Memorandum "Urbane Resilienz" - Wege zur robusten, adaptiven und zukunftsfähigen Stadt - Bundesministerium des ...
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2 Inhalt Vorwort Staatssekretärin Anne Katrin Bohle 7 1 1 Essentials 8 Memorandum „Urbane Resilienz“: Anlass und Prozess Dr. Oliver Weigel 10 Urbane Resilienz – Eine Herausforderung für die Stadtentwicklung Prof. Dr. Detlef Kurth 12 Urbane Resilienz – Perspektive des Risiko- und Krisenmanagements Nina Köksalan 16 Space Matters: Nach der Pandemie ist vor der nächsten Krise – auch im Städtebau Prof. Stefan Rettich 18 3
5 2 Next Practice Urbane Resilienz 24 Urbane Resilienz vor Ort 26 Rahmenstrategie „Smart City Wien“ (Österreich) 28 Rotterdam Resilience Strategy (Niederlande) 32 Our City Our Block (Stadt Johannesburg, Südafrika) 36 Programma Pró-Água (Anápolis, Brasilien) 40 Das „Resilient Cities Network“ Interview mit Stewart Sarkozy-Banoczy 44 4 4 Umsetzung 66 Wie wird die Stadt resilient? Interview des Podcast stadt:radar #5 68 Urbane Resilienz: Die internationale Perspektive Interview mit Leon Esteban und Dr. Oliver Weigel 72 Urbane Resilienz: Kommunale Praxis und Städtebau- förderung - Diskussionsrunde beim 14. Bundeskongress 76 3 Impulse 48 Projektaufruf „Post-Corona-Stadt“ Heiko Glockmann, Martin Schulze 50 Quartier und soziale Resilienz Dr. Olaf Schnur 54 Steuerung und Koordination Astrid Messer 56 Digitale Transformation Andreas Kaufmann 60 5 Memorandum 80 Integrierte Stadtentwicklungskonzepte Memorandum „Urbane Resilienz“ - Wege zur Stefan Heinig 62 robusten, adaptiven und zukunftsfähigen Stadt 82 Gesunde Stadt = resiliente Stadt?! Bildnachweis 98 Andreas Kaufmann 64 Impressum 99
aus Expert:innen einberufen, um Wege aufzuzeigen, wie Städte und Gemeinden bei der Stärkung und Entwicklung ihrer urbanen Resilienz unterstützt werden können. Die Nationale Stadtentwicklungspolitik und ihre bewährten Strukturen waren für uns die geeignete Plattform, um diesen Arbeitsprozess zu begleiten. In einem intensiven und inter- disziplinären Prozess wurde daraufhin das Memorandum „Urbane Resilienz – Wege zur robusten, adaptiven und zu- kunftsfähigen Stadt“ erarbeitet, das auf dem 14. Bundes- kongress der Nationalen Stadtentwicklungspolitik im Mai 2021 verabschiedet wurde. Vorwort Im Memorandum wurden Handlungsempfehlungen formu- liert, die unter anderem dazu anregen sollen, auf der Grund- Seit dem Frühjahr 2020 hat die COVID-19-Pandemie das Le- lage der städtischen Leitbilder der Neuen Leipzig-Charta die ben in unseren Städten und Gemeinden massiv beeinflusst. kommunale Handlungsfähigkeit strategisch zu stärken, die Wir konnten erleben, wie Straßen, Innenstädte und auch regionale Zusammenarbeit zu verbessern, die Potenziale der Busse und Straßenbahnen plötzlich menschenleer wurden. Quartiere zu nutzen, flexible Governance-Strukturen zu er- Wir durften auch spontane Alltagssolidarität oder über- möglichen und zivilgesellschaftliches Engagement zu för- raschende Neuentdeckungen zu Fuß in unseren Vierteln dern. In den nächsten Monaten und Jahren gilt es nun, diese erleben. Zudem veränderte sich für viele schlagartig der Handlungsempfehlungen in den Städten und Gemeinden vor berufliche Alltag, die private Kommunikation sowie die Ort umzusetzen und gemeinsame Strategien zu entwickeln. sozialen Kontakte. Urbane Resilienz sollte dabei immer als Querschnittsaufgabe innerhalb der integrierten Stadtentwicklung gesehen werden. Die Menschen in der europäischen Stadt waren schon häufig Dazu sollte insbesondere das Risiko- und Krisenmanagement Krisen und Katastrophen ausgesetzt. Sie konnten sich und in die konkrete Arbeit an den Stadtentwicklungskonzepten ihre Städte immer wieder erfolgreich anpassen und zugleich einfließen. mit neuen Ideen weiterentwickeln. Sie brachten gemeinsam soziale, technologische, kulturelle und ökonomische Inno- Die Nationale Stadtentwicklungspolitik lebt von der Zusam- vationen hervor, die die dauerhafte urbane Lebensweise erst menarbeit der unterschiedlichen Partner, die wir zusammen- möglich machten. Nun stehen wir gemeinsam vor der großen bringen, um übergreifende Strategien für unsere Städte und Aufgabe, die Pandemie und ihre Folgen zu bewältigen, um Gemeinden zu entwickeln. Die Beiträge in dieser Publikation das Wohlergehen und die Lebensqualität der Bürger:innen liefern hierzu wichtige Anstöße und sollen aufzeigen, wo in zu sichern und gleichzeitig Verantwortung für Nachhaltig- unseren Städten und Gemeinden und auch im internationa- keit und den globalen Schutz der natürlichen Lebensgrund- len Kontext bereits innovative Praxis gelebt wird oder wo es lagen zu übernehmen. Um schnellstmöglich reagieren zu Anregungen gibt, wie man Dinge besser machen kann. Zudem können, haben wir uns auf der Bundesebene gefragt: Wie trägt diese Veröffentlichung dazu bei, den Dialog zwischen können wir die Städte und Gemeinden in der Stadtentwick- allen Beteiligten der Nationalen Stadtentwicklungspolitik lung schnell unterstützen und dazu beitragen, dass sie zu- weiter zu intensivieren. In diesem Sinne wünsche ich eine kunftsfähig und resilient gestaltet werden? erkenntnisreiche Lektüre mit vielen Denkanstößen und An- regungen für die Entwicklung und Stärkung der urbanen Wir haben daher bereits im Frühjahr 2020 Expert:innen ein- Resilienz! geladen, sich im Kreis der Gemeinschaftsinitiative Nationale Stadtentwicklungspolitik intensiv mit dem Thema zu be- schäftigen und für uns alle Handlungsempfehlungen zu ent- wickeln. In der Folge habe ich neben dem Start des Projekt- aufrufes „Post-Corona-Stadt: Ideen und Konzepte für eine resiliente Stadtentwicklung“ im Herbst 2020 einen Beirat Staatssekretärin Anne Katrin Bohle
10 Memorandum „Urbane Resilienz“ Anlass und Prozess Dr. Oliver Weigel – Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat Im Frühjahr 2020 hat sich unser aller Leben geändert. Die Ergebnis des Roundtables gaben uns die Teilnehmenden Pandemie und ihre Folgen und Herausforderungen merken die Empfehlung, ein Memorandum zu diesem Thema zu wir weiterhin im persönlichen und räumlichen Umfeld, aber erarbeiten. Bei der Erarbeitung sollte der Fokus jedoch nicht auch in unserem beruflichen Kontext der Stadtentwicklung. nur auf die Pandemie und ihre Folgen gerichtet werden, Die Auswirkungen des Lockdowns – Kontaktbeschränkungen, sondern auch die Anforderungen durch weitere Risiken und Schließungen von Gastronomie und Handel oder der hohe Herausforderungen, wie beispielsweise den Klimawandel, Anteil an Personen im Homeoffice – werden insbesondere aufgegriffen werden. auf der lokalen Ebene deutlich. Im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat haben wir uns sehr früh den Mit der Berufung eines Expert:innenbeirats durch Staats- drängenden Fragen für die Stadtentwicklung in den Städten sekretärin Anne Katrin Bohle im Herbst 2020 zur Erarbei- und Gemeinden gestellt: Was bedeuten die Pandemieer- tung