Medikamentöse und nicht-medikamentöse Versorgung von Menschen mit schwerer Demenz in Pflegeheimen

 
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Medikamentöse und nicht-medikamentöse Versorgung von Menschen mit schwerer Demenz in Pflegeheimen
Medikamentöse und nicht-medikamentöse Versorgung von
    Menschen mit schwerer Demenz in Pflegeheimen

     Zentrum für Medizinische Versorgungsforschung,
     Psychiatrische und Psychotherapeutische Klinik,
              Universitätsklinikum Erlangen

               Der Medizinischen Fakultät
           der Friedrich-Alexander-Universität
                   Erlangen-Nürnberg
                            zur
      Erlangung des Doktorgrades Dr. rer. biol. hum.
                      vorgelegt von
                      Kristina Diehl

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Medikamentöse und nicht-medikamentöse Versorgung von Menschen mit schwerer Demenz in Pflegeheimen
Als Dissertation genehmigt
von der Medizinischen Fakultät
der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Tag der mündlichen Prüfung: 09. Februar 2023

Vorsitzender des Promotionsorgans: Prof. Dr. med. Markus F. Neurath

Gutachter: Prof. Dr. med. Elmar Gräßel
           Prof. Dr. Mark Stemmler, Ph.D.

                                     2
Inhalt
Zusammenfassung ................................................................................................................................... 4

Abstract ................................................................................................................................................... 6

Einleitung ................................................................................................................................................ 8

    Schwere Demenz .................................................................................................................... 8

    Menschen mit schwerer Demenz in Pflegeheimen ................................................................ 8

    Psychopharmakologische Versorgung von Menschen mit schwerer Demenz..................... 10

    Nicht-pharmakologische Versorgung von Menschen mit schwerer Demenz ...................... 12

    Ziele und Fragestellungen .................................................................................................... 13

Methodik ............................................................................................................................................... 14

    Methodik der Studie MAKS-s.............................................................................................. 14

    Methodik der Studie zur psychopharmakologischen Versorgung ....................................... 17

Ergebnisse ............................................................................................................................................. 19

    Ergebnisse der Studie MAKS-s............................................................................................ 19

    Ergebnisse der Studie pharmakologische Versorgung ......................................................... 19

Diskussion ............................................................................................................................................. 20

    Diskussion der Ergebnisse und Implikationen ..................................................................... 20

    Stärken und Limitationen ..................................................................................................... 22

    Schlussfolgerungen .............................................................................................................. 23

Originalpublikation Diehl, Kratzer et al. (2020) ................................................................................... 24

Originalpublikation Diehl, Kratzer et al. (2022) ................................................................................... 25

Literaturverzeichnis ............................................................................................................................... 26

Abkürzungsverzeichnis ......................................................................................................................... 31

Publikationsverzeichnis ......................................................................................................................... 32

    Erstautorenschaften .............................................................................................................. 32

    Co-Autorenschaften ............................................................................................................. 32

Danksagung ........................................................................................................................................... 33

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Zusammenfassung
Hintergrund und Ziele

Mehr als ein Drittel der Bewohnerinnen und Bewohner von deutschen Pflegeheimen leben
mit einer schweren Demenz. Dieses Stadium der Erkrankung ist verbunden mit sehr starken
kognitiven Einschränkungen, Einschränkungen der Alltagsfähigkeiten und Verhaltens-
veränderungen, was Pflegende immer wieder vor große Herausforderungen stellt. Die
Symptome der Demenz können entweder pharmakologisch oder nicht-pharmakologisch
behandelt werden, wobei Verhaltenssymptome immer zuerst nicht-pharmakologisch
behandelt werden sollen. Es gibt zahlreiche nicht-pharmakologische Therapieansätze für
Menschen mit leichter bis mittelschwerer Demenz, für Menschen mit schwerer Demenz
dagegen fehlen evaluierte Konzepte. Menschen mit Demenz aller Schweregrade werden
häufig mit Psychopharmaka behandelt, für Menschen mit schwerer Demenz gibt es kaum
Daten hierzu. Ziel der vorliegenden Dissertation ist es deshalb, die Psychopharmakologische
Versorgungssituation von Menschen mit schwerer Demenz zu analysieren und das
Studienprotokoll einer nicht-pharmakologischen Mehrkomponenten-Intervention für
Menschen mit schwerer Demenz (MAKS-s) vorzustellen.

Methodik

Die Studie MAKS-s wurde als zweiarmige, cluster-randomisierte Studie im Wartelisten-
Kontrollgruppen-Design durchgeführt. Hierfür sollten 26 Pflegeheime mit insgesamt 144
Teilnehmenden aus verschiedenen deutschen Bundesländern rekrutiert werden. Vor Beginn,
nach zwei und nach sechs Monaten wurde die Lebensqualität, die psychischen und
Verhaltenssymptome und die alltagspraktischen Fähigkeiten der teilnehmenden Menschen mit
schwerer Demenz erhoben. Die Pflegeheime der Interventionsgruppe wurden vor Beginn der
Studie in der Durchführung der MAKS-s Intervention, bestehend aus den vier Modulen
sozial, motorisch, kognitiv und alltagspraktisch, geschult und führten diese drei Mal pro
Woche für je eine Stunde durch. Die Baseline-Daten der Studienteilnehmenden, die aufgrund
der Covid-19 Pandemie nicht für die randomisiert-kontrollierte Studie verwendet werden
konnten, wurden querschnittlich bezüglich ihrer Psychopharmaka-Verordnungen analysiert.

Ergebnisse

Drei Viertel der untersuchten Personen erhielten mindestens ein Psychopharmakon, am
häufigsten wurden Antipsychotika (56 %) verordnet. Antidepressiva bekamen 26 %,
Antidementiva 20 % und Tranquilizer und Hypnotika 8 % der Stichprobe. 80 % der
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Stichprobe zeigten klinisch relevante neuropsychiatrische Symptome, wobei abweichendes
motorisches Verhalten (36 %) am häufigsten zu beobachten war. Unter Einschluss der
Kontrollvariablen zeigte sich, dass sowohl ältere Menschen (OR = 0,908; 95%-KI [0,849;
0,972], p = 0,005) als auch Personen mit mehr körperlichen Komorbiditäten (OR = 0,804;
95%-KI [0,645; 1,004], p = 0,054) eine niedrigere Wahrscheinlichkeit hatten, ein
Antipsychotikum verordnet zu bekommen. Personen, mit mehr körperlichen Komorbiditäten
bekamen zudem signifikant weniger Antidementiva verordnet (OR = 0,629; 98 %-KI [0,415;
0,946], p = 0,026). Frauen hatten eine deutlich niedrigere Chance ein Antidementivum
verordnet zu bekommen als Männer (OR = 0,160; 95%-KI [0,066; 0,565], p = 0,003).

Die Ergebnisse der randomisiert-kontrollierten Studie sind nicht Gegenstand der vorliegenden
Dissertation.

Diskussion

Obwohl der Einsatz von Psychopharmaka und insbesondere Antipsychotika bei Menschen mit
Demenz immer wieder heftig kritisiert wird, zeigte auch unsere Untersuchung, dass eine
Mehrheit der MmsD im Pflegeheim mit einem oder sogar mehreren Antipsychotika behandelt
wurde. Auffällig ist, dass in der vorliegenden Studie auf der einen Seite eine hohe
Verordnungsrate von Psychopharmaka (74 %) festzustellen ist, auf der anderen Seite jedoch
gleichzeitig eine hohe Prävalenz von klinisch relevanten NPS besteht (80 %).
Die Indikation insbesondere von Antipsychotika sollte kritischer gestellt werden und öfter,
wie auch von verschiedenen Leitlinien empfohlen, auf nicht-pharmakologische
Therapieformen zurückgegriffen werden. Die Mehrkomponenten-Intervention MAKS-s bietet
hier eine mögliche Alternative.

