MAGAZIN 21/22 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin

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MAGAZIN 21/22 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin
Einzelverkaufspreis CHF 8.–
                              Kulturjahr

                              21/22
                                           SCHAFFHAUSER
                                           MAGAZIN
MAGAZIN 21/22 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin
MAGAZIN 21/22 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin
EDITORIAL

IMPRESSUM
                                    Liebe Leserinnen und Leser,
Das Kulturmagazin erscheint
als Sonderausgabe
                                    liebe Kulturbegeisterte
in der Reihe
«Schaffhauser Magazin»
                                    Lust auf Kultur machen: Mit diesem Anspruch haben die Autoren und
Herausgeberin
                                    Autorinnen sowie die Fotografinnen und Fotografen dieser Sonderausgabe
Meier + Cie AG
Vordergasse 58
                                    des «Schaffhauser Magazins» alle Kulturinstitutionen der Region besucht –
8201 Schaffhausen                   seien es Bühnen, Museen, Kunsträume oder Konzerthallen –, um mit einem
Konzept und Redaktion
                                    ungetrübten Blick ihre Eigenheiten herauszuschälen und das Besondere
Daniela Palumbo                     aufzuspüren.
Autorinnen und Autoren
                                    Dabei sind sie vielen Menschen begegnet, die mit grossem Engagement
Sabine Bierich                      Kunst machen, Kunst vermitteln, Kunst fördern und Kunst geniessen.
Gabriel Eichenberger                In dieser Ausgabe finden Sie deshalb auch unterhaltende und ungewöhn-
Vincent Fluck
                                    liche Reportagen, Interviews und Porträts von Theatergruppen, Bands,
Maria Gerhard
Sabine Girsberger                   Künstlern und Künstlerinnen sowie Kunstförderern. Aber auch über-
Praxedis Kaspar                     raschende Geschichten zu Museumsgegenständen, die dadurch erst
Mark Liebenberg                     zum Leben erwachen. Auf 84 Seiten präsentieren wir Ihnen so eine
Karin Lüthi
Daniela Palumbo
                                    einmalige Gesamtschau des vielfältigen und grenzüberschreitenden
Mark Schiesser                      Kulturangebots der Region mit Veranstaltungen aus allen Sparten sowie
Jeannette Vogel                     zahlreichen Festivals.
Diana Zucca
                                    Angestossen haben diese Sondernummer zwei Stiftungen, die als Kultur-
Titelbild                           förderinnen im Kanton Schaffhausen Ausserordentliches ermöglichen:
Roberta Fele
                                    die Jakob und Emma Windler-Stiftung und die Sturzenegger-Stiftung. Ihnen
Illustrationen                                                ist es zu verdanken, dass diese Sondernummer
Larissa Schlegel                                                   überhaupt entstanden ist und dass sie gratis
Gestaltung und Layout                                                 in alle Haushalte des Kantons gelangt.
Zvezdana Schällebaum                                                    Das Magazin soll den Einheimischen
Korrektorat                                                               vergegenwärtigen, wie reichhaltig das
Birgit Blatter                                                             kulturelle Angebot in der Region ist,
Verlag                                                                      und den Gästen von ausserhalb
Verlag «Schaffhauser Nachrichten»                                           zeigen, wo sie in der Region Kultur
Beat Rechsteiner
Telefon 052 633 33 20
                                                                            geniessen können. Wir wünschen
                                                                           Ihnen viel Spass beim Lesen und viel
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                                                                          Lust auf Kultur.
«Schaffhauser Nachrichten»
Telefon 052 633 32 77                                               Daniela Palumbo
e-anzeigen@shn.ch

Druck
AVD GOLDACH AG
Sulzstrasse 10–12
9403 Goldach

Auflage
65 000 Exemplare

ISSN 2297-8704

Das Kulturmagazin wird
unterstützt von

Georg Fischer AG (GF)
Janssen Schaffhausen
Regionaler Naturpark Schaffhausen
SIG Gemeinnützige Stiftung

                                                                                                               3
MAGAZIN 21/22 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin
INHALT

             MAGAZIN
             6
             EIN MEER IM MUSEUM
             Der Berner Künstler Zimoun kreiert mit Alltags-
             und Industriegegenständen Klangskulpturen,
             die weltweit auffallen.

             13
             «DAS PUBLIKUM
             SOLL GÄNSEHAUT BEKOMMEN»
             Aus einem 30-köpfigen Pool von jungen
             Erwachsenen schöpft die Theatergruppe Szenario
             ihre Kreativität für mitreissende Bühnenstücke.

             16
             WINNETOU IST TOT
             Praxedis Kaspar über die Kraft der Bücher und
             literarische Weinkrämpfe.

             18
             KOMMT EIN EINHORN GEFLOGEN
             Zu Besuch im Proberaum der erfolgreichsten
             Schaffhauser Band The Gardener & The Tree und
             was passiert, wenn ein Einhorn geflogen kommt.

             24
             PLATZ FÜR NUDELN UND JAZZ
             Warum Martina Ronner neben ihrer Nudelmanufaktur
             unbekannte Jazzbands fördert.

             26
             WAS IST FÜR DICH EIN GUTES LEBEN?
             Ansichten einer Generation
             aus der Sicht der Fotografin Noëlle Guidon.

             29
             DIE ZUKUNFT DER ORTSMUSEEN
             Wie sie für den Nachwuchs attraktiv bleiben.

             31
             DIE DNA
             DES SCHAFFHAUSER KULTURLEBENS
             Essay von Mark Liebenberg

             32
             «WIR MÜSSEN WERKE AUFSPÜREN,
             IHRE QUALITÄT ERKENNEN UND MANCHMAL
             AUCH SCHNELL ENTSCHEIDEN.»
             Die Präsidentin der Sturzenegger-Stiftung erzählt
             im Interview, wie man bei Auktionen erfolgreich ist
             und wie das Museum zu Allerheiligen zu seinen
             kostbaren Sammlungen kam.

4
MAGAZIN 21/22 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin
KULTUR IN DER REGION SCHAFFHAUSEN
39 SCHAFFHAUSEN                                76   Kino-Theater Central, Neuhausen
                                                    Schloss Charlottenfels, Neuhausen
   40   Museum zu Allerheiligen                     Museum am Rheinfall, Neuhausen
   46   Museum Stemmler                        77   Reinart, Neuhausen
   47   JUPS                                        Trottentheater Neuhausen
   48   Theater Bachturnhalle                  78   Alte Schmitte, Neunkirch
   49   Das Fass                                    Ortsmuseum Neunkirch
        Haberhaus Bühne                             Ortsmuseum Rafz
   50   Kammgarn                                    GF-Eisenbibliothek, Schlatt
   52   Vebikus Kunsthalle                     79   Gipsmuseum, Schleitheim
   53   TapTab                                      Iuliomagus, Schleitheim
        IWC Museum                                  Museum Schleitheimertal, Schleitheim
   54   KLASSIK                                80   Reiatmuseum, Thayngen
   55   Rathauslaube                                Schreibmaschinenmuseum, Bibern
        Schützenstube                               Girsbergerhaus, Unterstammheim
   56   Stadttheater Schaffhausen                   Orts- und Dichtermuseum Wilchingen
   58   BUCHWOCHE                              81   Hesse-Museum, Gaienhofen (D)
                                                    Museum Haus Dix, Gaienhofen (D)
                                                    Jüdisches Museum, Gailingen (D)
59 STEIN AM RHEIN                                   Kunstmuseum Singen (D)

   60   Künstlerresidenz Chretzeturm           82   Bildnachweis
   61   Museum Kloster Sankt Georgen
        Krippenwelt
   62   Museum Lindwurm
   64   Rathaussammlung
        Schwanen-Bühne
   65   NORDART

67 REGION                                           Weitere Veranstaltungshinweise
                                                    und Aktualisierungen finden Sie auf
   68   Schlosspark Andelfingen                     nordagenda.ch
        Ortsmuseum Beringen
        Pflugmuseum Guntmadingen
   69   Freilichtmuseum Säge Buch
        Handwerksmuseum Gattersagi, Buchberg
        Ortsmuseum Buchberg                         BÜHNE
        Puppenmuseum Buchberg
   70   Museum Kunst  + Wissen, Diessenhofen
   71   ROCK THE RHY                                KUNST
   72   Ortsmuseum Eglisau
        Museum Eschenz
        Theater Alti Fabrik Flaach                  LITERATUR
   73   Ortsmuseum Hallau
        Weinkrone, Hallau
        Kutschenmuseum, Hallau                      MUSEUM
   74   MUSEUMSNACHT
   75   Bahnstation-Museum, Hemishofen
        Ortsmuseum Marthalen                        MUSIK
        Wohnmuseum, Marthalen