eines Memorandums sind wir der Empfehlung des fahrungen sowohl kurz- als auch mittel- und langfristig für Roundtables gefolgt, ein aussagekräftiges, praxisorientier- unsere Städte und Gemeinden? Welche Aufgaben und Heraus- tes und richtungsweisendes Dokument zur urbanen Resi- forderungen ergeben sich daraus? Wie wirkt sich das verän- lienz zu erarbeiten.Während des sechsmonatigen Prozesses derte Verhalten auf die verschiedenen Bereiche aus, zum (→ Abb. 1) wurde in mehreren Treffen des Beirats über die all- Beispiel den öffentlichen Raum und unsere Innenstädte oder gemeine Definition von Resilienz im städtischen Kontext, die Mobilität? Welche Handlungsbedarfe und -strategien sind die Inhalte und Handlungsfelder des Memorandums sowie notwendig, um unsere Städte zukunftsfähig zu gestalten? Handlungsempfehlungen für eine resiliente Stadtentwick- lung diskutiert. Die Prinzipien der am 30. November 2020 Mit der Nationalen Stadtentwicklungspolitik, die 2007 von verabschiedeten „Neuen Leipzig-Charta – Die transforma- Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden auf den tive Kraft für das Gemeinwohl“, Stadtentwicklung zu einer Weg gebracht wurde, verfügen wir über eine bewährte Platt- Sache aller zu machen und Gemeinwohl sowie die trans- form, um kurzfristig Austausch zu ermöglichen und Impulse formative Kraft und Anpassungsfähigkeit der Städte zu in den Diskurs zu bringen. Es war uns daher möglich, bereits stärken, sind dabei in den Erarbeitungsprozess eingeflossen. im Juni 2020 einen Roundtable „Stadtentwicklung und Corona“ Auch die Ansätze der Pilotprojekte des Projektaufrufes „Post- mit Expert:innen unterschiedlicher Disziplinen durchzufüh- Corona-Stadt“, die im Dezember 2020 ausgewählt wurden, ren, um uns über die Zusammenhänge von Stadtentwicklung wurden berücksichtigt. und Corona auszutauschen. Dabei ging es insbesondere um die Frage, wie resiliente Städte aussehen und gestaltet Stadtentwicklung funktioniert nur, wenn wir alle gemein- werden müssen und welche Anforderungen sie haben. Im sam handeln. Das Prinzip der Nationalen Stadtentwick- Aktivitäten Dezember 2020 Januar 2021 Februar 2021 Beirat Gliederung Inhalte und Erarbeitung Memorandum Definition Textentwurf 1. Sitzung 2. Sitzung 3. Sitzung 4. Sitzung Klausur weitere Aktivitäten November 2020 Januar / Februar 2021 Januar 2021 Nationale Verabschiedung Studie (ca. 10 nationale / 1. Auswertung Stadtentwick- Neue Leipzig- internationale Beispiele Inhalte Projektaufruf lungspolitik Charta „Resiliente Städte“, Post-Corona-Stadt Expert:inneninterviews)
11 lungspolitik „macht Stadt gemeinsam!“ haben wir daher zu erarbeiten. Nun geht es darum, das Memorandum mit auch im Memorandumsprozess berücksichtigt. Leben zu füllen und die Prinzipien und Empfehlungen mit den Instrumenten der Nationalen Stadtentwicklungspolitik, Nach der Erarbeitung des Entwurfs durch den Beirat erfolgte wie der Webinarreihe stadt:impuls, zu verbreiten. Auch den im Frühjahr 2021 ein mehrstufiger Beteiligungsprozess: In internationalen Austausch werden wir intensivieren. einer zweitägigen Klausur im März 2021 wurde der Entwurf mit rund 50 nationalen und internationalen Akteuren aus unterschiedlichen Bereichen durchgearbeitet. Dabei wurden insbesondere die Themen Soziale Resilienz, Ökonomie, Innen- städte, Mobilität und Internationalisierung beleuchtet und Dem interdisziplinären, unabhängigen Beirat deren Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit der Städte hervor- gehörten folgende Expert:innen an: gehoben. Im Anschluss haben die Mitglieder des Kuratoriums der Nationalen Stadentwicklungspolitik als oberstes Gremium P rof. Dr. Detlef Kurth (Vorsitz), TU Kaiserslautern der Initiative Hinweise gegeben und die Empfehlungen be- Stefan Heinig, Stadtentwicklung / Planung / stätigt. Durch diesen Prozess war es uns möglich, beim 14. Beratung Bundeskongress der Nationalen Stadtentwicklungspolitik Magdalena Jackstadt, Gesellschaft ein gemeinschaftlich getragenes Dokument zu urbaner für außerordentliche Zusammenarbeit Resilienz zu verabschieden. Nina Köksalan, Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe Der Prozess wurde von der Programmbegleitung Nationale Astrid Messer, Ministerium für Heimat, Stadtentwicklungspolitik koordiniert und intensiv mit den Kommunales, Bau und Gleichstellung weiteren Aktivitäten der Initiative abgestimmt: Eine Recherche des Landes Nordrhein-Westfalen zu nationalen und internationalen Beispielen urbaner Re- Prof. Stefan Rettich, Universität Kassel silienz und Expert:inneninterviews gaben einen Überblick Dr. Olaf Schnur, vhw – Bundesverband über die aktuellen Diskussionen. Die Projekte des Aufrufes für Wohnen und Stadtentwicklung e. V. „Post-Corona-Stadt“, die Anfang 2021 mit der Umsetzung Dr. Oliver Weigel, Bundesministerium begonnen haben, zeigen, welche Ansätze urbaner Resilienz des Innern, für Bau und Heimat im Kontext mit der Pandemie zurzeit erprobt werden. Die be- stehenden Formate und Netzwerke der Nationalen Stadtent- wicklungspolitik haben es uns ermöglicht, das Memorandum April 2021 Mai 2021 ↓ Abb. 1 Prozess zur Erarbeitung des Memorandums Finalisierung Übergabe Ergebnisse Klausur Dokument April 2021 Mai 2021 Mai 2021 September 2021 Herbst 2021 Sitzung Beschluss und Interview Kommunikation, Ergebnis- Kuratorium Session im stadt:radar Öffentlichkeitsarbeit publikation Rahmen des 14. (Webinar stadt:impuls Bundeskongresses spezial)
12 Urbane Resilienz Eine Herausforderung für die Stadtentwicklungspolitik Prof. Dr. Detlef Kurth – TU Kaiserslautern Städtebauliche Leitbilder und Gesundheit Resilienz im Kontext der Stadtentwicklungspolitik „Liebe in Zeiten der Cholera“ – Literatur und Kunst sind Die Nationale Stadtentwicklungspolitik, mit der die Ziele der voll mit Beispielen von Pandemien, wir hatten sie nur nicht Leipzig-Charta in Deutschland umgesetzt werden, begann mehr auf die Gegenwart bezogen. „Licht, Luft und Sonne“ – bereits im Frühjahr 2020 mit Expertenworkshops zu den dieses Motto aus den 1920er Jahren erschien wie eine Bot- Folgen der Pandemie für die Stadtentwicklung. Im Herbst schaft aus einer längst vergangenen Zeit, mit hinterfragten 2020 wurde der Expert:innenbeirat gegründet, dessen Emp- städtebaulichen Folgen. „Hygiene“ als Begründung für Stadt- fehlungen im Memorandum „Urbane Resilienz“ im Mai erneuerungsmaßnahmen findet sich in keiner Bestands- 2021 veröffentlicht wurden. Mit dem Memorandum wurde aufnahme mehr – obwohl sie weiterhin als städtebaulicher der Begriff der urbanen Resilienz in die Stadtentwicklungs- Missstand im Baugesetzbuch genannt wird (§ 136 BauGB). politik eingeführt. Im engeren Wortsinn bedeutet er „Zurück- Naturkatastrophen schienen nur noch ein Thema in fernen federn“ in den Ursprungszustand – dies kann jedoch nicht das Regionen zu sein, aber nicht vor der Haustür. einzige Ziel einer nachhaltigen Stadtentwicklung sein, die aus Krisen lernt. Vielmehr wurde