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Abstract
Background and aims
More than one third of the residents of German nursing homes live with severe dementia. This
stage of the disease is associated with very severe cognitive impairments, limitations in daily
living skills and behavioural changes, which always constitute great challenges for caregivers.
The symptoms of dementia can be treated either pharmacologically or non-pharmacologically,
whereby behavioural symptoms should always be treated non-pharmacologically first. There
are numerous non-pharmacological therapy approaches for people with mild to moderate
dementia, but there is a lack of evaluated concepts for people with severe dementia. People
with dementia of all degrees of severity are often treated with psychotropic drugs, but there is
hardly any data about this for people with severe dementia. The aim of this dissertation is
therefore, to analyse the prescription rates of psychotropic drugs for people with severe
dementia and to introduce the study protocol of a multi-component intervention for people
with severe dementia (MAKS-s).

Methods
The MAKS-s study was conducted as a two-arm, cluster-randomised study in a waiting list
control group design. For this purpose, 26 nursing homes with a total of 144 participants from
different German states were to be recruited. The quality of life, the psychological and
behavioural symptoms and the everyday practical skills of the participating people with
severe dementia were assessed before the start, after two months and after six months. The
nursing homes of the intervention group were trained in the implementation of the MAKS-s
intervention before the start of the study. The intervention consists of the four components
social, motor, cognitive and everyday practical skills training and was carried out three times
a week, for one hour each. The baseline data of the study participants, who could not be used
for the randomised controlled trial due to the Covid-19 pandemic, were cross-sectionally
analysed regarding their psychotropic drug prescriptions.

Results

Three quarters of the sample received at least one psychotropic drug, the most common being
antipsychotics (56 %). Antidepressants were given to 26%, antidementia drugs to 20% and
tranquillisers and hypnotics to 8% of the sample. 80% of the participants showed clinically
relevant neuropsychiatric symptoms, with aberant motor behaviour (36%) being the most
common. When the control variables were included, it was found that both older people (OR

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= 0.908; 95% CI [0.849; 0.972], p = 0.005) and people with more physical comorbidities (OR
= 0.804; 95% CI [0.645; 1.004], p = 0.054) were less likely to be prescribed an antipsychotic.
People with more physical comorbidities were also significantly less likely to be prescribed
antidementia drugs (OR = 0.629; 98% CI [0.415; 0.946], p = 0.026). Women had a
significantly lower chance of being prescribed antidementia drugs than men (OR = 0.160;
95% CI [0.066; 0.565], p = 0.003).

The results of the randomised controlled trial are not the subject of this dissertation.

Discussion
Although the use of psychotropic drugs and especially antipsychotics in people with dementia
is always heavily criticised, our study one more time showed that a majority of the people
with severe dementia in the nursing homes were treated with at least one antipsychotic drug.
It is striking that in the present study, on the one hand, there is a high prescription rate of
psychotropic drugs (74 %), but on the other hand, at the same time, there is a high prevalence
of clinically relevant NPS (80 %).

The indication of psychotropic drugs and antipsychotics in particular should be provided more
critically and non-pharmacological therapies should be used more often, as recommended by
various guidelines. The multi-component intervention MAKS-s offers a possible alternative
here.

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Einleitung
Schwere Demenz
Demenz ist nach ICD-10 eine chronische oder fortschreitende Krankheit des Gehirns. Die drei
Hauptdomänen des Demenzsyndroms sind kognitiven Beeinträchtigungen, Veränderungen im
Verhalten und Beeinträchtigungen der Alltagsfunktionen (Byrne et al., 2008). Aufgrund des
Fortschreitens lässt sich die Erkrankung in verschiedene Schweregrade einteilen. Beginnend
mit der leichten Demenz über die mittelschwere Demenz bis zur schweren Demenz
unterscheidet sich der Schwerpunkt der Symptomatik. Im Gegensatz zu den frühen
Krankheitsstadien, in denen kognitive Störungen das Leitsymptom der Demenz darstellen,
dominieren im späten Stadium der Demenz die funktionalen Einschränkungen und veränderte
Verhaltensweisen oder psychische Symptome das klinische Bild (Voisin & Vellas, 2009). Die
schwere    Demenz      ist   charakterisiert   durch    schwere   kognitive,   funktionale   und
neuropsychiatrische     Beeinträchtigungen.     „Es     handelt   sich   um    den    Teil   des
Krankheitsprozesses, in dem die kognitiven Defizite so stark sind, dass sie die Fähigkeit […]
beeinträchtigen, grundlegende Aktivitäten des täglichen Lebens, wie Anziehen, Waschen und
Toilettengang, auszuführen.“ (Reisberg et al., 2006). Menschen mit schwerer Demenz (MmsD)
sind häufig inkontinent, ihre Sprechfähigkeit ist auf wenige Worte reduziert, zum Ende hin
verlieren sie die Fähigkeit zu gehen, zu sitzen, zu lächeln oder ihren Kopf zu halten (Reisberg,
et al., 2006). Die schwere Demenz wurde in der vorliegenden Arbeit definiert als das
Vorhandensein eines MMST (Mini-Mental Status Test)-Wertes kleiner als 10 (Folstein,
Folstein, & Mc Hugh, 1975).
Menschen mit schwerer Demenz in Pflegeheimen
In Deutschland leben mehr als ein Drittel der Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner mit
einer schweren Demenz (Schäufele, Köhler, Hendlmeier, Hoell, & Weyerer, 2013). Die meisten
Menschen mit Demenz in Pflegeheimen werden dort bis zu ihrem Tod versorgt (Koopmans,
Ekkerink, & van Weel, 2003). Das bedeutet, dass selbst Menschen mit sehr schwerer Demenz,
d.h. im letzten Stadium der Erkrankung, mit totalem Verlust von kognitiven und
alltagspraktischen    Fähigkeiten,    Inkontinenz,     Bewegungsunfähigkeit    und   schwersten
Einschränkungen der Kommunikationsfähigkeit (Arons et al., 2017) dort gepflegt und betreut
werden. Diese Tatsache stellt die Pflegenden vor große Herausforderungen. Häufig wird von
einem Mangel an sinnvollen Beschäftigungsangeboten für MmsD berichtet, insbesondere
deshalb, weil diese Personen schwer in bestehende Gruppenangebote integrierbar sind (Treusch
et al., 2010). Eine besondere Herausforderung für die Pflegenden sind dabei die veränderten