                                                                                          5
MAGAZIN 21/22 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin
KUNST

Ein Meer im Museum

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MAGAZIN 21/22 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin
Zimoun

Sie raspeln, rauschen oder zischen, die Klangskulpturen des Berner
Künstlers Zimoun. Seine raumfüllenden, kargen Installationen werden
auf der ganzen Welt ausgestellt. Gegenwärtig widmet das Haus
Konstruktiv in Zürich dem Künstler seine bislang grösste Ausstellung
in der Schweiz. Im nächsten Jahr kommt er nach Stein am Rhein
zur Eröffnung des neuen Kulturhauses.
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MAGAZIN 21/22 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin
KUNST

Text Jeannette Vogel Der Wind, der manchen Sommergewittern
vorangeht, bläst warme Luft in die Atelierräume und lässt die
Blätter der wuchernden Zimmerpflanzen zittern. Die kreuz und
quer übereinandergestapelten Kartonschachteln bewegen sich
nicht, der Wind ist zu sanft. Der Künstler Zimoun hat in seinem
Atelier in Bern eine Karaffe mit Wasser auf einem bodennahen
Holztischchen bereitgestellt. Die Sitzgelegenheit ist spartanisch,
doch überraschend bequem. Tisch und Bank sind aus Teilen             Stock. Und wie am Meer hört man es leise
der alten Deckenverkleidung gefertigt. «Mich interessiert unspek-    rauschen, raspeln und schaben. Lebendig
takuläres Material», sagt er und meint sowohl das Holz als auch      wird es mit dem Einschalten der Stromversor-
die hüfthoch gestapelten Schachteln aus Karton. Seit rund            gung. Die Wellenberge sind mit Minimotoren
zwanzig Jahren erzeugt er eine Fülle von minimalistischen Klän-      und Gewichten bestückte, auf- und neben-
gen. Für seine Installationen verwendet er stets Alltags- und        einander gestapelte Kartonboxen. Die 295
Industriegegenstände – in hundertfacher Ausführung. Zimoun           Motoren, die seine beiden minimalistischen
präpariert diese Materialien so, dass leise repetitive Geräusche     Installationen in Zürich antreiben, hat er
entstehen. Der Zufall bestimmt die akustischen Muster mit.           bereits auf der ganzen Welt eingesetzt. Seine
An der reduzierten Ästhetik tüftelt der Musiker, Installations-      bislang grösste Einzelausstellung in einem
und Klangkünstler lang. Zimoun nennt das Prinzip seiner Werke        Schweizer Museum ist bis zum 12. September
«primitive Komplexitäten»: «Mich interessieren primitive Systeme     2021 zu sehen. Weltweit gesehen ist sie aber
mit komplexen Verhalten.»                                            eine kleinere Ausstellung. «Ich hatte schon
                                                                     Einzelausstellungen mit zwölf Rauminstalla-
      BRAUCHBARES HORTEN                                             tionen, für welche das ganze Museum genutzt
      UND KLINGEN LASSEN                                             wurde.» Beispielsweise im Museum für zeitge-
                                                                     nössische Kunst (MAC) in Santiago de Chile.
       Zimoun lebt und arbeitet in einem unscheinbaren Berner               Es ist heiss im Atelier, das Gewitter
Quartier. Das grosse Gebäude war einst ein Lager für Heizöl,         lässt auf sich warten. Die beiden Wasser-
beherbergte danach ein Brockenhaus und bietet jetzt auf rund         gläser hinterlassen Kreise auf dem Holztisch-
2500 Quadratmetern Kreativen Wohn-, Arbeits- und Aktionsraum.        chen. Zimoun steht auf, holt ein Tuch, und
Das Haus widerspiegelt Zimouns Philosophie: möglichst vieles         wischt sie sorgfältig weg. Bereits als Kind
weiter- oder wiederverwenden. Recyceln ist heute nicht nur           interessierte er sich für Musik, brachte sich
eine ökologische Notwendigkeit, recyceln ist auch in. Bequem         verschiedene Instrumente bei und spielte
ist es allerdings nicht. «Für mich bedeuten das Sammeln und          in einer Schülerband. Mehr als die meisten
das Behalten häufig Mehraufwand und auch Mehrkosten. Gleich-         Kinder experimentierte er auch mit Visuellem,
wohl mache ich es konsequent», sagt Zimoun. Etwas zu ver-            beispielsweise mit Fotografien und Xerox-
schwenden, ist ihm ein Graus: In zahlreichen transparenten Boxen     Druckern. Seit seinen Teenagerjahren ist er
hortet er Brauchbares. Sobald sich das Ideenkarussell zu drehen      fasziniert vom Minimalismus, von der Reduk-
beginnt, hat er das Ausgangsmaterial für seine Installationen        tion, vom Weglassen. Das weisse Mikroskop
direkt vor Augen.                                                    ist keine blosse Dekoration, sondern ein Ge-
       Sein Atelier ist in mehrere Räume unterteilt. In einem Zim-   brauchsgegenstand. «Die Unendlichkeit wird
mer sind verschiedene Musikinstrumente und ein weisses Mikro-        für mich etwas fassbarer, wenn ich mich mit
skop. Die aufgeräumte Werkstatt ist blitzblank und gut bestückt.     dem Kleinen statt mit dem Grossen befasse.»
Im Hauptraum finden auch eine offene Küche und ein kleines
Fotostudio Platz. Eine Discokugel hängt von der Decke, sie ist             DAS SOZIALE VERHALTEN
der glamouröse glitzernde Fremdkörper in seinem monochromen                VON AMEISEN
Studio. Überall kann man kleine Motoren entdecken, in Setzkäs-
ten etwa oder in der schmalen Kartonschachtel, die oberhalb der             Zimoun hat keine Kunstschule durch-
Sitzecke befestigt ist. An diesem Motörchen ist ein schmaler Stab    laufen. Heute, mehr als zwei Jahrzehnte
befestigt und an dessen Spitze eine kleine Kugel. Ist das Motör-     nach der Fertigstellung seiner ersten Klang-
chen einmal eingeschaltet, wabert der Stab samt Kugel hin und        installation, sagt er: «Es fühlt sich an, als
her und trommelt sanft an die Kartonwand.                            hätte ich das Universum meiner Kunst
       Zimouns leise ratternde, ruckelnde, summende oder             gerade erst betreten.» Das Reduzierte, das
zischende Installationen werden mittlerweile in der ganzen Welt      Minimalistische treibt ihn an. Die Klänge, die
gezeigt. Gegenwärtig stellt der Autodidakt in den Niederlanden,      er mit seinen Installationen hervorruft, sollen
den USA, Frankreich, Kanada und Südkorea aus – und im Haus           in der Regel angenehm sein: «Ich suche
Konstruktiv in Zürich. Ein Meer bevölkert dort den Saal im ersten    Geräusche, die auf mich einladend wirken,

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MAGAZIN 21/22 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin
Zimoun
Zimoun wurde 1977 geboren und wuchs in der Nähe von Bern auf. Bereits als Kind erlernte er verschiedene Musikinstrumente.
Seit rund zwanzig Jahren macht er aus banalen Gegenständen tönende Kunstwerke. Bekannt wurde der Autodidakt vor allem
mit seinen raumgreifenden Klanginstallationen. Zimoun stellt dieses Jahr im Haus Konstruktiv in Zürich aus sowie in Frankreich,
den Niederlanden, in den USA, in Kanada und in Südkorea.

