SEXUALPÄDAGOGIK Basiswissen Einblicke in die beruflichen Handlungsfelder der Sexualpädagogik www.fachstelle.at - Fachstelle NÖ

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Basiswissen

SEXUALPÄDAGOGIK
Einblicke in die beruflichen Handlungsfelder der Sexualpädagogik

www.fachstelle.at
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    Wie kommt die                         Sexuelle                             Geschlechtliche
    Sexualität in die Schule?             Entwicklung(en) in                   und sexuelle Vielfalt
                                          Kindheit und Jugend
    Die Soziologin Barbara                                                     1,7 Prozent aller Menschen
    Rothmüller beschreibt                 Sexualpädagogisch wird mit           werden als
    anschaulich die sexuelle              einem breiteren Begriff für          intergeschlechtlich geboren,
    Bildung im historischen               Sexualität gearbeitet als das        was in etwa dem Anteil
    Wandel. Der Verlauf der               alltagssprachlich üblich ist.        rothaariger Menschen ent-
    Geschichte zeigt, wie es die          Was versteht man unter               spricht. Die Psychologin
    sexuelle Aufklärung in die            kindlicher Sexualität?               Lena Deser schafft einen
    Schule geschafft hat – und            Ein Blick in die sexuelle            wertvollen Einblick in das
    was das für Pädagog*innen             Entwicklung von Kindern ist          Verständnis von Vielfalt,
    bedeutet.                             wichtig, wenn wir mit ihnen          unterlegt mit praxisnahen
                                          sexualpädagogisch arbeiten           Beispielen.
                                          wollen.

                                                                                  Haben Sie Anregungen?
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                                                                                      office@fachstelle.at
    Pubertät 2.0                          Sexualpädagogisches
                                          Arbeiten im Kontext mit
                                          Behinderung

                                          Das Thema Sexualität und
                                          Beeinträchtigung wird oft
                                          und gerne „vergessen“ bzw.
                                          als nicht vorhanden
                                          wahrgenommen. Gerade
    Wie wirken sich Pornografie,           deshalb braucht es
    Aufklärung im Internet und            spezielles pädagogisches
    ständig „online sein“ auf die         Wissen und passende
    sexuelle Entwicklung von              Angebote, die Petra
    Jugendlichen aus? Gefahren,           Tröscher in ihrem Artikel
    aber vor allem auch                   vorstellt. Wie kann
    Chancen und neue                      sexualpädagogisches
    Möglichkeiten werden von              Arbeiten mit
    der Sexualpädagogin                   beeinträchtigten Menschen
    Sandra Ziegelwanger-Bravo             aussehen?
    Galarce dargestellt und
    machen deutlich:
    Kein Grund zur Panik!

    IMPRESSUM UND OFFENLEGUNG NACH § 25 MEDIENGESETZ:
    HERAUSGEBER:                                            GRAFISCHES KONZEPT, GESTALTUNG & PRODUKTION:
    Fachstelle für Suchtprävention NÖ                           // Marketing & Kommunikation
    Brunngasse 8, 3100 St. Pölten                           www.mgf.at, Nadelbach 23, 3100 St. Pölten
    1. Auflage: 2018                                         Fotocredit Cover: Fotolia (V@elenabsl)

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Wenn Gewalt zum
Thema wird

In Österreich erleben Kinder
psychische und körperliche
Gewalt meist kombiniert –
in der Schule oder in der
Familie. Mädchen sind
sexuellen Übergriffen
doppelt so häufig
ausgesetzt wie Burschen.       Liebe Leser*innen!
Mögliche Handlungsschritte
für Pädagog*innen fördern      Die Geschichte der Abteilung Sexualpädagogik ist eine noch
eine Sensibilisierung in       recht kurze – und stellt sich somit als relativ junger Bereich der
Bildungseinrichtungen.         Fachstelle NÖ vor. Seit dem Schuljahr 2014/15 führen wir sexu-
                               alpädagogische Veranstaltungen überwiegend an Schulen in
                               Niederösterreich durch. Mittlerweile ist das Team der Sexualpä-

30                             dagogik gewachsen, und auch die Themen haben sich an die
                               Bedürfnisse der Zielgruppen angepasst und wurden erweitert.
                               Heute können wir zu Recht von einem anerkannten Kompe-
HIV und AIDS –                 tenzzentrum in Niederösterreich sprechen – gerne weiterhin
(k)ein Thema?                  bereit, zu wachsen, zu kooperieren und zu informieren.

Eine erfolgreiche              Das vorliegende Basiswissen der Sexualpädagogik ermöglicht
HIV-Therapie verhindert        vor allem Pädagog*innen und Multiplikator*innen sowie allen
nachweislich die               Interessierten einen guten Einblick in das berufliche Handlungsfeld
Übertragung von HIV. Dabei     der Sexualpädagogik. Es ermöglicht einen ersten Einstieg in
wirft das Thema HIV und        das Thema, hält aber auch für „Fortgeschrittene“ viel Neues
AIDS nach wie vor Fragen,      bereit. Wir haben uns für eine aktuelle Auswahl von sieben The-
Zweifel und Ängste auf.        men entschieden, die im Rahmen von Fortbildungen, Workshops
Katja Grafl von der             und Elternabenden erfahrungsgemäß immer wieder von Relevanz
Aids Hilfe Wien klärt auf.     sind.

                               Die Fachstelle NÖ bedankt sich besonders bei den Autorinnen.
                               Sie kommen aus unterschiedlichen beruflichen Bereichen, und
                               bringen fachliches Wissen, praktische Erfahrung und die nötige
                               Hingabe mit, was in den einzelnen Artikeln sichtbar wird.

                               Mit diesem Basiswissen in Ihrer Hand haben Sie schon den
                               ersten (oder zweiten) Schritt gewagt, sich mit den gerade
                               wichtigsten Themen der Sexualpädagogik auseinanderzusetzen.
                               Lassen Sie sich inspirieren und informieren. Wir wünschen
                               Ihnen eine spannende Lektüre!

                               Dr.in Ursula Hörhan, MPH                    MMag.a Verena Krall
                               Geschäftsführung und                                   Leitung
                               Suchtkoordination NÖ                          Sexualpädagogik

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Wie kommt die
    Sexualität in die Schule?
    Sexuelle Bildung im historischen Wandel

    Sexualität galt lange Zeit als Privatsache. Sexuelle Aufklärung war
    in erster Linie eine Angelegenheit der Eltern. Heute sind
    Lehrpersonen an Schulen auch für Sexualpädagogik zuständig.
    Wie und warum Sexualität Thema in der Schule wurde,
    lässt sich durch einen Blick in die Geschichte der sexuellen
    Bildung besser verstehen.