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Verhaltensweisen und psychischen Symptome, die MmsD häufig zeigen. Im Verlauf der
Demenzerkrankung zeigen 80-97 % aller Menschen mit Demenz veränderte Verhaltensweisen
oder psychische Symptome wie Aggression, Agitiertheit, Depression, Reizbarkeit, Angst,
Apathie, Wahnvorstellungen oder Halluzinationen (Kales, Gitlin, & Lyketsos, 2015; Vik-Mo,
Giil, Borda, Ballard, & Aarsland, 2020; Zuidema, Derksen, Verhey, & Koopmans, 2007).
Insgesamt finden sich Hinweise auf eine Zunahme dieser Symptome im Verlauf der Erkrankung
(Brodaty, Connors, Xu, Woodward, & Ames, 2015). Dies bedeutet, dass die MmsD am
häufigsten davon betroffen sind. Somit stellt die Behandlung von veränderten Verhaltensweisen
und psychischen Symptomen ein wichtiges, wenn nicht gar das wichtigste Ziel der Therapie
von MmsD dar. Die S3-Leitlinie Demenz (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie
Psychotherapie und Neurologie (DGPPN) & Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN),
2016) sieht zur Therapie der Demenz die pharmakologische Behandlung und die psychosoziale
Intervention vor. Dabei soll zur Behandlung von Verhaltenssymptomen vor dem Einsatz von
Psychopharmaka immer erst ein psychopathologischer Befund erhoben werden, bei dem
auslösende Faktoren identifiziert und modifiziert werden (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie
Psychotherapie und Neurologie (DGPPN) & Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN),
2016). Denn die Entstehung von veränderten Verhaltensweisen oder psychischen Symptomen
kann nicht nur auf Veränderungen im Neurotransmittersystem durch die degenerativen
Prozesse im Gehirn zurückgeführt werden, sondern häufig auch auf ungünstige
Umweltbedingungen (Warren, 2022). Cunningham, MacFarlane und Brodaty (2019)
identifizierten   über     50   unterschiedliche biologische,    psychologische,    soziale    oder
umweltbedingte Einflussfaktoren. Jeder Fall von Verhalten hatte im Durchschnitt fünf
verschiedene Einflussfaktoren, wobei Schmerzen (47%), die Annäherung eines Pflegenden
(34%) und Über- oder Unterstimulation (27%) am häufigsten beteiligt waren. Auslösende
Faktoren sollen identifiziert und verändert werden, um belastende Verhaltensweisen zu
reduzieren. Ebenso, wie nicht jedes veränderte Verhalten mit Psychopharmaka behandelt
werden kann, kann auch nicht jedes abweichende Verhalten mit psychosozialen Interventionen
behandelt werden. Vielmehr müssen die Ursachen differenziert betrachtet werden.
Verhaltensweisen wie "Unruhe" oder "Umherwandern" sind häufig auf umweltbedingte oder
psychosoziale Ursachen oder Schmerzen zurückzuführen, psychotische Symptome dagegen,
wie   Wahnvorstellungen         oder   Halluzinationen,   sind   eher   auf   pathophysiologische
Veränderungen im Gehirn zurückzuführen (Cunningham, Macfarlane, & Brodaty, 2019).
Entsprechend      sollte    eine   Behandlungsentscheidung       pharmakologisch    oder      nicht-
pharmakologisch getroffen werden.

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Wie die S3-Leitlinie vorgibt, „besteht eine Indikation für eine pharmakologische Intervention,
wenn psychosoziale Interventionen nicht effektiv, nicht ausreichend oder nicht verfügbar sind“
(Empfehlung 54). Im Folgenden soll zuerst die psychopharmakologische und dann die nicht-
pharmakologische Versorgung von MmsD und insbesondere hier die Therapie von verändertem
Verhalten und psychischen Symptomen in Pflegeheimen näher betrachtet werden.
Psychopharmakologische Versorgung von Menschen mit schwerer Demenz
Unter dem Begriff Psychopharmaka werden in der vorliegenden Arbeit nach Laux und
Dietmaier (2018) Antidementiva, Antidepressiva, Tranquilizer und Hypnotika sowie
Antipsychotika       (Neuroleptika)      subsummiert.       Explizite      Analysen       der
psychopharmakologischen Versorgung von MmsD in Pflegeheimen sind selten. Entweder wird
diese Patientengruppe nicht mit untersucht oder die Daten werden nicht separat ausgewiesen
(Gulla et al., 2016; Huber et al., 2012; Janus, van Manen, MJ, & Zuidema, 2016; Majic et al.,
2010). Die Prävalenzen lassen sich demnach nur näherungsweise abschätzen. Das
Antidementivum Memantin ist wirksam auf Kognition, Alltagsfunktion und den klinischen
Gesamteindruck von MmsD und soll laut S3-Leitlinie bei MmsD eingesetzt werden
(Empfehlung 37). Die Analyse von deutschen Krankenkassendaten zeigte dagegen, dass nur
24,6 % der Versicherten mit Demenz ein Antidementivum verordnet bekamen (nicht
differenziert nach Schweregrad) (Bohlken, Schulz, Rapp, & Bätzing-Feigenbaum, 2015).
Ähnlich niedrige Verordnungsraten finden sich auch in anderen europäischen Ländern.
Allerdings wurden auch hier MmsD nicht separat ausgewiesen (Fog, Straand, Engedal, & Blix,
2019; François, Sicsic, & Pelletier-Fleury, 2020; Pasina et al., 2020). In Frankreich werden
Antidementiva wegen zu geringem Nutzen gar nicht mehr von den Krankenkassen erstattet
(Livingston et al., 2020). Eine Studie von Nijk, Zuidem und Koopmans (2009) wertet
Prävalenzen von Psychopharmaka-Verordnungen in Pflegeheimen aus, die überwiegend (80
%) aus Personen mit moderat schwerer bis schwerer Demenz bestanden. Hier wurde eine
Versorgungsrate mit Antidementiva von 0,8 % festgestellt. Verantwortlich für die niedrigen
Verordnungsraten von Antidementiva könnten eine häufig bemängelte fehlende klinische
Relevanz der Effekte von Antidementiva allgemein und Memantin im Besonderen sein
(IQWiG, 2007, 2009). Alle Studien weisen zudem eine maximale Länge von 6 Monaten auf.
Deshalb ist eine langfristige Wirkung von Memantin wissenschaftlich unklar. Bezüglich seiner
Wirkung auf Verhaltensweisen und psychische Symptome lassen sich Hinweise auf eine
antiaggressive Wirkung von Memantin finden (Wilcock, Ballard, Cooper, & Loft, 2008).
Antidepressiva werden von der S3-Leitlinie Demenzen nicht explizit für den Einsatz bei
Menschen mit Demenz empfohlen. Auch ein Cochrane review von 2018 fand keine bis
                                             10
schwache Effekte einer Antidepressiva-Behandlung bei Menschen mit Demenz (Dudas,
Malouf, McCleery, & Dening, 2018). Trotzdem                  wurden laut einer europäischen
Vergleichsstudie bei durchschnittlich 30-40 % der Menschen mit Demenz Antidepressiva
eingesetzt (Janus, et al., 2016). Auch deutsche Krankenkassendaten zeigten, dass 29 % der
Versicherten mit Demenz Antidepressiva verordnet bekamen (Bohlken, et al., 2015). Studien,
die mehrheitlich MmsD untersuchten, fanden ebenfalls eine Prävalenz von Antidepressiva von
27 % (Nijk, et al., 2009) bzw. 39 % (Gulla, et al., 2016).
Tranquilizer und Hypnotika sind bei Menschen mit Demenz problematisch, da sie sich in der
Regel negativ auf die kognitiven Fähigkeiten auswirken, ein erhöhtes Sturzrisiko und ein großes
Abhängigkeitspotenzial mit sich bringen. Laut der S3-Leitlinie sollen Benzodiazepine bei
Menschen mit Demenz nur bei speziellen Indikationen kurzfristig eingesetzt werden. Trotz
dieser Problematik finden sich in europäischen Studien Prävalenzen von 30-50 % von
Tranquilizern und Hypnotika in der regulären Medikation (ohne Bedarfsmedikation) von
Menschen mit Demenz im Allgemeinen und auch von MmsD (Gulla, et al., 2016; Nijk, et al.,
2009; van der Spek et al., 2018). In Deutschland dagegen zeigt die Analyse von
Krankenkassendaten, dass nur etwa 10 % der Menschen mit Demenz Tranquilizer oder
Hypnotika erhalten (Bohlken, et al., 2015). Auch in deutschen Pflegeheimen zeigt sich ein
ähnliches Bild, hier erhalten etwa 12 % der Menschen mit Demenz Tranquilizer oder Hypnotika
(Thürmann, 2017).
Antipsychotika werden von der S3-Leitlinie nur bei bestimmten Indikationen und nur über einen
kurzen Zeitraum empfohlen, da sie im Allgemeinen zu einer erhöhten Mortalität, einer erhöhten
Wahrscheinlichkeit von zerebrovaskulären Ereignissen und einer kognitiven Verschlechterung
bei Menschen mit Demenz führen können (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie
Psychotherapie und Neurologie (DGPPN) & Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN),
2016).    Einzelne Antipsychotika (Risperidon, Aripriprazol) werden aber trotzdem bei
agitiertem und aggressivem Verhalten oder starker psychomotorischer Unruhe bei Menschen
mit Demenz für einen begrenzten Zeitraum empfohlen. Bei psychotischen Symptomen (Wahn,
Halluzination) wird eine Behandlung ausschließlich mit Risperidon empfohlen. Laut deutschen
Krankenkassendaten erhielten 35 % aller versicherten Menschen mit Demenz Antipsychotika.
Im stationären Bereich sind es in Deutschland etwa 45 % der Menschen mit Demenz, die ein
Antipsychotikum erhalten (Janus, et al., 2016). In Nordeuropa ist diese Zahl mit etwa 25 %
deutlich geringer. Daten aus den Niederlanden zeigen, dass dort etwa 37 % der MmsD
Antipsychotika erhalten (Nijk, et al., 2009). Daten aus deutschen Pflegeheimen zu MmsD
fehlen.