                                                                                                                                  Jeannette Vogel

                                                                                                                                     9
MAGAZIN 21/22 - Kulturjahr - Schaffhauser Magazin
KUNST

länger zuzuhören und aktiv zu beobachten.» Das Betrachten                  sondern auch mit der Stille. Im jugendlichen
und das Analysieren sind ihm wichtig: «Ich tauche gern tief in eine        Alter beschäftigte er sich intensiv mit den
Materie ein.» Der Austausch mit Experten begeistert ihn ebenso.            Arbeiten des amerikanischen Künstlers John
Eine Zeit lang hatte er regen Kontakt mit einem Forscher von der           Cage. Dieser komponierte in den Fünfziger-
Universität Zürich, es ging um künstliche Intelligenz, Schwarm-            jahren völlige Stille: Während vier Minuten und
verhalten und um Robotik: «Ich dachte, das Interesse ginge                 dreiunddreissig Sekunden wird kein einziger
einseitig von mir aus, und war dann erstaunt, dass das nicht so            Ton gespielt.
war.» Mit einer Forscherin von der Universität Lausanne tauschte                  Der Musiker und Schaffer von kargen
er sich über einen längeren Zeitraum über das soziale Verhalten            Raum- und Klanginstallationen hört selbst
von Ameisen aus. «Ihre mikroskopische Sicht und Forschung                  gern Musik. Ein Plattenspieler steht gleich
faszinieren mich.»                                                         neben der Sitzecke. Ob sich eine Musik «wie
       In einem nächsten Leben Astrophysiker oder Insektenfor-             das Eintauchen» anhört oder die zähflüssige
scher zu werden, scheint ihm eine Möglichkeit. «Abschliessend              Ästhetik von Doom Metal hat, der Künstler ist
kann ich mich allerdings nicht dazu äussern», sagt Zimoun, und             offen für verschiedene Musikstile.
seine Augen lächeln hinter den orangen Brillengläsern.                            Im Sommer 2022 stellt Zimoun in Stein
                                                                           am Rhein aus. Ob der Künstler dort Tausende
      ZÄHFLÜSSIGE ÄSTHETIK                                                 von Tropfen auf einer heissen Platte ver-
      VON DOOM METAL                                                       dampfen, Kartonschachteln mit den Ohren
                                                                           schlenkern lässt oder mit Baumwollbällen ein
       In den Neunzigerjahren dichtete eine Zürcher Werbeagen-             Trommelfeuer veranstaltet, hat er noch nicht
tur den Slogan «Reduce to the max». Zimouns Credo geht dar-                festgelegt. Vielleicht denkt er sich auch etwas
über hinaus. Seine Prototypen vereinfacht er wieder und wieder,            komplett anderes aus. «Die Konzipierung
«bis nach dreissig Prototypen nichts mehr übrig ist, was es nicht          dieser Ausstellung ist noch offen und beginnt
braucht. Wenn es dann so weit ist, die Einfachheit erreicht wurde,         mit Experimenten und Versuchen», sagt der
frage ich mich manchmal, warum das nicht schon von Anfang                  Künstler, und wieder blitzt ein Lächeln hinter
an klar war.» Der Künstler befasst sich nicht nur mit Geräuschen,          den orangen Gläsern auf.

  Wie früher, als das Gebäude aus dem Spätmittelalter zunächst als
  Zunfthaus, später als Metzgerei und Wirtshaus rege genutzt wurde, soll
  die Kulturbeiz im Erdgeschoss und im Innenhof ein Ort der Geselligkeit     Nach der Renovation prägen alte und neue Elemente
  für Einheimische und Auswärtige werden.                                    das Foyer der «Oberen Stube».

10
Im Zunftsaal wird zur Eröffnung des Kulturhauses
                                                                           eine Ausstellung zum Leben in Stein am Rhein im
                                                                           17. Jahrhundert im Kontext markanter Erfindungen
                                                                           und Ereignisse zu sehen sein.

Kulturhaus Obere Stube in Stein am Rhein Im Sommer 2022 werden Gäste und Kreative die zum Kulturhaus umgebaute
«Obere Stube» beleben. Drei Ausstellungsräume bieten dazu spartenübergreifenden, regionalen und internationalen Kulturgenuss.
Im Vorderhaus werden wechselnde Ausstellungen stattfinden. Das Hinterhaus, wo sich im 19. Jahrhundert das Waschhaus, der
Holzschopf und die Kuttlerei befanden, bietet von März bis Oktober Platz für bis zu vier wechselnde Ausstellungen zu Themen
wie Alltagskultur und Nachhaltigkeit sowie klassische und zeitgenössische Kunst. Den Auftakt zur Eröffnung im Sommer 2022
inszeniert der Klangkünstler Zimoun. Ein Veranstaltungsraum im Hinterhaus steht den Ansässigen das ganze Jahr auch für
kulturelle Anlässe wie Vorträge, Workshops und Seminare zur Verfügung, die Vereine oder andere Institutionen organisieren wollen.
Im Vorderhaus sind zudem kleinere Räume für Kulturvermittlung und Kreativität nutzbar. dp

                         Jakob und Emma Windler-Stiftung
                         Die finanzkräftige Stiftung mit Sitz in Stein             zug zum Kanton Schaffhausen oder Auswir-
                         am Rhein leistet seit 1989 einen immensen                 kungen auf ihn haben. Der Stiftungsrat
                         Beitrag zur Kulturförderung im Kanton                     stellt die Fördergelder zur Verfügung (für
                         Schaffhausen. So wollten es Jakob und                     Kultur waren es im Jahr 2020 1,5 Millionen
                         Emma Windler, die mit ihrem Nachlass –                    Franken). Gesuche werden von der sechs-
                         der ursprünglich aus 310 Sandoz-Aktien be-                köpfigen Kulturkommission aus Steiner Per-
                         stand – diese Stiftung begründeten. Mittler-              sönlichkeiten bearbeitet, die regelmässig
                         weile stehen für die Förderung von Kultur,                zusammenkommt. Derzeit erarbeitet die
                         Sozialem und Gemeinnützigem und die Er-                   Stiftung mit der Kulturkommission und
                         haltung des Ortsbildes von Stein am Rhein                 zwei Vertretern der Stadt Stein am Rhein
                         30 bis 35 Millionen Franken pro Jahr zur                  eine Kulturstrategie. Ziel ist es, das Städt-
                         Verfügung, die die Stiftung voll ausschöp-                chen kulturell zu beleben, die bestehenden
                         fen möchte. Deshalb hat sie in den letzten                Angebote zu stärken und auszubauen sowie
                         Jahren auch ihre Aktivitäten im Kulturbe-                 bestehende Lücken über die nächsten Jahre
                         reich forciert – unter anderem mit dem Bau                zu füllen. So soll im Rahmen des Internatio-
                         des Kulturhauses in Stein am Rhein und der                nalen Bachfestes ein «Steiner Tag» mit Kon-
                         vermehrten Unterstützung von Kulturpro-                   zerten stattfinden oder vielleicht dereinst
                         jekten in Stein am Rhein sowie im ganzen                  ein Jazzschiff als Ableger des Schaffhauser
                         Kanton Schaffhausen. Zudem verstärkte sie                 Jazzfestivals am Ufer von Stein am Rhein
                         ihre Öffentlichkeitsarbeit. Im Jahr 2020 ver-             anlegen. Dazu ist die Stiftung mit unter-
                         öffentlichte die Stiftung erstmals einen Jah-             schiedlichen Veranstaltern im Gespräch.
                         resbericht, in dem sie die Finanzlage offen-              Bereits unterstützt sie diverse grössere Fes-
                         legte. Zu mehr Transparenz und Bekannt-                   tivals wie beispielsweise das NordArt, Jups,
                         heit in der Region soll auch die neue                     das Bachfest oder das Jazzfestival sowie
                         Website www.windler-stiftung.ch führen.                   kleinere wie Rock the Rhy, das Hallauer
                         Dort stehen Antragsformulare zum Down-                    Open Air und das Burgklang Daydance –
                         load bereit, für Kreative aus allen Kultur-               damit auch ein junges Publikum auf seine
                         sparten mit guten Projekten, die einen Be-                Kosten kommt. dp

                                                                                                                                    11
25.     BIS      29.      MAI      2022

                               BACH GRENZENLOS

                                    Freiburger Barockorchester & Vox Luminis
                     RIAS Kammerchor & Akademie für Alte Musik Berlin René Jacobs
                                            Jordi Savall & Le Concert des Nations
                                       Les Talens Lyriques & Christophe Rousset
                                     Kyia Tabassian & Ensemble Constantinople
                                        Concerto Italiano & Rinaldo Alessandrini
 www.bachfest.ch                                 Prospero Consort & Lukas Stamm

                                                                    Musikschule Schaffhausen
                                                                 ...macht Freu(n)de von A - X

                                               Akkordeon Alphorn Bands Bambusflöte Beatbo-
                                               xing Blockflöte Cantalino Chorisma Drumset Du-
                                               delsack Ensembles E-Bass E-Gitarre E-Piano Es-
                                               Horn Euphonium Fagott Gitarre Harfe Jazzgesang
                                               Jazzpiano Jazzworkshop Jugendchor Jugendor-
                                               chester Keyboard Klarinette Klavier Knabenchor
                                               Kontrabass Mädchenchöre Marimbaphon Mu-
                                               sikTheater Oboe Orchesterschule Orgel Orientie-
                                               rungssemester Panflöte Posaune Querflöte Rock-
                                               Pop-Gesang Saxophon Schatzchischte Schlagin-
                                               strumente Singschule Singmeisen Solfège Sologe-
                                               sang Spatzenchor Stimmbildung Streichorchester
                                               Tonfinkli Trompete Tuba Ukulele Viola Violine
                                               Violoncello Vocalissimo Vororchester Waldhorn
                                               Xylophon

                                               ... für ein Leben mit Musik
                                               Beratung, Probelektionen und Anmeldung
                                               MKS Musikschule Schaffhausen
                                               Rosengasse 26, Postfach, 8201 Schaffhausen
                                               T 052 630 01 10 | sekretariat@mksh.ch | www.mksh.ch
www.kunstmuseum.ch                             www.klanghaus-mksh.ch
                                                                                             A1514106
BÜHNE

«Das Publikum soll
Gänsehaut bekommen»

In der linken Reihe von hinten nach vorne: Mirella Weber, normalerweise Büroangestellte, glüht auf der Bühne für das Schauspiel,
Sozialarbeiterin Manuela de Ventura führt Regie, Mirjam Sina Schlatter ist im normalen Leben Heilpädagogin und ansonsten ein echtes
Bühnentier. In der rechten Reihe von hinten nach vorne: Informatiker Noah Valley ist Bühnentechniker und so etwas wie der gute Geist
der Genossenschaft zum eichenen Fass, Drehbuchautorin Fanny Nussbaumer schreibt Theaterstücke für Szenario und Jazzmusiker und
Komponist Joscha Schraff, heute als Faktotum an der Theke der Fassbeiz, ist ansonsten natürlich zuständig für Musikalisches.

