Einschlafens oder Nachlassen der Vigi-       kann bei einem völlig eingeschlossenen
    reich bei CLIS-Patienten eingesetzt wird:   lanz im EEG-Muster (üblicherweise Wel-       Patienten die Korrektheit der Antworten
    Es zeichnet sich durch reflexive, einfa-    len mit einer Frequenz unter 5 Hz) fest-     auf offene Fragen nicht mit absoluter Si-
    che Lernvorgänge und durch die Kont-        gestellt werden. Damit wird der Kom-         cherheit erfasst werden, allerdings kann
    rolle der Durchblutung des Gehirns als      munikationsprozess auf Zeit-Einheiten        man mithilfe folgender Kriterien zumin-
    entscheidenden Antwortparameter aus.        beschränkt, in denen keine Ermüdung

138 |   Neuroforum 4 · 2015
dest annähernd die Korrektheit der Ant-        völlig eingeschlossenen Patientin, bei der   de Lebensqualität in diesem schweren
worten bestimmen:                              ein auf EEG-Oszillationen basierendes        Krankheitszustand erreicht werden kann.
a. die Antwort hat offensichtliche (face)      BCI auch nach einem Jahr Training keine      Die Ergebnisse zu dieser Frage sind voll-
   Validität, z. B. der Patient hat eine of-   Kommunikationsgenauigkeit über 60 %          kommen eindeutig: Bei familiärer Pfle-
   fene Wunde, die Schmerzen verur-            ergeben hatte (De Massari et al. 2013).      ge ist die Lebensqualität auch nach Ein-
   sacht und er antwortet auf die Frage        Wie ersichtlich, ist vor allem bei offenen   leitung der künstlichen Beatmung und
   „Hast Du Schmerzen?“ mit „ja“.              Fragen, welche auch vital bedeutsame In-     künstlichen Ernährung bei Patienten mit
b. die Angehörigen identifizieren aus          halte abfragen, die Kommunikationsge-        ALS auch im LIS-Zustand gut bis sehr
   der Kenntnis des Patienten die Kor-         nauigkeit, so weit sie bestimmt werden       gut, bei den bisher untersuchten CLIS-
   rektheit der Antwort                        kann, über 70 %. Bis zum jetzigen Zeit-      Patienten wurden alle Fragen zu allen
c. zeitliche Stabilität: Die Frage, z. B.      punkt wurden 6 CLIS-Patienten mit die-       Zeitpunkten, welche positive oder nega-
   nach der Lebensqualität, wird über          sem System untersucht, bei allen ergaben     tive Lebensqualität abfragen, mit positi-
   einen längeren Zeitraum mit dersel-         sich befriedigende Kommunikationser-         ver Lebensqualität beantwortet. Insge-
   ben Antwort bedacht und                     gebnisse, sodass zumindest bei Patienten     samt wurden in unserem Laboratorium
d. interne Validität: Fragen mit ähnli-        mit Amyotropher Lateralsklerose auch im      und in der Neurologischen Klinik von A.
   cher semantischer Bedeutung (z. B.          Spätstadium der Erkrankung kein kom-         Ludolph in Ulm, welche über die größte
   „Das Leben ist schön“ oder „Ich freu        plett eingeschlossener Zustand mit die-      ALS-Ambulanz in Süddeutschland ver-
   mich an jedem Tag“) werden konsis-          sem System mehr auftreten kann ([4];         fügt, repräsentative Befragungen mit Le-
   tent mit derselben Antwort bedacht.         Chaudhary et al. – submitted).               bensqualitäts-Fragebögen und einem neu
                                                                                            entwickelten Depressions-Fragebogen an
. Abb. 4 zeigt den Verlauf der mit Sup-        Lebensqualität bei                           mehreren 100 ALS-Patienten in verschie-
port Vector Machines (SVM) klassifi-           vollständig Gelähmten                        denen Stadien der Erkrankung durchge-
zierten „ja“- und „nein“-Antworten der                                                      führt, die alle zu dem Ergebnis kommen,
NIRS-Reaktion auf Fragen mit bekann-           Die Anwendung eines BCI-Systems bei          dass die Lebensqualität von ALS-Patien-
ter Antwort und offene Fragen im Lau-          CLIS-Patienten macht naturgemäß nur          ten sich im Durchschnitt nicht von Ge-
fe eines Jahres bei einer seit fünf Jahren     dann Sinn, wenn damit eine ausreichen-       sunden unterscheidet. Allerdings zeigte

