Erziehung & Wissenschaft 04/2021 - GEW
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2 GASTKOMMENTAR Foto: privat TOBIAS PETER Fortschritt ist möglich Ein Blick in deutsche Klassenzimmer konnte einem schon Das erinnert an Schülerinnen und Schüler, die ein Gruppen- lange so vorkommen, als hätte man mit einer Zeitmaschine referat erstellen sollten und die am Ende jeweils einen Ein- eine Reise in die Vergangenheit unternommen. Da befin- zelvortrag vor der Klasse halten. det sich die Uralt-Tafel wie ein Altar am Kopf des Raumes – Das alles frustriert. Dennoch bleibt die Hoffnung, dass sich und gelegentlich riecht auch das Wasser im Tafeleimer, als durch die – wenn auch langsam erfolgenden – Milliardenin- stammte es aus der 1960ern. Es fehlt an stabilem Internet vestitionen und die neue Aufmerksamkeit für das Thema und digitalen Lernmitteln. Der Unterricht findet im wahrs- Schule auch grundsätzlich etwas wandeln kann. Das Ziel ten Sinn des Wortes hinter verschlossenen Türen statt: ohne muss eine bessere individuelle Förderung jeder Schülerin dass Lehrerinnen und Lehrer sich gegenseitig besuchen und jedes Schülers sein: mit den Mitteln eines modernen und hinterher Tipps geben und kritisieren. Und noch etwas Unterrichts in vielfältigen Formaten, in dem die Lehrkräfte hat sich nie ausreichend geändert: Diejenigen, die aus bil- mehr Coach als Vorturner sind. Solcher Fortschritt ist mög- dungsfernen Familien kommen, erhalten unterm Strich die lich, aber auch nicht leicht in Zeiten, in denen der Lehrkräfte- schlechteren Noten und Bildungschancen. mangel nicht von heute auf morgen verschwinden wird. Und Die Corona-Krise hat die öffentliche Aufmerksamkeit für in denen Schulen sicher noch eine Weile Gebäude mit vielen diese Probleme, die allen Verantwortlichen seit Ewigkeiten ähnlich großen Räumen sein werden – und nicht moderne bekannt sind, erhöht. Besteht nun die Chance, dass von der Lernlandschaften mit einer Vielzahl von Gemeinschafts- und Krise mehr bleibt als die Erinnerung an mäßig geglücktes Rückzugsorten. Homeschooling? Verändert sich dauerhaft etwas zum Bes- Meine Bitte an Lehrergewerkschaften und -verbände ist: seren? Seien Sie das Sprachrohr für die Lehrerinnen und Lehrer, die Wer auf die unmittelbare Krisenbewältigung blickt, findet Schule neu gestalten wollen! Stemmen Sie sich nicht gegen beides: Anlass zu Hoffnung, aber auch Hinweise darauf, dass Ideen wie verpflichtende Fortbildungen im digitalen Unter- die Politik und das gesamte Bildungssystem den Wandel nur richten in den Ferien, sondern pochen sie darauf, dass jede viel zu langsam gestemmt bekommen. Da wurden zwar, für Lehrerin und jeder Lehrer eine solche Fortbildung bekommt. die Verhältnisse im deutschen Bildungsföderalismus ver- Das brächte die Kultusministerinnen und -minister unter gleichsweise schnell, Sonderprogramme für Leihlaptops für Zugzwang. Schülerinnen und Schüler aus armen Familien geschnürt. Meine Bitte an alle Lehrkräfte: Warten Sie nicht auf die Poli- Gleichzeitig ist es bislang nicht gelungen, die Milliarden aus tik, sondern fangen Sie, wo immer es machbar ist, an! Es gibt dem Digitalpakt zügiger als geplant an die Schulen zu brin- keine bessere Revolution in der Schule als Unterricht, der gen. Das Geld ist da, aber es fließt zu langsam. wirklich die individuelle Entwicklung der Schülerinnen und Einmal mehr zeigt sich auch: Im deutschen Bildungsfödera- Schüler in den Mittelpunkt stellt. Echte Revolutionen kom- lismus funktioniert Kooperation nur schwerfällig oder gar men von unten, nicht von oben. nicht. Einen gemeinsamen Stufenplan mit klaren Regeln, bei welchem Inzidenzwert die Schulen in den Wechsel- und Tobias Peter, Distanzunterricht gehen sollen, gibt es auch ein Jahr nach Hauptstadtkorrespondent beim RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) Beginn der Pandemie nicht. Jedes Land macht, was es will. und Host des Podcasts „Die Schulstunde“ Erziehung und Wissenschaft | 04/2021
INHALT 3 Prämie Inhalt des Monat s Seite 5 IMPRESSUM Erziehung und Wissenschaft Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung · 73. Jg. Herausgeberin: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft im Deutschen Gewerkschaftsbund Vorsitzende: Marlis Tepe Redaktionsleiter: Ulf Rödde Gastkommentar Redaktion: Jürgen Amendt Redaktionsassistentin: Katja Wenzel Fortschritt ist möglich Seite 2 Postanschrift der Redaktion: Reifenberger Straße 21 60489 Frankfurt am Main Impressum Seite 3 Telefon 069 78973-0 Fax 069 78973-202 katja.wenzel@gew.de www.gew.de Auf einen Blick Seite 4 facebook.com/GEW.DieBildungsgewerkschaft twitter.com/gew_bund Prämie des Monats Seite 5 Redaktionsschluss ist in der Regel der 7. eines jeden Monats. Erziehung und Wissenschaft erscheint elfmal jährlich. Nachdruck, Aufnahme in Onlinedienste und Internet Schwerpunkt: Corona-Pandemie – eine Zwischenbilanz sowie Vervielfältigung auf Datenträger der „Erziehung und Wissenschaft“ auch auszugweise nur nach vorheri- 1. Corona deckt Probleme der Bildungspolitik auf: Kein „Weiter so wie bisher“! Seite 6 ger schriftlicher Genehmigung der Redaktion. 2. Jugendhilfe: Am Rande der Gesellschaft – und der Kräfte Seite 10 Die E&W finden Sie als PDF auf der GEW-Website unter: www.gew.de/eundw. 3. Gesundheitsschutz und Bildungsauftrag: Bildung im Ausnahmezustand Seite 12 Hier wird die E&W auch archiviert. 4. Schule unter schwierigen Bedingungen: Augen zu und durch Seite 14 Gestaltung: Werbeagentur Zimmermann GmbH 5. Krise in der betrieblichen Berufsausbildung: Absehbarer Fachkräftemangel Seite 16 Kurhessenstraße 14 60431 Frankfurt am Main 6. 750-Milliarden-Euro-Paket EU-Hilfe: „Größte Bildungskrise seit 100 Jahren“ Seite 18 Für die Mitglieder ist der Bezugspreis im Mitglieds- 7. DIPF-Direktor Kai Maaz zur Situation der Schulen: „Prüfungen sind nicht alles“ Seite 20 beitrag enthalten. Für Nichtmitglieder beträgt der Bezugspreis jährlich Euro 7,20 zuzüglich Euro 11,30 8. Situation der Studentinnen und Studenten: WG-Zimmer statt Hörsaal Seite 22 Zustellgebühr inkl. MwSt. Für die Mitglieder der Landesverbände Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen, 9. GEW-Kommentar: Eine harte Aufgabe Seite 25 Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen werden die jeweiligen Landeszeitungen der E&W beigelegt. Für un- verlangt eingesandte Manuskripte und Rezensionsexem- Jugendhilfe und Sozialarbeit plare wird keine Verantwortung übernommen. Die mit dem Namen des Verfassers gekennzeichneten Beiträge Große Koalition reformiert das SGB VIII: Die Crux mit dem Kindeswohl Seite 26 stellen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder der Herausgeberin dar. Verlag mit Anzeigenabteilung: Bildungspolitik Stamm Verlag GmbH Goldammerweg 16 Lehrkräftemangel in MINT-Fächern steigt weiter: Fünf nach zwölf Seite 28 45134 Essen Verantwortlich für Anzeigen: Mathias Müller Telefon 0201 84300-0 Fax 0201 472590 Hochschule und Forschung anzeigen@stamm.de www.erziehungundwissenschaft.de 1. Biologin Lena Wilfert zu den Brexit-Folgen: Heimweh nach Cornwall Seite 30 gültige Anzeigenpreisliste Nr. 41 vom 01.01.2019, 2. Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs: „Unverändert miserabel“ Seite 32 Anzeigenschluss ca. am 5. des Vormonats Nutzungsrechte für digitale Pressespiegel erhalten Sie Internationales über die PMG Presse-Monitor GmbH unter www.presse-monitor.de 1. Patentierung für die Herstellung unter Verschluss: Impfstoff für alle?! Seite 34 Erfüllungsort und Gerichtsstand: Frankfurt am Main 2. Kolumbianische Gewerkschaft FECODE kämpft: „Wir wollen frei leben“ Seite 36 Gesellschaftspolitik ISSN 0342-0671 Bildungsinitiative Ferhat Unvar in Hanau: „Wir müssen etwas verändern“ Seite 38 e Die E&W wird auf 100 Prozent chlorfrei gebleichtem Recyclingpapier gedruckt. emi d Leserforum Seite 39 Pan a - n on oro a Diesmal r Seite 48 c o ur de/ C s z . nfo gew Titel: Werbeagentur Zimmermann I elle w. u Ak ww t
4 AUF EINEN BLICK Grenzen gesetzt Silberner Bär für Lehrer-Doku Das Landesarbeitsgericht (LAG) Köln hat mit Urteil vom 7. Okto- Ein Film über eine Schulklasse im nordhessischen Stadtallen- ber 2020 (5 Sa 451/20, https://openjur.de/u/2312089.html) die dorf und ihren Lehrer hat bei der Berlinale überzeugt: Der Befristung eines Arbeitsvertrags für unwirksam erklärt, weil die Preis der Jury des Film- Beschäftigung nicht der wissenschaftlichen Qualifizierung för- festivals ging an den Do- derlich war. Ein wegweisendes Urteil, mit dem erstmals die mit kumentarfilm „Herr Bach- der Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) mann und seine Klasse“. geänderten Befristungsbedingungen gewürdigt werden, für Regisseurin Maria Speth die sich die GEW im Gesetzgebungsverfahren vehement einge- hat dafür 2017 ein halbes setzt hatte. Das LAG hat festgestellt, dass die Befristung einer Jahr lang die Klasse 6b der Kollegin an einem nordrhein-westfälischen Forschungsinstitut Stadtallendorfer Georg- sich nicht auf den Qualifizierungstatbestand des WissZeitVG Büchner-Schule und ihren Foto: Madonnen Film gründen könne, denn hierfür reiche der bloße Zugewinn an Be- Lehrer Dieter Bachmann rufserfahrung nicht aus. Klingt banal, stellt aber tatsächlich eine begleitet. In dem 217-mi- gängige Befristungspraxis an Hochschulen und Forschungsin- nütigen Dokumentarfilm stituten in Frage. Berufung vor dem Bundesarbeitsgericht ist geht es um den Musikleh- zugelassen und wurde bereits eingelegt. Die GEW freut sich, in rer Bachmann und seine Dieter Bachmann dieser Sache bald ein höchstrichterliches Urteil zu haben. aus zwölf Nationen stam- www.gew.de/lag-befristungsmissbrauch menden Schülerinnen und Schüler. Bachmann, der mittlerweile pensioniert und GEW- Mitglied ist, zeigt in dem Film die Notwendigkeit, jedem Kind Personalrätepreis 2021 zu vermitteln, dass es wertvoll sei. Der Film soll am 16. Sep- Bereits zum elften Mal lobt die tember in die Kinos kommen. Zeitschrift „Der Personalrat“ den „Deutschen Personalräte- Preis“ aus. Er steht unter dem Online-Lehre funktioniert Motto „Initiativen für Beschäftigte“. Ausgezeichnet werden Die Corona-Pandemie beeinträchtigt den Vorlesungs- und Personalräte für beispielhafte Projekte und Initiativen aus Prüfungsbetrieb an den Hochschulen kaum. Das ist das Er- den Jahren 2019 bis 2021. Bewerben können sich sowohl gebnis einer Befragung von mehr als 27.000 Studentinnen einzelne Personalratsmitglieder, komplette Gremien, aber und Studenten sowie 665 Hochschullehrkräften durch das auch dienststellenübergreifende Personalrats-Kooperationen. Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), die Mitte März ver- Mitmachen können darüber hinaus Jugend- und Auszubilden- öffentlicht wurde. Demnach fiel nur knapp 1 Prozent der ge- den- sowie Schwerbehindertenvertretungen – diese jeweils planten Vorlesungen aus. Wie das CHE weiter mitteilte, konn- über den Personalrat ihrer Dienststelle. Verliehen wird der ten durch die Umstellung auf digitale Formate auch Seminare, Preis Mitte November in Berlin. Bewerbungsschluss ist der Übungen und Tutorien von fast allen Lehrenden wie geplant 31. Mai. Weitere Infos: www.dprp.de angeboten werden. Fächerübergreifend waren die Studierenden mit der Orga- nisation an ihrer Uni mehrheitlich zufrieden. Drei von vier Umfrage zur Covid-19-Impfung vergaben laut Mitteilung gute oder sehr gute Noten für die Bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie spielen Impfun- Möglichkeit, weiter Prüfungsleistungen zu erbringen oder gen eine entscheidende Rolle. Lehrkräfte an Grund-, Förder- angerechnet zu bekommen. und Sonderschulen sind in die Priorisierungsgruppe 2 ein- Nur 20 Prozent der Hochschullehrkräfte wünschen sich eine sortiert, alle anderen in Prio-Gruppe 3. Sichere und effektive Rückkehr zu reinen Präsenzveranstaltungen. Die große Mehr- Impfstoffe sind der Schlüssel für eine erfolgreiche Bekämp- heit will, dass digitale Lehrelemente mit eingebunden wer- fung der Pandemie. Im Rahmen der wissenschaftlichen Stu- den und Präsenzveranstaltungen ergänzen. Nur 2 Prozent die „Sicht und Meinung der Lehrerschaft zu Covid-19 und sprachen sich langfristig für ein reines Online-Modell aus zur Dringlichkeit einer Covid-19 Impfung“ führt die Charité (s. Schwerpunkt in dieser Ausgabe, S. 22 ff.). Berlin derzeit eine bundesweite Befragung von Lehrkräf- ten an allgemeinbildenden Schulen durch. Die Umfrage soll die Sicht und Meinung der Lehrerschaft zu Covid-19 am Ar- beitsplatz Schule und zur Dringlichkeit einer Impfung gegen In eigener Sache Covid-19 erfassen. Zudem werden medizinische Parameter Die Drucklegung dieser Ausgabe der E&W erfolgte zur Einschätzung des individuellen Erkrankungs- und Kom- am 25. März 2021. Aktuelle Entwicklungen hinsicht- plikationsrisikos für Covid-19 erfragt (Alter, Geschlecht, Vor- lich der Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona- erkrankungen). Die Teilnahme erfolgt über einen Link, ist Pandemie konnten daher nicht mehr berücksichtigt anonym, und eine Registrierung ist nicht erforderlich. werden. bit.ly/charite-impfumfrage-lehrkraefte Erziehung und Wissenschaft | 04/2021