    Warum sexuelle Bildung?                             Sexualpädagogik in der Schule zu unterrichten.
    In der Erziehung von Kindern findet beiläufig         Lange Zeit, und teilweise bis heute, nahmen
    immer auch sexuelles Lernen statt. Innerhalb        darüber hinaus religiöse Organisationen maß-
    der letzten 250 Jahre wurde Sexualität jedoch       geblich Einfluss auf sexuelle Bildung. Religiöse
    wiederholt ein explizites und wichtiges Thema       Autoritäten sind in vielen Ländern u.a. mit der
    absichtlicher Erziehungsbemühungen in               Bewältigung sexueller Wertfragen und Bezie-
    Europa. Die Gründe, warum Sexualität in der         hungsberatung betraut. Im Schulunterricht
    Schule thematisiert wird, haben sich im 20. Jahr-   wurden sexuelle Themen, wenn überhaupt,
    hundert stark verändert. Ging es dem Staat          meist von Religionslehrer*innen aufgegriffen,
    anfangs um die Steuerung des Bevölkerungs-          und Priester waren Ansprechpersonen für
    wachstums und um Geburtenkontrolle, wurden          gläubige Erwachsene. Daneben waren aber
    Gesundheitserziehung und Sexualität im Kon-         auch Ärzte und Ärztinnen sowie Hebammen
    text von Prostitution, sexueller Ausbeutung         wichtige Wissensvermittler*innen. In Österreich
    und „Rassen“-Lehre während der Weltkriege           bestimmte eine christliche Sicht lange Zeit
    zentral. Im späteren Verlauf des 20. Jahrhun-       die Perspektive auf Sexualität und Sexualauf-
    derts verschoben sich die Motive erneut: Eine       klärung. Seit den 1960er Jahren hat sich die
    geschlechtsdifferenzierte Erziehung zu Mann         Perspektive um liberale und emanzipatorische
    und Frau und zu „Liebesfähigkeit“ wurde als         Ansätze maßgeblich erweitert.
    wichtig angesehen, um die traditionelle Klein-
    familie zu stützen und die Scheidungsrate zu        Medien vermitteln ebenfalls sexuelles Wissen
    reduzieren. Ab den 1970er Jahren sollten vor        und sind für Jugendliche nicht zuletzt deswe-
    allem Teenager-Schwangerschaften und Ab-            gen wichtig, weil ansonsten kaum sexuelle In-
    treibungen verhindert werden, ab den 1980er         formationen verfügbar sind, die der jugendli-
    Jahren rückten AIDS-Prävention und Prävention       chen Lebenswelt entsprechen. Die Panik vor
    sexueller Gewalt in den Mittelpunkt staatlicher     der negativen Beeinflussung der Jugend durch
    Interessen.                                         sexuelles Bildmaterial in den Medien hat dabei
                                                        eine lange Geschichte: Während Erwachsene
    Wer ist überhaupt                                   früher einen „schlechten Einfluss“ der Jugend-
    für sexuelle Bildung zuständig?                     romane und Illustrierten und später der Kino-
    Der Staat war historisch jedoch nicht die           filme und Jugendzeitschriften befürchteten,
    einzige – und auch nicht immer wichtigste –         ist heute das Informationsangebot im Internet
    Instanz in der Entwicklung der Sexualpäda-          und dabei vor allem Pornografie der Haupt-
    gogik. In den 1970er Jahren waren es vor            grund pädagogischer Besorgnis. Eine alters-
    allem Studierende, Lehrer*innen, politische         gerechte Begleitung der sexuellen Entwicklung
    Bewegungen und die Frauenbewegung, die              erfordert daher auch, sich mit konkurrierenden
    in den deutschsprachigen Ländern forderten,         Informationsangeboten auseinanderzusetzen

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und an die Lebensrealität von Kindern und          nur in Österreich ein Problem; auch in vielen
Jugendlichen anzuschließen.                        anderen Ländern vermeiden Lehrer*innen und
                                                   Pädagog*innen sexualpädagogische Aufgaben.
War sexuelle Aufklärung ursprünglich vor allem     Die internationale Forschung zeigt dafür
der Familie vorbehalten, begann in den 1960er      zumindest zwei historische Gründe auf (Zim-
Jahren Kritik an der mangelhaften Aufklärung       merman 2015). Einerseits war das kindgerechte
der Jugend aufzukommen. Lehrer*innen er-           Sprechen über Sexualität bei vielen Lehrer*in-
schienen zunehmend als die besser geeigneten       nen nicht Teil ihrer Ausbildung. Andererseits
Sexualpädagog*innen, weil die Eltern das The-      gab es Ängste, dass ihre eigene Sexualität –
ma Sexualität oft nicht mit ihren Kindern be-      etwa bei unverheirateten oder homosexuellen
sprechen wollten. Seit 1970 ist in Österreich      Pädagog*innen – kritisch kommentiert würde.
ein Erlass in Kraft, der vorschreibt, dass alle    In diesem Zusammenhang ist interessant zu
Pädagog*innen in allen Unterrichtsfächern          wissen, dass 2004 der Diskriminierungsschutz
altersadäquat mit Kindern (auch) über Se-          in der österreichischen Arbeitswelt ausgedehnt
xualität sprechen sollen (Grundsatzerlass Se-      wurde: Im Job darf niemand aufgrund der
xualpädagogik 2015). Trotz staatlichem Auftrag     sexuellen Orientierung benachteiligt werden.
unterrichteten Lehrer*innen in der Praxis dieses   Das gilt natürlich auch für Lehrer*innen. Darüber
heikle Thema jedoch oft nicht, beziehungsweise     hinaus hat sich die Akzeptanz sexueller Bildung
wenn, dann deutlich eingeschränkter, als es        erhöht und es gibt eine Vielzahl sexualpäda-
der staatliche Auftrag vorsieht. Das ist nicht     gogischer Fortbildungsangebote in Österreich.

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Was ist sexuelle Bildung?
    Historisch hat sich nicht nur
    stark verändert, wer für se-
    xuelle Bildung zuständig ist,
    sondern auch, was darunter
    überhaupt verstanden wird.
    Zu Beginn des 20. Jahrhun-
    derts wurde menschliche Se-
    xualität noch kaum im schu-
    lischen Kontext besprochen.
    Es war jedoch durchaus üb-
    lich, über die Fortpflanzung
    von Pflanzen und Tieren zu
    sprechen – in der Hoffnung,
    die Kinder würden daraus
    schon ihre eigenen Schlüs-
    se ziehen. Außerdem wurde
    angenommen, dass es für Kinder besser sei,
    wenn ihre Neugier nicht „geweckt“ würde und        adressiert wurden, weibliches Begehren jedoch
    Fragen unbeantwortet blieben, um ein früh-         nicht thematisiert wurde. In Unterrichtsmate-
    zeitiges Erwachen der Sexualität und einen         rialien wurden außerdem die weiblichen Ge-
    etwaigen Schaden zu vermeiden. Diese Sicht         schlechtsorgane oft nicht korrekt dargestellt
    wird von Sexualpädagog*innen bereits seit          und benannt. Dazu kam, dass sexuelle Orien-
    vielen Jahren nicht mehr vertreten: Kinder         tierungen wie etwa Homosexualität als ab-
    werden durch externe Einflüsse nicht ursprüng-      weichendes Verhalten charakterisiert und his-
    lich „sexualisiert“, sondern sie sind von Geburt   torisch oft in einem Atemzug mit Inzest oder
    an sexuelle Wesen, die in ihrer Entwicklung –      Pädophilie thematisiert wurden. Erst in den
    auch ihrer sexuellen Entwicklung – begleitet       letzten Jahren wurden die Vielgestaltigkeit
    werden müssen (siehe Kapitel „Sexuelle Ent-        biologischer und sozialer Geschlechtlichkeit
    wicklung(en) in Kindheit und Jugend“). Sie         (mehr als zwei Geschlechter) sowie sexueller
    haben ein Recht auf Informationen und sexual-      Orientierungen und Begehren (Sexualitäten
    pädagogische Begleitung von frühester Kind-        in der Mehrzahl) zum allgemeinen sexual-
    heit an. Wissenschaftliche Forschungen zeigen,     pädagogischen Wissen (siehe Kapitel „Ge-
    dass sexuelle Bildung sexuelle Aktivitäten von     schlechtliche und sexuelle Vielfalt“).
    Kindern nicht negativ beeinflusst (WHO/BZgA
    2011, S. 24). In vielen europäischen Ländern       Generell wurden Sexualität, sexuelles Begehren
    orientiert sich das schulische Angebot deshalb     und Pubertät lange Zeit nur als „Risiko“ und
    an einer sogenannten „holistischen Sexualpä-       „Gefahr“ gesehen: Es drohten Geschlechts-
    dagogik“, die Menschen ganzheitlich in ihrer       krankheiten, ungewollte Elternschaft oder
    sexuellen Entwicklung begleitet (WHO/BZgA          sexuelle Gewalt. Sexualpädagogik wollte hier
    2011).                                             durch Information und Aufklärung Abhilfe
                                                       schaffen. Die Bedrohungen sollten die einzelnen
    Trotz der medial verbreiteten Sexualisierung       Jugendlichen für sich zu meistern lernen. Das
    von jugendlichen Frauenkörpern war das             „Risikomanagement“ bestand vor allem darin,
    Sprechen über die Sexualität von Frauen lange      an Jugendliche zu appellieren, Sexualität zu
    Zeit viel stärker tabuisiert als die Sexualität    einer „wohlüberlegten autonomen Entschei-
    von Männern. Bereits 1988 wurde in einem in-       dung“ zu machen. Das emotionslose Entschei-
    ternational viel beachteten Forschungsartikel      dungsverhalten im Trockentraining hatte jedoch
    von Michelle Fine kritisiert, dass Mädchen im      oft wenig mit der Realität sexueller Erfahrungen
    sexualpädagogischen Unterricht zwar als Opfer      zu tun. Auch ungleiche soziale Bedingungen