                                               11
Nicht-pharmakologische Versorgung von Menschen mit schwerer Demenz
Nicht-pharmakologische Interventionen werden seit vielen Jahren für Menschen mit Demenz
angeboten. Grundsätzlich können nicht-pharmakologischen Interventionen in drei verschiedene
Kategorien unterteilt werden: Solche, die auf Menschen mit Demenz abzielen, solche, die auf
die Pflegepersonen ausgerichtet sind und solche, die Umweltbedingungen adressieren (Kales,
et al., 2015). Angebote, die auf Pflegepersonen ausgerichtet sind, beinhalten meistens
Schulungen oder Trainings zum Umgang mit Verhaltenssymptomen oder zur Kommunikation
mit Menschen mit Demenz. Hier werden Wissen und Fertigkeiten vermittelt, die die
Kompetenzen der Pflegenden stärken und negative Emotionen verringern (Overshott & Burns,
2006). Interventionen, die die Umgebungsbedingungen betreffen, zielen darauf ab, eine
Überstimulation z.B. durch Umgebungsgeräusche zu vermeiden oder den Menschen mit
Demenz eine Tagesstruktur mit festen Abläufen vorzugeben. Unter Interventionen, die auf
Menschen mit Demenz abzielen, fallen Angebote wie beispielsweise Aromatherapie,
Gymnastik, Lichttherapie, Musiktherapie, kognitives Training, Erinnerungstherapie oder
Validation (Kales, et al., 2015). Es gibt zunehmend mehr RCTs, Reviews und Metaanalysen zu
nicht-pharmakologischen Interventionen für Menschen mit Demenz, die mehrheitlich einen
positiven Effekt auf die Kognition, die Alltagsfunktionen, Verhaltenssymptome und auf die
Stimmung nachweisen konnten (Olazarán et al., 2010; Oyebode & Parveen, 2019). Diese
Erkenntnisse haben dazu geführt, dass nicht-pharmakologische Interventionen von vielen
internationalen   Richtlinien   zur   Behandlung   der     Demenz     und   insbesondere   der
Verhaltensweisen und psychischen Symptome als Mittel der ersten Wahl empfohlen wurden
(C. Ballard & Waite, 2006; Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie Psychotherapie und
Neurologie (DGPPN) & Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN), 2016; Vasse et al.,
2012) .
Nicht-pharmakologischen Interventionen die auf Menschen mit Demenz ausgerichtet sind,
kann man in verbale oder nonverbale Therapiemaßnahmen untergliedern. Verbale
Therapiemaßnahmen sind für MmsD aufgrund ihrer starken kognitiven und sprachlichen
Einschränkungen     eher   ungeeignet.   Nonverbale      Interventionen   wie   Aromatherapie,
Lichttherapie, Musiktherapie, Gymnastik oder Snoezelen (Overshott & Burns, 2006) scheinen
dagegen ein geeignetes Mittel zu sein, um MmsD anzusprechen. Diese sogenannten
nonverbalen Therapieformen sind auch die einzigen, über die es international veröffentlichte
randomisiert-kontrollierte Studien mit MmsD gibt (C. G. Ballard, O'Brien, Reichelt, & Perry,
2002; Sakamoto, Ando, & Tsutou, 2013; Sánchez et al., 2016; Staal et al., 2007). Die Studien
zeigen allerdings sehr geringe Effektstärken bzw. keine signifikanten Effekte. Die bisher
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einzige Metaanalyse zu nicht-pharmakologischen Therapien für MmsD fand international nur
10 RCTs, die MmsD zumindest schwerpunktmäßig einbezogen. Diese Analyse zeigte eine
Verbesserung der Alltagsfähigkeiten bei MmsD und eine Reduktion von depressiven
Symptomen durch nicht-pharmakologischen Interventionen. (Na et al., 2019). Neun der zehn
analysierten     Interventionen   bestanden     nur   aus   einer   Komponente.    Die   Einzige
Mehrkomponenten-Therapie, die in der Metaanalyse genannt wird, bestehend aus Musik,
Bewegung, Singen und Sinneserlebnissen, zeigte keinerlei Effekte auf die Lebensqualität, auf
psychische und Verhaltenssymptome oder auf die kommunikativen Fähigkeiten (Hutson,
Orrell, Dugmore, & Spector, 2014). Für Menschen mit leichter bis mittelschwerer Demenz
dagegen gibt es zahlreiche Nachweise dafür, dass nicht-pharmakologische Mehrkomponenten-
Interventionen     einen   positiven   Effekt   auf   die   Kognition,   die   Alltagsfunktionen,
Verhaltenssymptome und auf die Stimmung haben können (Olazarán, et al., 2010).
Insbesondere die mehrfach evaluierte MAKS-Intervention (Graessel et al., 2011; Straubmeier
et al., 2017) wurde von einer japanischen Forschergruppe besonders hervorgehoben. Sie
empfehlen die regelmäßige Durchführung einer Kombination aus motorischem, kognitivem
und alltagspraktischem Training, um diese Fähigkeiten bei Menschen mit Demenz aufrecht zu
erhalten (Yorozuya, Kubo, Tomiyama, Yamane, & Hanaoka, 2019). Für MmsD gibt es bisher
kein wirksames Therapieangebot, das mehrere Komponenten enthält.
Ziele und Fragestellungen
Die vorausgehenden Kapitel haben dargestellt, dass über die psychopharmakologische
Versorgungssituation von MmsD kaum Daten zur Verfügung stehen. Es gibt zwar einige
Analysen in Pflegeheimen, die MmsD einbeziehen, aber selten werden die Zahlen zu dieser
Personengruppe explizit ausgewiesen. Ebenso verhält es sich bei der nicht-pharmakologischen
Versorgung. Es gibt relativ viele Studien zu nicht-pharmakologischen Interventionen für
Menschen mit leichter bis mittelschwerer Demenz aber die Erkenntnislage zu MmsD ist sehr
dürftig.
Um diese Forschungslücke zu schließen, wird in der vorliegenden Dissertation zum einen eine
von der Autorin entwickelte Mehrkomponenten-Intervention für MmsD (MAKS-s) in
Pflegeheimen vorgestellt und zum anderen die psychopharmakologische Versorgungssituation
von MmsD analysiert.