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6 CORONA-PANDEMIE – EINE ZWISCHENBILANZ Die Corona-Krise ist wie ein Escape-Room aus dem wir nur rauskommen, wenn wi zusammenarbeiten. Können wir bitte aufhören zu streiten und nochmal die Aufgabe lesen? @ac Kein „Weiter so wie bisher“! // Die Corona-Pandemie hat ver- In der Corona-Pandemie kann man enten billigend in Kauf genommen hat. drängte und verschleppte Pro den Eindruck gewinnen, das Wohl der Das Thema Bildungsbenachteiligung bleme der Bildungspolitik gna- Bildungsnation Deutschland hängt an kam dagegen erst verstärkt auf, als es denlos zum Vorschein gebracht. „gerechten“ und „vergleichbaren“ Abi galt, die Unzufriedenheit der Beschäf- Jede Krise birgt aber auch die turnoten. Die Reifeprüfungen korrekt tigten mit dem unzureichenden Infekti- Chance, Dinge noch einmal neu umzusetzen war so wichtig, dass man die onsschutz an den Schulen abzuwehren. zu denken, Fehler zu analysieren Gesundheitsgefährdung der Lehrkräfte Strukturen, die zu einer Verfestigung und aus diesen zu lernen. // sowie der Abiturientinnen und Abituri- sozialer Ungleichheit führen, wurden da- Erziehung und Wissenschaft | 04/2021
CORONA-PANDEMIE – EINE ZWISCHENBILANZ 7 Jugendkulturen. Die Schule steht in der bote und Kommunikationsformen des Verantwortung, die Heranwachsenden neuen, digitalen Zeitalters möglich zu unterstützen, die Entwicklungen wäre. Hinzu kommen Verhaltenskon- mitzugestalten und verantwortungs- trollen durch die Erfassung von Meta- bewusst mit digitalen Medien umzuge- daten wie Bearbeitungsdauer und Auf- hen. In der Pandemie hat sich allerdings merksamkeitsspanne. Abgesehen von gezeigt, dass in der Nutzung digitaler der Problematik einer solchen Daten- Medien und Tools nicht nur Chancen erhebung geht es dabei wohl in erster liegen, sondern dass auch die Gefahr Linie um die Kontrolle und Optimierung neuer sozialer Gaps besteht. Die Politik des „Humankapitals“ und nicht um die hat auf die ungleiche Ausstattung der Bildung kritisch denkender und kreati- Lernenden mit digitalen Endgeräten ver junger Menschen. mit einem Sonderprogramm reagiert. Die Gleichsetzung von Fernunterricht Das war gut und richtig. Allerdings war mit dem Lernen mit digitalen Mitteln die Umsetzung des Programms wieder ist ebenfalls sehr einseitig. Sie sugge- von Ausschlüssen und Diskriminierun- riert, dass Lernen auf Distanz nur digital gen geprägt: Geflüchtete Kinder und möglich sei. Dabei lernten und lernen m, Jugendliche waren nicht mitbedacht worden, ebenso die besonderen Be- dürfnisse der Lernenden mit Behin- Kinder und Jugendliche schon immer auch zu Hause mit analogen Mitteln wie Büchern, Papier, Bleistift und An- ir derungen und Unterstützungsbedarf schauungsmaterial. Wesentliche Kenn- (s. E&W 3/2021). Auch kamen nicht alle zeichen guten Unterrichts sind der Endgeräte, die gebraucht wurden, an Methodenmix und die Einbeziehung der den Schulen an. Umwelt außerhalb der Schule. Wie viel Insgesamt läuft die Umsetzung des biologisches und ökologisches Wissen Digitalpaktes schleppend. Geteilte Zu- kann man bei einem Waldspaziergang ständigkeiten zwischen Bund, Ländern oder im Stadtpark erwerben? Gerade und Kommunen führen zu erheblichen hierbei ist eine gute Mischung von ana- Reibungsverlusten. Schulen, die ohne- logem Erleben und dem Einsatz digitaler hin abgehängt sind und in armen Kom- Hilfsmittel besonders fruchtbar. Mit dem munen liegen, drohen den Anschluss zu Smartphone und entsprechenden Apps verlieren. Versprechen, dienstliche End- lassen sich Pflanzen und Tiere bestim- geräte zu stellen, Fortbildungen anzu- men, Sammlungen anlegen und Wissen bieten sowie Hard- und Software durch recherchieren. Viele Lehrkräfte haben in IT-Experten zu administrieren, werden der Verschränkung digitaler und analo- meist nicht eingehalten. Hier muss die ger Methoden kreative Unterrichtsideen Kooperation zwischen den verschiede- entwickelt. Der Austausch und die För- nen Entscheidungs- und Verwaltungs- derung dieser Konzepte trägt wesentlich chimbau, Twitter ebenen dringend verbessert werden. Indes sind Tablets und digitale Lern- mehr zur Bildung der jungen Menschen bei als die kritiklose Übernahme der programme natürlich kein Allheilmit- Tools aus der Digitalindustrie. Grafik: GEW tel gegen die vielfältigen Probleme im Zu überprüfen ist, ob die Angebote auf System Schule. In der politischen De- den diversen Lernplattformen barriere- batte wird dagegen häufig so getan, als frei sind, durchgängige Sprachbildung könnte man alle Herausforderungen berücksichtigen und Differenzierungen gegen weiterhin nicht in Frage gestellt. vom Lehrkräftemangel bis zur großen beinhalten. Auch hier will die GEW zum In vielen bildungspolitischen Feldern Heterogenität der Lerngruppen digital Erfahrungsaustausch beitragen. In dem sind nun Neujustierungen notwendig, lösen. Ein massiv von der Digitalwirt- Bundesforum „Bildung in der digitalen um die Bildung krisenfest zu machen: schaft beworbenes Zauberwort heißt Welt“ werden die Expertisen der GEW- in diesem Zusammenhang „Learning Bundesausschüsse und -Landesverbän- 1. Digitalisierung Analytics“ (s. E&W 11/2019). Da die de zusammengetragen und in die öf- Den Digitalpakt und dessen Erwei- Aufgabenformate hier meist einem fentliche Debatte eingebracht. terungen hat die GEW grundsätzlich Richtig-Falsch-Schema folgen und die begrüßt. Junge Menschen wachsen in Programme auf Motivationskonzepte 2. Gemeinsames Lernen – Inklusion einer digitalisierten Welt auf, digitale des Reiz-Reaktions-Lernens setzen, be- Eine weitere Erfahrung aus der Pan- Medien spielen eine entscheidende wirken sie das Gegenteil dessen, was demie ist, dass eine gute Qualität in- Rolle in ihrer Sozialisation und in den mit der Nutzung der kreativen Ange- klusiven Unterrichts hilfreich war, alle >>> Erziehung und Wissenschaft | 04/2021