der engere Resilienzbegriff im Die Corona-Pandemie ab 2020 hat uns deutlich gemacht, Memorandum erweitert um das präventive Vorbereiten und dass diese Themen trotz allem technischen und medizini- Anpassen für künftige Krisen sowie um die Transformation schen Fortschritt für die Stadtentwicklung weiterhin relevant und Gestaltung für eine zukunftsfähige Stadtentwicklung – sind. Angesichts des Klimawandels werden wir künftig noch entsprechend der UN-Habitat-Definition. stärker von Extremwetterereignissen und Klimaschwankun- gen betroffen sein, mit gravierenden Folgen für unsere Städte. Die Stadtplanung muss hierauf mit Resilienz-Strategien rea- gieren, und zugleich ggf. ihre Leitbilder und Instrumente hinterfragen. Die häufig kritisierte Charta von Athen von 1933 ist also aus ihrer Zeit heraus zu verstehen, sie enthält Aussagen zur Stadt- hygiene und gesunden Stadt – auch als Antwort auf Spanische Grippe, Cholera und andere Pandemien. Die heute so beliebte Mietshausstadt des 19. Jahrhunderts war eben kein roman- tischer Wohnort, sondern ein überbelegter Hort von Krank- heitserregern mit infrastrukturellen Defiziten. Der Leitbild- wechsel zur aufgelockerten Stadt und veränderte Bauvor- schriften sind nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Die städtebaulichen Ziele bestanden darin, die Gebäudeab- stände zu vergrößern, die Infrastruktur zu verbessern und mehr Freiräume anzubieten. Seit den 1980er Jahren wird da- gegen ein Leitbild der kompakten sowie sozial und funktional gemischten Stadt verfolgt, manifestiert in der Leipzig-Charta von 2007 zur nachhaltigen Stadtentwicklung, 2020 ergänzt um die Neue Leipzig-Charta zur gemeinwohlorientierten Stadt. Eine wichtige Frage ist, ob unser heutiges Leitbild den künftigen Herausforderungen noch gewachsen ist.
13 Bei Naturkatastrophen schaltet die Politik zunächst in den en, grauen und weißen Stadt abgeleitet. Da künftige Scha- Krisenmodus zur Gefahrenabwehr. Häufig werden dann prag- densereignisse meist nicht räumlich und zeitlich genau matische Lösungswege und beschleunigte Planungsverfahren vorhergesehen werden können, werden redundante sowie gefordert, das ist anfangs nachvollziehbar. Dabei darf jedoch flexible Siedlungsstrukturen und Infrastrukturen immer nicht vergessen werden, dass es ja gerade fehlende Prävention wichtiger. Auch nimmt die Bedeutung von wohnungsnahen und Planung waren, die größere Schäden verursachten und Freiräumen zu, als Orte der Entspannung und Gesundheit den Wiederaufbau erschwerten. Die Antwort aus Krisen wie im Krisenfall, aber auch für die Verbesserung des Mikro- Pandemien oder Klimaereignissen muss darin bestehen, klimas. Bei zunehmendem Homeoffice steigt außerdem Stadtentwicklungskonzepte und Planungsinstrumente um die Nachfrage nach Nahversorgung und Infrastruktur im Resilienzaspekte zu erweitern und flächendeckend strategisch Wohnquartier. Insgesamt erhält der öffentliche Raum einen einzusetzen. Bedeutungszuwachs für multiple Nutzungsansprüche, er darf nicht mehr einseitig vom Autoverkehr beansprucht Die Pandemie hat „neue“ Herausforderungen aufgezeigt, z. B. werden. Ohnehin sind im Mobilitätsbereich starke Verände- in der Gefahrenabwehr, im Gesundheitswesen oder in der rungen zu erwarten: Die Elektromobilität macht die Autos Digitalisierung. In vielen Bereichen wirkt sie aber eher wie leiser und abgasfrei, das autonome Fahren könnte zu einer ein Brennglas, z. B. beim stationären Einzelhandel, beim Mobi- Zivilisierung des städtischen Autoverkehrs und somit des litätswandel oder der sozialen Ungleichheit. Die Stadtent- städtischen Raums führen. wicklungspolitik muss auf die „neuen“ Themen reagieren. Insbesondere in der Digitalisierung ergeben sich viele Chancen und Risiken, das „Homeoffice“ wird unsere Stadtstrukturen stark verändern. Zugleich muss aber auch darauf geachtet werden, angesichts der Pandemie grundlegende Herausfor- derungen nicht zu vernachlässigen, z. B. beim Klimawandel, aber auch beim Mobilitätswandel, beim demografischen Wandel und in der Gemeinwohlorientierung. Bedeutungsgewinn präventiver Ansätze Im Memorandum „Urbane Resilienz“ wird gefordert, die in- Die kompakte Stadt tegrierte, vorausschauende Stadtentwicklungspolitik auf allen räumlichen Ebenen zu verstetigen. Dazu gehören um- dient durchaus dem fassende Analysen des Bestands, insbesondere in Hinblick auf kritische Infrastruktur, Risikofaktoren und Vulnerabili- Klimaschutz und auch täten, aber auch ein kontinuierliches Monitoring der sozialen und klimatischen Situation. Es ist die Überlagerung von der Klimaanpassung, Gefahren und sozialen sowie demografischen Risiken, aus der sich räumliche Brennpunkte ergeben. Dort sind dann da sie effizient, robust präventive Maßnahmen erforderlich, die die Folgen des Gefahrenereignisses abschwächen oder sogar vermeiden. Bei Klimaanpassungskonzepten ist diese Methode bereits gut und konzentriert ist. bekannt, und daraus werden Maßnahmen der grünen, blau-
14 Folgerungen für die Planungsinstrumente Aspekte wie Resilienz, Risikovorsorge und Gesundheit Aber die Kommunen müssen auch in die Lage versetzt wer- müssen also künftig noch viel stärker mit den Planungs- den, ihre Grundaufgaben finanziell und personell erledigen instrumenten verknüpft werden. Neben den Stadtent- zu können, und darüber hinaus „Dehnungsfugen“ und Re- wicklungskonzepten sind sie auch in der Bauleitplanung serven für Krisenereignisse haben. Wenn Kommunen z. B. zu verankern, wo sie verbindlich werden. Ein wichtiger und im Ruhrgebiet oder Rheinland-Pfalz über Jahrzehnte unter häufig unterschätzter Bereich sind das Sanierungsrecht und Haushaltsaufsicht stehen und noch nicht einmal Löcher im die Städtebauförderung. Hier sind bereits heute Aspekte wie Gehweg repariert bekommen, dann werden sie kaum in der Klimaanpassung, Gesundheit und Hygiene explizit genannt. Lage sein, umfangreiche Krisenvorsorge zu betreiben. Eine Diese sollten natürlich nicht wie in den 1970er Jahren zur ausreichende kommunale Ausstattung ist jedoch Voraus- Flächensanierung führen. Aber sie bieten das Instrumenta- setzung, um überhaupt auf Krisen reagieren zu können. Im rium – basierend auf umfangreichen Untersuchungen und Memorandum werden ein Kompetenzzentrum zur Leipzig- begleitet von Sanierungsrecht und Fördermitteln – gezielte Charta und eine „Task Force“ vorgeschlagen, um betroffene Maßnahmen in benachteiligten Quartieren umzusetzen. Regionen im Krisenfall zu unterstützen. Dazu können dann auch ein punktueller Abriss oder eine erzwungene Begrünungsmaßnahme gehören. Der Ex- Die Hochwasserkatastrophen haben wenig später gezeigt, pert:innenrat empfiehlt hierbei kein neues Städtebauförder- wie wichtig solche „Backup-Einheiten“ wären – im Grunde programm, sondern eine Erweiterung aller Förderprogram- braucht es ein „THW der Stadtentwicklung“ mit Reserve- me und Steuerungsinstrumente um Resilienzaspekte. räumen und Planungskapazitäten.