                                                 13
Methodik
Methodik der Studie MAKS-s
Ziel der MAKS-s Studie war es, herauszufinden, ob eine an die Bedürfnisse von MmsD
angepasste      Weiterentwicklung       der     bereits    mehrfach     evaluierten     MAKS-Therapie
Verhaltenssymptome von MmsD reduzieren und somit auch die Lebensqualität der MmsD
verbessern kann. Folgende Hypothesen wurden aufgestellt:
     I.       Durch die Teilnahme an der MAKS-s Intervention entwickeln sich psychische und
              Verhaltenssymptome und Lebensqualität signifikant besser als in einer
              Kontrollgruppe ohne die Intervention.
     II.      Durch die Teilnahme an der MAKSs Intervention entwickeln sich die
              alltagspraktischen Fähigkeiten signifikant besser als in der Kontrollgruppe.
Studiendesign
Zur Evaluation der genannten Hypothesen wurde eine zweiarmige, cluster-randomisierte Studie
im Wartelisten-Kontrollgruppen-Design durchgeführt. Hierfür wurden 26 Pflegeheime in fünf
deutschen Bundesländern rekrutiert (Bayern, Baden-Württemberg, Thüringen, Rheinland-Pfalz
und Saarland) und zufällig auf Interventions- oder Kontrollgruppe verteilt. Hierbei wurde ein
dreistufiger Stratifizierungsprozess angewendet: „beschützender versus nicht-beschützender
Bereich“, Bundesland, „Größe des Pflegeheims“. Die Studie wurde als Interventionsstudie mit
einer      sechsmonatigen     Interventionsphase        durchgeführt.   In   den      Pflegeheimen    der
Interventionsgruppen        wurden    jeweils    vier     Therapeut*innen    (Betreuungskräfte       oder
Pflegekräfte) vor Beginn der Interventionsphase in der Durchführung der Intervention geschult.
Die Pflegeheime der Kontrollgruppe wurden nach Ende der Interventionsphase ebenfalls in der
Durchführung der Intervention geschult. Insgesamt wurde ein Beobachtungszeitraum von 12
Monaten mit vier Messzeitpunkten (t0 Ausgangspunkt, t2 zwei Monate nach Studienbeginn, t6
sechs Monate nach Studienbeginn und t12 Nacherfassung) festgelegt.
Alle Arbeitsschritte wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethik-Kommission der Friedrich-
Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg durchgeführt (Ref. 295_19B). Von allen beteiligten
Personen (MmsD bzw. deren gesetzliche Vertreter, beurteilende Pflegekräfte, MAKS-s
Therapeut*innen) lagen Einverständniserklärungen vor. Die Studie wurde am 07.08.2019
registriert unter der Nummer ISRCTN15722923.
Stichprobe
Um die Stichprobengröße zu bestimmen wurde auf Basis der Erkenntnisse aus der Pilotstudie
zu        MAKS-s    und     einer    vorausgegangenen        MAKS-Studie      mit      Menschen      aller

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Demenzschweregrade eine Poweranalyse durchgeführt, die ergab, dass unter Einberechnung
einer Dropout-Rate von 20 %, 144 Studienteilnehmer*innen rekrutiert werden müssen.
Die Pflegeheime wurden aufgrund ihres Internetauftritts ausgewählt. Dabei wurde darauf
geachtet, sowohl größere als auch kleiner Pflegeheime, solche mit beschützenden Bereichen
und oder ohne bzw. solche in Großstädten oder im ländlichen Bereich anzuschreiben, um eine
möglichst große Bandbreite an Pflegeheimen abzubilden. Die Pflegeheime wurden zuerst mit
Informationsmaterial angeschrieben und dann zwei Wochen später angerufen und gefragt, ob
sie teilnehmen möchten. Nachdem mindestens 24 Pflegeheime gefunden wurden, die bereit
waren, einen Kooperationsvertrag zu unterschreiben, war die Rekrutierung abgeschlossen.
Um geeignete Studienteilnehmende zu finden, wurden alle Bewohnerinnen und Bewohner der
24 Pflegeheime einem dreistufigen Screening Prozess unterzogen. Zunächst wurden alle
Personen ausgeschlossen, die dauerhaft bettlägerig, blind oder taub waren, die mehr als einen
Schlaganfall hatten, die eine schwere psychiatrische Störung, wie Sucht, schwere Depression
oder Schizophrenie hatten oder konkret planten, die Einrichtung zu verlassen. Im zweiten
Schritt wurden die kognitive Leistungsfähigkeit erhoben und alle Personen, die einen MMST-
Wert über 9 hatten, wurden ausgeschlossen. Anschließend wurde von unserem
Kooperationspartner IMBE für jedes Pflegeheim eine Randomisierungsliste erstellt, auf der alle
potenziell geeigneten Personen in zufälliger Reihenfolge angeordnet waren. Im dritten Schritt
holten die Studienkoordinatoren vor Ort in der Reihenfolge der Liste die Zustimmung der
gesetzlichen Vertreter ein. Stimmte ein gesetzlicher Vertreter zu, wurde die Person in die Studie
eingeschlossen.
MAKS-s Intervention
Die MAKS-s Intervention fand 3 Mal pro Woche unter der Anleitung von zwei geschulten
MAKS-s Therapeut*innen für jeweils eine Stunde statt. MAKS-s ist eine Mehrkomponenten-
Intervention, die aus vier Modulen besteht. Zuerst erfolgt für 10 Minuten die soziale
Einstimmung. Hier werden soziale Kontakte gefördert und Rituale durchgeführt, wie singen
oder andere wiederkehrende Elemente. Anschließend erfolgt das 20-minütige motorische
Modul, bei dem einfache Übungen mit Handgeräten oder motorische Spiele durchgeführt
werden. Im kognitiven Modul, das aufgrund der starken kognitiven Beeinträchtigung der
MmsD nur etwa 10 Minuten dauert, werden hauptsächlich unbewusste Gedächtnisinhalte
angesprochen. So werden z.B. altbekannte Lieder gesungen (Altgedächtnis), Merksprüche
ergänzt (priming) oder Gegenstände mit haptischen Reizen erfühlt. Im vierten Modul, das 20
Minuten dauert, geht es darum, einfache Alltagshandlungen zu trainieren. So wird z.B. ein Brot
mit Butter bestrichen, Früchte geschnitten oder Schrauben auf ein Gewinde gedreht.

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Datenerhebung
Sowohl das Screening als auch die Datenerhebungen zur Bewohnerdokumentation wurden von
geschulten    Mitarbeiter*innen        in   den        Einrichtungen    durchgeführt.     Sämtliche
Fremdbeurteilungsverfahren wurden über Telefoninterviews von studentischen Hilfskräften
mit den Bezugspflegekräften durchgeführt. Insgesamt gab es vier Datenerhebungszeitpunkte:
vor Beginn der Studie (t0), zwei Monate nach Beginn der Studie (t2), sechs Monate nach
Beginn der Studie (t6) und 12 Monate nach Beginn der Studie (Nachbefragung).