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sexueller Entscheidungs- und Handlungsmacht       stimmung zu verwirklichen, müssen auch die
wurden dabei nicht berücksichtigt: Sozial ein-    sozialen und kulturellen Bedingungen sexueller
flussreiche Personen können sich der Sexualität    Selbstbestimmung gefördert werden (Fields
oder auch der Beschämung bedienen, um             et al. 2015; WHO/BZgA 2011). Sexualpädagogik
Macht auszuüben – und sozial benachteiligte       muss daher Benachteiligung und soziale
Personengruppen sind dafür besonders ver-         Hierarchien berücksichtigen – etwa zwischen
letzlich.                                         Jugendlichen mit unterschiedlichem Begehren,
                                                  sozialem oder biologischem Geschlecht und
Die Forschung zeigt demgegenüber, dass se-        sozioökonomischen Ressourcen genauso wie
xuelle Risiken nur sinnvoll zu reduzieren sind,   mit unterschiedlicher Religion, Hautfarbe oder
wenn offen auch über Emotionen wie Lust           Sprache sowie mit Behinderungen. Sexuelle
und Begehren, Ängste und Scham gesprochen         Bildung hat im 21. Jahrhundert deshalb –
werden kann (Fine 1988; IPPF 2016, S. 9). Um      neben den sexologischen und pädagogischen
für mehr Menschen mehr sexuelle Selbstbe-         Grundlagen – sowohl einen psychologischen
                                                  als auch einen gesellschaftswissenschaftlichen
                                                  Hintergrund.

                                                  Sie hat sich von der Risikoprävention und den
                                                  früheren Gefahrenbotschaften wegentwickelt
                                                  und versteht sich heute als Begleitung der se-
                                                  xuellen Entwicklung (siehe Kapitel „Sexuelle
                                                  Entwicklung(en)“). Sexuelle Bildung bezieht
                                                  sich damit auf den ganzen Lebenslauf, wobei
                                                  Sexualpädagogik in Schulen davon nur ein
                                                  Teil ist.

                                                  Wie wird sexuelle Bildung unterrichtet?
                                                  Die international führenden sexualpädagogi-
                                                  schen Organisationen haben sich in den letzten
                                                  Jahren von Wertfragen stark distanziert. Wert-
                                                  haltungen sind sehr unterschiedlich, sowohl
                                                  bezogen auf Sexualität allgemein als auch auf
                                                  die Frage, wie sexuelle Bildung aussehen soll
                                                  (Jones 2011). Es gibt also verschiedene Zugänge
                                                  zu dem Thema, weshalb sexualpädagogisch
                                                  tätige Personen ihre eigenen, aber auch ge-
                                                  sellschaftliche Werthaltungen kritisch reflek-
                                                  tieren müssen (WHO/BZgA 2011, S. 35). Ab-
                                                  gesehen von einer klaren Positionierung gegen
                                                  Zwang, Diskriminierung und Gewalt ist Sexu-
                                                  alpädagogik daher respektvoll und offen ge-
                                                  genüber unterschiedlichen sexuellen Werthal-
                                                  tungen. In den letzten Jahren ist vor allem
                                                  eine „interkulturelle Sexualpädagogik“ zu einem
                                                  Thema geworden, das in Österreich besonders
                                                  politisiert ist. Tatsächliche und vermutete Un-
                                                  terschiede zwischen den Werthaltungen in
                                                  verschiedenen Ländern lenken den Blick nicht
                                                  nur auf „die Anderen“ – auch innerhalb Öster-
                                                  reichs gibt es verschiedene sexuelle „Kulturen“:

                                                                                                     7
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Die historischen Auseinandersetzungen um
    eine professionelle Sexualpädagogik in Öster-
    reich zeigen, dass sexuelle Werthaltungen sehr
    unterschiedlich und ein kontroverses Thema
    sind. Kontroverse Werthaltungen kommen
    auch regelmäßig auf, wenn es um das noch
    wenig beachtete Thema „Sexualität und Be-
    hinderung“ geht (siehe Kapitel „Sexualpäda-
    gogisches Arbeiten im Kontext mit Behinde-
    rung“). Einer ganzheitlichen Sexualpädagogik
    ist es daher ein Anliegen, sich mit unterschied-
    lichen Werten und diskriminierenden Haltungen
    auseinanderzusetzen – gemeinsam mit Päda-
    gog*innen, Erwachsenen und Betreuungsper-              Eine holistische Sexualpädagogik berücksichtigt
    sonen, wie auch mit Kindern und Jugendlichen.          daher neben Wissen auch Emotionen und Be-
    Die in der Sexualpädagogik angewandten di-             ziehungen, und unterstützt die Entwicklung
    daktischen Methoden zielen darauf ab, dort             von Körperkompetenzen im Alltag (Grundsatz-
    anzuschließen, wo die Kinder, Jugendlichen             erlass 2015). Ein positiver und lustorientierter
    oder Erwachsenen stehen – und das ist je               Zugang zu Sexualität wird mit sexuellen Rechten
    nach Gruppe sehr unterschiedlich. Daher sind           und wechselseitiger Zustimmung (siehe Kapitel
    Referent*innen flexibel – ein wichtiger Unter-          „Wenn Gewalt zum Thema wird“) verbunden.
    schied zu sexualpädagogischen Programmen,
    die auf die Vermittlung klarer Werte, Verhal-
    tensnormen und Gefahrenbotschaften abzie-              Dr.in Barbara Rothmüller
    len.                                                   ist Soziologin mit Schwerpunkt
                                                           Geschlechter- und Sexualitäts-
    Die Fachstelle orientiert sich dabei an interna-       forschung sowie Bildungsungleichheiten;
    tionalen Standards einer ganzheitlichen Se-            Universitätslektorin am Institut für Soziologie
    xualpädagogik und dem österreichischen                 der Universität Wien und dem Institut für
    Grundsatzerlass, über deren Qualität ein hoher         Erziehungswissenschaft der Universität
    Konsens besteht. Sexualpädagogik definiert              Innsbruck; Mitarbeiterin im Projekt
    sich darin als entwicklungsbegleitende Arbeit          „Imagining Desires“ am Institut für Kunst- und
    an Menschenrechten, Geschlechtergerechtig-             Kulturpädagogik der Akademie der bildenden
    keit, Respekt und Anerkennung von Vielfalt             Künste Wien.
    und Gesundheitsförderung. Sexuelle Gesundheit
    ist definiert als                                       Literaturverzeichnis:
                                                           • BMBF - Bundesministerium für Bildung und Frauen (2015):
        ein Zustand körperlichen, emotionalen, men-          Grundsatzerlass Sexualpädagogik. Online unter:
                                                             https://bildung.bmbwf.gv.at/ministerium/rs/2015_11.pdf?61edq8
        talen und sozialen Wohlbefindens in Bezug           • Fields, Jessica / Gilbert, Jen / Miller, Michelle (2015): „
                                                             Sexuality and Education: Toward the Promise of Ambiguity.“
        auf Sexualität; es ist nicht nur die Abwesenheit     In: DeLamater, John / Plante, Rebecca (Hg.): Handbook of the
                                                             Sociology of Sexualities. Springer, S. 371-387.
        von Krankheit, Funktionsstörungen oder             • Jones, Tiffany (2011): „A sexuality education discourses framework:
                                                             Conservative, liberal, critical, and postmodern.“
        Schwäche. Sexuelle Gesundheit erfordert              In: American Journal of Sexuality Education 6(2): S. 133-175.
                                                           • Koch, Friedrich (2013): „Zur Geschichte der Sexualpädagogik.“
        einen positiven und respektvollen Umgang             In: Schmidt, Renate-Berenike / Sielert, Uwe (Hg.): Handbuch
                                                             Sexualpädagogik und sexuelle Bildung. 2. Aufl. Weinheim:
        mit Sexualität und sexuellen Beziehungen             Beltz Juventa, S. 25-40.
                                                           • IPPF International Planned Parenthood Federation (2016):
        sowie die Möglichkeit, lustvolle und sichere         Everyone’s Right to Know: Delivering Comprehensive Sexuality
                                                             Education for All Young People. London.
        sexuelle Erfahrungen frei von Zwang, Dis-          • Michelle Fine (1988) Sexuality, Schooling, and Adolescent Females: The
                                                             Missing Discourse of Desire. Harvard Educational Review: April 1988,
        kriminierung und Gewalt zu machen. Um                Vol. 58, No. 1, pp. 29-54.
                                                           • WHO Regional Office for Europe & Bundeszentrale für gesundheitliche
        sexuelle Gesundheit zu erreichen und zu              Aufklärung (2011): Standards für die Sexualaufklärung in Europa.
                                                             Rahmenkonzept für politische Entscheidungsträger,
        bewahren, müssen die sexuellen Rechte aller          Bildungseinrichtung, Gesundheitsbehörden, Expertinnen und Experten.
                                                             Köln. Online unter: https://www.bzga-whocc.de/fileadmin/user_upload/
        Menschen respektiert, geschützt und realisiert       WHO_BZgA_Standards_deutsch.pdf
                                                           • Zimmerman, Jonathan (2015): Too hot to handle: A global history of sex
        werden (WHO/BZgA 2011, S. 19).                       education. Princeton, MA: Princeton University Press.

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Sexuelle Entwicklung(en)
und Entwicklungschancen in
Kindheit und Jugend
Die sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen
verläuft nicht nur sehr unterschiedlich.
Auch der Blick auf kindliche Sexualitäten hat sich in den letzten
Jahrzehnten sehr stark verändert.

Kinder wurden lange Zeit entweder als asexuell   rationen gesehen: Sexuelle Praktiken markieren
oder als „kleine Erwachsene“ betrachtet. Es      die Grenze zwischen Kindern und Erwachsenen
wurde nicht systematisch zwischen kindlicher     (ebd.). Weder auf der Basis wissenschaftlicher
und erwachsener Sexualität unterschieden.        Forschungen noch pädagogischer Beobach-
Demgegenüber wird heute davon ausgegan-          tungen lässt sich diese Sichtweise jedoch auf-
gen, dass sich zwar die Sexualitäten von Er-     rechterhalten. Häufig handelt es sich dabei
wachsenen aufbauend auf den kindlichen und       um ein Missverständnis: Die Zurückweisung
jugendlichen Erfahrungen entwickeln. Erwach-     kindlicher Sexualität beruht teilweise darauf,
sene Sexualität wird jedoch als qualitativ       dass Sexualität alltagssprachlich mit Ge-
grundsätzlich anders strukturiert gesehen als    schlechtsverkehr gleichgesetzt wird, der für
kindliche Sexualität (Quindeau/Brumlik 2012).    Kinder tatsächlich keine Rolle spielt. Die kind-
                                                 liche Sexualität orientiert sich nämlich an an-
Dass Kinder überhaupt eine eigene Sexualität     deren Parametern als jene der Erwachsenen.
haben sollen, wird von „besorgten Eltern“ und    Nichtsdestotrotz sind Kinder bereits ab dem
Pädagog*innen in den letzten Jahren immer        Beginn ihrer Existenz sexuelle Wesen. Sie er-
wieder bestritten. Eine glückliche Kindheit      werben von klein auf Kompetenzen und ma-
scheint für sie darauf zu beruhen, dass diese    chen Erfahrungen, die ihre Sexualität prägen
asexuell verläuft: Sexualität wird zum päda-     (Quindeau/Brumlik 2012). Sexualpädagogisch
gogischen Bedrohungsszenario (König 2017).       wird davon ausgegangen, dass sexuelle Ent-
Sexualität zu haben oder nicht zu haben wird     wicklungen mit der menschlichen Existenz
als zentraler Unterschied zwischen den Gene-     beginnen und auch im Erwachsenenalter nicht

                                                                                                    9
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in manchen Bereichen – wie etwa der
                                                                    Selbststimulation – ein ähnliches Se-
                                                                    xualverhalten bei Kindern wie bei Er-
                                                                     wachsenen beobachtet werden kann
                                                                     (was wissenschaftlich als homologes
                                                                     Modell kindlicher Sexualität bezeichnet
                                                                     wird), besteht insbesondere auf der
                                                                     Ebene der Bedeutung sexuellen Ver-
                                                                      haltens ein großer Unterschied. Kinder
                                                                      spüren zwar bereits sehr früh soziale
                                                                      Werte und Normen im Verhalten der
                                                                      Betreuungspersonen, trotzdem sind
                                                                      ihnen diese für die emotionale und
                                                                      körperliche Gestaltung noch nicht
                                                                       verfügbar. Während Erwachsene also
                                                                       kindliches Verhalten als sexuell inter-
                                                                       pretieren und einordnen, wird das-
                                                                       selbe Verhalten von Kindern wohl
                                                                       eher als ein unmittelbares Lusterleben
                                                                       erfahren, womöglich zur Kompen-
                                                                        sation von Frustrationserfahrungen
                                                                        (Wanzeck-Sielert 2013, S. 355). Die
                                                                        Bedeutung von Sexualität und se-
                                                                        xuellem Verhalten unterscheidet sich
                                                                        somit qualitativ zwischen Kindern
     abgeschlossen sind. Die Rede von einer Se-            und Erwachsenen, was als heterologes Modell
     xualisierung von an sich asexuellen Kindern           kindlicher Sexualität bezeichnet wird.
     ist daher irreführend. In welcher Weise sich
     kindliche und erwachsene Sexualität dennoch           Die sexuellen Entwicklungen von Kindern und
     unterscheiden, wird in der Folge näher ausge-         Jugendlichen sind dabei Teil ihrer Gesamtent-
     führt.                                                wicklung, die maßgeblich vom sozialen Umfeld
                                                           geprägt wird. So unterschiedlich wie die Le-
     Sexualpädagogisch wird mit einem breiteren            bensbedingungen des Aufwachsens von Kindern
     Sexualitätsbegriff gearbeitet als das alltags-        sind, so unterschiedlich verlaufen auch die se-
     sprachlich üblich ist. Sexualität meint prinzipiell   xuellen Entwicklungen. Es gibt daher keine
     die menschliche Fähigkeit zur sexuellen Erre-         „Normalentwicklung“ von Sexualität, von der
     gung und bezieht sich auf emotionale, kör-            sich „Fehlentwicklungen“ abgrenzen ließen.
     perliche, kognitive und soziale Dimensionen           Obwohl in der Literatur sexuelle Entwicklungs-
     sexuellen Erlebens. Im Lebensverlauf ändern           stufen beschrieben werden (vgl. etwa WHO
     sich sexuelle Fantasien, Anziehungen, Begehren,       2011), sind diese nur als häufige, oft ähnlich
     sexuelle und romantische Präferenzen, Werte,          verlaufende Phasen zu verstehen, von denen
     Verhalten und Praktiken, Körperkompetenzen,           alle Individuen in mehr oder weniger starker
     Identitäten und Beziehungsformen. Kindliche           Weise abweichen. Wie sich sexuelle Erfahrungen
     Sexualität wird üblicherweise von einer er-           jeweils biografisch in einem bestimmten Kontext
     wachsenen Sexualität dadurch abgegrenzt,              aufschichten, kann mit dem wissenschaftlichen
     dass Kinder Lust-Erfahrungen mit dem ganzen           Modell sexueller Entwicklung nicht vorhergesagt
     Körper und ichbezogen erleben. Sexuelles Ver-         werden. In der pädagogischen Arbeit mit Kin-
     halten wie beispielsweise genitale Selbststimu-       dern und Jugendlichen ist diese Offenheit der
     lation hat für sie eine andere Bedeutung als für      Entwicklungen und ihre Abhängigkeit von den
     Jugendliche oder Erwachsene. Während also             Deutungen und Interventionen der Betreu-