                                                                                                                Neuroforum 4 · 2015   | 139
Übersichtsartikel

    Abb. 4 8 Kommunikation mit dem NIRS-BMI-System einer CLIS-Patientin mit ALS über 3 Sitzungsperioden (unten) verteilt
    über ein Jahr. a Patientin W.F., vollkommen eingeschlossen seit 4 Jahren mit den Sensoren des NIRS-BMI (mit Genehmigung
    des Ehepartners). b Befragungssequenz: 2–5 s bekannte oder offene Fragen, danach 20 s Antwort mit „ja“ oder „nein“ zu den-
    ken. Danach erhält der Patient bei Fragen mit bekannten und offenen Fragen auditorisch Rückmeldung über seine gedachte
    Antwort. c Support Machine Classification (SVM) der gedachten Antworten auf der Grundlage der fronto-zerebralen Durch-
    blutungsänderung gemessen mit NIRS. Ordinaten: Prozent richtiger Klassifikation mit je 20 Fragen mit bekannten Antworten
    (blau) und Fragen mit offenen Antworten („Das Leben ist schön“) (orange). Erläuterung siehe Text. Aus Gallegos-Ayala et al.,
    Neurology 2014)

    sich, dass die Beurteilung der Lebensqua-            in einer solchen positiven familiären Be-            wird als von gesunden Kontrollperso-
    lität durch Familienangehörige und Pfle-             ziehung aufgehoben sind. Durch die Fo-               nen. Weiterhin untersuchen wir zum jet-
    gepersonal sowie das ärztliche Personal              kussierung und Einengung der Aufmerk-                zigen Zeitpunkt an CLIS-Patienten expe-
    deutlich negativer ausfällt als die Beurtei-         samkeit auf die positive familiäre Interak-          rimentell, inwieweit der Denk- und Vor-
    lung der Lebensqualität durch die Pa-                tion ergibt sich naturgemäß eine positi-             stellungsprozess dieser Patienten sich auf
    tienten selbst. Depressive Verstimmun-               ve Beurteilung der Lebensumstände. Wei-              ankommende sensorische emotionale In-
    gen kommen außerordentlich selten vor,               terhin gehen wir experimentell dem Ver-              formation fokussiert und nach außen ge-
    in einer Untersuchung an der Psychiatri-             dacht nach, dass die vollständige Läh-               richtete, reaktionsorientierte Vorstellun-
    schen Universitätsklinik Tübingen erga-              mung der Muskulatur und die teilweise                gen auch im sprachlich-semantischen Be-
    ben sich deutlich schlechtere Lebensqua-             Löschung intentionaler willentlicher Mo-             reich zunehmend der Löschung unterlie-
    litätsergebnisse für depressive Patienten            tivation einen ausgeglichenen „entspann-             gen. Auch dies könnte eine Antwort auf
    als für ALS-Patienten.                               ten“ Gehirnzustand bedingen. Das Ge-                 die scheinbar paradox gute Lebensquali-
        Die potenziellen Ursachen für diese              hirn erhält aus der Peripherie keine Rück-           tät sein.
    erstaunlich hohe Lebensqualität sind bis-            meldung über Spannungsveränderungen,
    her ungenügend untersucht, bei den LIS-              sodass eine Aktivierung defensiver Ab-               Brain-Machine Interfaces
    und CLIS-Patienten ist aber offensicht-              wehrsysteme unterbleiben muss. In einer              (BMI) und Rehabilitation des
    lich, dass diese Patienten nur in einem              Untersuchung mit positiven und negati-               chronischen Schlaganfalls
    positiven familiären Kontext die künst-              ven emotionalen visuellem und akusti-
    liche Ernährung und künstliche Beat-                 schem Material konnten wir feststellen,              Chronischer Schlaganfall ist die häufigste
    mung akzeptieren, sodass hier eine Vor-              dass emotionales sensorisches Material               Ursache für dauerhafte Behinderung und
    selektion insofern stattfindet, als nur sol-         von Patienten mit ALS deutlich positiver             entsprechende arbeitsökonomische Ver-
    che Patienten untersucht werden, welche              und weniger negativ emotional beurteilt              luste. Ein Drittel der betroffenen Patien-