15 Punktuelle Leitbildanpassung Planung als Zukunftsvorsorge Die Pandemie trifft alle Siedlungsstrukturen gleichermaßen, Gerade in Krisenzeiten ist es wichtig, Eutopien zu entwickeln, unabhängig von ihrer Dichte – und es gibt extrem dichte positive Zukunftsbilder, bei denen wir aus den jetzigen Erfah- asiatische Städte wie Hongkong, die kaum von der Pandemie rungen lernen. Nur wenn es eine Idee einer besseren Stadt betroffen sind. Auch Extremwetterereignisse können auf- der Zukunft gibt, kann mit Stadtentwicklungskonzepten grund des Klimawandels alle Regionen treffen. Dennoch ist daraufhin gearbeitet werden. Zugleich gibt es klare Ziele des zu befürchten, dass es allein schon aus psychologischen Grün- Klimaschutzes im Klimaschutzgesetz, die von einem Endpunkt den einige Stadtbewohner:innen in den ländlichen Raum zurückzurechnen sind. Im Sinne der nachhaltigen Stadtent- und in das Auto zieht. Dies hätte angesichts der angespannten wicklung sind insbesondere die Interessen der künftigen Wohnungsmärkte in den Großstädten sogar eine entlastende Generationen zu berücksichtigen. Nachhaltigkeit bedeutet Funktion. Aber auch das Homeoffice und die Überhitzung auch, die künftigen Herausforderungen sozial ausgewogen der Städte werden dazu führen, dass zu dichte Stadtstrukturen und ökonomisch verträglich zu gestalten. Im Sinne von parti- teilweise in Frage gestellt werden. Studien zur Klimagerech- zipativen Stadtentwicklungskonzepten braucht es somit Zu- tigkeit von Stadtstrukturen zeigen jedoch, dass die kompakte kunftsbilder, die gemeinsam erarbeitet wurden und auch Stadt durchaus dem Klimaschutz und auch der Klimaanpas- reversibel und flexibel sind. Angesichts der Resilienz-Anfor- sung dient, da sie effizient, robust und konzentriert ist. Wichtig derungen wird also eine integrierte und präventive Stadt- ist es von daher, das Leitbild der kompakten Stadt angesichts entwicklung an Bedeutung gewinnen, anstelle eines projekt- der neuen Herausforderungen behutsam weiterzuentwickeln, bezogenen Weiter-so. aber nicht grundsätzlich in Frage zu stellen – mit wohnungs- nahem Grün und einem qualifizierten öffentlichen Raum, also durchaus wieder etwas mehr Licht, Luft und Sonne. Internationale Dimension Die Diskussion um das Memorandum „Urbane Resilienz“ hat deutlich gemacht, dass dringend ein stärkerer internationaler Fachaustausch erforderlich ist. Andere Städte vor allem in Prof. Dr. Detlef Kurth, TU Kaiserslautern Asien, aber auch in den USA oder Niederlande haben bereits seit längerem Resilienzkonzepte, die in die Stadtentwicklungs- Prof. Dr. Detlef Kurth, Stadtplaner Architektenkammer politik integriert sind. So gibt es für Rotterdam eine hervor- BW, Mitglied in SRL und DASL. 1992 Diplom für Stadt- ragende Resilienzstrategie, die alle Aspekte vom Klimawandel und Regionalplanung an der TU Berlin. 1992–1997 über Küstenschutz bis zu den sozialen Folgen beinhaltet war er Mitarbeiter bei Planergemeinschaft Dubach, (vgl. Beitrag „Rotterdam“ in dieser Broschüre, → S. 32 ff). Kohlbrenner Berlin. 1997–2003 wissenschaftlicher Deutschland war bislang seltener von Naturkatastrophen be- Mitarbeiter an der Fakultät Raumplanung, Universität troffen, von daher wurden Risikostudien nicht so dringend Dortmund bei Prof. Peter Zlonicky und Prof. Christa bewertet wie in anderen Teilen der Welt. Die Pandemie hat Reicher. 2003 Promotion über Strategien der Stadt- aber gezeigt, dass es alle Länder gleichermaßen treffen kann, erneuerung für Berlin abgeschlossen. Von 2003–2017 und auch der Klimawandel führt zu globalen Auswirkungen. Professor für Städtebau und Stadtplanung an der Im Kontext der Leipzig-Charta und der Nationalen Stadtent- Fakultät Architektur und Gestaltung der Hochschule wicklungspolitik sollten von daher entsprechende internatio- für Technik Stuttgart. Seit 2017 Professur am Lehrstuhl nale Austauschformate zwischen den Städten etabliert werden, Stadtplanung an der TU Kaiserslautern im Fachbereich verbunden mit einem „Haus der Leipzig-Charta“ als zentraler Raum- und Umweltplanung. Forschungsschwerpunkte Plattform. sind nachhaltige Stadtentwicklung, klimagerechte Stadterneuerung, Klimaanpassung, urbane Resilienz, nachhaltige Mobilität.