Messinstrumente
Zur   Erhebung    der     Verhaltensweisen        und     psychischen   Symptome        wurde    das
Neuropsychiatrische Inventar-Pflegeheim-Version (NPI-NH) (Wood et al., 2000) verwendet.
Der NPI-NH ist ein retrospektives Fremdbeurteilungsverfahren, das durch ein Interview mit der
Bezugspflegekraft erhoben wird. Dabei werden 10 Verhaltensweisen, wie z.B. Aggression,
Angst, Depressivität oder abweichendes motorisches Verhalten und zwei neurovegetative
Veränderungen (Schlaf und Appetit) in ihrer Häufigkeit und Schwere bewertet. Pro Item
können durch Multiplikation der Häufigkeit und Schwere maximal 12 Punkte erreicht werden.
Höhere Werte weisen auf eine höhere Symptombelastung hin.
Um die Lebensqualität der MmsD zu bewerten, wurde die deutsche Version des QUALIDEM
verwendet (Dichter, Schwab, Meyer, Bartholomeyczik, & Halek, 2016). Beim QUALIDEM
handelt es sich um ein Fremdbeurteilungsverfahren, bei dem die Bezugspflegekraft retrospektiv
verschiedene Bereiche der Lebensqualität der MmsD bewertet. Der QUALIDEM wurde in der
Version mit 18 Items für Menschen mit sehr schwerer Demenz verwendet. Jedes Item wird auf
einer 7-stufigen Häufigkeitsskala von „nie“ bis „sehr häufig“ eingeschätzt. Höhere Werte
weisen auf eine höhere Lebensqualität hin.
Zur Beurteilung der Alltagsfähigkeiten wurde der ADCS-ADL-sev (Galasko, Schmitt, Thomas,
Jin, & Bennett, 2005), ein Fremdbeurteilungsverfahren, das durch ein Interview mit der
Bezugspflegekraft erhoben wird, verwendet. Jedes der 19 Items besteht aus hierarchischen
Fragen. Die möglichen Antworten reichen von totaler Unabhängigkeit bis zu völliger
Abhängigkeit bei der jeweiligen Alltagsfähigkeit. Insgesamt können maximal 54 Punkte
erreicht werden, wobei höhere Werte auf bessere Alltagsfähigkeiten hinweisen.
Zusätzlich wurde zur Auswahl der Studienteilnehmenden der MMST (Mini-Mental Status Test)
(Folstein, et al., 1975), das bekannteste Screening-Verfahren um kognitive Leistungseinbußen
zu messen, verwendet. Für jede Person wurde ein Basisdatenstammblatt erstellt, das
soziodemografische      Daten,   den    Pflegegrad,      Arzneimittelverordnungen       und   weitere

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Krankheitsdiagnosen beinhaltete. Ebenso enthielt es eine Einschätzung des individuellen
Sterblichkeitsrisikos mit Hilfe des Charlson-Komorbiditäts-Index (Quan et al., 2011). Während
der 6-monatigen Interventionsphase wurde jede Veränderung im Gesundheitsstatus
dokumentiert. Die Durchführung der MAKS-s Intervention wurde jede Woche durch die
MAKS-s Therapeut*innen dokumentiert, indem Abweichungen vom Manual protokolliert
wurden und die Anwesenheit der Teilnehmenden festgehalten wurde.
Statistische Analyse
Um die Qualität der Randomisierung zu Beginn der Studie zu überprüfen, wurden
Interventions- und Kontrollgruppe auf statistisch signifikante Unterschiede überprüft. Alle
Variablen wurden deskriptiv dargestellt. Die Hypothesen wurden mit Hilfe multipler
Regressionsanalysen überprüft. Um die Interpretierbarkeit der Ergebnisse zu erhöhen, erfolgte
zusätzlich zur ITT-Analyse (intention to treat) eine PP-Analyse (per protocol).
Methodik der Studie zur psychopharmakologischen Versorgung
Studiendesign und Stichprobe
Um die psychopharmakologische Versorgung von MmsD zu untersuchen, wurden die im
Februar 2020 erhobenen Baseline-Daten der Studienteilnehmenden der randomisiert-
kontrollierten MAKS-s Studie querschnittlich analysiert. Aufgrund der einschränkenden
Maßnahmen der Covid-19-Pandemie konnte diese Stichprobe im März 2020 nicht mit der
geplanten Intervention beginnen. Die Stichprobe umfasst 142 MmsD aus 26 Pflegeheimen in
den Bundesländern Bayern, Baden-Württemberg, Thüringen, Rheinland-Pfalz und dem
Saarland. Eingeschlossen wurden Menschen, bei denen in der Pflegedokumentation eine
ärztlich bestätigte Demenzdiagnose vorlag, die aktuell im Mini-Mental Status Test (MMST)
weniger als 10 Punkte aufwiesen (schwere Demenz), die nicht dauerhaft bettlägerig waren,
keine schweren psychiatrischen Vorerkrankungen aufwiesen (z.B. schwere Depression,
Schizophrenie), nicht blind oder gehörlos waren und nicht mehr als einen Schlaganfall in der
Vorgeschichte hatten. Von allen Teilnehmenden lag die Einverständnis zur Teilnahme vor.
Datenerhebung
Sämtliche Daten wurden im Zeitraum von Anfang Januar bis Ende Februar 2020 erhoben. Die
Datenerhebung erfolgte vor Ort in den Pflegeheimen. Zum einen wurden die Screening-Daten
und die Daten aus dem Basisdatenstammblatt (Alter, Geschlecht, Pflegegrad, Komorbiditäten
und Medikamentenverordnungen ohne Bedarfsmedikation) von den geschulten Mitarbeitenden
in den Pflegeheimen erhoben. Die Daten zu den neuropsychiatrischen Symptomen wurden von
studentischen Hilfskräften durch Befragung der Bezugspflegekräfte ermittelt. Die

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alltagspraktischen Fähigkeiten wurden durch Testung der MmsD durch studentische Hilfskräfte
erhoben.
Messinstrumente
Zur Erhebung der neuropsychiatrischen Symptome (NPS) wurde das NPI-NH (Wood, et al.,
2000), eine retrospektive Beobachter-Ratingskala, verwendet. Neben einem Summenscore
können im NPI-NH auch einzelne Itemwerte bestimmt werden, die jeweils 0-12 Punkte
betragen können. In Anlehnung an die Literatur (Aalten, de Vugt, Jaspers, Jolles, & Verhey,
2005; Lyketsos et al., 2002; Steinberg et al., 2004) wurde zusätzlich ein NPI-Itemscore von 4
oder mehr Punkten als das Vorhandensein „klinisch relevanter Symptome“ definiert.
Unter dem Begriff Psychopharmaka wurden Antidementiva, Antidepressiva, Tranquilizer und
Hypnotika sowie Antipsychotika (Neuroleptika) subsummiert (Laux & Dietmaier, 2018).
Aufgrund des geringen Vorkommens von Tranquilizern und Hypnotika wurden die Analysen
nur mit den drei Arzneimittelgruppen Antidementiva, Antidepressiva und Antipsychotika
durchgeführt. Es wurde die – zum Zeitpunkt der Datenerhebung – aktuell ärztlich verordnete
Dauermedikation erfasst, nicht jedoch die Bedarfsmedikation.
Zur Erfassung der Komorbiditäten wurde der aktualisierte Charlson Komorbiditäts-Index nach
Quan et al. verwendet (Quan, et al., 2011). Höhere Werte zeigen eine höhere 1-Jahres-
Sterblichkeitsrate an. Die 1-Jahres-Mortalität steigt von 12 % (Indexwert 0) auf 85 %
(Indexwert ≥ 5). Der kognitive Status wurde mit Hilfe des Mini-Mental Status Tests (MMST)
(Folstein, et al., 1975) bestimmt. Der MMST reicht von 0-30 Punkten, wobei 30 Punkte
keinerlei Einschränkungen des kognitiven Satus bedeutet. Basale Alltagsfähigkeiten wurden
mit Hilfe des Erlangen Test of Activities of Daily Living (E-ADL) (Graessel et al., 2009), einem
Leistungstest, gemessen. Der E-ADL reicht ebenfalls von 0-30 Punkten. Dabei bedeuten 30
Punkte keinerlei Einschränkungen der alltagspraktischen Fähigkeiten. Der Pflegegrad erfasst
den Schweregrad der Pflegebedürftigkeit und reicht von Pflegegrad 1 (geringe
Einschränkungen) bis Pflegegrad 5 (schwerste Einschränkungen).
Statistische Analyse
Zur Bestimmung der Prävalenzen von Psychopharmaka-Verordnungen und der NPS wurden
Häufigkeiten berechnet. Um festzustellen, welche Patientencharakteristika einen Einfluss auf
die Verordnungswahrscheinlichkeit eines Psychopharmakons hatten, wurden zusätzlich binär-
logistische Regressionsmodelle mit jeweils einem Psychopharmakon als abhängige Variable
gerechnet. In diese Modelle wurden die Patientencharakteristika Geschlecht, Alter, Pflegegrad,
Charlson Komorbiditäts-Index, kognitive und alltagpraktische Fähigkeiten als potentielle

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Prädiktoren aufgenommen. Es wurden alle Variablen auf Multikollinearität überprüft (r > 0.50),
wobei sich keine Multikollinearität zeigte.