140 |   Neuroforum 4 · 2015
Abb. 5 9 Kortikale Reorga-
                                                                                                           nisation bei Schlaganfall
                                                                                                           vor und nach BMI-Training.
                                                                                                           BOLD-Antworten der Expe-
                                                                                                           rimentalgruppe während
                                                                                                           versuchter Bewegung der
                                                                                                           betroffenen Hand vor und
                                                                                                           nach erfolgreichem BMI-
                                                                                                           Training. Man erkennt Late-
                                                                                                           ralisierung der Aktivierung
                                                                                                           in Richtung der betroffe-
                                                                                                           nen Hemisphäre nach dem
                                                                                                           BMI-Training. Erläuterun-
                                                                                                           gen s. Text (aus Ramos et
                                                                                                           al., Ann. Neur. 2013)

ten erholen sich spontan, bei einem Drit-   gen der betroffenen gelähmten Hand zu         se Pionieruntersuchungen wurden dann
tel bleiben einseitige Lähmungen kontra-    realisieren und damit auch die Hirnarea-      am Menschen von Hochberg et al. und
lateral der Läsion übrig. Ein Drittel er-   le, welche der Läsion benachbart sind, zu-    [3] an teilweise gelähmten Patienten mit
holt sich auch nach Jahren nicht, der be-   mindest am motorischen Kortex wieder          Schlaganfall wiederholt. Die Patienten
troffene Arm und Hand bleiben völlig        zu aktivieren. Das restliche Drittel von      lernten mithilfe einer relativ kleinen An-
gelähmt. Für Patienten mit Restbewe-        Patienten, die über keine Restbewegung        zahl kortikaler Zellen, eine extrakorpora-
gung in den Armen und Händen hat sich       der Hände verfügen und bei denen auch         le Prothese oder Kunsthand so zu bedie-
als die vielversprechendste und erfolg-     nach einem Jahr von Constraint Move-          nen, dass damit gerichtete Willenshand-
reichste Behandlungsmaßnahme die so-        ment Therapy oder Physiotherapie keine        lungen wie Greifen, Trinken, Essen mög-
genannte „Constraint Movement Thera-        Veränderung feststellbar ist, wiesen bis-     lich wurde.
py“ (CMT) von Edward Taub (Wolf et al.      her keine dauerhaften Verbesserungen              Diese Erkenntnisse wurden in unse-
2006, The EXCITE trial) etabliert. Diese    auf und mussten mit dieser schweren Be-       rem Laboratorium und in dem Laborato-
Therapie baut auf Experimenten an Pri-      hinderung auch schwere Einbrüche in Le-       rium von Leonardo Cohen am National
maten auf, bei denen nach Läsion der af-    bensqualität und Bewegungs- und Hand-         Institute of Health in Zusammenarbeit
ferenten Bahnen aus der Peripherie, vor     lungsfreiheit hinnehmen.                      mit unserem Institut an Schlaganfallpa-
allem aus Hand und Arm, eine chro-              Aufbauend auf den oben genann-            tienten mit vollständiger Lähmung der
nische „Nichtbenutzung“ des betroffe-       ten Tier- und Humanversuchen mit der          Läsion gegenüber liegenden Körpersei-
nen Arms trotz intakter Motorik auffiel.    Steuerung peripherer Prothesen mit den        te umgesetzt. Dabei zeigte sich, dass die
Die Tiere benützen primär den gesun-        Feuerraten motorischer Zellen vom mo-         Patienten innerhalb von 20 h durchaus
den Arm, da dieser zu dem gewünschten       torischen Kortex wurde daher in unse-         in der Lage sind, eine Orthose, die an der
Reaktionserfolg führt und „vernachlässi-    rem Laboratorium vorerst ein nicht-in-        Hand und den Fingern befestigt ist, mit-
gen“ den Arm kontralateral zur betroffe-    vasives BMI-System zur Hirnsteuerung          hilfe ihrer Hirnaktivität im Elektroenze-
nen Hirnhemisphäre. In der psychologi-      einer Hand-Orthose entwickelt (Buch           phalogramm so zu steuern, dass willent-
schen Fachliteratur wird dieses Phäno-      et al. 2012). Bereits 1969 hatte Eberhard     liches Öffnen und Schließen der Hand
men als „Learned Non-Use“ bezeichnet.       Fetz an nicht-humanen Primaten gezeigt,       oder Vor- und Seitwärtsbewegungen des
Durch Fixierung des gesunden Körper-        dass diese Tiere relativ schnell (innerhalb   Armes möglich sind. Die Patienten er-
teiles, vor allem des Armes und der Hand    von zwei Wochen täglichem Training)           halten Rückmeldung über die vom mo-
über einen Zeitraum von mehreren Wo-        Rhythmus und Frequenz kortikaler Ak-          torischen Kortex abgeleiteten Rhythmen
chen wird das Tier bzw. die Person „ver-    tionspotenziale über positive Rückmel-        von 8–13 Hz bzw. deren harmonische
anlasst“, die verbliebenen Restbewegun-     dung willentlich regulieren können. Die-      Frequenzen von ca. 22 Hz (sensomoto-