16 Urbane Resilienz Perspektive des Risiko- und Krisenmanagements Nina Köksalan – Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe Das Konzept von Resilienz hat neue Impulse in nahezu allen Fähigkeiten und Strukturen für den Fachbereichen gesetzt und ist längst kein Modewort mehr. Umgang mit Risiken Die vielfältige Anwendung des Konzepts ist auch auf die breite Definition von Resilienz zurückzuführen. Die Stadtentwick- Die Art und Weise, wie wir mit diesen Risiken umgehen und lung bezieht sich dabei auf den Begriff der urbanen Resilienz. Krisen bewältigen, kann maßgeblich Schäden und Verluste Auch mit dieser (urbanen) Spezifizierung gibt es viele nationale für die Gesellschaft in Städten und Gemeinden mindern oder und internationale Lesarten, was urbane Resilienz für die sogar verhindern. Eine weitere Gemeinsamkeit im Verständnis Praxis bedeutet. Dieser begriffliche Diskurs war zentral in der von urbaner Resilienz bezieht sich dabei auf die Eigenschaften Arbeit des Expert:innenbeirats zum Memorandum und steht eines urbanen Systems. Die vorhandenen Kapazitäten, also exemplarisch dafür, wie umfassend der Resilienz-Ansatz ist. die sozialen, finanziellen oder natürlichen Ressourcen einer Einige wesentliche Aspekte sind den vielen Definitionen von Stadt oder Gemeinde und ihrer Bevölkerung spielen dabei urbaner Resilienz allerdings gemeinsam und weisen direkte eine wichtige Rolle. Das sind zum einen die physischen Struk- Anknüpfungspunkte für ein integriertes Risiko- und Krisen- turen, wie Straßen oder Gebäude, und nichtphysische Struktu- management auf. ren, wie soziale Netzwerke oder Organisations- und Kom- munikationsstrukturen. Zum anderen sind es die Fähigkeiten der Akteure im urbanen Raum, die ihn nutzen und gestalten. Ereignisse mit Schadenspotenzial Eigenschaften wie Diversität, Flexibilität, Multifunktionalität oder Redundanzen zeichnen diese resilienten Fähigkeiten Die vielen Definitionen zur urbanen Resilienz beziehen sich und Strukturen u. a. aus. Der Grundgedanke dabei ist, dass auf einen Schock, auf Stress oder negative Einflüsse für Städte das urbane System jederzeit funktioniert, auch in extremen und Gemeinden. Das umfasst potenzielle Schadensereignisse, Situationen. die durch natürliche oder vom Menschen verursachte Gefahren, die klein- oder großräumig, häufiger und selten, plötzlich und schleichend auftreten können. Das Risiko- und Krisen- Robust und wandlungsfähig gleichermaßen management mit dem All-Gefahren-Ansatz stellt hierfür ein Instrument bereit, um gezielt aufzuzeigen, welchen Mehr- Diese zeitliche Komponente, also wesentliche Funktionen fachnutzen einzelne Maßnahmen für unterschiedliche Risi- jederzeit aufrecht zu erhalten, ist den vielen Begriffserklä- ken haben können. So dienen beispielsweise städtische Grün- rungen von urbaner Resilienz ebenfalls gemeinsam. flächen als Versickerungsflächen bei stärkeren Niederschlä- gen, als wohnortnahe Erholungsorte in Zeiten der Corona- Pandemie mit Kontaktbeschränkungen oder tragen zu einem besseren Stadtklima in Hitzeperioden bei. Ein All- Gefahren-Ansatz kann auch widersprüchliche Effekte offen- legen. So waren beispielsweise die digitale Kommunikation und Angebote während des Lockdowns in der Corona-Pan- demie oft die einzige Möglichkeit, wichtige Dienstleistungen und Arbeitsprozesse in Städten und Gemeinden aufrecht- zuerhalten. Gleichzeitig birgt die Abhängigkeit digitaler Kommunikation neue Risiken in sich. Wir werden anfälliger für Hackerangriffe, Stromausfälle, Kommunikationsausfall oder auch für digitale Desinformation.
17 Es ist der Dreiklang von 1. aus der Vergangenheit lernen Die Stadtentwicklung ist dabei ein zentrales Themenfeld, und sich besser vorbereiten, 2. Krisen oder Katastrophen um Resilienz ganzheitlich zu stärken. Es gibt kaum eine standzuhalten, schnell reagieren und sich erholen zu können andere Aufgabe, in der das Zusammenwirken von Akteuren und 3. sich für die Zukunft an Veränderungen anzupassen aus so vielen Bereichen wie der Gesundheit, Infrastruktur, und Risiken verhindern zu können. Das Risiko- und Krisen- Mobilität, Soziales oder Umwelt einen unmittelbaren Ein- management stellt für diese Phasen – also was machen wir fluss auf unser aller Alltagsleben hat. Das Risiko- und Krisen- vor, während und nach einer Krise – zahlreiche Werkzeuge management hat eine andere Perspektive auf viele Themen, für risikoinformierte Entscheidungen und Investitionen die in der Stadt- und Regionalentwicklung eine wichtige zur Verfügung. Hier sind beispielsweise die Risikoanalyse, Rolle spielen wie z. B. die Versorgung. Wird also Risiko- und Identifizierung Kritischer Infrastrukturen, Notfallplanung, Krisenmanagement in der Stadtentwicklung mitgedacht, hat Warnung, Evaluationen von Krisen oder Wiederaufbau- dies einen direkten positiven Effekt für die Resilienz ihrer programme zu nennen. Bürger:innen. Das kann vor allem gelingen, wenn Akteure, die im Risiko- und Krisenmanagement und in der Stadtent- wicklung mitwirken, enger zusammenarbeiten. Nicht zuletzt Resiliente Nachhaltigkeit und nachhaltige Resilienz machen Katastrophen keinen Halt vor den administrativen Grenzen von Kommunen, Ländern, Staaten und Kontinenten. Urbane Resilienz als wichtiger Baustein nachhaltiger Ent- So ist Resilienzstärkung immer auch ein Weg, der in lokaler, wicklung ist eine weitere Gemeinsamkeit in den unterschied- regionaler, nationaler und internationaler Zusammenarbeit lichen Definitionen. Investitionen in Prävention, Vorbe- gemeinsam beschritten werden muss. reitung, Bewältigung und Nachsorge schützen über Jahre aufgebauten Wohlstand vor Schäden und Verlusten durch einzelne extreme Ereignisse. Jeder Euro, der ausgegeben wird, um die Resilienz der Menschen gegenüber Katastro- phen zu stärken, rettet Leben und spart um ein Vielfaches mehr an wirtschaftlichen Verlusten und damit im Wieder- aufbau. Das bedeutet: Eine wirklich nachhaltige Stadtent- Nina Köksalan, Bundesamt für Bevölkerungsschutz wicklung ist nur in einer resilienten Gesellschaft möglich. und Katastrophenhilfe Dabei müssen finanzielle und personelle Ressourcen von Städten und Gemeinden für das Risiko- und Krisenmanage- Nina Köksalan ist Expertin im Bereich Resilienz und ment nicht mehr Kosten verursachen. Vielmehr ist es effizient Katastrophenrisikomanagement. Seit 2017 leitet sie und effektiv, wenn risikoinformierte Entscheidungen ein fes- beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Kata- ter Bestandteil nachhaltiger Investitionen und Planung sind. strophenhilfe die Nationale Kontaktstelle für das Sendai Rahmenwerk, die die Umsetzung des Rahmenwerks in Deutschland koordiniert und berät sowie nationale Urbane Resilienz gelingt nur gemeinsam Ansprechpartnerin für das Büro für Katastrophenvor- sorge der Vereinten Nationen ist. Zuvor hat sie für die Ob Pandemie, Klimawandel, Cyberangriff, Industrieunfall Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der oder Finanzkrise – unabhängig vom Szenario – ,es wird im- Vereinten Nationen Projekte zur Resilienz und Klima- mer eine große Herausforderung für Städte und Gemeinden anpassung in Südostasien, im Nahen Osten und in sein, lebenswerte Verhältnisse zu bewahren oder zu verbes- Lateinamerika fachlich begleitet und geleitet. sern und gleichzeitig die Robustheit und Anpassungsfähig- keit gegenüber extremen Ereignissen zu stärken.