                                                                                                                                       13
BÜHNE

                       Szenario fällt immer wieder durch
Text Sabine Bierich Bild Melanie Duchene

seine mitreissenden authentischen Produktionen auf.
Und welches Theater kann schon zurückgreifen auf einen
rund 30-köpfigen Pool von ambitionierten Autorinnen
und Autoren, Regisseurinnen und Regisseuren, Schau-
spielerinnen und Schauspielern, Musikerinnen und
Musikern? Offen für alle sind sie, nur bei der Altersbe-
grenzung ist man sich nicht im Klaren. Bisher bewegen
sich die Mitglieder im Alter zwischen 18 und 33 Jahren.
Aufgetreten sind sie vor allem auf der Fassbühne.

      WIE ALLES ANFING                                     Mirjam Fanny hat viele Stücke für uns geschrieben. Sie
Mirjam Viele von uns haben sich im Jugendclub Momoll             kennt die Spielerperspektive, kennt uns und er-
      kennengelernt. Als ich 21 Jahre alt war, hiess es,         findet stets gute Konstellationen. Bei ihr sind alle
      ihr seid jetzt zu alt. Ich habe mich wie zwangs-           Figuren cool.
      pensioniert gefühlt. Logisch, beim Momoll rücken     Fanny Wir haben immer gemacht, worauf wir Lust hat-
      Leute nach, ist ja ein Jugendtheater. Noah hatte           ten. Am Anfang war ich noch voll in mein Studium
      dann die Idee, einen eigenen Verein zu gründen,            fürs Drehbuchschreiben involviert und konnte
      selbst weiter Theater zu machen. Ich hätte nicht           alles, was ich dort lernte, praktisch anwenden.
      den Mut dazu gehabt. Wir waren ein zusammen-               Das war Luxus für mich als Autorin. Ich habe im
      geschweisster Freundeskreis. Durch das Theater-            Kämmerlein geschrieben und meine Szenen mit
      spielen entstehen tiefe Freundschaften, man sieht          den Schauspielern ausprobieren können.
      sich in den besten und schlimmsten Situationen.      Noah Eigentlich haben wir keine Nebenrollen oder kei-
Fanny Jetzt gibt es das Theater Szenario schon fünf              nen Hauptcharakter, und wenn jemand eine klei-
      Jahre, und wir haben uns weiterentwickelt.                 ne Rolle hat, dann gleich mehrere. Das war so bei
Manuela Ja, wir starteten mit einer engen Freundes-              unserem ersten Stück «Pierrette», das die Identi-
      gruppe und haben uns geöffnet. Wir nehmen                  tätssuche der Vertikalakrobatin thematisierte, und
      neue Ideen und neue Leute auf. Ich hoffe, dass in          bei unserem letzten Stück «The Ninety Nines»,
      Zukunft die Idee weitergeführt wird und wir nicht          das sich um die Flugpionierin Amelia Erhart dreht.
      stehen bleiben, vielleicht kommen ja auch mal              KEIN STREIT UM DIE ROLLEN
      Leute dazu, die nicht aus Schaffhausen sind.         Mirella Über gemeinsames Lesen und Improvisationen
      WIE SZENARIO SEINE                                         merkt man schnell, welche Rolle zu wem passt.
      THEATERPROJEKTE ENTWICKELT                           Manuela Kleine Rollen sind ein Trugschluss! Eine kleine
Manuela Wir suchen immer gemeinsam nach einem                    Rolle heisst nicht weniger Aufwand. Bei uns
      Theatersujet, das uns anspricht, recherchieren,            sind selten nur zwei Schauspielerinnen auf der
      so zum Beispiel für das Stationentheater                   Bühne, sondern in der Regel alle, ausser, jemand
      «Zur Unruh im Fass» anlässlich des 40-Jahr-                muss sich schnell umziehen. Die kleinen Rollen
      Jubiläums im «Fass».                                       sind meist die anstrengenderen Rollen, weil man
Noah Es geht immer viel Denkarbeit voraus: Soll Musik            27 verschiedene Sachen machen muss.
      dabei sein, wer könnte das machen, sollten die       Mirjam Eine Spielerin gibt zum Beispiel im Hintergrund
      Darsteller ein Musikinstrument spielen können?             einen passenden Rhythmus.

14
Manuela Unsere Theatermusiker, hauptsächlich sind                das Leben nehmen kann. Bei «The Ninety Nines»
      das Joscha Schraff und Matthias Meier, möch-               stellten wir am Schluss ein gewisses Bild der ers-
      ten, dass die Musik ins Bühnengeschehen                    ten Aviatikerinnen, der Frauenbewegung und der
      eingebunden ist. Es gibt nichts, was den Blick             Zeit dar, hinter dem wir stehen. Wir hatten eine
      der Zuschauenden im negativen Sinn mehr auf                politische Message.
      sich zieht, als ein Schauspieler, dem man an-         Fanny In unseren Stücken finden sich streckenweise
      sieht, dass er keine Aufgabe hat. Und für mich             feministische Tendenzen.
      als Regisseurin ist es eine Herausforderung, gute     Noah Klar, es sind auch viel Frauen engagiert.
      Off Storys zu inszenieren. Sonst habe ich einen       Fanny Ja, wir sind ein grosses Frauenensemble und
      Energiesauger im Bühnenbild stehen!                        waren bei den ersten Stücken in einer Lebens-
      THEATERGRUPPE MIT HOHEM ANSPRUCH                           phase, in der wir nach unseren eigenen Wegen
Mirella Es funktioniert bei uns. Bei uns wollen alle ein         gesucht haben – trotz Widerständen. Wir suchen
      gutes Stück produzieren. Niemand ist unmotiviert           Themen, mit denen wir uns identifizieren. Und wir
      mit dabei, wie ich das bei anderen Theaterverei-           überlegen uns Settings, die spannend sind und
      nen schon kennengelernt habe.                              Lust aufs Spielen machen.
Manuela Wir haben eine hohe Erwartung an uns selbst.        Manuela Ein komplettes Spassstück war «Schatzinsel»,
Noah Wir sind zwar ein Laientheater, aber eines mit              da hatten wir keine Botschaft.
      Anspruch. Entweder du bist ganz dabei und bist        Noah Ziel ist nicht die Message. Das Ziel ist Theater.
      motiviert, oder du lässt es bleiben!                       «HÄCKHÄM» MIT JEDER MENGE
Manuela Bisher haben alle bei uns durchgezogen.                  NEUER LEUTE
Mirjam Der einzige Knackpunkt ist die Regie, spiel-         Fanny Unser diesjähriges Programm habe ich angeregt.
      freudig sind fast alle, aber wer hat Zeit und Lust,        Ich arbeite gerade an der Ausstellung «50 Jahre
      Regie zu führen?                                           Frauenstimmrecht Schaffhausen», die im No-
      DIE LEIDENSCHAFT DER REGISSEURINNEN                        vember in der Kammgarn West zu sehen sein
      UND DER SCHAUSPIELERINNEN                                  wird, und dachte, eigentlich könnte Szenario
Manuela Ich dachte auch mal, ich suche mir ein Hobby             doch auch integriert werden. Statt einer grossen
      neben der Arbeit zum Ausspannen.                           Produktion haben wir fünf kleine Produktionen
Noah Mirjam und ich überredeten sie, Regie zu führen.            angedacht. Ein Kurzfilm ist bereits gedreht, und
Manuela Die Regie hat mich auch gereizt. Bisher sind             im «Fass» ging «Stereo» über die Bühne, das
      Xenia Ritzmann und ich quasi die Hausregisseu-             Stereotypen von Mann und Frau satirisch über
      rinnen. Es ist spannend zu bemerken, wie kommt             den Tisch zieht. Dann folgte «Usglöfflet» – laut-
      mir eine Gruppe oder der einzelne Mensch                   starke Küchengespräche. Die Stücke sind alle
      entgegen, wie kann ich beeinflussen, steuern               schnell zu produzieren, sind fast ein bisschen ak-
      und antreiben. Das mache ich im Beruf und im               tivistisch und finden an verschiedenen Spielorten
      Theater. Und manchmal freue ich mich, wenn ein             statt. Wir haben dafür auch neue Leute ausser-
      Schauspieler krank ist und ich einspringen kann.           halb des Szenario-Pools gesucht und gefunden.
Mirjam Ich mag es zu spielen, im Zuschauer etwas
      anzustossen, das unter die Haut geht. Ich möchte
      nicht belehren, sondern Gänsehaut erzeugen.
      Was die Leute damit machen, bleibt ihnen über-
      lassen.
                                                                                      «Häckhäm» –
      WAS NUN, SENDUNGSBEWUSSTSEIN                                                    ein Räuspern
      MIT SINN ODER UNSINN?
Mirjam Das Thema ist eher irrelevant – ich finde es                                   zum Frauen-
      megacool, durch Zeit und Raum zu düsen und
      etwas zu spielen, das berührt und mich selbst                                   stimmrecht
      aufwühlt: rennen, sterben, erwürgen …
Noah Ein gutes Stück ist ein gutes Stück, weil es einen                               Ich
      nicht kalt lässt.                                                               Spielort noch offen
Mirella Ein Thema, auf das alle Bock haben!                                           4–5 SEP 21
Manuela Da möchte ich ein wenig widersprechen. Es
      ist mir schon wichtig, etwas bei den Ansichten                                  Freni und
      der Zuschauenden zu bewirken. Die handelnden                                    die sieben Zwerge
      Personen auf der Bühne müssen durch etwas                                       Fassbühne
      hindurch, beschreiten dramatische Wege, die                                     3–4 DEZ 21