8 CORONA-PANDEMIE – EINE ZWISCHENBILANZ >>> Kinder und Jugendlichen während der 3. Ausstattung der Schulen Schule. Die Jugendhilfe unterliegt seit Schulschließungen im Distanzunterricht Überdeutlich wurde, wie fatal sich das Jahren den gleichen Sparzwängen wie zu erreichen. Gründe dafür sind, dass Sparen an der Bildung auswirkt. Zu die Bildungseinrichtungen. Die Mittel inklusive Schulen Unterrichtskonzepte Beginn der Pandemie konnten Hygi- müssen aufgestockt und Konzepte ei- entwickelt haben, die einerseits auf die enepläne nicht eingehalten werden, ner besseren, systematischen Zusam- Selbstverantwortung und das selbst- weil es in den Schulen an elementaren menarbeit von Schule und Jugendhilfe ständige Lernen setzen und anderer- Dingen wie fließendem Wasser, Seife entwickelt werden. seits der Verschiedenheit der Lernen- und Tüchern fehlte. Lüftungsvorgaben den Rechnung tragen. Hilfreich sind konnten aufgrund maroder Fenster Fazit offene Aufgaben, die gemeinschaftlich nicht umgesetzt werden. Das Unter- Lehrende und Lernende brauchen jetzt und auf verschiedenen Niveaus bear- richten in kleineren Gruppen scheiterte Zeit, Erfahrungen auszutauschen, Ver- beitet werden können. Statt aber die an fehlendem Personal und fehlenden säumtes nachzuarbeiten und miteinan schulische Inklusion massiv zu fördern, Räumen. All diese Defizite mussten der über das Erlebte ins Gespräch zu konnte es der Politik nicht schnell genug von Schulleitungen, Lehrkräften, Eltern kommen. Was sie nicht brauchen, sind gehen, ihre althergebrachten Vorstel- sowie den Schülerinnen und Schülern Stoff- und Prüfungsdruck sowie das lungen von Klassenarbeiten, Frontalun- kompensiert werden. Klar ist, auf allen Lamento von der „verlorenen Corona- terricht und Stoffhuberei wiederherzu- Ebenen muss mehr Geld für die Schulen Generation“. Viele Kinder und Jugendli- stellen. zur Verfügung gestellt werden. Ein Mas- che haben Neues und Anderes gelernt. Es wurde sogar massiv versucht, den terplan gegen den Fachkräftemangel ist Sie waren und sind natürlich auch psy- Eindruck zu erwecken als seien Bil- ebenfalls überfällig. chisch durch die Corona-Krise belas- dungsbenachteiligungen erst mit der tet. Sie brauchen Unterstützung und Pandemie entstanden. Wie wenig wirk- 4. Kinderarmut und häusliche Gewalt Empowerment – und keine Defizitori- lich an alle Schülerinnen und Schü- Das Leid von Kindern aus Armutsver- entierung. Das ständige Jammern vom ler gedacht wurde, wird allein daran hältnissen und aus psychosozial belas- „verpassten Stoff“ negiert die pädago- deutlich, dass man Kinder mit sonder- teten Familien wird während der Pan- gischen Anstrengungen der Lehrkräfte pädagogischem Unterstützungsbedarf demie verstärkt in der Öffentlichkeit und stempelt eine ganze Generation zunächst einmal komplett vergessen diskutiert. Die Politik nahm dieses Pro- Lernender zu „Losern“. hatte. Auch an Kinder und Jugendliche, blem zum Anlass, auf Schulöffnungen Nach der Pandemie werden der Vertei- die dabei sind, die Zielsprache Deutsch ohne ausreichenden Infektionsschutz lungskampf um Ressourcen sowie der zu erwerben, wurde nicht gedacht. zu setzen. Ganz so, als sei das Problem, Wunsch nach „Normalität“ eine neue Hier waren die Kinder im Vorteil, die dass immer mehr Kinder familiärer Ge- Qualität erreichen. Hier ist die GEW ge- an einer inklusiv arbeitenden Schule walt und Vernachlässigung ausgesetzt fragt, sich massiv einzumischen. Schon lernen. Sie gehören zu ihrer Klasse und sind, erst mit der Pandemie entstanden jetzt drängen Stiftungen und Unterneh- werden selbstverständlich mitgedacht. und könnte durch Präsenzunterricht ge- men verstärkt in die Debatte. Sie werden Das Thema Schulstruktur und Inklusion löst werden. Aber schon vorher gab es gerne angehört, weil sie einfache und muss deshalb nach der Pandemie unbe- nur wenige Konzepte des umfassenden verständliche Lösungen anzubieten ha- dingt verstärkt in die politische Debatte Kinderschutzes und der systemischen ben. Die Zusammenarbeit mit Gewerk- eingebracht werden. Zusammenarbeit von Jugendhilfe und schaften wird von der Politik eher als anstrengend empfunden, weil diese For- derungen stellen, die Geld und Personal kosten. Jetzt ist entscheidend, dass sich die GEW als bildungspolitischer Profi anbietet und die berechtigten Forderun- gen mit konkreten pädagogischen und bildungspolitischen Ideen und Konzep- ten verbindet. Dabei hilft das Alleinstel- lungsmerkmal der GEW: Sie organisiert Beschäftigte aus allen Bildungsbereichen und kann die verschiedenen Perspekti- ven optimal miteinander verbinden. Sie hat ein klares Konzept, was unter Bildung zu verstehen ist und wie eine strukturel- le Veränderung des Schulsystems ausse- hen muss. Foto: StockSnap Nach der Pandemie sind in vielen bildungspolitischen Feldern Neujustierungen notwendig. Ilka Hoffmann, GEW-Vorstandsmitglied Schule Erziehung und Wissenschaft | 04/2021
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10 CORONA-PANDEMIE – EINE ZWISCHENBILANZ Am Rande der Gesellschaft – und der Kräfte // Wer in der Jugendhilfe arbeitet, genau hinzuschauen, oder als Begleiter, hat oft kaum eine Wahl: Benach- der so lange kommt wie nötig. „Ohne teiligte Kinder, Jugendliche und Vertrauen und emotionale Nähe geht Familien brauchen Unterstüt- das nicht, von beidem geht in Videokon- zung – gerade dann, wenn die ferenzen zu vieles verloren.“ Also setzt Zeiten schwierig sind. Und das sich der 62-Jährige seine Maske auf und Arbeiten via Laptop oder Tablet geht hinein in die meist nicht gerade stößt schnell an Grenzen. // großzügig geschnittenen Wohnungen: Er sei „nicht sehr ängstlich“, erklärt er Alle Welt geht ins Digitale, auch Harald dazu nur, und dass Lüften wichtig, im Bischoff bietet für das Gespräch mit der Winter aber schwierig sei. Ausführlich E&W eine Videokonferenz an: „Dann berichtet er von den Fortschritten, die können wir uns auch sehen“, sagt er. er erlebt: Die Mutter, mit der er seit Der Sozialarbeiter, 62, drei Jahrzehnte zwei Jahren bespricht, wie sie ihre eige- Berufserfahrung, lehnt neue Medien nen Grenzen findet und zugleich ihren nicht ab. Doch für seine Arbeit sei das Kindern welche setzt, habe sich enorm Fotos: Christoph Bächtle „kaum vorstellbar“ – und zwar in al- entwickelt: „Zu Beginn war ich zweimal len drei Tätigkeiten: Bischoff begleitet die Woche da, nun nur noch alle 14 schwer Drogenabhängige, ist ambulan- Tage. Wenn alles gut geht, kommt sie ter Betreuer psychisch instabiler Men- bald ohne mich zurecht.“ schen und sozialpädagogischer Famili- Das ständige Austarieren zwischen den enhelfer. „Was davon sollte ich aus der Ein „steter Kampf“ Bedürfnissen und Rechten der Eltern, Distanz machen?“, fragt er, „je mehr Aus Sicht des Familienhelfers wie des Kinder und Mitarbeitenden sei das Anlaufstellen schließen, desto mehr Ge- Jugendhilfesystems wäre das ein großer Anstrengendste, sagt Betriebsrätin Iska sprächsbedarf gibt es. Und wer ohnehin Erfolg. Doch zur Wahrheit gehört auch: Müller. psychische Probleme Bezahlt wird Bischoff für jede Stunde, hat, erlebt diese die er bei der Mutter sitzt, nicht für die weit schlimmer Hin- und Rückfahrt, nicht für Gespräche und Jugendliche. Die Belastung sei im- als zuvor.