Ergebnisse
Ergebnisse der Studie MAKS-s
Die empirischen Ergebnisse der MAKS-s Studie sind nicht Teil der Dissertation, sondern nur
die Veröffentlichung des Studienprotokolls. Deshalb wird an dieser Stelle nicht näher darauf
eingegangen.    Die   Doktorandin     ist     jedoch   Koautorin   der   bereits   eingereichten
Journalpublikation zu diesen Ergebnissen (vgl. Publikationsverzeichnis).

Ergebnisse der Studie pharmakologische Versorgung
Es wurden 142 Personen mit schwerer Demenz, davon 75 % (n = 106) Frauen, in die Studie
eingeschlossen. Das durchschnittliche Alter betrug 85,7 Jahre (Standardabweichung (SD) = 6,2)
bei einer Altersspanne von 57 bis 99 Jahren. Der MMST lag bei einem Mittelwert (M) von 4,2
(SD = 3,2), der Pflegegrad bei M = 3.8 (SD = 0,8) und die basalen Alltagsfähigkeiten gemessen
mit dem E-ADL bei M = 11,1 (SD = 10,4). Die Studienteilnehmenden wiesen ein
durchschnittliches Mortalitätsrisiko von M = 3.3 (SD = 1,9) nach dem Charlson-Index auf.
Die Analyse der Psychopharmaka zeigte, dass 74 % der der untersuchten Personen mindestens
ein Psychopharmakon erhielten. Antipsychotika wurden 56 % der Teilnehmenden verordnet,
Antidepressiva 26 %, Antidementiva 20 %. und Tranquilizer und Hypnotika erhielten 8 % in
Dauermedikation (siehe Tabelle 1 in der Originalpublikation Diehl, Kratzer & Gräßel, 2022).
Kontraindizierte Substanzen wie Trizyklika oder Olanzapin wurden nicht verordnet.
Klinisch relevante neuropsychiatrische Symptome zeigten 80 % der Personen. Nur 7 % wiesen
keinerlei NPS auf. Die häufigsten klinisch relevanten Symptome bei MmsD waren
abweichendes motorisches Verhalten (36 %), Aggression (28 %) und Apathie (25 %). Am
seltensten waren Euphorie (5 %) und Halluzinationen (6 %) zu beobachten (detailliertere
Angaben können Tabelle 2 der Originalpublikation entnommen werden).
Unter Einschluss der Kontrollvariablen zeigte sich im Regressionsmodell, dass sowohl ältere
Menschen (OR = 0,908; 95%-KI [0,849; 0,972], p = 0,005) als auch Personen mit mehr
körperlichen Komorbiditäten (OR = 0,804; 95%-KI [0,645; 1,004], p = 0,054) eine niedrigere
Wahrscheinlichkeit hatten, ein Antipsychotikum verordnet zu bekommen. Personen mit mehr
körperlichen Komorbiditäten bekamen zudem signifikant weniger Antidementiva verordnet
(OR = 0,629; 98 %-KI [0,415; 0,946], p = 0,026). Frauen hatten eine deutlich niedrigere Chance

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ein Antidementivum verordnet zu bekommen als Männer (OR = 0,160; 95%-KI [0,066; 0,565],
p = 0,003).

Diskussion
Diskussion der Ergebnisse und Implikationen
Nach meinem Wissen ist MAKS-s die erste Multikomponenten-Intervention, die für eine
Kleingruppe      von   MmsD      entwickelt    wurde.    Ebenso     ist   die    Analyse   der
psychopharmakologischen Versorgung von MmsD in Deutschland die erste Auswertung dieser
Art nur für MmsD. Beide Ansätze sind somit ein Novum, da sie explizit die Versorgung von
Menschen mit schwerer Demenz betreffen. Das Ergebnis, dass drei Viertel der MmsD in
deutschen Pflegeheimen ein oder mehrere Psychopharmaka verordnet bekamen, ist
vergleichbar mit der in anderen europäischen Ländern zu beobachtenden hohen Anzahl von
Psychopharmaka-Verordnungen bei Personen mit fortgeschrittener Demenz (Joling et al., 2021;
Nijk, et al., 2009).
Antidementiva wurden in der untersuchten Stichprobe entgegen der S3-Leitline sehr sparsam
verordnet. Nur 20 % der (schwer) Demenzerkrankten waren mit einem Antidementivum
versorgt. Ähnliche Ergebnisse zeigte eine aktuelle Analyse von deutschen Krankenkassendaten.
Hier erhielten 22,3 % der Versicherten mit Demenz (nicht differenziert nach Schweregrad) ein
Antidementivum (Glaeske, 2020). Verantwortlich hierfür könnten eine häufig bemängelte
fehlende klinische Relevanz der Effekte von Antidementiva sein (IQWiG, 2007, 2009). Bei der
vorliegenden Stichprobe von MmsD könnte es ein, dass vorherige Therapieversuche wegen
geringer Effekte abgebrochen wurden und deshalb im schweren Stadium der Erkrankung
bereits nicht mehr zur Anwendung kamen.
Auffällig war, dass Männer mit schwerer Demenz eine sechs Mal höhere Chance hatten, ein
Antidementivum verordnet zu bekommen als Frauen mit schwerer Demenz. Ein ähnliches,
wenn auch bei weitem nicht so deutliches Ergebnis fand sich in einer früheren deutschen Studie,
die Krankenkassendaten auswertete (Bohlken, et al., 2015). Möglicherweise ist hierfür das
höhere Aggressionspotenzial von Männern verantwortlich (Zuidema, de Jonghe, Verhey, &
Koopmans, 2009). Insbesondere körperlich kräftige Männer können, wenn sie physisch
aggressiv werden, zu einer großen Belastung für ihr Umfeld werden. Memantin könnte mit
seinen antiaggressiven Effekten hier Abhilfe schaffen (Wilcock, et al., 2008).
Antidepressiva wurden in der untersuchten Stichprobe weniger häufig ermittelt als in Studien
mit Menschen aller Demenzschweregrade (Gulla, et al., 2016). Vergleichbare Studien mit