                                                                                                                15
LITERATUR

         Von der Dialektik
Praxedis Kaspar

unersättlichen Lesens

Winnetou ist tot
        In meinen siebzig Jahren sind es wohl Tausende gewesen: Bü-        vor dem Essen, Kleiderkauf im Nobelge-
cher, die mich wie halb zahme Tiere ein Stück des Weges begleitet          schäft und abends Theater, auf Gross-
haben und lautlos wieder verschwunden sind im Dickicht der Ver-            vaters Platz, der meinetwegen verzich-
gessenheit. Manche sind unversehens nochmals aufgetaucht, hinter           tet, weil Oma es so will. Ich habe Karl
einer Wegbiegung des Lebens haben sie mir ein Wiedersehensglück            Mays «Winnetou III» mitgebracht – es ist
beschert und mir die alte Geschichte in neuem Licht gezeigt. Rilkes        so weit: Winnetou stirbt im Sommer
«Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke» zum Beispiel,        1962 in St. Gallen auf der blassroten
jüngst wiedergefunden beim Antiquar, habe ich als Fünfzehnjährige in       Steppdecke im Bett meiner Gross-
einer einzigen Nacht für meinen Schulschatz abgeschrieben – heim-          mutter. Noch sehe ich die verschlunge-
lich und von Hand. «Reiten, reiten, reiten, durch den Tag, durch die       nen Muster, die der Faden in den Stoff
Nacht, durch den Tag. Reiten, reiten, reiten. Und der Mut ist so müde      zeichnet, die leicht gepolsterten Erhe-
geworden und die Sehnsucht so gross.» Noch heute klingt mir der            bungen dazwischen, den Kopfteil des
Rhythmus dieses hoch exaltierten Prachtstücks hart an der Grenze           Bettgestells aus Nussbaumholz, noch
zum Kitsch in den Ohren. Das Leben aber hat mir andere Trommeln            spüre ich das fröstelige Kribbeln, das
geschlagen, Fahnensehnsucht mochte nie aufkommen, und im Gan-              die Kunstseide verursacht, wenn ich
zen bin ich doch eher zu Fuss unterwegs als auf dem hohen Ross. Und        beim Lesen vor Anspannung die Finger-
doch spielt irgendwo im Verborgenen noch jene Musik, lockt bis heute       nägel reinkralle. Ich sehe mich daliegen,
Sprachexzess als Verführung und Rausch.                                    geschüttelt von Schmerz, das halb ge-
        Ganz wenige Texte nur haben mich von der Jugend ins Alter          öffnete Buch sinkt mir aus der Hand.
begleitet, sind mit mir gewachsen, aufgeblüht – und am Ende ge-            Winnetou ist tot. Es ist mein erster gros-
schrumpft in den Verwandlungen der Zeit, wo manches, was klein war,        ser literarischer Weinkrampf. Der Held
gross wird und vermeintlich Grosses in Bedeutungslosigkeit versinkt.       im Buch ist tot, ich hier auf der Stepp-
Aber nein, im ganzen Leben habe ich kein Buch zu meiner Erbauung           decke muss weinen, weinen, weinen,
gelesen, keines bewusst als Kraftquelle genutzt. Überhaupt, kaum je        niedergeschmettert von der Wirkungs-
habe ich im Buchladen eine nüchterne und vernünftige Wahl getroffen.       macht einer guten Geschichte in mei-
Ganz im Gegenteil: Bücher springen mich an. Bücher lecken an mei-          nem Kopf. Er dort, tot im Buch. Ich hier,
nen Händen, tanzen um mich herum und raunen mir zu: «Nimm mich             todtraurig auf Grossmutters blassroter
zu dir, nimm mich zu dir, geniesse mich. Ich runde dir den Tag ab, ich     Steppdecke – meine erste Erfahrung
erlaube dir ein glanzvolles Doppelleben in der Stunde vor dem Lichter-     von Dialektik: ich und er in getrennten
löschen, ich schenke dir manchen gestohlenen Augenblick zwischen-          Welten und doch diese einzige, sprach-
durch. Ich erschliesse dir neue Räume, die nur du betrittst, ich rühre     geborene Wirklichkeit, die sich vollsaugt
dich zu Tränen, die keiner sieht, ich führe dich ans Ufer der Trauerwei-   mit Schmerz.
den und treibe dich in den weiten See deiner Erinnerung. Ich vertiefe              Zeitlebens haben mich Bücher
deine Zeit bis auf den Grund der Welt. Und ich lasse deinen Geist hüp-     beglückt. Sie kommen vor der Liebe,
fen vor Freude.» So spricht das Buch, das zu mir will. Ich aber sage:      nach der Liebe, mit der Liebe, durch die
Es muss schön sein, es muss mich hungrig machen, mich verführen            Liebe, trotz und wegen der Liebe. Sie
mit einem Wort, einem Satz, einem Schwung, einer Melodie und nicht         schenken mir die Verdoppelung meiner
zuletzt mit einem unwiderstehlichen Umschlagbild ... Das und nichts        Lebenszeit, sie leihen mir fremde Bio-
sonst ist die Erotik des Bucherwerbs.                                      grafien und entlasten mich von meiner
        Ich bin etwa zwölf Jahre alt, bei Grossmutter in den Ferien. Das   eigenen. Sie stürzen sich mit mir in die
ist die pure Freiheit mit Fernsehen bis zur Landeshymne, Schokolade        Trauer, auf deren Grund zu sinken ich