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ungspersonen zu berücksichtigen. Dies gilt bei-     im engeren Betreuungskontext wie auch in der
spielsweise auch für den Verlauf geschlechtlicher   Auseinandersetzung mit anderen Kindern und
Entwicklungen oder für die Bewältigung sexu-        Erwachsenen sowie den Medien.
eller Gewalterfahrungen im Lebensverlauf.
                                                    In den ersten Lebensjahren sind alle Formen
Nähe und Zuwendung werden in der frühen             des lustvollen Bewegens des Körpers wie
Kindheit sehr stark über die Haut erfahren.         Schaukeln und Hüpfen oder Singen und Tanzen
Eine liebevolle und verlässliche Befriedigung       auch als sexualpädagogische Entwicklungs-
von Bedürfnissen ist zentral, damit vertrauens-     erfahrungen einzuordnen. Sauberkeitserziehung
volle Bindungen, stabile Ich-Entwicklung und        wird zu einer Art erstem Testlauf von sozialer
eine positive Haltung zum eigenen Körper und        Autonomie und körperlicher Selbständigkeit,
zu Lust aufgebaut werden können. Angenehme          in dem Scham-, Lust- und Machtgefühle bei
Körpererfahrungen bzw. der Umgang mit Frus-         Kindern teilweise stark ausgeprägt werden.
tration prägen die weiteren psychosexuellen         Im Kontext von sozialen Gruppen werden (u.a.
Entwicklungen, u.a. beim Wickeln, Nacktsein,        geschlechtliche) Abgrenzungen und (u.a. se-
Baden oder Nuckeln an Brust bzw. Fläschchen.        xualisierte) Provokationen relevant: Eine se-
Dabei erfahren schon Babys Anspannung und           xualisierte Sprache und Schimpfwörter werden
Entspannung als fundamentale Lustprinzipien.        in der mittleren Kindheit oft enthusiastisch
Kleine Kinder sind neugierig und entdecken          verbreitet und markieren, dass sich Kinder mit
ihren eigenen Körper, die Welt und zunehmend        sexuellen Themen auseinandersetzen. Auch
auch soziale Beziehungen u.a. in Rollenspielen.     werden nach und nach explizite Fragen zu
Es finden wichtige Prägungen auf der psycho-         Sexualität formuliert. Weniger wahrnehmbar
sozialen und körperlichen Ebene statt, sowohl       sind demgegenüber oft die kindlichen Initiativen
                                                                       zur Entdeckung ihres Kör-
                                                                       pers und des Körpers an-
                                                                       derer Kinder. Die als Fami-
                                                                       lien- oder „Doktorspiele“
                                                                       bekannten Erkundungsspie-
                                                                       le werden häufig vor Er-
                                                                       wachsenen verborgen, was
                                                                       darauf hinweist, dass Kinder
                                                                       früh spüren, dass diese Spie-
                                                                       le tabuisiert sind. Inwieweit
                                                                       Körperscham in der mittle-
                                                                       ren Kindheit zunimmt, ist
                                                                       sehr kontextspezifisch, je-
                                                                       doch ebenfalls ein häufig
                                                                       beobachtbares Phänomen
                                                                       (Schurke 2005).

                                                                       Die pubertären Körperver-
                                                                       änderungen stellen Jugend-
                                                                       liche schließlich vor vielfäl-
                                                                       tige Herausforderungen.
                                                                       Gruppenpositionen werden
                                                                       häufig ausgehandelt, indem
                                                                       das soziale Geschlecht über-
                                                                       steigert dargestellt wird: Der
                                                                       Druck, ein „echter“ Mann
                                                                       oder eine „richtige“ Frau zu

                                                                                                        11
werden, erzeugt Druck auf Jugendliche, sich –      Ausgrenzung wegen Armut oder Rassismus,
     meist affirmativ – zu den traditionellen Männ-     aber auch Homo- oder Transphobie sowie die
     lichkeits- und Weiblichkeitsnormen sowie zu        Unsichtbarkeit sexueller Minderheiten ungleiche
     Erwartungen an körperliche Attraktivität und       Entwicklungschancen sexueller Gesundheit
     Heterosexualität zu verhalten. Dabei entziehen     (siehe Kapitel „Wie kommt die Sexualität in
     sich Jugendliche oft der Auseinandersetzung        die Schule?“). Nachdem Sexualpädagogik der
     mit sexuellen Themen im Familienkontext: In-       entwicklungsbegleitenden Förderung sexueller
     timität, Vertrauen und Distanz werden im Be-       Gesundheit verpflichtet ist, liegt es auch im
     treuungssetting neu ausgehandelt. Was es se-       Aufgabenbereich von sexualpädagogisch Tä-
     xuell zu wissen und zu tun gilt, vermitteln zu-    tigen, diese fördernden Rahmenbedingungen
     nehmend Freund*innen und spezielle Medien-         sexueller Entwicklungen sicherzustellen.
     angebote.