“ mit dem Jugendamt oder seinem Trä- mens, schildert Thomßen, zuvorderst Als sozialpä- ger. Und auch nicht für die Zeit, in der für jene, die in den Wohngruppen arbei- dagogischer er darauf wartet, dass ihm eine neue ten: „Die Kolleginnen und Kollegen kön- Familienhelfer Familie vermittelt wird. Fragt man ihn, nen nicht aus der Ferne arbeiten. Und ist Bischoff was er sich wünscht, sagt er: „Bessere sie haben ja auch Angehörige, um die im Sinne des Arbeitsbedingungen, ganz unabhängig sie sich sorgen.“ Zugleich beobachten Kinderschutzes von der Pandemie.“ Und: „Mehr Auf- die nahezu 200 Mitarbeiterinnen und unterwegs; merksamkeit dafür, was wir leisten.“ Mitarbeiter, wie Kinder und Jugendli- um vor „Bei uns arbeitet ein Bereich an vor- che verlorenzugehen drohen: „Wir hö- Ort derster Front, der in den Debatten ren von Depressionen, von Magersucht kaum vorkommt“, erklärt Wera Thom- und vielem mehr“, sagt Thomßen, und: ßen. Der Tübinger Träger KIT Jugend- „Die Kinder- und Jugendpsychiatrien in hilfe, bei dem sie arbeitet, bietet von und um Tübingen sind voll.“ Thomßen Jugendwohngruppen über Schulsozial- leitet den Bereich „Vermittlungs- und arbeit bis zur sozialpädagogischen Fa- Beratungsdienst für Erziehungsstellen“ milienhilfe die ganze Bandbreite an Un- bei ihrem Träger; das sind pädagogisch terstützung für benachteiligte Kinder ausgebildete Familien, die im Auftrag Fragt man Harald Bischoff, was er sich wünscht, antwortet er: „Bessere Arbeitsbedingungen, ganz unabhängig von der Pandemie.“ Erziehung und Wissenschaft | 04/2021
CORONA-PANDEMIE – EINE ZWISCHENBILANZ 11 des Jugendamtes Kinder aufnehmen. Sinne der Kinder, unserer eigenen Denn zur Realität gehört auch: Einen „Auch die arbeiten längst an ihren Grenzen, auf der Suche nach flexiblen großen Teil der Arbeit mit denen, die Grenzen“, berichtet sie, „was sie leisten, Lösungen. Das ständige Austarieren wenig Stimme haben, leisten prekär ist schon ohne Homeschooling beacht- ist das Anstrengendste“, so Müller. Die Beschäftigte, die mit jedem Laut ihren lich.“ Deswegen werden sie eng beglei- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Job riskieren könnten. Karla Gruber tet, ebenso wie die Kinder, die auch in KIT-Jugendhilfe wurden, wie die Grund- etwa äußert sich hier nicht mit ihrem diesen Zeiten den Kontakt zu ihren leib- und Förderschullehrkräfte sowie die Er- richtigen Namen, weil sie sonst kaum lichen Eltern nicht verlieren sollen. „Das zieherinnen und Erzieher, in die zweite die wenig professionelle Haltung ihres Elternrecht sticht sozusagen Corona“, Priorisierungsgruppe für das Impfen freien Trägers offen ansprechen kann. sagt Thomßen. aufgenommen. „Doch was ist mit den Sie ist Schulbegleiterin, was norma- „Also sorgen wir für Bedingungen, zu Erziehungsstellen und mit den Jugend- lerweise im Wortsinne bedeutet, eine denen diese Treffen möglich sind“, lichen in den Wohngruppen?“, fragt Schülerin oder einen Schüler mit Behin- erzählt die Sozialarbeiterin Iska Mül- Müller und sagt: „Im Grunde hätte auch derung in den Unterricht zu begleiten. ler. Sie berät und begleitet bei der längst ein Impfstoff für Kinder und Ju- Seit die Schulen für den Präsenzunter- KIT Jugendhilfe Tübingen die Familien gendliche umfassend getestet werden richt geschlossen sind, loggt sie sich und ist stellvertretende Betriebsrats- müssen. Normalität wäre so wichtig.“ mit der ganzen Klasse von zu Hause aus vorsitzende. Ihre Arbeit beschreibt Weil es die große Lösung nicht gibt, ein – sozusagen als eines von mehr als sie als stetes Lavieren in dem Feld „So kämpfen Thomßen, Müller und all die 20 Videokonferenz-Kästchen auf dem digital wie möglich, so präsent wie nö- anderen immerfort für Einzellösungen: Bildschirm. „So kann ich aber nicht hel- tig“. Einige Erziehungsstellen, Kinder dafür, dass Kinder in die Notbetreuung fen“, sagt sie, „ich bin weder Schülerin und Jugendliche hätten sich an lange dürfen, ein niedrigschwelliger Zugang noch Ersatzlehrerin. Meine Aufgabe ist, Telefonate gewöhnt: „Manche öffnen zum Jugendamt erhalten bleibt und einem autistisch veranlagten Schüler zu sich sogar mehr, wenn sie mich nicht vieles mehr. „Es ist ein steter Kampf für helfen, sein Lernen zu strukturieren, ihn sehen“, erklärt sie. Es gebe aber auch Menschen, die unter dem Radar der Öf- emotional zu stärken.“ In einem Schul- jene, die sagen: „Du kommst gar nicht fentlichkeit leben – im Grunde von Mit- system, fügt sie hinzu, das immer noch mehr!“ Da sie sich gegen Besuche in arbeiterinnen und Mitarbeitern, denen nicht auf Verschiedenheit ausgelegt ist, Innenräumen entschieden hat, unter- es ebenso geht“, konstatiert Müller. Sie sei das umso schwieriger. nimmt sie Spaziergänge mit Eltern wie appelliert auch an ihre Kolleginnen und Gruber fordert: Ein Träger, der Schul- Kindern. Kolleginnen und Kollegen, die Kollegen, sich lauter zu Wort melden: begleiter vermittelt, sollte in der der- mit Kinderschutz zu tun haben, hätten „Sozialarbeiter helfen. Sie gehen zu sel- zeitigen Lage vernünftige Bedingungen sich im ersten Lockdown sogar mit ten an die Öffentlichkeit.“ schaffen, in denen Begleitung überhaupt Smileys vor die Fenster der Kinder ge- möglich ist: „Im Grunde braucht es gut stellt und gewunken. Reformen überfällig belüftete, große Räume, in denen wir All das zerrt an den In der „Fachgruppe ambulante und mit den Schülerinnen und Schülern an Nerven: „Was ist stationäre Kinder- und Jugendhilfe“ verschiedenen Geräten arbeiten kön- kindgerecht, was ist der GEW Baden-Württemberg nen.“ Dafür, fügt sie hinzu, wäre es auch elterngerecht, was ist deswegen stete Herausfor- gut, wenn Schulbegleiterinnen und -be- mitarbeitergerecht? derung: Wie schafft man in gleiter nicht – wie sie selbst – eher zufäl- Seit einem Jahr sind Zeiten von Rationalisierung und lig eine pädagogische Ausbildung haben: wir im Gespräch: im Unsicherheit mehr Sichtbarkeit, „Bisher gibt es nicht einmal ein professi- bessere Bedingungen und damit onelles Berufsbild. Gäbe es das, wäre es gute Bildung, Erziehung auch leichter, gegen eine stete Beschäf- und Betreuung für tigung über Halbjahresverträge zu argu- Kinder und Jugend mentieren.“ Gruber findet, so misslich liche, die diese am das Leben in der Pandemie auch sei: „Sie dringendsten be- sollte wenigstens als letzter Weckruf nötigen? Bischoff, betrachtet werden, um ein ganzes Paket der Vorsitzende überfälliger Reformen anzupacken.“ der Gruppe: „Or- te, um gemein- Jeannette Goddar, same Positionen freie Journalistin zu entwickeln, sind enorm wichtig.“ „Bei uns arbeitet ein Bereich an vorderster Front, der in den Debatten kaum vorkommt“, erklärt Wera Thomßen vom Tübinger Träger KIT Jugendhilfe. Erziehung und Wissenschaft | 04/2021