16
allein nicht wage. Sie gestatten mir die Freude, die wahrzunehmen     Hälfte des Lebens
ich in der ersten Wirklichkeit nicht schaffe, sie erlauben mir das
Doppelleben, das ich nicht habe und auch nicht haben will.
        Bücher hindern meine Erinnerung daran, im Sand zu verlau-     Mit gelben Birnen hänget
fen, sie heben sie in trockene Tücher für mich. Bücher langweilen     und voll mit wilden Rosen
mich, erzürnen mich und verleihen mir die Macht, sie nach drei Ab-
schnitten in eine Ecke zu schmeissen, weil sie mittelmässig oder      das Land in den See,
schlecht geschrieben sind. Bücher sind die geheimen Botschaften       ihr holden Schwäne,
aus dem Land der Zweckfreiheit, sie helfen mir, Vergangenes wie-
derzufinden, auf seine Gegenwärtigkeit zu prüfen und erneut zu
                                                                      und trunken von Küssen
verlieren … Bücher sind Gottesanbeterinnen, die Seite um Seite        tunkt ihr das Haupt
ihren eigenen Inhalt vertilgen, sie sind mein Blättermagen, der mir   ins heilignüchterne Wasser.
das Leben verdauen hilft.
        Ein Buch macht dem andern Platz, es tritt nach gehabter
Lektüre aus dem Glanz der Gegenwart zurück und sinkt hinab ins        Weh mir, wo nehm ich,
Sediment der abgelegten Geschichten, von wo es, vielleicht, eines
zufälligen Tages wieder hochgespült wird in meine Bewusstheit. Es
                                                                      wenn es Winter ist,
ist mit guten Geschichten wie mit alten Apfelsorten: Sie sind so      die Blumen,
stark im Geschmack, dass ich darin den dunklen Kern von Wahr-         und wo den Sonnenschein
heit erkenne, bittersüss und nachwirkend weit über den eigentli-
chen Genuss hinaus.                                                   und Schatten der Erde?
        Zwei Bücher begleiten mich durch mein ganzes Leben:           Die Mauern stehn
Hans Magnus Enzensbergers «Museum der modernen Poesie» von
1964 und das gelbe Reclam-Heft mit einer Auswahl von Friedrich
                                                                      sprachlos und kalt,
Hölderlins Gedichten, das zerfleddert und voller Kaffeeflecken in     im Winde klirren die Fahnen.
meinem Rucksack schwimmt.
        Das meiste, was ich mir damals, als ganz junge Frau, in
Enzensbergers «Museum» angestrichen habe, dünkt mich heute            brennend, gegenwärtig. Sprache als fermen-
noch toll: «Steinbrech ist meine Blume, die sprengt den Fels», sagt   tierter Existenzkampf, auf Messers Schneide
William Carlos Williams, und ich habe die Zeile bis heute im Kopf,    Wort für Wort.
weil sie mit wenigen Worten beschreibt, was Lyrik kann. Das «Mu-              Die Tage und Nächte mit einem ge-
seum», ein DTV-Taschenbuch, liegt auf meinem Tisch, vergilbt und      liebten Buch sind wie der Aufenthalt in einem
zerlesen, voll von Bleistiftstrichen, mit denen ich Verszeilen mar-   Spiegelsaal, dessen Lichter langsam vom Hel-
kiert habe: «… Vom Hügel aus sah ich, wie die Sonne in den Buch-      len ins Dämmrige gehen. Ich drehe und wende
ten deiner Augen unterging.» Leopold Senghor. Oder diese eigen-       mich und sehe mich von immer neuen Seiten,
artige Strophe von Rafael Alberti: «Es sprach das Weiss: Ich kann,    ich vervielfältige mich und erlebe in tausend-
glückselig, in allem sein, denn ich bin das unumgängliche Blut für    undeiner Nacht meine Wiedergeburt. Mein Da-
das wahre Leuchten des Lichts in den Farben.» Schon damals bin        sein zeigt sich mir – atemberaubend in seiner
ich durchs «Museum» flaniert auf der Suche nach der überraschen-      Alltäglichkeit.
den Wendung, dem erschreckenden Bild, das, zum Beispiel, der                  Ich habe, wie gesagt, meine Lektüren
von Armut und Diktatur früh zerstörte Attila Jozsef vom künftigen     nie als Kraftquellen betrachtet, aber einige von
Menschen entwirft: « … dass eure Kinder mit Lilienfüssen unschul-     ihnen haben durchaus zur Konstruktion meiner
dig das Blutmeer durchschreiten ...» Enzensbergers «Museum» ist       selbst beigetragen. Im Sinne des Wortes ha-
mit mir durch die Jahrzehnte von Adresse zu Adresse gezogen, das      ben sie, allein durch das Auftürmen gelungener
Buch ist zum Klassiker geworden – und hat meine Bleistiftstriche      Sprache in meinem Kopf, durchaus geholfen,
mitgeadelt als Treueschwur einer leidenschaftlichen Epigonin.         mich zu erbauen. Giuseppe Ungaretti sagt es
        Friedrich Hölderlin aber, der Autor meines Rucksack-          schöner: «M’illumino d’immenso»; ich erleuch-
buches, ist die singuläre literarische Erscheinung meines Lebens,     te mich durch das Unermessliche.
keiner kann ihm das Wasser reichen: Er, der seinen Platz nicht                Steht in Enzensbergers «Museum» auf
finden konnte unter den Menschen, wohnt mit seinen Gedichten          Seite 31. Ich hatte mir den Vers damals, als
in meinem Kopf fast seit ich lesen kann, hier spielt die Musik sei-   Gymnasiastin, dick angestrichen. Inzwischen
ner Sprache, hier ziehen berauschende Bilder vorbei, hier schlägt     züngelt mir das Unermessliche aus allen Him-
der Rhythmus seiner Verzweiflung, in karge Verse gehämmert. In        melsrichtungen entgegen, derweil das Mess-
seiner Diesseitsfreude und seinem Verlangen nach Transzendenz         bare schrumpft. Aber immer noch leuchtet
hat Hölderlin fantastische Gedichte geschrieben – schmucklos,         Schrift am Horizont.

                                                                                                                   17
18
MUSIK

                            Die schnurgerade Eisentreppe hoch zum
Text Maria Gerhard Bilder Roberta Fele
Arova-Gelände in Flurlingen hat es in sich – 300 Stufen! Kurze Pause,
ein sehnsüchtiger Blick aufwärts. Es ist ein wenig so, als würde man
die Himmelsleiter erklimmen, nur dass am anderen Ende nicht Petrus
wartet, sondern die erfolgreichste Band in der Region Schaffhausen:
The Gardener & The Tree. In dem umfunktionierten Industrieareal
liegt ihre «Höhle», ihr Proberaum.

Kommt ein Einhorn geflogen
Die Folk-Pop-Band trifft sich an diesem Montagabend, um an             geredet, stundenlang. «Wir hatten es vom
ihrem neuen Album zu arbeiten, das Frontsänger und Texter Ma-          richtigen Sound, und dann haben wir uns
nuel «Manu» Felder als eine Gratwanderung bezeichnet: zwischen         auch gegenseitig Aufnahmen vorgespielt.»
melancholischen, düsteren und freudigen, tanzbaren Songs. Die          Jahre später, 2013, treten The Gardener & The
Fans, auch viele aus dem nahen Ausland, können es kaum erwar-          Tree auf. Der Name – ein Gleichnis: Die Mu-
ten. Auf Instagram schwärmen sie bereits in den höchsten Tönen:        sik ist wie ein Baum, dessen Äste sich
«Vielleicht sogar die beste Band, die es im deutschsprachigen          mehr und mehr verzweigen. Damit er gut
Raum in den letzten Jahren gab», liest man dort. Oder: «Eure           wächst, braucht es den Gärtner, also die
Musik ist grad in solchen Zeiten Balsam für meine Seele!               Musiker, die ihn kultivieren.
Läuft rauf und runter.» Herz- und Namaste-Emoji.                              Die Band wurde in der Schweiz mit
       Auf dem Arova-Gelände ist es still. Der Proberaum ist nicht     Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem
leicht zu finden, umso erfreulicher, dass die fünf nicht auf sich      «Best Talent» von Radio SRF und mit einem
warten lassen. Von allen Seiten kommen sie herbei. Begrüssung.         Swiss Music Award als «Best Live Act». Der-
Dann werden erst einmal die Zigaretten ausgepackt. Sie stehen          zeit sind die Männer beim Major Label Univer-
beisammen, wie eine dieser coolen Cliquen auf dem Pausenhof.           sal unter Vertrag. 2020 wollten sie eigentlich
Die Chemie zwischen ihnen stimmt, lebhaft unterhalten sie sich.        so richtig durchstarten, mit einer Tour, die sie
Wenn man ihnen Fragen stellt, sind es aber meist Manu und Mug-         unter anderem nach Berlin, Köln, Warschau,
gli, Patrik Muggli (Gitarre), die antworten. Die anderen scheint das   Amsterdam, Wien und Prag geführt hätte.
wenig zu stören. Sie sind Freunde, ein eingespieltes Team.             Aber die Coronakrise kam dazwischen. Doch
       Die zwei waren es auch, die die Band aus der Taufe ge-          davon später.
hoben haben. «Ich war gerade mit der Lehre fertig», erinnert                  Der Proberaum, eine Art Keller mit
sich Manu, der Zimmermann ist. «Wir haben uns im Ausgang               Eisentür, ist klein. Drei, vier lange Schritte, und
kennengelernt, und irgendwann sassen wir in einem Golf                 man hat ihn durchmessen. Beeindruckend,
auf einem Parkplatz», ergänzt Muggli, der derzeit Erdsystem-           was hier Platz findet: Schlagzeug, Keyboards,
wissenschaften studiert. Jetzt fällt es ihm auch wieder ein: «Das      Mischpult, diverse elektronische Gitarren, ein
war doch auf dem Bleicheplatz? Der alte Busbahnhof. Den gibt           ausgebauter Rücksitz, Boxen und ein Schreib-
es heute schon gar nicht mehr.» Jedenfalls sassen sie da, haben        tisch mit Computer. Auf einem Tisch steht