18 Space Matters Nach der Pandemie ist vor der nächsten Krise – auch im Städtebau Prof. Stefan Rettich – Universität Kassel Städte sind Transformationsvehikel für die Gesellschaft. Pandemie einmal mehr als besonders resilient herausstellt: Die Neue Leipzig-Charta beschwört diese transformative Der MIV, der während des ersten Lockdowns fast aus den Kraft und ihre Bedeutung für das Gemeinwohl. Wenn wir Straßen verschwunden war, rollte und staute sich im zweiten eines aus der aktuellen Krise lernen können, dann ist es, dass Lockdown schon fast wieder wie im Jahr zuvor. Während der wir es wider besseres Wissen versäumt haben, offensichtliche öffentliche Nahverkehr um das wirtschaftliche Überleben Transformationsfelder zu bearbeiten. Die Städte haben ihre ringt, erlebt das Automobil eine Renaissance als pandemische vulnerablen Seiten gezeigt – müssen sie nun komplett resilient Kapsel. Resilienz ist also ein zweischneidiges Schwert, sie werden, wie es viele fordern? Müssen wirklich alle Teile des stützt sowohl Relevantes als auch Überkommenes. Sie darf Gesamtsystems überprüft, ertüchtigt und auf widerstands- daher nicht nur robust sein, sie muss als Strategie einer fähiges Niveau angehoben werden, damit alle Elemente bei urbanen Resilienz auch Adaption und Transformation mit- jedweder Attacke auf den Status quo ante zurückfedern? einschließen. Suburbanisierung UR B AN I S I E R UNG SU B Nach einer langen Phase der Reurbanisierung haben sich während der Pandemie verstärkt Anzeichen der Suburba- nisierung gezeigt. Das Einfamilienhaus mit Garten gewann ? einmal mehr an Bedeutung, denn Lockdown oder Quarantäne lassen sich hier besser ertragen und soziale Kontakte vergleichs- weise besser minimieren als in der gestapelten, zudem für viele kaum noch leistbaren Innenstadtwohnung. Mehr noch, RUNG die Wohnform wird unterschwellig zum Gesundheitsfaktor. Als weiterer Treiber der Suburbanisierung kommt die Ten- NISIE denz zum Homeoffice hinzu. Es war Ende der 1990er Jahre NG zwar ein Irrtum unserer Disziplin, dass sich mit dem Auf- A RU RB kommen des Internets und der Möglichkeit zu Telearbeit U SIE RE die Zwischenstadt endgültig als dominante Siedlungsform NI R BA durchsetzen würde – aber damals steckte die Digitalisierung ESU auch noch in ihren Kinderschuhen. Es gab keine professio- D nellen Video Clients und keine 5G-Technologie. Laut einer Umfrage des ADAC ging der Anteil der Tagespendler im ↑ Abb. 2 Urbanisierungszyklus, Quelle: KARO*, 2016 zweiten Lockdown um 18 % zurück, im ersten Lockdown sogar um 34 % (ADAC 2020), und große Unternehmen be- rechnen nun, wieviel Flächen und Kosten durch Remote- Diese Rüstung wäre im Alltag zu schwer und in der Konsequenz Work eingespart werden könnte. nicht lebenswert. Ein solches, rein auf Abwehr ausgerichtetes System würde zudem Transformationen behindern, wo sie Wo genau befinden wir uns also im Urbanisierungszyklus dringend erforderlich sind, wie etwa bei unseren Innenstädten. (→ Abb. 2)? Es gibt weitere Indizien, die für einen Suburbani- Oder es würde falsche Pfadabhängigkeiten stützen, wie wir sierungstrend sprechen. Das Einwohnerwachstum der Groß- dies bei der autogerechten Stadt erleben, die sich gerade in der städte zeigt in den zurückliegenden Jahren relevante qua-
19 ↓ Abb. 3 Nuova Pianta di Roma, Giambattista Nolli, 1748 (Ausschnitt) litative Aspekte: Während die Einwohnerzahlen der sieben größten Städte bis heute wachsen, zeigt eine Studie des Deut- schen Instituts für Wirtschaftsforschung (Kholodilin 2017: 44–45), dass das Wanderungssaldo der Inländer in diesen Städten bereits seit 2006 rückläufig und seit 2014 sogar nega- tiv ist. Verlässt die „deutsche Mittelschicht“ also die Städte, weil sich ihre Wohnwünsche in den überteuerten Kernstädten nicht mehr erfüllen lassen, und wird sich dies durch die Pan- demie dynamisieren? Es ist auf jeden Fall geboten, die Wanderungssalden weiterhin differenziert zu betrachten, wie auch die Zinsentwicklung, die die Bodenpreise in den Städten treibt und einen weiteren Push-Faktor für die Suburbanisierung darstellt. Wichtiger denn je sind daher regionale Kooperationen im Umland der großen Städte, damit keine weitere Zersiedelung stattfindet und sich auch dort die Städte im Sinne der dezentralen Kon- zentration konsequent nach innen entwickeln. Noch nie war die europäische Stadt privater als im Lock- down der Pandemie. Alles geschlossen, Suburbia-Feeling in der Fußgängerzone.
20 Die Stadt – ein Regelwerk Diese Pandemie war und ist ein Anschlag auf das Wesen der Sollten sich viele Einzelhändler oder Gastronomen von dem europäischen Stadt – auf ihre Riten, ihren Alltag, ihre Öffent- Schock der Pandemie nicht mehr erholen, müssten auch Kon- lichkeit. Und sie zeigt, wie sehr die Stadt doch ein Regelwerk zepte für die Ladenlokale entwickelt werden. In den Quartie- ist: Ändern sich die Regeln, ändert sich auch ihr Gebrauch ren bieten sich Zwischennutzungen oder aber dauerhafte und somit die Stadt selbst. Mit der Schließung fast aller Erd- Dienstleister aus der Kreativwirtschaft an. Nach den Home- geschossnutzungen während der Lockdowns zeigte sich deren office-Erfahrungen ist es auch denkbar, das Büro ins eigene Bedeutung – Einzelhandel, Gastronomie und Kultur sind der Haus zu holen, aber nicht zwingend in die eigene Wohnung. eigentliche Resonanzboden der Stadt. Unwillkürlich denkt Denn die Erfahrungen zeigen, dass die Improvisationskünste man an Nolli und seinen Plan von Rom, in dem die Grund- Grenzen haben und für eine dauerhafte Tätigkeit in den eige- risse öffentlicher Bauten dem öffentlichen Raum zugeschla- nen vier Wänden meist zu wenig Platz ist. Das nichtbesetzte gen werden (→ Abb. 3, S. 19). Diese Öffentlichkeit hatten unsere Ladenlokal in ein House-Office umzuwandeln wäre eine sinn- Städte verloren. Noch nie war die europäische Stadt privater volle Alternative – ein Coworking-Space im eigenen Haus, als im Lockdown der Pandemie. Alles geschlossen, Suburbia- der vom Arbeitgeber finanziert wird und gleichzeitig die Erd- Feeling in der Fußgängerzone. geschosse belebt. ↓ Abb. 4 Indikatoren der Vulnerabilität in Barcelona, links: Einwohner über 65 Jahre / rechts: Wohnungsgröße, Quelle: 300.000 km/s, 2020 (→ www.300000kms.net)