                                                                                                               Neuroforum 4 · 2015   | 141
Übersichtsartikel

    rischer Rhythmus, SMR). Sie lernen, gra-     te). Die Experimentalgruppe konnte nach       lähmten, zur Kommunikation unfähigen
    duell den sensomotorischen Rhythmus          Abschluss der Behandlung gezielt Finger-      Körper gefangen ist, Generationen be-
    (SMR) durch das Denken einer willent-        und Handbewegungen durchführen und            unruhigt hat. Diese Befürchtung scheint
    lichen Bewegung zu reduzieren, und das       bei einigen täglichen Verrichtungen deut-     durch die Ergebnisse der BCI-Forschung
    Ausmaß der Reduktion bewegt die peri-        liche Verbesserungen erreichen. Diese         beseitigt zu sein.
    pher befestigte Orthose und damit pas-       Untersuchung bestätigt die klinische Ef-          Sollten sich die Ergebnisse des BMI-
    siv die gelähmte Hand. Es zeigte sich al-    fektivität des BMI-Trainings, wenn es si-     Trainings am chronischen Schlagan-
    lerdings nach den ersten Untersuchun-        cherstellt, dass die Behandlungserfolge       fall bewähren und repliziert werden und
    gen, dass trotz 80-90prozentiger korrek-     auch außerhalb des Laboratoriums trai-        mithilfe invasiver Eingriffe das BCI-Sys-
    ter Bewegungsdurchführung mithilfe des       niert werden und zeigt erstmals einen         tem innerhalb des Körpers verbleiben
    BMI und der fixierten Neuroprothese die      anhaltenden Behandlungserfolg auch in         können, so wäre damit ein wesentlicher
    gelernten Bewegungserfolge nicht auf die     der realen sozialen Umgebung bei chro-        Schritt in der dauerhaften Rehabilitation
    soziale Realität generalisierten: Die Pa-    nischen Patienten ohne Restbewegung.          des Schlaganfalls gelungen.
    tienten waren außerhalb des Laborato-        Zum jetzigen Zeitpunkt laufen Untersu-            Die Situation der klinischen BCI-For-
    riums nicht in der Lage, ohne an das BMI     chungen, in denen dasselbe Prinzip über       schung ist weniger einfach – und in die-
    angeschlossen zu sein, den Behandlungs-      implantierte Mikroelektroden im motori-       sem kurzen Artikel nicht im Detail be-
    erfolg zu realisieren. Aus diesem Grund      schen Kortex eine deutlich gezieltere Fin-    schrieben – wenn BCI bei Verhaltens-
    wurde in einer weiteren kontrollierten       ger- und Handbewegung erlaubt und –           störungen aus dem psychiatrischen und
    Studie (Ramos et al. 2013) die Patienten     sofern die implantierten Elektroden im        klinisch-psychologischen Bereich ange-
    der Experimentalgruppe trainiert, mithil-    Gehirn des Patienten verbleiben -, auch       wandt wird. Wenngleich die Selbstkont-
    fe der Desynchronistation des sensomo-       ohne Training der Generalisation in der       rolle des Gehirns bei einzelnen psycholo-
    torischen Rhythmus Hand- und Armbe-          sozialen Umgebung mithilfe des „einge-        gischen Störungen wie der Aufmerksam-
    wegungen zu steuern. Nach jeder BMI-         bauten“ BMIs die Bewegungen über Sti-         keitsstörung positive und replizierba-
    Sitzung erfolgte ein intensives Training     mulation der betroffenen Muskeln vom          re Ergebnisse erbrachte und Neurofeed-
    derselben Bewegung ohne Vorhanden-           Gehirn des Patienten gesteuert werden.        back wiederholt im Zusammenhang mit
    sein der technischen BMI-Hilfe. Mithil-      Bei der Untersuchung von Ramos et al.         psychiatrischen Störungen versucht wur-
    fe dieses verhaltensorientierten physio-     zeigte sich auch, dass mit zunehmender        de (so zum Beispiel in unserem Labora-