     Eltern, Pädagog*innen und Lehrpersonen kön-        Dr.in Barbara Rothmüller
     nen sexuelle Entwicklungsprozesse durch pas-       ist Soziologin mit Schwerpunkt
     sende Bewegungsangebote, Wissensvermitt-           Geschlechter- und Sexualitäts-
     lung sowie emotionale und soziale Bildungs-        forschung sowie Bildungsungleichheiten;
     angebote begleiten. Um die Eigenlogik kind-        Universitätslektorin am Institut für Soziologie
     licher und jugendlicher sexueller Entwicklungen    der Universität Wien und dem Institut für
     überhaupt wahrnehmen zu können, ist eine           Erziehungswissenschaft der Universität
     Reflexion von Werthaltungen ein wichtiger           Innsbruck; Mitarbeiterin im Projekt
     erster Schritt. Denn biografisch entwickelte        „Imagining Desires“ am Institut für Kunst- und
     Überzeugungen und gesellschaftliche Wert-          Kulturpädagogik der Akademie der bildenden
     haltungen beeinflussen, wie sexuelle Aus-           Künste Wien.
     drucksformen von Kindern und Jugendlichen
     in der pädagogischen Praxis bewertet wer-          Literaturverzeichnis:
                                                        • König, Julia (2017): „Der sexuelle Kinderkörper. Erkenntnistheoretische
     den – und damit auch die möglichen Verläufe          und historische Annäherungen.“ In: Zeitschrift für Soziologie der
                                                          Erziehung und Sozialisation 37(1): S. 10-24.
     sexueller Entwicklungen. Darüber hinaus prägen     • Quindeau, Ilka / Brumlik, Micha (Hg.) (2012):
                                                          Kindliche Sexualität. Beltz Juventa.
     aber auch ungleiche soziale Bedingungen des        • Schuhrke, Bettina (2005): Kindliche Körperscham und familiale
                                                          Schamregeln: eine Studie im Auftrag der BZgA. 9. Aufl. Köln.
     Aufwachsens sowie Diskriminierungsstrukturen       • Wanzeck-Sielert, Christa (2013): „Sexualität im Kindesalter.“ In: Schmidt,
                                                          Renate-Berenike / Sielert, Uwe (Hg.): Handbuch Sexualpädagogik und
     sexuelle Entwicklungsprozesse: Die sexuelle          sexuelle Bildung. 2. Aufl. Weinheim: Beltz Juventa, S. 355-363.
                                                        • WHO Regional Office for Europe & Bundeszentrale für gesundheitliche
     Entwicklung lässt sich nicht von der allgemeinen     Aufklärung (2011): Standards für die Sexualaufklärung in Europa.
                                                          Rahmenkonzept für politische Entscheidungsträger,
     Entwicklung abtrennen. Daher bedingen sowohl         Bildungseinrichtung, Gesundheitsbehörden, Expertinnen und Experten.
                                                          Köln. https://www.bzga-whocc.de/fileadmin/user_upload/WHO_
     ungleiche Geschlechterverhältnisse, soziale          BZgA_Standards_deutsch.pdf.

12
Geschlechtliche und
sexuelle Vielfalt in der sexuellen
Bildung
Mit unterschiedlichen Zugängen und Schwerpunkten ist in den
vergangenen Jahren die Vielfalt in die Pädagogik eingekehrt.

Unter Vielfalt wird die geschlechtliche, kulturelle   leinerziehenden Eltern oder in Patchwork-
und soziale Verschiedenheit von Menschen              Familien leben, die schwule, lesbische oder
verstanden (vgl. Perko 2015, S. 69). Menschen         bisexuelle2 Eltern oder Verwandte haben oder
können in Bezug auf unterschiedliche, gesell-         selbst so empfinden, die intergeschlechtlich3
schaftlich zugewiesene Kategorien – wie z.B.          sind oder sich nicht mit dem Geschlecht iden-
Alter, geographische Herkunft, soziale Her-           tifizieren, das ihnen bei der Geburt zuge-
kunft/Klasse, Migration, kulturelle Herkunft,         schrieben wurde (vgl. Vasold 2016, S. 7).
Religionszugehörigkeit, Aussehen, Hautfarbe,
Behinderung, Gender/Queer oder sexuelles              Zweigeschlechtlichkeit
Begehren – Diskriminierungen erfahren. Diese          und Heterosexualität als Norm
Kategorien nehmen Einfluss darauf, inwieweit           Die geschlechtliche und sexuelle Identität eines
Menschen diskriminiert oder privilegiert werden.      Menschen umfasst „die Vielfalt von möglichen
Der folgende Artikel thematisiert aus diskri-         Geschlechterrollen, sexuellen Orientierungen
minierungskritischer1 Perspektive Herausfor-          und Lebensweisen in unterschiedlichen Lebens-
derungen und Möglichkeiten im Umgang mit              phasen“ (LI Hamburg 2014, S. 9). Demgegen-
geschlechtlicher und sexueller Vielfalt im Kon-       über ist in Österreich wie auch weltweit die
text sexueller Bildung.                               Vorstellung von zwei biologisch angeborenen
                                                      und nicht veränderbaren Geschlechtern vor-
Der 2015 neu überarbeitete Grundsatzerlass            herrschend. Von feministischen Wissenschaft-
Sexualpädagogik verankert die „Vielfalt der           ler*innen wurde der Begriff „gender“ eingeführt,
Lebensformen“ in der schulischen Sexualpä-            um die subjektive Geschlechtsidentität einer
dagogik in Österreich: „Sexualpädagogik (…)           Person – also ob und wie sehr sie sich männlich,
soll sich am Prinzip der Gleichstellung der Ge-       weiblich oder als etwas anderes fühlt – sowie
schlechter sowie der Vielfalt der Lebensformen        die gesellschaftlichen Erwartungen, die an
(z.B. sexuelle Orientierung, Geschlechteriden-        „männlich“ oder „weiblich“ gestellt werden,
titäten) orientieren (…) und an internationalen       zu beschreiben. Der englische Begriff „sex“
Menschenrechten ausgerichtet sein“ (Grund-            hingegen steht für das biologische Geschlecht,
satzerlass Sexualpädagogik 2015). Die harmlos         welches sich auf Chromosomensätze, Keim-
klingende „Vielfalt“ ist dabei keineswegs un-         drüsen, Hormone und Geschlechtsorgane be-
umstritten. Konservative und rechtspopulisti-         zieht. Doch biologische Forschungen erschüt-
sche Gruppierungen attackieren emanzipato-            tern auch die Existenz zweier eindeutiger bio-
rische Sexualpädagogik als „Indoktrinierung“,         logischer Geschlechter, indem sie die große
„Früh- und Zwangssexualisierung“, „Schwulen-
                                                      1
                                                          Hintergrundinformationen, Literaturhinweise und Ressourcen zum
propaganda“ oder gar als „Kindesmissbrauch“               diskriminierungskritischen Bildungskonzept „Social Justice and
                                                          Diversity-Konzept“ (Czollek/Perko/Weinbach) finden sich auf der
(vgl. Karlheinz Valtl & Verein liebenslust* 2017;         Website des Instituts für Social Justice und Diversity:
                                                          www.social-justice.eu
Vasold 2016).                                         2
                                                          Als schwul wird die gleichgeschlechtliche romantische und/oder
                                                          sexuelle Anziehung von Männern bezeichnet. Als lesbisch wird die
                                                          gleichgeschlechtliche romantische und/oder sexuelle Anziehung von
                                                          Frauen bezeichnet. Als bisexuell bezeichnen sich Menschen, die sich
Doch geschlechtliche und sexuelle Vielfalt ist            romantisch und/oder sexuell zu mindestens zwei Geschlechtern
                                                          hingezogen fühlen.
Realität: Als Pädagog*innen begegnen wir all-         3
                                                          Intergeschlechtliche Menschen werden mit genetischen und/oder
                                                          anatomischen und/oder hormonellen Geschlechtsmerkmalen geboren,
täglich Kindern und Jugendlichen, die mit al-             die nicht den Geschlechternormen von Mann und Frau entsprechen.