Großflächiger Shoppingmall E L E L D D Einzelhandel A N A N H H L K B E 21 D H A N B Inhaber geführter Kaufhaus Einzelhandel K M K Kirche Friedhof B P B 3 I lle Ha 1 M lle Ha T MESSE Ha lle 2 L E L D N A B H Logistik hAnDel Hafenlogistik KulTur ArBeiT VerKehr religion K KonVerSion B Ha lle 3 H K Ha lle 1 C B A D E L L N K 2 E T lle Ha A D M P II N H A H Bürogebäude Messe L A A T III P I Autohaus Parkhaus I Zentrum IV T II Kernstadt M Parkplatz Tankstelle II III Beplanter Innenbereich legende IV Die obsolete Stadt K Agglomeration Gründerzeitfabrik Kaserne H Forschergruppe Obsolete Stadt / Grafik: Rettich, Stoya, Tastel Gewerbe Industrie D III H T M Großflächiger Shoppingmall E L E L D D Einzelhandel A N A N H H L K IV B E D H A N B Inhaber geführter Kaufhaus Einzelhandel K M K Kirche Friedhof B P Inhaber- I geführter B B 3 I K lle L Ha legenDe E 1 D M lle Ha Zentrum Einzelhandel Messe Bürogebäude Parkplatz Kaserne N H A T MESSE Ha lle 2 L E L D N A H C A B H II Innere Stadt Logistik Großflächiger Hafenlogistik Einzelhandel Kino Autohaus Flughafen K Gründerzeitfabrik B lle 3 III Ha Produzierendes L 1 lle T E Ha D M Äußere Stadt Shoppingmall Gewerbe Tankstelle Friedhof Hafenlogistik Ha lle 2 N A II H Bürogebäude Messe L K A IV III A T P Agglomeration Kaufhaus P Industrie Parkhaus Kirche Autohaus Parkhaus I Zentrum IV T II Kernstadt Parkplatz Quelle: ↑ Abb. 5 Matrix obsoleter städtischer Typologien, S. Rettich, S. Tastel – Forschergruppe Obsolete Stadt, 2020 (→ www.obsolete-stadt.de) Tankstelle M III Beplanter Innenbereich K IV Agglomeration Gründerzeitfabrik Kaserne Quartier Forschergruppe Obsolete Stadt / Grafik: Rettich, Stoya, Tastel Stay home, stay safe – die goldene Regel der Pandemie unter- Ein so umgebautes und ausgestattetes Quartier wäre dann streicht die Bedeutung der Wohnung als Refugium und die eine „ideale Pandemiegemeinschaft“, die sich im Lockdown des Quartiers als räumliche Bezugsgröße für Nahversorgung nach innen richten und als Sozialverbund stützen könnte. und -erholung. Insofern nichts Neues. Sie verdeutlicht und Dies setzt aber die Neuordnung der statistischen Bezirke als verschärft aber auch die sozialen Ungleichheiten, die wir zwar sozialräumliche Entitäten voraus – eine Stadt der Quartiere, erahnen, von denen wir aber noch immer zu wenig wissen: die zudem präzise, anonymisierte Daten über das Infektions- Wo konzentrieren sich kleine Wohnungen, Wohnungen mit geschehen auf räumlicher Ebene liefern könnte. hohen Belegungszahlen, Gebäude ohne Balkone? Wo wohnen besonders viele ältere Menschen? Wie gut ist die Versorgung In der Pandemie erscheinen Städte aber bis heute als abstrakte mit Grünraum, Verkaufsflächen, Kitas und Schulen? Kurz: statistische Größen von Fallzahlen, R-Werten oder Inzidenzen, Welche Teilräume sind besonders vulnerabel und wo liegen nicht aber als ein System räumlicher Zellen, das mit diesen sie in der Stadt, und wo im Quartier? in Verbindung steht. Wir wissen bis heute nicht, welche räum- lichen Muster das Infektionsgeschehen in den Städten ge- Über ein GIS-Indikatoren-Set ließen sich die besonders vulne- zeichnet hat, und also auch nicht, wie Planung hätte beraten rablen Teilräume schnell identifizieren, wie ein Beispiel für oder steuern können. Das ist insofern erstaunlich als die Barcelona zeigt (→ Abb. 4). Solche Parameter sollten daher Cholera-Epidemien des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die fester Bestandteil von „Vorbereitenden Untersuchungen“ nach als Geburtsstunde der modernen Epidemiologie gelten, erst BauGB werden sowie die Behebung von Vulnerabilitäten ein durch räumliche Interventionen in das Trink- und Abwasser- generelles Sanierungsziel. system eingedämmt werden konnten.
22 Legende Die Obsolete Stadt H Gewerbe Industrie D T H M Großflächiger Shoppingmall E L E L D D Einzelhandel A N A N H H L K B E D H A N B Inhaber geführter Kaufhaus Einzelhandel K M K Kirche Friedhof B P B 3 I lle Ha 1 M lle Ha T MESSE Ha lle 2 L E L D N A B H Logistik Hafenlogistik K B Ha lle 3 lle 1 L Ha E D Ha lle 2 N A II H Bürogebäude Messe L A A T III P Autohaus Parkhaus I Zentrum IV T II Innere Stadt M Parkplatz Tankstelle III Äußere Stadt IV Agglomeration K Gründerzeitfabrik Kaserne Forschergruppe Obsolete Stadt / Grafik: Rettich, Stoya, Tastel ↑ Abb. 6 Stadtschema Obsolete Stadt, Quelle: S. Rettich – Forschergruppe Obsolete Stadt, 2020 (→ www.obsolete-stadt.de) Redundanzen und Obsoleszenzen Für eine vorausschauende, flexible und resiliente Stadtent- Sie sind Auslöser für Flächenverknappung, aber auch für Leer- wicklung werden deutlich mehr Spielräume für die soge- stände, die neuen Nutzungen zugeführt werden können. nannten Known Unknowns benötigt, also für die Heraus- Solche urbanen Obsoleszenzen waren in den letzten Dekaden forderungen, die wir kennen, von denen wir aber nicht ein Nebenprodukt der Globalisierung und ihrer Logistik. wissen, wann und in welchem Umfang sie wieder auf den Die Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland setzte Plan treten werden. Und das betrifft nicht nur diese Pan- gründerzeitliche Industrie- und Gewerbeflächen frei, die demie: Die Weltfinanzmarktkrise mit ihren unerwarteten Erfindung des Containers Häfen und Güterbahnhöfe. Hinzu Auswirkungen auf Boden-, Immobilienpreise und Mieten, kamen Kasernen, die nach dem Fall der Mauer obsolet wur- Migrationsbewegungen mit ihrem Raumbedarf für Erst- den. Diese großen Flächenressourcen für die Innenentwick- unterbringung oder der anhaltende Zuzug in die Großstädte lung gehen nun langsam zur Neige. und der damit verbundene Wohnungsmangel. Und nicht zuletzt der Klimawandel, der für die Zukunft noch viel Un- Die zukünftigen Transformationsfelder werden nicht mehr erwartetes bereithalten wird. All jene Herausforderungen so großflächig ausfallen, sondern eher kleinteilig und dispers. sind uns bekannt, und für jede einzelne bedarf es Flächen Zweitens werden neben der Globalisierung vor allem die Digi- für die Innenentwicklung, die kaum noch vorhanden sind. talisierung und der Klimawandel sowie der Wandel der Reli- Megatrends, also langanhaltende und grundlegende gesell- giosität Flächen freisetzen. Diese vorausschauend zu identi- schaftliche Entwicklungen wirken sich unmittelbar auf die fizieren, systematisch zu erschließen und umzubauen scheint Nutzung des Raumes aus. auf Grund der akuten Flächenknappheit zu einer wesentlichen