12 CORONA-PANDEMIE – EINE ZWISCHENBILANZ Foto: pixabay/distelAPPArath Die Corona-Pandemie ist für die Beschäftigten im Bildungssektor eine besondere Herausforderung. Bildung im Ausnahmezustand // In der Corona-Pandemie che zusammen mit Kolleginnen und oder Sonderpädagoginnen und -päda- müssen Lehrkräfte, Erzieherinnen Kollegen für eine datenschutzkonforme gogen, die Aufgaben. „Doch das reicht und Erzieher den Spagat zwischen Schulplattform gesorgt. In Studientagen nicht“, so Plocher. Gesundheitsschutz und Bildungs erarbeiteten Lehrkräfte Konzepte für Immerhin hat der Berliner Senat die auftrag leisten. Wie gelingt das? // den Distanzunterricht: Wie fördere ich Abschlussprüfungen für die 9. und 10. selbstständiges Lernen, wie muss ich Klassen für dieses Jahr ausgesetzt. Und Wenn Ryan Plocher morgens um acht Aufgaben formulieren und Texte auf- immerhin gibt es jetzt, da die Schüle- Uhr seine Schülerinnen und Schüler bereiten, damit sie ohne Hilfe gut ver- rinnen und Schüler sukzessive für min- begrüßt, weiß er genau: Die meisten ständlich sind? Plocher: „Vieles ist nicht destens drei Stunden am Tag in den von ihnen liegen noch im Bett. „Weil neu, aber im Distanzunterricht so rele- Wechselunterricht zurückkommen, vor- die Bandbreite nicht reicht, müssen vant wie nie zuvor.“ erst Masken für alle und wöchentliche wir im Distanzunterricht in der Regel Selbsttests für die Lehrkräfte. Plocher: auf Videokontakt verzichten.“ Sind alle Abschlussprüfungen ausgesetzt „Das macht den Alltag für uns leichter.“ aufmerksam dabei oder schauen sie ne- Distanzunterricht gelingt laut Plocher Den Alltag an Schulen besser in den Griff benher Videos, fragt sich der Englisch- nur, wenn vier Voraussetzungen erfüllt zu bekommen, das ist derzeit auch Ma- lehrer an der Fritz-Karsen-Schule in Ber- sind: Die Schülerinnen und Schüler ha- non Tuckfelds Job. Jeden Tag stöbert die lin-Britz deshalb häufig. Und haben sie ben einen eigenen Laptop oder ein Gesamtpersonalrätin für den Rheingau- den Stoff überhaupt verstanden? „Nie- Tablet, schnelles Netz, einen ruhigen Taunus-Kreis in Hessen durch Corona- mand erwartet mehr, dass Schülerinnen Arbeitsplatz und nichts nebenher zu Anweisungen des Kultusministeriums und Schüler Fortschritte machen“, sagt Plocher. „Unser Ziel heißt: Rückschritte verhindern.“ Und wenigstens in Ansät- Foto: Christian von Polentz Foto: Andrea Schombara zen die Kompetenzen aufrechterhalten, Foto: Brigitte Bauer die Schule auch vermittelt: einem struk- turierten Rhythmus zu folgen, etwas systematisch zu bearbeiten, mündlich Position zu beziehen – und sei es nur aus dem Bett. Ryan Plocher Manon Tuckfeld Erni Schaaf-Peitz Schule im Ausnahmezustand gehört seit gut einem Jahr zum Alltag von Plo- bewältigen – auf jüngere Geschwister und schaut nach den „Fugen in den Ver- cher – und er hat noch Glück, wie er aufzupassen etwa. Plocher: „Schuldis- ordnungen“, um Gestaltungsspielräume sagt: Die Fritz-Karsen-Schule ist eine tanzierte Schülerinnen und Schüler sind für die Schulen auszuloten. Gut 50 All- große Einrichtung mit vielen Förder- komplett verloren.“ Im Extremfall kom- tagstipps hat sie bereits an die Perso- stunden, studentischen Hilfskräften und men sie in Kleinstgruppen von je vier nalräte vor Ort verschickt. „Jede Schule ausreichender IT-Ausstattung. Schnell Kindern je Doppelstunde in die Schule muss andere Wege finden, um das Leben haben Quereinsteiger aus der IT-Bran- und bearbeiten, betreut von Sozial- mit Corona zu gestalten“, sagt sie. Erziehung und Wissenschaft | 04/2021
CORONA-PANDEMIE – EINE ZWISCHENBILANZ 13 Eine Fuge etwa heißt: „Der Unter- rin.“ Für Kolleginnen, die Sorge ha- richt kann teilweise in Präsenz er- ben sich anzustecken, muss sie Ein- folgen.“ Tuckfelds Botschaft an die satzbereiche mit möglichst wenig Personalräte: „Keine Sorge also, ihr intensivem Kind-Kontakt finden. verstoßt nicht gegen die Regeln, Und immer wieder gibt es Diskus- wenn ihr nicht alle zurückholt.“ sionen im Team: Können wir auch Und doch melden viele Lehrkräfte den Kleinsten mit Masken begeg- der Gesamtpersonalrätin zurück: nen? Wie viel Körpernähe braucht Es hakt an allen Ecken und Enden. welches Kind? Wie fangen wir die Da sind baufällige Fenster, die aus Ängste der Kinder auf? Schaaf- Sicherheitsgründen nicht mehr Peitz: „Wir arbeiten ständig an kre- geöffnet werden dürfen; fehlende ativen Lösungen.“ Materialien zum Waschmöglichkeiten in den Klas- Werken auf einem Wagen überall senzimmern, weil das Land keine zugänglich machen, nicht nur im Waschbecken mehr in den Schul- Bauraum; Händewaschen als klei- räumen einbaut. „Manche Grund- nes Ritual inszenieren; die Überga- schullehrkräfte können von sechs be der Kinder vor der Kita zu einer Stunden Anwesenheitszeit vor Ort intensiven Begegnung machen. gerade mal zwei Stunden netto un- Neuerdings steht ein Baldachin vor terrichten. Den Rest verbringen sie der Eingangstür, ein kleiner Begeg- mit Maskenpausen, Lüften und An- nungsraum für Eltern, Kinder und stehen zum Händewaschen.“ Ganz Fachkräfte, der zudem Schutz vor zu schweigen vom Datenschutz. Regen bietet. Laminierte Fotos aus „Der ist auf den meisten Schulplatt- dem Kita-Alltag baumeln daran, formen nicht gewährleistet.“ damit Eltern wissen, was drinnen Viele Lehrkräfte machten trotzdem vor sich geht, wenn sie ihrem Kind weiter – dem Bildungsauftrag zulie- „Tschüss“ gesagt haben. „Wir neh- Eine Initiative der be. Der Gesundheitsschutz gerate men uns mehr Zeit für individuelle ohnehin oft in den Hintergrund. 60 Gespräche, die Atmosphäre ist viel SPENDEN FÜR bis 100 Schülerinnen- und Schüler- zugewandter“, erzählt Schaaf-Peitz. CORONA kontakte am Tag haben Lehrkräfte Die bessere Fachkraft-Kind-Relation nach Einschätzung der Personalrä- in Corona-Zeiten macht es möglich. tin im Schnitt. Auch anderweitig entsteht Posi- tives, neue Spielfreundschaften „Kreative Dienstpläne“ durch neue Gruppenzusammen- Erni Schaaf-Peitz hat es zumin- setzungen etwa. Die Pädagogik än- dest organisatorisch leichter. „In dere sich auch unter Pandemie-Be- Kitas gibt es mehr Spielräume als dingungen nicht. „Wir folgen nach im System Schule“, sagt die Lei- wie vor den Bedürfnissen der Mäd- terin der Kita Wittlich in der Eifel. chen und Jungen.“ Und wenn die Schaaf-Peitz und ihr Team stecken Kita-Leiterin wieder mal ein Kind mittlerweile, in „Phase acht oder sagen hört: „Morgen darf ich ja FORSCHUNG STÄRKEN – neun“ der Corona-Betreuung. Es nicht kommen, weil meine Mama PATIENTEN UNTERSTÜTZEN ist ein Wechselspiel von Notbe- nicht arbeitet“, weiß sie: „Die Kita treuung, erweiterter Notbetreu- hat den Paradigmenwechsel ge- ung, „Spielesettings“, Regelbetrieb schafft: von einer Verwahrungs- bei dringendem Bedarf, modifi- stelle zum wichtigen Bildungs- und zierter Regelbetrieb und so fort. Lebensort.