                                                                                                                                13
Vielfalt von „männlichen“ und „weiblichen“                                   vom UN-Komitee gegen Folter als Menschen-
     Körpern aufzeigen (vgl. Voß 2013). Neben                                     rechtsverletzungen verurteilten, geschlechts-
     einer großen Differenz innerhalb der Kategorien                              verändernden Eingriffen.
     „Mann“ und „Frau“ werden laut Intersex Human
     Rights Australia 1,7 Prozent4 aller Menschen                                 Die Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit
     als intergeschlechtlich geboren, was in etwa                                 blendet vielfältige Geschlechtsidentitäten – z.B.
     dem Anteil rothaariger Menschen entspricht                                   trans5, intergeschlechtlich, queer6 oder non-
     (Dalhoff/Eder 2016, S. 88). Obwohl interge-                                  binary7 – aus und ist eng mit der Vorstellung
     schlechtlich geborene Kinder genauso gesund                                  von Heterosexualität als Norm verknüpft. He-
     sind wie weibliche oder männliche Babys, wer-                                terosexualität8 wird als einzige oder einzig „nor-
     den sie häufig kurz nach ihrer Geburt mit                                     male“ Sexualität überall vorausgesetzt. Lesbi-
     massiven, irreversiblen geschlechtsverändern-                                sche, schwule, bi-, pan9 - oder asexuelle10 Le-
     den medizinischen Eingriffen und in den meis-                                bensweisen werden als „krank“ oder „unnatür-
     ten Fällen ohne jegliche medizinische Not-                                   lich“ abgewertet, als „neugierige und vorüber-
     wendigkeit geschlechtlich normiert (Hechler                                  gehende Phase“ nicht ernst genommen oder
     2012, S. 127). Der „Verein intergeschlechtlicher                             als promiskuitiv diffamiert – und sind in Öster-
     Menschen Österreich“ und die Plattform „In-                                  reich heterosexuellen Lebensweisen rechtlich
     tersex Österreich“ fordern ein Verbot dieser,                                auch im Jahr 2018 nicht gleichgestellt. Studien
     4
                                                                                  zeigen, dass mehr als 85 Prozent der befragten
        Je nachdem wie eng oder weit die Definition von
        Intergeschlechtlichkeit gefasst wird, variieren Schätzungen von           lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans, inter-
        1 bis 4 Prozent. (vgl. Gruber 2018)
     5
        Als trans bezeichnen sich Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht      geschlechtlichen und queeren (LSBTIQ) Ju-
        dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht entspricht.
     6
        Queer heißt auf Englisch „schräg“ oder „falsch“ und galt lange Zeit als   gendlichen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung
        Schimpfwort vor allem für Schwule. Schwulen- und Lesben-
        bewegungen haben sich den Begriff mittlerweile positiv angeeignet.        oder ihrer Geschlechtsidentität Diskriminierung
        Dadurch wurde queer zu einer Selbstbezeichnung für all jene, die sich
        von der als Zwang empfundenen Zweigeschlechtlichkeit und                  in Form von verbalen Übergriffen, Mobbing
        Heterosexualität abgrenzen und gesellschaftliche

     7
        Selbstverständlichkeiten in Frage stellen wollen.                         und Cybermobbing – insbesondere im Eltern-
        Als non-binary bezeichnen sich Menschen, die sich weder eindeutig
        weiblich noch eindeutig männlich fühlen, sondern dazwischen, jenseits,    haus, in der Schule und am Arbeitsplatz –
        sowohl als auch oder situativ unterschiedlich.
     8
        Heterosexualität bezeichnet die romantische und/oder sexuelle             erleben oder erlebt haben (Krell 2013, S. 10f.).
        Anziehung zu Personen des anderen Geschlechts im Rahmen der

     9
        Zweigeschlechtlichkeit.                                                   Zudem berichten Studien über ein bis zu sechs-
        Pansexualität bezeichnet die sexuelle und/oder romantische Anziehung

     10
        zu Menschen unabhängig von deren geschlechtlicher Identität.              fach erhöhtes Suizidrisiko von LSBTIQ-Jugend-
        Als asexuell bezeichnen sich Menschen, die immer oder phasenweise
        kein sexuelles Begehren empfinden.                                         lichen (Nordt & Kugler 2012, S. 40).

14
Herausforderungen und Möglichkeits-
räume in der Thematisierung sexueller
und geschlechtlicher Vielfalt
Kinder und Jugendliche brauchen ein infor-
miertes, stärkendes und unterstützendes Um-
feld, das ihre vielfältigen Lebensrealitäten
gleichberechtigt anerkennt und sie dabei be-
gleitet, eine selbstbestimmte sexuelle und ge-
schlechtliche Identität zu entwickeln, sowie
Verbündete, die Diskriminierungen erkennen,
bei Ausgrenzung und Grenzverletzungen ein-
greifen und klar Stellung beziehen. Für Päda-
gog*innen entstehen dabei Herausforderungen,
aber auch spannende neue Handlungs- und
Möglichkeitsräume.

Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt meint
dabei weit mehr als LSBTIQ-Lebensweisen.
Anstatt intergeschlechtliche Geschlechtsorgane
als alleiniges Beispiel für Vielfalt heranzuziehen,
kann die generelle Vielfalt von Geschlechts-
organen als Ausgangspunkt für Diskussionen
rund um Schönheitsideale genommen werden.11
So können zum Beispiel beim Kneten vielfältiger
Geschlechtsorgane aus Salzteig Gespräche
über Anatomie, Lust, Selbstbefriedigung, aber
auch die Angst, nicht „normal“ oder „schön“
zu sein, entstehen. Wenn Kinder und Jugend-
liche korrekte Bezeichnungen für ihre eigenen
Geschlechtsorgane kennen, mit denen sie sich
auch wohl fühlen, und über den anatomischen
Aufbau ihrer Geschlechtsorgane Bescheid wis-          geschlossen werden, die sich in den Kategorien
sen, erhalten sie Kompetenzen, um eine lustvolle      „Mädchen“ und „Junge“ nicht wiederfinden.
eigene Sexualität zu entwickeln und Wünsche,          Auch ist eine geschlechterhomogene Gruppe
Ängste und Grenzen kommunizieren zu kön-              nicht automatisch ein geschützter Raum, da
nen.                                                  Menschen aufgrund vielfältiger Diskriminie-
                                                      rungsformen privilegiert und diskriminiert sein
In der Sexualpädagogik wird aus der Annahme           können. Dennoch können geschlechtshomo-
geteilter Erfahrungen häufig in geschlechts-           gene Räume als „paradoxe Intervention“ Sinn
homogenen Mädchen- und Burschen-Gruppen               machen, wenn sie widersprüchliche Erfahrun-
gearbeitet. Dabei besteht jedoch die Gefahr,          gen und Differenzen zulassen, eine Zuteilung
dass Geschlechterklischees festgeschrieben            nach Selbstdefinitionen ermöglichen und durch
werden, beispielsweise, wenn mit Mädchen-             vielfältige weitere Angebote (wie spezifische
gruppen vor allem zu Zyklus, „Jungfräulichkeit“12     Angebote für queere Jugendliche) sowie an-
und Verhütung gearbeitet wird, während lust-
volle Aspekte rund um Sexualität ausgespart           11
                                                         Vielma bietet vielfältige sexualpädagogische Materialien, wie bunte
                                                         Vulven, Penisse und intergeschlechtliche Genitalien aus Gips:
werden, und mit Jungengruppen hingegen                   http://www.vielma.at/materialien.html
                                                      12
                                                         Der Mythos, dass Menschen mit Vulva ein „Jungfernhäutchen“ besitzen,
vor allem Pornografie, Selbstbefriedigung und             welches beim Sport, Benutzen eines Tampons oder ersten vaginalen
                                                         Geschlechtsverkehr reißt, ist weit verbreitet. Ausführliche Informationen
Orgasmus thematisiert werden. Weiters besteht            zur Aufdeckung dieses Mythos sind beispielsweise in der Broschüre
                                                         „Mythos Jungfernhäutchen“ von Holla e.V. zu finden, bestellbar unter:
das Risiko, dass Kinder und Jugendliche aus-             http://holla-ev.de/broschuere

                                                                                                                                     15
dere Gruppeneinteilungen – beispielsweise         Vielfalt und sexuelle Orientierungen in leichter
     nach thematischen Interessen – ergänzt werden     Sprache erklärt werden können (Leicht Lesen
     (vgl. Vinke 2015, S. 25).                         2018).