    therapeutischen Trainings konnten an-        Selbstkontrolle der Hirnaktivität und da-     torium bei Personen mit antisozialer Per-
    haltende Behandlungserfolge auch bei         mit Wiedererlangung der willentlichen         sönlichkeitsstörung und Kriminalität und
    Patienten mit vollständiger Lähmung er-      Kontrolle die „gesunden“ Muster von pe-       sehr erfolgreich bei Epilepsie), so sind die
    reicht werden, die auch ein Jahr nach Ab-    ripherer Aktivität der Hand- und Arm-         Ergebnisse angesichts der komplexen Be-
    schluss der Behandlung stabil blieben.       muskeln zurückkehrten, sodass zum spä-        ziehungen zwischen Hirnveränderungen
        . Abb. 5 zeigt die Hirnveränderungen     teren Zeitpunkt der Behandlung diese –        und Verhalten sehr viel weniger eindeu-
    dieser Patienten vor und nach erfolgrei-     wenn auch kleinen – elektromyografi-          tig. Auch hier wird die Entwicklung von
    chem Abschluss des Trainings: Die mit        schen Veränderungen der Muskulatur            Gehirn-basierten Trainingsmaßnahmen
    funktioneller Magnetresonanztomogra-         wieder zur Steuerung der Bewegung ver-        stark von der technologischen Entwick-
    fie gemessenen Durchblutungsänderun-         wendet werden könnten.                        lung abhängen: Miniaturisierte, kabel-
    gen zeigen vor der Behandlung, wie aus                                                     freie implantierbare Systeme zur Steue-
    der Theorie des Learned Non-Use vor-         Ausblick                                      rung der Hirnkontrolle bzw. zur Stimula-
    hergesagt, dass bei intendierten Handbe-                                                   tion einzelner Gehirnareale werden auch
    wegungen beide Hirnhemisphären akti-         Die klinisch-experimentelle Forschung         in diesem Bereich zu verbesserten Ergeb-
    viert werden, vor allem die gesunde He-      zum Brain-Computer Interface hat ge-          nissen führen. Allerdings hat die invasive
    misphäre in einem verstärkten Ausmaß.        zeigt, dass bei wohl definierten neurologi-   oder nicht-invasive BCI-Anwendung bei
    Diese Aktivierung blockiert die Reorga-      schen Erkrankungen, bei denen klare Be-       psychologisch-psychiatrischen Störungen
    nisation und Neuaktivierung der betrof-      ziehungen zwischen veränderter Hirnak-        nur dann einen Sinn, wenn sie im Kontext
    fenen läsionierten Hemisphäre. Nach der      tivität und Bewegungskontrolle bestehen,      einer lernpsychologisch basierten Beein-
    BMI-Behandlung „wandert“ die Aktivie-        wie bei der Amyotrophen Lateralsklerose,      flussung von Umgebungsveränderungen
    rung von der gesunden Hemisphäre wie-        die vollständige Lähmung zur Kommuni-         erfolgt und sich nicht an den gegenwärti-
    der in die Umgebung der Läsion in die        kation und beim Schlaganfall die von der      gen starren diagnostischen Kategorien in
    ipsiläsionale Hemisphäre, was mit dem        Läsion ausgelöste Blockade der Übertra-       der Psychopathologie orientiert.
    dauerhaften Behandlungserfolg einher-        gung des Bewegungsimpulses auf die Pe-
    geht. Dies bedeutet den ersten geglück-      ripherie umgangen werden können. Die
    ten Behandlungsversuch im Rahmen             Ergebnisse sind besonders beim kom-
    einer kontrollierten Studie (die Kontroll-   pletten Locked-in Syndrom eindrucks-
    gruppe mit nicht-kontingenter Rückmel-       voll, als bisher die Vorstellung, dass ein
    dung der Hirnaktivität zeigt keine Effek-    wacher Geist in einem vollkommen ge-

142 |   Neuroforum 4 · 2015
Sie können auch lesen