23 Aufgabe der Stadtentwicklung und des Städtebaus zu werden. Blickt man in die Geschichte zurück, zeigt sich aber, dass fast Auch wenn wir gerade erleben, dass das Auto wieder an Be- alle Forderungen bereits in den vier Punkten zur Mannigfaltig- deutung gewinnt, wird der Klimawandel auf lange Sicht eine keit von Städten von Jane Jacobs enthalten sind (Jacobs 2015). nachhaltige Verkehrswende unumgänglich machen. Vor allem Bevor also über grundlegend neue Leitbilder diskutiert wird, beim ruhenden Verkehr werden dann Flächengewinne zu wäre es angebracht, zunächst die alten und offensichtlich bis erzielen sein. Im religiösen Bereich sind es der Mitglieder- heute gültigen ins Werk zu setzen und aufgestaute Transfor- schwund der Kirchen sowie eine veränderte Bestattungskultur mationen voranzubringen. Vieles, was wir heute diskutieren, mit Trend zum Urnengrab, die Leerstände bei Kirchen und ist längst bekannt – Probleme wie Lösungen – und unterstreicht Pfarrhäusern erzeugen – oder bei Friedhöfen, die nach einer die Sichtweise, dass es sich bei COVID-19 nicht um die Ursache, Pietätsfrist umgenutzt oder als Freiflächen für Freizeit und sondern um einen Katalysator handelt, auch im Bereich des Erholung genutzt werden können. Städtebaus. Die größten Ressourcen entstehen durch Auswirkungen der Der Text ist eine gekürzte und für diese Publikation modifizierte Fassung Digitalisierung. Aktuell beobachten wir dies im Büro- und eines Artikels, der in der PlanerIn 01/2021 erschienen ist. Handelssegment. Mit Zunahme von Robotik und Industrie 4.0 werden aber laut Prognosen auch im produktiven Sektor größere Flächen obsolet (→ Abb. 5, S. 21 / Abb. 6). Wichtig ist, Quellenangaben dass diese Obsoleszenzen in den Städten als Chance begriffen und nicht der Spekulation überlassen werden. ADAC (2020): Corona und Mobilität – Mehr Homeoffice, weniger Berufsverkehr [online] → www.adac.de/verkehr/ standpunkte-studien/mobilitaets-trends/corona-mobilitaet Leitbild [16.09.2021] Jacobs, Jane (2015): Tod und Leben großer amerikanischer Auf räumlich-städtebaulicher Ebene verfolgen die meisten Städte. Bauwelt Fundamente. Birkhäuser: Basel. S. 96–131 Kommunen das Leitbild der kompakten, nutzungsdurch- Kholodilin, Konstantin A. / DIW (2017): Wanderungen mischten Stadt der kurzen Wege. Zu dessen Umsetzung in die Metropolen Deutschlands, in: Der Landkreis, kommen seit der Verabschiedung der Leipzig-Charta 2007 Nr. 1–2, 2017, S. 44–45 die Nachhaltigkeitsstrategie und eine integrierte Stadtent- Moreno, Carlos; Garnier, Marina. (2020): La Ville du quart wicklungspolitik diverser Politikfelder hinzu. Diese Eckpunkte d‘heure, Livre Blanc Nr. 2 haben sich auch in der Pandemie als verlässliche Richtschnur erwiesen. Das Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit ist noch immer eine brauchbare, weil schnell anzuwendende Checkliste, es reicht aber nicht mehr aus, um den Kompass zielgenau auszurichten – das zeigen schon die 17 SDGs der Vereinten Nationen. Die Krise lehrt uns zudem, dass zur Nachhaltigkeit auch Substrategien gehören, wie urbane Re- silienz, Subsistenz, Redundanz – und dass jede Krise eine eigene Systemrelevanz entwickelt, die es zu stützen gilt. Neben diesen größer angelegten Strategien und Entwick- lungszielen wird aber auch ein taktisches Repertoire benötigt, Prof. Stefan Rettich, Universität Kassel mit dem flexibler auf Unwägbarkeiten (Known Unknowns) reagiert werden kann und Experimente ermöglicht werden, Stefan Rettich (*1968) ist Architekt und Professor um die Krise als Chance für Innovationen nutzbar zu machen. für Städtebau an der Universität Kassel. Von 2011 bis Das Quartier in seiner sozialen, räumlichen und ökonomi- 2016 war er Professor für Theorie und Entwerfen an schen Dimension ist dafür der ideale Interventionsbereich der Hochschule Bremen, zuvor lehrte er vier Jahre am – und deckt sich, wie auch in der Neuen Leipzig-Charta ge- Bauhaus Kolleg in Dessau. Er ist Gründungspartner fordert, mit aktuellen Konzepten wie der 15-Minuten-Stadt und Mitinhaber von KARO* architekten. (Moreno/Garnier 2020).
Next Practice Urbane Resilienz
26 Next Practice – Urbane Resilienz vor Ort Das Memorandum „Urbane Resilienz“ gibt Handlungsempfehlungen und zeigt Chancen für transformative Veränderungsprozesse auf. Integrierte Ansätze urbaner Resilienz sind in vielen Kommunen, insbesondere im internationalen Raum, bereits gelebte Praxis. Zu Beginn des Erarbeitungsprozesses wurde daher der Blick auf gute Beispiele gerichtet. Vier ausgewählte internationale Beispiele zeigen, wie urbane Resilienz vor Ort entsteht und welche Erfahrungen damit gemacht wurden. Der Anteil der in Städten lebenden Menschen steigt weiter- Dazu haben sich in der letzten Dekade insbesondere im inter- hin ungebremst. Die Folgen der Klimaerwärmung und der nationalen Raum Netzwerke und Programme etabliert, die Corona-Pandemie zeigen beispielhaft auf, wie sich global auf die Entwicklung und Stärkung urbaner Resilienz zielen. eintretende Krisen und Katastrophen insbesondere auf urba- Der Erfahrungsaustausch und die Übertragung erfolgreicher ne Systeme lokal und regional massiv auswirken und einen Ansätze ist wie in der Nationalen Stadtentwicklungspolitik großen Teil der Bevölkerung betreffen. ein zentraler Aspekt. 57% Welche Strategien zur Steigerung der urbanen Resilienz werden im internationalen sowie nationalen Kontext verfolgt? Durch Programme wie Resilient Cities der OECD oder das Resilient Cities Network wurden in den vergangenen Jahren ressort- übergreifende Resilienzkonzepte erarbeitet, die insbesondere im internationalen Kontext den integrierten Planungsansatz stärken und das Thema Resilienz verankern. Resilienzstrategien oder -konzepte auf kommunaler Ebene der Weltbevölkerung leben bereits in den Städten (2021), die sind daher bislang überwiegend außerhalb Deutschlands Tendenz ist steigend. Dies macht Städte zu den wichtigsten vorhanden. Ein Blick auf die nationale Planungspraxis zeigt, Lebensräumen der Zukunft. Urbaner Resilienz und Zukunfts- dass der Begriff der Resilienz in Deutschland hauptsächlich fähigkeit dieser Räume kommt daher eine immer wichtiger im Zusammenhang mit Klimawandel und Klimafolgenan- werdende Rolle zu. Quelle: Vereinte Nationen passung benutzt wurde. Plötzlich eintretende Starkregenereignisse und extreme Hitze- und Dürreperioden sind für unsere Städte ebenso ein Stresstest wie die negativen Auswirkungen der Coro- Netzwerke (Auswahl) na-Pandemie. Vor diesem Hintergrund wird eine Ausein- Resilient Cities Network (ehemals 100 andersetzung mit der Reaktion, vor allem aber mit einer Resilient Cities der Rockefeller Foundation) möglichst guten Prävention von Krisen und Katastrophen → vgl. Interview, S. 44–47 immer wichtiger. Dabei können bestimmte Ereignisse auch City Resilience Profiling Program (UN-Habitat) durch die besten präventiven Maßnahmen nicht verhindert → vgl. Interview, S. 72–75 werden – die negativen Folgen für unsere Städte jedoch auf Programm Resilient Cities (OECD) das kleinstmögliche Maß reduziert werden. Ein Blick auf den Resilient Cities Program (World Bank) Stand der Praxis in Bezug auf die Integration von Resilienz RESCCUE Projekt (Europäische Kommission) in Stadtentwicklung und damit verbundene Konzepte zeigt, Making Cities Resilient Campaign (UNDRR) dass insbesondere im internationalen Raum der Begriff seit einigen Jahren in der Stadtplanung und -entwicklung intensiv berücksichtigt wird.
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