     Pädagog*innen sind gefordert, eigene Annah-       Und was ist beispielsweise gemeint, wenn von
     men, Zuschreibungen und Selbstverständlich-       „Sex“ die Rede ist? Wann fängt Sex an, wann
     keiten zu hinterfragen und dazu beizutragen,      ist er zu Ende? Was ist mit „Vorspiel“ gemeint,
     Vorurteile und Klischees abzubauen. So wird       wenn es das ist, was für viele Menschen viel-
     beispielsweise Transidentität häufig damit er-     leicht sogar den lustvollsten Teil ihrer Sexualität
     klärt, dass sich Trans-Personen im „falschen      darstellt? Was bedeutet es für queere Ju-
     Körper“ fühlen. Diese Vorstellung setzt die       gendliche, wenn Sex allein auf heterosexuellen
     persönliche Geschlechtsidentität mit den Ge-      Vaginalsex beschränkt wird? Oder für Kinder
     schlechtsorganen gleich. Doch kein Körper ist     aus Regenbogenfamilien, wenn Kinderkriegen
     „falsch“, und kein Körper zwingt zu einem         allein auf heterosexuelle Eltern begrenzt wird?
     Leben in einem bestimmten Geschlecht. „Der        Das Bilderbuch „Wie entsteht ein Baby?“
     eigene Körper bildet die Grundlage dafür, um –    (Silverberg/Smyth/Brugger 2018) erzählt die
     mit oder ohne Anpassungen – jedes Geschlecht      Geschichte von Schwangerschaft und Geburt
     verkörpern zu können. Er ist nicht „falsch’,      so, dass sich auch Adoptiv-Familien, gleich-
     sondern flexibel.“ (WASt 2013, S. 16.) Auch        geschlechtliche Elternpaare und mit künstlicher
     möchten nicht alle Trans-Personen das Ge-         Befruchtung gezeugte Kinder darin wieder-
     schlecht von männlich zu weiblich oder um-        finden.
     gekehrt wechseln (ebd.: S. 17). Die Broschüre
     „Frau. Mann. Und noch viel mehr“ liefert An-      Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt ernst zu
     regungen, wie Themen rund um geschlechtliche      nehmen, bedeutet, diese nicht in einem eigenen
                                                       Kapitel oder zusätzlichen Workshop als „Extra“
                                                       hinzuzufügen oder allein in der Sexualaufklä-
     Geschlechtergerechte Sprache                      rung abzuhandeln, sondern vielmehr, sie als
     Unsere Sprache ist ein Spiegelbild unseres        selbstverständliche und alltägliche Lebens-
     Zusammenlebens. Wir erlernen mit ihr Werte        realität von Kindern und Jugendlichen anzu-
     und Normen unserer Gesellschaft und repro-        erkennen, und dadurch positive und nicht-
     duzieren diese zugleich. Unsere häufig an          problematisierende Zugänge zu ermöglichen.
     männlichen Begriffen orientierte Sprache ist      Dazu können Biografien von queeren Persön-
     das Ergebnis einer über Jahrhunderte wäh-         lichkeiten13 oder Comics zu Coming-out-Er-
     renden gesellschaftlichen Ungleichbehandlung      fahrungen von LSBTIQ-Personen14 aufgegriffen,
     von Frauen und Männern sowie eines binären        aber auch tagespolitische Debatten diskutiert
     Verständnisses von Geschlecht, welches nur        werden: In Österreich konnte die Öffnung der
     Frauen und Männer kennt. Das Sternchen (z.B.      Ehe für gleichgeschlechtliche Paare erst 2017
     Freund*innen) soll auch jenen Menschen            vor dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) er-
     sprachlich gerecht werden, die nicht in das bi-   stritten werden. Ab 2019 wird die Ehe nun für
     näre Geschlechterschema hineinpassen (wol-        alle geöffnet sein (vgl. Arends 2017). Und im
     len). Anregungen für eine geschlechtergerechte    Juni 2018 entschied der VfGH in Österreich
     Sprache finden sich z.B. in der Publikation        nach einer Klage der intergeschlechtlichen
     „Was tun? Sprachhandeln – aber wie? W_Or-         Person Alex Jürgen*, dass Österreich in offi-
     tungen statt Tatenlosigkeit!“ der AG Feminis-     ziellen Dokumenten einen dritten Geschlechts-
     tisch Sprachhandeln der Humboldt-Universität      eintrag schaffen muss (vgl. Haller 2018).
     zu Berlin:
     http://feministisch-sprachhandeln.org/            13
                                                            Auf der Website http://www.queerhistory.de stehen Unterrichts-
                                                            entwürfe und Videointerviews zu queerer Geschichte zur Verfügung.
     wp-content/uploads/2015/04/                       14
                                                            In bislang zwei Büchern sowie auf ihrer Website
                                                            http://www.achsoistdas.com/ veröffentlicht Martina Schradi
     sprachleitfaden_zweite_auflage.pdf                      biografische Comicreportagen über Erfahrungen von LSBTIQ.
                                                            Auf der Website stehen auch ausgearbeitete Arbeitsaufträge zum k-
     (letzter Zugriff: 01.07.2018).                         ostenlosen Download zur Verfügung.

16
Im Internet findet sich eine Vielzahl von Mate-                               öffnen, in welchen vielfältige Lebensweisen
rialien, die den Umgang von Jugendlichen mit                                 jenseits der Norm selbstverständlich und
Geschlechterrollen, Sexismus, Coming-out, Ho-                                gleichberechtigt verankert sind, fühlen sich
mophobie, Sexualitäten oder Formen des Zu-                                   Kinder und Jugendliche mit ihren Belangen
sammenlebens thematisieren, Mut machen                                       angenommen und willkommen. Vielfalt kann
und Sichtbarkeiten schaffen.15 Auch eigene                                   erst dann sichtbar werden, wenn sie sein darf,
Methoden lassen sich neu überarbeiten – auch                                 und wenn es eine Sprache für diese Vielfalt
oder insbesondere dann, wenn es nicht explizit                               gibt.
um geschlechtliche oder sexuelle Vielfalt geht:
mit Beispielen und Bildern, die vielfältige Lie-
bes- und Lebensformen abbilden oder mit                                      Lena Deser, M.A.
Namen, die nicht eindeutig auf ein Geschlecht                                hat Psychologie und
schließen lassen.                                                            Internationale Entwicklung
                                                                             studiert und arbeitet als Referentin für
Häufig wird der Thematisierung sexueller und                                  sexualpädagogische Workshops und freie
geschlechtlicher Vielfalt entgegengesetzt, dass                              Trainerin in der diskriminierungskritischen
diese an einer Schule, in einer Klasse oder in                               und geschlechterreflektierten Bildungsarbeit
einem Jugendzentrum kein Thema sei. Doch                                     zu Themen sozialer und globaler
erst wenn wir als Pädagog*innen Räume er-                                    Gerechtigkeit.

Literaturverzeichnis:                                                        15
                                                                                  Das Medienprojekt Wuppertal
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• Perko, Gudrun (2015): Das ›Social Justice und Diversity Konzept‹           • WASt (2013): Trans*Identitäten. Online unter: https://www.courage-
  zugunsten einer politisierten pädagogischen Praxis. In: Huch, S./Lücke,      beratung.at/repository.dat/download/2013%20Brosch%C3%BCre%
  M. (Hg.): Sexuelle Vielfalt im Handlungsfeld Schule, S. 69-92.               20Transidentit%C3%A4ten.pdf (Letzter Zugriff: 28.06.2018)

                                                                                                                                                          17
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