“ Vielleicht bleibt auch Die Initiative „Spenden für Corona“ der Stiftung „Verlässliche Planung ist unmög- deshalb bislang keine Fachkraft Universitätsmedizin unterstützt die Corona-Forschung lich“, sagt sie. Mit Eltern muss die auf Dauer aus gesundheitlichen und zusätzliche Versorgungsprojekte für Patienten. Kita-Leiterin den genauen Bedarf Bedenken fern. Schaaf-Peitz: „Wir Jede Spende hilft! aushandeln, mit Kolleginnen „kre- sind Erzieherinnen geworden, um ative Dienstpläne“, in denen jede einen Bildungsauftrag zu erfüllen – Spendenkonto: Fachkraft immer nur mit denselben für unsere Kinder.“ IBAN: DE 09 3702 05 0005 0005 0005 Mädchen und Jungen Kontakt hat. BIC: BFSWDE33 Mehr Infos unter: „Gerade jetzt brauchen Kinder für Anja Dilk, Verwendungszweck: Corona spenden-fuer-corona.de ihre Sicherheit die Bezugserziehe- freie Journalistin Erziehung und Wissenschaft | 04/2021 Anzeige_94x133.indd 1 12.05.20 16:29
14 CORONA-PANDEMIE – EINE ZWISCHENBILANZ Augen zu und durch // Die Corona-Pandemie hat In Berlin wurden gut 50.000 Tablets an Wertschätzung von den Eltern entge- an den Schulen alles auf den bedürftige Schülerinnen und Schüler gengebracht.“ Kopf gestellt: Präsenzunter- ausgegeben. Damit konnte die größte Ende Februar begann für die Grund- richt findet nicht oder nur noch Not gelindert werden. Durch das büro- schülerinnen und -schüler in Berlin wie- eingeschränkt statt, der Online- kratische Vergabeverfahren seien aller- der der Präsenzunterricht. Die Schule Unterricht klappt mal mehr, mal dings viele Kinder und Jugendliche, die von Böhmer hat einen Wechselunter- weniger gut, Lehrkräfte, Schüle- auf die Geräte angewiesen sind, leer richt mit halben Klassen konzipiert; rinnen und Schüler sowie deren ausgegangen, kritisiert der Co-Vorsit- jede Gruppe kommt täglich für zwei Eltern müssen improvisieren. zende der Berliner GEW, Tom Erdmann. Zeitstunden in die Schule. Mit dem Kon- In der medialen Öffentlichkeit Ihre Schule habe zwar vor einigen Mo- zept des gestaffelten, täglichen Unter- dominieren die Stimmen bil- naten iPads bestellt, erhalten habe sie richts hat die Schule bereits in der Öff- dungsnaher Familien. Doch wie die digitalen Endgeräte jedoch erst im nungsphase von August bis kurz vor den sieht das an Schulen aus, deren Februar dieses Jahres, beschreibt Böh- Weihnachtsferien gute Erfahrungen ge- Schülerinnen und Schüler aus mer die Situation an ihrer Schule. Es sammelt. „Uns war wichtig, dass die Kin- materiell benachteiligten Fami- habe Lieferverzögerungen gegeben der jeden Tag zur Schule kommen. Eine lien stammen? Zwei Lehrkräfte und es fehlten immer noch Hüllen und andere Organisation des Unterrichts, aus Berlin berichten. // Ladekoffer, ohne die die iPads nicht he- zum Beispiel ein Wechselunterricht, bei rausgegeben werden dürften. Die Ge- dem die Schülerinnen und Schüler nur „Die Kinder haben den Lockdown gut räte seien also auch Ende Februar noch an einigen Tagen in der Woche oder überstanden“, sagt Franziska Böhmer, nicht einsatzbereit gewesen. „Manche wochenweise in die Schule kommen, die Mathe, Kunst und Sport in einer Eltern haben sich ein Tablet oder einen überfordert die meist kinderreichen Fa- sogenannten JüL-Klasse* an der Hans- Laptop selbst gekauft, in den meisten milien organisatorisch.“ Allerdings müs- Fallada-Schule in Berlin-Neukölln von Familien wurde jedoch ein Mobiltelefon sen jetzt alle Grundschulkinder jeden der 1. bis 3. Jahrgangsstufe unterrich- genutzt.“ Tag zur Schule kommen. „Um das gute tet. Bereits den ersten Lockdown im Hygienekonzept aufrechtzuerhalten“, vergangenen Jahr habe man organi- Logistische Herausforderung so Böhmer, „ist das eine größere logis- satorisch gut hinbekommen (s. E&W Die Hans-Fallada-Schule ist eine in- tische und organisatorische Herausfor- 5/2020 und 7-8/2020). Auch der zweite klusive Schule im Norden des Bezirks derung als im Mai 2020.“ Lockdown sei gut vorbereitet gewesen. Neukölln, der durch eine hohe Zahl an Und wie steht sie zur Öffnung der „Ich habe jedes Kind mindestens einmal Empfängern von Transferleistungen Grundschulen mitten in der Pandemie? in der Woche in der Schule gesehen, charakterisiert ist. Der Anteil der Ein- „Inhaltlich finde ich das richtig, für die wenn es gekommen ist, um sich neue wohner, die ALG II beziehen, liegt bei Kinder war dieser Schritt notwendig, Aufgaben abzuholen beziehungswei- rund einem Drittel. Zum Vergleich: Ber- aber die Kolleginnen und Kollegen sor- se erledigte Aufgaben abzugeben. So linweit bezieht rund jeder Zehnte ALG gen sich schon“, antwortet Böhmer. konnte ich auch Einzelgespräche führen II. Viele Schülerinnen und Schüler der „Einige von uns gehören zur Covid- und mit den Eltern sprechen.“ Grundschule leben in Familien mit vier 19-Risikogruppe. Wir haben zwar alle Auch das Distanzlernen habe gut funk- und mehr Kindern, über digitale Endge- FFP2-Masken, aber wir sehen auch, tioniert. „Ich war wirklich erstaunt, wie räte verfügen nur wenige. „In einigen dass die Maßnahmen zum Schutz vor gut die Kinder mit der Technik zurecht- Familien gibt es nur ein Smartphone.“ Ansteckungen nach wie vor unzurei- kamen. Die Kinder hatten richtig Lust Die Lehrkräfte nahmen, so Böhmer, chend sind. Die zwei Schnelltests pro aufs Lernen. Die waren sehr motiviert.“ darauf Rücksicht und organisierten Woche bringen nur eine punktuelle Si- Die Dritt- und Zweitklässler hatten drei- den Unterricht vor Laptop, iPad und cherheit.“ Die Stimmung im Kollegium mal die Woche, die Erstklässler zweimal Smartphone zeitlich so, dass jedes Kind bis zur Impfung aller Lehrkräfte fasst die Woche Online-Unterricht. „Wir ha- teilnehmen konnte. Die Stimmung un- die Lehrerin so zusammen: „Augen zu ben sogar eine Online-Faschingsparty ter allen Eltern beschreibt Böhmer als und durch!“ gefeiert. Die Kinder waren pünktlich vergleichsweise entspannt. „Sie sind Erdmann fordert angesichts solcher Be- und zuverlässig und wurden von den El- aber zunehmend erschöpft und kom- richte, Lehrerinnen und Lehrer schnel- tern unterstützt.“ Und das, obwohl die men an ihre Grenzen. Das Verhältnis zu ler zu impfen: „Es darf nicht sein, dass digitale Ausstattung in den Haushalten uns Lehrkräften hat sich im Lockdown die Liste der Impfeinladungen durch meist alles andere als komfortabel sei, positiv entwickelt; die Bindung ist en- ein halbes Dutzend Verwaltungseinhei- wie Böhmer betont. ger geworden. Wir bekommen sehr viel ten gehen muss, nur um zu verhindern, Erziehung und Wissenschaft | 04/2021