                                                                                                                      19
XY

     Kreativpausen müssen hin und wieder sein: (v.l.n.r.) Patrik Muggli, Lucas Pfeifer, Daniel Fet, Manuel Felder und
     Philippe Jüttner stehen in der Gasse vor ihrem Proberaum auf dem Arova-Gelände.

eine Kaffeemaschine, daneben ein Stoss Songtexte. An der Wand                    gelehnt, Auftritte über das Internet zu geben.
gegenüber hängt eine Tafel. Mit Kreide wurden dort Musiktitel                    «Wir haben dafür am Album weitergearbeitet.»
notiert. Sie bilden das neue Album. Ist der Titel mit einem grünen               Finanziell war die Coronazeit, wie für viele
Punkt markiert, ist er so gut wie fertig. Danach scheint es gut                  Künstler und Künstlerinnen, ein Desaster. Gut,
voranzugehen.                                                                    dass jeder neben der Musik noch anderem
       Was der Szene Magie verleiht, sind einzelne Glühbirnen,                   nachgeht: Daniel Fet (Schlagzeug) ist Maler,
die wie überdimensionale Glühwürmchen von der Decke hängen.                      Philippe «Pete» Jüttner (Bass) studiert Musik,
Die Musiker setzen sich hinter ihre Instrumente. Ihre Gesichter                  und Lucas Pfeifer gibt Klavierstunden. Entmu-
werden von dem warmen Licht beschienen. Auch wenn sie es                         tigt sind sie deshalb nicht. Vielmehr scheinen
heute nicht unbedingt vorhatten, stimmen sie doch ein paar Takte                 sie begierig zu sein, wieder da anzuknüpfen,
an. Tatsächlich braucht es nur wenige Griffe in die Gitarrensaiten,              wo sie vor der Coronakrise standen.
um eine Idee von der Energie und der Leidenschaft, für die sie bei                       Das neue Album soll Ende des Jahres
Liveauftritten so bekannt sind, zu erhalten.                                     herauskommen, und man darf gespannt sein.
       Für die Band, die auch schon einmal die Einsamkeit in                     Ging es in «Revolution» (2014) inhaltlich noch
Schweden gesucht hat, um sich Inspiration zu holen, war das                      darum, sich zum ersten Mal von seiner Familie
vergangene Jahr alles andere als leicht. «Am Anfang war es                       zu lösen, befasste sich «69591, Laxå» (2018)
gruselig», sagt Lucas Pfeifer (Piano), «als es so richtig losging,               mit der Selbstfindung. Nun schauen The Gar-
kamen wir gerade von einer Deutschlandtour. Wir waren ständig                    dener & the Tree das erste Mal auf Entschei-
unter Leuten. Und dann hat sich die Frage gestellt: Wie proben wir               dungen zurück, die man im Laufe der Jahre
jetzt?» Als passionierte Liveband hätten sie es von vornherein ab-               trifft. Wie man es eben macht, wenn man

20
MUSIK

um die 30 ist und das Leben schon ein wenig gelebt hat.
Aus den musikversessenen Buben sind Erwachsene geworden.
Manu ist frischgebackener Vater.
        Einen Vorgeschmack gaben sie bereits mit der Single
«Young & Bold» («Jung und mutig»), die 2020 erschienen ist. Ein
Song, den man gern nach der Arbeit auf der Heimfahrt hört, der
einen zum Mitsingen bringt. Das liegt an seiner Dynamik, aber
auch am Text, der etwas Lausbübisches hat, nostalgisch, weh-
mütig ist: ausgelassen sein, wild sein, Zigaretten stehlen, durch
Wälder streifen und in fremde Häuser einsteigen. Im Refrain heisst
es: «We’d do it anyway, to make sure that we were young.»
(«Wir machen es sowieso, um sicher zu gehen, dass wir jung
sind.»)
        Ob wir in das neue Werk mal reinhören wollen? Klar! Also,
Eisentür auf und nach draussen in die kühle Gasse, an die Beton-
wand lehnen und Zigaretten raus. Manu dreht drinnen den Ver-
stärker hoch. «Das ist übrigens unser Schlitten», sagt Muggli und
deutet auf eine Palette, auf der ein Kaffeehausstuhl steht. «Im
Winter sind wir damit den Hang heruntergefahren …» Die Musik
geht an, er verstummt.

                                                                             21
XY

       Manus rauer, kräftiger Gesang weht aus dem Keller heraus,               Ein tiefes Grollen ertönt, ein Gewitter
durch die Gasse, über das Gelände. Der Song «Out To Sea» ist            kündigt sich an. Pete deutet auf den Him-
mittlerweile als Single veröffentlicht und wird im Netz bereits «hart   mel und ruft: «Seht ihr das?» Alle starren ins
gefeiert». Es geht um einen Seefahrer, der mit einer Ginflasche         Blaue. «Das ist ein Ballon, oder?» Das Objekt
seine Tage allein auf dem salzigen Meer verbringt. Ein Aussensei-       nähert sich. Es glänzt weisslich-metallisch
ter oder, wie Muggli sagt, «ein wilder Siech». Einer, der sich nicht    und bunt. Lucas erkennt es als Erster:
anpassen will oder kann. So einen würde doch jeder im Laufe             «Das ist ein Einhorn!» Der Ballon schwebt
seines Lebens einmal kennenlernen.                                      über die Hallen hinweg, verliert an Höhe. Die
       Als das Stück verklingt, kehrt eine seltsame Stille ein. Wie     fünf hasten aufgeregt die Stufen hoch, rennen,
ist das so, wenn man sein neues Werk die ersten Male vorführt?          quer über das Areal, dem Einhorn hinterher.
Die Antwort kommt schnell. Muggli seufzt: «Ach, du hast ja keine        Es kommt dem Boden näher, dann wird es
Ahnung!» Gelächter, dann entspannen sich die fünf. «Das ist             wieder hochgerissen. Schliesslich verheddert
die unsicherste Zeit, weil man nie vorhersagen kann, wie es             sich der Ballon in einer Baumkrone.
ankommt», sagt Pete, «man ist skeptisch.» Die anderen nicken.                  Die fünf stehen nun still nebeneinander
       Trotzdem freuen sie sich darauf, wenn das Album fertig ist       und beobachten das Einhorn, das zuckt, als
und sie wieder vor Publikum spielen. The Gardener & The Tree            wollte es entkommen. Eine Vorlage für einen
ist und bleibt in erster Linie eine Liveband. Lang müssen sie nicht     Song, vielleicht? Daniel schmunzelt. «Da
mehr warten, dann gehen sie wieder auf Tour, erst einmal in der         sieht man mal wieder, eigentlich muss
Schweiz. Unter anderem spielen sie am 18. Dezember in der               man gar nichts machen, die Geschichten
Kammgarn. Dann geht es nach Deutschland.                                kommen einfach zu einem.»

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MUSIK

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MUSIK

                     Martina Ronner verbindet Kultur
Text Diana Zucca Bild Michael Kessler

mit Kulinarik. Als Geschäftsführerin des Vereins Live-
Musikveranstaltungen führt sie Jazzkonzerte mit jungen
Musikern und Musikerinnnen durch, und in ihrer Nudel-
manufaktur in Osterfingen produziert und vermarktet
sie Teigwaren und Eingemachtes. Dabei hat sie ein Flair
für Besonderes.