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MmsD erbrachten ähnliche Zahlen (McMaster, Fielding, Lim, Moyle, & Beattie, 2018;
Zuidema, et al., 2009).
Tranquilizer und Hypnotika wurden entsprechend der S3-Leitlinie selten in Dauermedikation
verordnet. Im Vergleich zu anderen Europäischen Ländern ergaben sich deutlich niedrigere
Verordnungsraten (Nijk, et al., 2009; van der Spek, et al., 2018).
Antipsychotika dagegen erhielten entgegen den Empfehlungen der Leitlinie 56 % der MmsD in
Dauermedikation. Dies liegt deutlich über der Rate von Antipsychotika-Behandlungen von in
Deutschland versicherten Menschen mit Demenz insgesamt, die bei 34 % liegt (Glaeske, 2020),
und über dem Wert in anderen europäischen Ländern oder der USA (Janus, et al., 2016; Maust,
Kim, Chiang, & Kales, 2018). Trotz der 2016 aktualisierten S3-Leitlinie, die den sparsamen
Gebrauch von Antipsychotika empfiehlt, und der bereits in mehreren Vorgänger-
Untersuchungen kritisierten Verordnungspraxis von Antipsychotika bei der Behandlung von
Menschen mit Demenz (Bohlken, et al., 2015; Janus, et al., 2016; Majic, et al., 2010), zeigte
auch unsere Untersuchung, dass eine Mehrheit der MmsD im Pflegeheim mit einem oder sogar
mehreren Antipsychotika behandelt wurde. Auffällig ist, dass in der vorliegenden Studie auf
der einen Seite eine hohe Verordnungsrate von Antipsychotika festzustellen ist, auf der anderen
Seite jedoch gleichzeitig eine hohe Prävalenz von NPS besteht. 80 % der untersuchten Personen
zeigten klinisch relevante NPS, während gleichzeitig 75 % der Personen mit Psychopharmaka
behandelt wurden.
In der Bewertung der querschnittlichen Ergebnisse ist von folgender Annahme auszugehen:
Sind NPS unter dem Cut-off-Wert für klinische Relevanz, kann unterstellt werden, dass das
therapeutische Procedere zum Grad der NPS passt. Liegen die Werte dagegen über dem Cut-
Off, d.h. klinisch auffällig hohe NPS, ist das Outcome der bestehenden therapeutischen
Vorgehensweise      (pharmakologisch       und/oder    nicht-pharmakologisch)     ungenügend
(insuffiziente Versorgung): Wird medikamentös behandelt, scheint die Behandlung nicht
wirksam genug zu sein. Liegt keine medikamentöse Behandlung vor, stellt sich die Frage einer
fehlenden Behandlung.
Schon der Pflegereport von 2017 hat gezeigt, dass psychosoziale Interventionen bei
Pflegekräften zum einen gut bekannt sind und zum anderen auch für wirksam eingeschätzt
werden. Allein die Zeit bzw. das Personal, diese anzuwenden, fehlt oft in deutschen
Pflegeheimen (Schwinger, Tsiasioti, & Klauber, 2017). Wenn der in deutschen Pflegeheimen
ohnehin vorherrschende Zeit- und Personalmangel (Osterloh, 2018) durch NPS bei Menschen
mit Demenz noch verstärkt wird, könnte diese zusätzliche Belastung möglicherweise dazu
führen, dass behandelnde Ärzte vermehrt gebeten werden, diese „herausfordernden Symptome“

                                               21
mit Hilfe von Antipsychotika „abzustellen“. Schon frühere Untersuchungen zeigten, dass Ärzte
einem erhöhten „Behandlungsdruck“ ausgesetzt waren, Psychopharmaka zu verschreiben,
wenn die Pflegenden unter einer hohen Arbeitsbelastung standen (Zuidema, de Jonghe, Verhey,
& Koopmans, 2011). Die Gabe von Psychopharmaka scheint dabei die einfachste und am
wenigsten zeitaufwändige Alternative im Vergleich zu den vorrangig empfohlenen
psychosozialen Interventionen zu sein (van der Spek, et al., 2018).
Laut der Empfehlung 54 der S3-Leitlinie soll vor einer Behandlungsentscheidung die
Ursachenforschung stehen. Kales und Kollegen (2015) postulieren in einem state of the art
Review, dass sowohl Personenfaktoren als auch Umweltfaktoren einen Einfluss auf die
Entstehung von NPS haben können. Unter anderem identifizieren sie das Fehlen von
Aktivitäten, Strukturen und Routinen und unbefriedigte Bedürfnisse („unmet needs“) als
Auslöser von NPS. Auch Cunningham und Kollegen (2019) konnten in einer Untersuchung 50
verschiedene auslösende Faktoren identifizieren. Sie fordern die Abkehr von der rein
symptomatischen        Behandlung    (mit    Medikamenten,         Anm.      d.   Autorin)    von
Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit Demenz und sich stattdessen mit den Ursachen der
Verhaltensweisen zu beschäftigen. Die psychosoziale MAKS-s Therapie setzt genau an diesen
Ursachen an. Durch das Gruppensetting und die Zusammenarbeit mit anderen Teilnehmenden
werden grundliegende soziale Bedürfnisse wie Teilhabe, Bindung und Austausch mit anderen
Menschen erfüllt. Die feste Struktur und die wiederkehrenden Elemente der MAKS-s
Intervention geben den Teilnehmenden Sicherheit und Struktur und auch die Möglichkeit,
Erfolgserlebnisse und Selbstwirksamkeit zu erleben. Durch die Bewegung im motorischen Teil
wird das Grundbedürfnis nach Bewegung angesprochen. Somit spricht die MAKS-s
Intervention wichtige Grundbedürfnisse des Menschen mit Demenz an. Um eine Über- oder
Unterstimulation zu vermeiden, werden Reize gezielt gesetzt und Störreize bewusst
ausgeschaltet.   Die    MAKS-s      Intervention   sollte   also   zu     einer   Reduktion   von
Verhaltensauffälligkeiten bei MmsD führen.

Stärken und Limitationen
Auch wenn die beiden vorliegenden Studien zum ersten Mal die Versorgungssituation von
MmsD untersuchten bzw. eine Verbesserung anstrebten, ergaben sich – eventuell auch weil
dies die erste Untersuchung dieser Art war – einige Einschränkungen. Bei der Auswahl der
Studienteilnehmer*innen wurde allein die kognitive Leistungsfähigkeit (MMST
Menschen, die noch komplett mobil waren, bis zu Personen, die sich bereits in der finalen Phase
der Demenz befanden. Möglicherweise könnte dies zu Problemen insbesondere bei der
Durchführung des alltagspraktischen Moduls der MAKS-s Intervention geführt haben. Die
Stichprobe hatte mit 142 Personen eine nach der Power-Kalkulation ausreichende Größe für
eine randomisiert-kontrollierte Interventionsstudie bei Demenz, war aber im Vergleich zu
epidemiologischen Studien zu Einsatz und Wirkweise von Psychopharmaka relativ klein.
Aufgrund der Unterschiedlichkeit der 26 Pflegeheime kann sie jedoch einen Eindruck der
stationären Versorgungssituation in Deutschland geben. Eine weitere Einschränkung der Daten
besteht darin, dass die Stichprobe Personen mit schwerer Depression und anderen schweren
psychischen Erkrankungen ausschloss. Vermutlich wird dadurch die Gesamtprävalenz der NPS
und der Psychopharmaka, insbesondere von Antidepressiva, unterschätzt. Außerdem wurden
nur die Medikamente in Dauermedikation analysiert und nicht die Bedarfsmedikation, was
zusätzlich zu einer Unterschätzung der Häufigkeit von Psychopharmaka geführt haben könnte.
Darüber hinaus wurde in der vorliegenden Studie die individuelle Tagesdosis nicht erhoben.
Somit kann keine Aussage darüber getroffen werden, ob die Dosierung adäquat war oder nicht.
Das Kernproblem der querschnittlichen Analyse ist der „Bias of indication“. Die Ausprägung
der NPS vor der Pharmakotherapie ist nicht bekannt. Darüber hinaus ließ das querschnittliche
Design keine Rückschlüsse auf Kausalität zu.
Schlussfolgerungen
MmsD zeigten bei einer zeitgleich hohen Verordnungsquote mit Psychopharmaka und
insbesondere mit Antipsychotika eine ebenfalls hohe Prävalenz von NPS. Im Anbetracht der
Tatsache, dass Antipsychotika mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden sind und eine
Wirksamkeit dieser Präparate nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann, sollten anstelle
von   Psychopharmaka      häufiger   psychosoziale    Interventionen   zur   Reduktion     von
Verhaltenssymptomen bei MmsD angewendet werden.

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