CORONA-PANDEMIE – EINE ZWISCHENBILANZ 15 dass irgendjemand geimpft wird, der Auch im Lockdown habe man auf Dis chen nicht mehr am Online-Unterricht noch nicht an der Reihe ist. Thüringen tanzunterricht nicht vollständig ver- teilnimmt, wächst bei einer alleiner- und Brandenburg zeigen, dass es auch zichtet. Nur die älteren Schülerinnen ziehenden Mutter auf, die kein Wort unbürokratisch geht, denn dort stellen und Schüler, die sich auf die Abschluss- Deutsch spricht; da gestaltet sich Kita- und Schulleitungen die Impfbe- prüfungen vorbereiteten, mussten zum schon die Kontaktaufnahme zur Mut- rechtigungen an die Beschäftigten aus.“ Präsenzunterricht erscheinen. Bei den ter schwierig.“ jüngeren habe das Distanzlernen „im Die meisten Jugendlichen hätten die Engere Bindung Großen und Ganzen gut funktioniert“. Zeit zwischen Weihnachten und Ende Ortswechsel: Marvin K.** unterrichtet Für ihn sei der Online-Unterricht eine Februar allerdings gut überstanden, an einem Gymnasium im Südwesten unfreiwillige Fortbildung, berichtet K. betont K. „Sie mussten zwangsläufig von Berlin Deutsch und Musik für die „Ich habe im vergangenen Jahr mindes- selbstständiger werden.“ Während in Jahrgangsstufen 7 bis 12; auch hier tens doppelt so viel gelernt wie wäh- vielen Mittelschichtsfamilien die Eltern stammen viele Schülerinnen und Schü- rend meines Referendariats. Gerade in bei den Aufgaben helfen können, seien ler aus materiell benachteiligten Fami- Musik und Deutsch kann man mit On- seine Schülerinnen und Schüler auf sich lien. Kurz nach den Sommerferien und line-Tools unglaublich viel machen.“ alleine gestellt. Wie Böhmer sagt aber dem Wiederbeginn des Präsenzunter- Sorgen bereitet K. allerdings, „dass auch er: „In der Pandemie ist der Kon- richts sei die Angst vor Ansteckungen einige Schülerinnen und Schüler wäh- takt zu meinen Schülerinnen und Schü- mit dem Corona-Virus bei vielen Kolle- rend des Lockdowns komplett vom lern noch intensiver und das Verhältnis ginnen und Kollegen schon spürbar ge- Radar verschwunden sind und auch besser geworden.“ wesen. „Inzwischen, so mein Eindruck, zu deren Eltern kein Kontakt möglich fällt vielen zu Hause die Decke auf den ist.“ Im Präsenzunterricht sei wenigs- Jürgen Amendt, Kopf, und sie wollen zurück in die Schu- tens ein Gespräch zwischen Tür und Redakteur der „Erziehung und Wissenschaft“ le. Mir geht es ähnlich. Ich sitze jeden Angel möglich und auch die Schulsozi- Tag von morgens bis spät abends vor alarbeiterin könne intervenieren. Der dem Computer, das geht mir zuneh- Lockdown schränke diese Möglichkeit *JüL: Jahrgangsübergreifendes Lernen mend auf die Nerven.“ ein. „Ein Schüler, der schon seit Wo- **Name geändert Franziska Böhmer wird jetzt zweimal pro Woche getestet. „Die Schnell- tests bringen aber nur punktuell Sicherheit“, sagt die Lehrerin. Foto: Kay Herschelmann Erziehung und Wissenschaft | 04/2021
16 CORONA-PANDEMIE – EINE ZWISCHENBILANZ Die Corona-Krise hat das Hotel- und Gaststättengewerbe stark getroffen. Den Auszubildenden dort fehlt die Berufspraxis. Foto: mauritius images/Westend61/zerocreatives Absehbarer Fachkräftemangel // Das von der Politik so gern sel: Die primäre Zuständigkeit für das Millionen Unternehmen in Deutschland hochgelobte duale System der Gesetz wurde noch in der Wahlnacht aus. Und der Rückzug kleinerer Unter- betrieblichen Berufsausbildung 1972 überraschend vom Bundeswirt- nehmen aus der Ausbildung setzt sich in Deutschland ist in der Krise? schaftsministerium auf das Bundes- seit Jahren immer weiter fort. Klar, diese Klage hören wir oft bildungsministerium übertragen. Der Mit der Pandemie gestaltet sich diese schon bei jeder ach so k leinen Grundgesetzartikel 12 auf freie Wahl Krise nun extrem vielfältiger. Es gibt Wirtschaftsflaute. Aber die des Berufs und der Ausbildung sollte nicht nur das seit vielen Jahren bekann- Pandemie macht diesmal alles fortan einen höheren Stellenwert er- te Angebots-Nachfrage-, sondern auch noch viel komplizierter. // halten als bisher. ein gewaltiges Qualitätsproblem. Dabei geht es zunächst um diejenigen Auszu- Das Berufsbildungsgesetz (BBiG) ist Fehlende Praxis bildenden, die sich ab Frühsommer vor trotz einiger zwischenzeitlicher Refor- Dieser kleine historische Rückblick soll einer Kammer einer Abschlussprüfung men in die Jahre gekommen. Inzwi- helfen, die aktuellen Probleme besser unterziehen müssen. Betriebe, etwa schen ist es 52 Jahre alt. Im Sommer zu verstehen. Wie die jährlichen Statis- im Friseurhandwerk, aber auch in der 1969, in der Endphase einer Koalition tiken der vergangenen fünf Jahrzehnte Gastronomie, haben einige Monate von CDU/CSU und SPD, wurde es verab- belegen, haben es Wirtschaft und Ver- schließen müssen. Berufspraxis in der schiedet. Doch erst wenige Jahre später waltungen nur in ganz wenigen Jah- Ausbildung fiel damit weitgehend flach. rückte der eigentliche Bildungsaspekt ren vermocht, den jungen Menschen In einigen Bundesländern werden für des Gesetzes mit einer Novelle unter bei ihrer Suche nach einem Ausbil- die jungen Menschen vor der Prüfung Reformkanzler Willy Brandt (SPD) stär- dungsplatz tatsächlich ein ausreichend kompakte Hilfen und zusätzliche Kurse ker in den Fokus der Bildungspolitik: auswahlfähiges Lehrstellenangebot zu von Innungen und Kammern angebo- Es ging um mehr berufsübergreifen- machen. Immer dann, wenn auch nur ten, vor allem in der Gastronomie. Das des, grundlegendes Lernen und auch leichte Wirtschaftsflauten mit gebur- für die Berufsausbildung verantwort- um allgemeinbildendes Wissen in der tenstarken Schulabgänger-Jahrgängen liche GEW-Vorstandsmitglied Ansgar Ausbildung, mehr Flexibilität für junge zusammentrafen, kriselte es bei An- Klinger rät zur Prüfungsvorbereitung zu Menschen bei einem späteren Arbeits- gebot und Nachfrage gewaltig – und zusätzlicher Unterstützung, beispiels- platzwechsel und garantierte Fortbil- der Staat musste immer wieder mit weise mit ausbildungsbegleitenden dungsmöglichkeiten. Hilfsprogrammen und kräftigen Sub- Hilfen, warnt aber vor einer generellen In der Wirtschaft wie für viele Bil- ventionen für ausbildende Betriebe in zeitlichen Verlängerung der aktuellen dungsreformkräfte galt dies damals als Millionenhöhe eingreifen. Heute bildet Ausbildungszeit wie vielfach diskutiert. wichtiger politischer Paradigmenwech- nicht einmal mehr jedes fünfte der 2,2 Denn dies könnte für n achfolgende Erziehung und Wissenschaft | 04/2021
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