Wer Jazz hören will, und zwar so echt schrä-                                            Ein solcher Ort und notabene der
gen, ist bei Martina Ronner an der richtigen                                    erste, an dem Martina Ronner Konzerte
Adresse. Für diese Musik schlägt ihr Herz,                                      veranstaltete, war ihr Restaurant Nudel
seit Kindertagen, für diese Musiker und Mu-                                     26 an der Repfergasse in der Schaff-
sikerinnen engagiert sie sich. Seit rund 10                                     hauser Altstadt. Dass sie das ehemalige
Jahren veranstaltet sie Jazzkonzerte in und                                     Philosophencafé übernahm, war, wie so
um Schaffhausen, zuerst in ihrer Kulturbeiz                                     vieles in ihrem Leben, nicht unbedingt
Nudel 26, seit 2013 an diversen Orten. Im                                       der Plan. Was sie suchte, war ein kleines
Fokus steht in erster Linie auswärtiger Jazz-                                   Ladenlokal für den Verkauf der Produk-
nachwuchs, «weil die Locals meine Unter-                                        te aus ihrer Manufaktur in Osterfingen.
stützung in der Regel nicht brauchen. Die                                       «Mir schwebte ein schmaler Raum vor,
meisten sind gut vernetzt und kommen                                            eine Tür, ein Fenster, so in der Art.» So
überall unter», stellt sie fest. Nicht so die                                   etwas liess sich aber gerade nicht fin-
jungen, (noch) unbekannten Jazzbands aus                                        den. Dafür wusste eine Bekannte, dass
anderen Schweizer Städten und Kantonen.                                         eben dieses Café in Kürze frei würde
Jene nach Schaffhausen zu holen, hat sich Martina Ron-       und doch ideal für sie sei, oder? Martina Ronner über-
ner zur Aufgabe gemacht. Ihre Agentur Live bietet ins-       legte und rechnete. Warum denn die Nudeln nicht auch
besondere angehenden Berufsleuten eine Plattform, wo         gleich kochen statt nur verkaufen? Innert Kürze erarbei-
sie ihre ersten Jazzkonzerte spielen, ihre Bachelor- oder    tete sie einen Businessplan und erhielt den Zuschlag.
Masterarbeiten präsentieren können. «Das sind sehr gute              Zu Beginn gab’s jeweils ein Menü pro Tag. Mit der
Musikerinnen und Musiker, aber hier engagiert sie kaum       Zeit erweiterte sie die Karte abends. «Es war wirklich
jemand. Die Kammgarn ist zu gross, für die Akustikter-       eine tolle Zeit», erinnert sich die Gastgeberin, «wir kamen
rasse sind sie zu wenig poppig, dasselbe bei den Street      kaum nach.» Die Osterfinger Nudeln wurden kiloweise
Music Nights.»                                               verspeist, die kleine Beiz war gemütlich, und auch das
        Martina Ronner ist mit Jazz aufgewachsen.            lauschige Hinterhöfli, in dem man sich (zum Leidwesen
Neben Vaters Schreibtisch befand sich ihr Zeich-             der Nachbarschaft) bis spätabends aufhalten konnte,
nungstischchen. Papa hörte Jazz, seine Tochter               war sehr beliebt.
hörte mit, und was sie hörte, gefiel ihr. «Ich will nichts           Und weshalb sollte hier nicht Raum sein für Mar-
anderes», sagt sie lachend. «Es ist eine Ordnung in die-     tina Ronners zweite Leidenschaft, den Jazz? Den hörte
ser Musik, die mir ins Herz geht.» Dass sich viele junge     man in Schaffhausen quasi nirgends, ausser am Jazz-
Menschen heute wieder mit dieser Musik befassen, sie         festival. Vielleicht liesse sich das Schaffhauser Publikum
studieren, dem Jazz ihr Leben widmen, freut und berührt      auch unterm Jahr für die eine oder andere Band begeis-
sie. «Zu diesen Jungen muss man schauen», findet sie.        tern, überlegte sie. Fürs erste Konzert lud Martina Ron-
«Es muss Orte geben, wo sie spielen können.»                 ner die Sängerin Lilly Thornton, die sie sehr mochte, mit

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Live
                                                                                           im Haberhaus

                                                                                           Ducadu
                                                                                           mit Simon Schwaninger
                                                                                            25 SEP 21, 20.30 UHR

                                                                                           Raphael Jost
                                                                                           Swingin’ Christmas Night
                                                                                            18 DEZ 21, 20.30 UHR

                                                                                           Bodan Art
                                                                                           Orchestra
                                                                                           10-Jahre-Jubiläum
                                                                                            8 JAN 22, 20.30 UHR

                                                                                           Suisse Diagonales
                                                                                           Jazz Festival
                                                                                           Enea Besana Band
                                                                                           Mohs
                                                                                            18 FEB 22, 20.30 UHR

ihrer Band ein. Die «Nudel» platzte an diesem Abend aus      Produzentin. «Meine Leidenschaft ist das Ausprobieren,
allen Nähten, das Konzert begeisterte. Von da an spielten    das Tüfteln. Ich möchte Geschmäcker hervorrufen, die
regelmässig junge Bands in der Kulturbeiz, manchmal          erstaunen. Bei denen man denkt, auf die Idee wäre ich
sogar wöchentlich.                                           nie gekommen, aber das schmeckt saugut.»
       Das Jazzfestival-Publikum anzulocken stand je-                Seit einiger Zeit sind Kultur und Kulinarik nicht
doch längst nicht mehr im Fokus. Nebst Stammgäs-             mehr unter ein und demselben Dach. Beides wieder an
ten, welche die Verbindung von Jazz und feinem Essen         einem Ort zu vereinen, das könnte sich Martina Ronner
schätzten, zog das Lokal ein neues, junges Publilkum an.     vorstellen. Konkrete Pläne seien in der jetzigen Situa-
«Einige meiner Gäste kamen wirklich an jedes Konzert»,       tion jedoch eher schwierig. Ab September 2021 stehen
erinnert sich die Veranstalterin. «Nach einem Jahr verlieh   vor allem Konzerte auf dem Programm, die sie wegen
ich jemandem die goldene Nudel. In einem hübschen,           Corona hatte verschieben müssen. Nun sollen sie end-
mit Seide ausgelegten Schmucktrückli.»                       lich stattfinden. «Natürlich könnte ich auf den Herbst ein
       Martina Ronner experimentiert viel und gern. Nebst    Dutzend Konzerte organisieren», sagt Martina Ronner.
Nudeln produziert sie auch Konfitüren und Pestos aus         «Aber ohne zugesicherte Mittel besteht das Risiko, den
Wildfrüchten und -pflanzen. Oft verarbeitet sie Gewächse     Bands nicht viel mehr als ein gutes Weggeld bezahlen zu
aus ihrem Garten, darunter Brennnesseln, Berberitze und      können, und das bringe ich nicht übers Herz, nicht nach
Schlehdorn, alles ein wenig widerborstig und deshalb in-     dieser langen Zeit, in der die Bands nirgends auftreten
teressant. «Es nimmt mich einfach wunder, was man mit        konnten.» Deshalb möchte die Veranstalterin erstmal
diesen stachligen, sauren Kollegen anstellen kann.» Sie      abwarten. Vielleicht entsteht aus dem Vakuum ja etwas
nimmt sogar Kratzer in Kauf. «So bin ich halt», sagt die     Neues. Vielleicht wieder, ganz unverhofft.

                                                                                                                      25
KUNST

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Ansichten einer
     Generation
     Die Schaffhauserin Noëlle Guidon erhielt im Sommer 2021 den Förderbeitrag von
     Kanton und Stadt Schaffhausen für ihr Fotoprojekt «Ansichten einer Generation». Mit ihrer
     analogen Kamera porträtierte die Fotografin Schaffhauser und Schaffhauserinnen um die
     30 Jahre an der Schwelle zwischen Jungsein und Erwachsensein und konfrontierte sie mit
     ihren Werten, Leidenschaften und Visionen. Auf die Frage «Was ist für dich ein gutes
     Leben?» kritzelten die Porträtierten ihre Antworten auf Papier.
     Gewürdigt wurden mit dem Förderbeitrag die feine Beobachtungsgabe der 34-jährigen
     Noëlle Guidon, «ihre eigenständige Bildsprache zwischen Dokumentation und Inszenierung
     sowie ihr präziser Einsatz der analogen Fotografie als Gegensatz zur digital geprägten
     Lebenswelt der Porträtierten». Für das «Schaffhauser Magazin» gestaltete die Fotografin

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     eine Doppelseite mit einer Auswahl aus ihrem Projekt.
Römische Bäderkultur

Print ist Leidenschaft                                                            Thermenmuseum
                                                                                  Schleitheim-Iuliomagus
und bewegt die Sinne.                                                             Täglich geöffnet. Zum Salzbrunnen, 8226 Schleitheim
                                         Urs Wohlgemuth                           www.pro-iuliomago.ch www.museum-schleitheim.ch

                                                                Kultur für Sie.

 KUNST | HANDWERK | GESCHICHTE | NATUR

   Museumsgasse 11, CH-8253 Diessenhofen
  +41 52 533 11 67, museum@diessenhofen.ch
               www.diessenhofen.ch/museum

             Öffnung: Fr/Sa/So 14 bis 17 Uhr
     Winterpause: 20. 12. 2021 bis 11. 2. 2022

                                                                                                                                        Bild: Michael Kessler
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    Unsere Sicht auf die Welt.
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