Erziehung & Wissenschaft 04/2021 - GEW

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Erziehung & Wissenschaft 04/2021 - GEW
Erziehung & Wissenschaft        04/2021
Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft GEW
Erziehung & Wissenschaft 04/2021 - GEW
2 GASTKOMMENTAR

                                                                            Foto: privat
           TOBIAS PETER

              Fortschritt ist möglich
               Ein Blick in deutsche Klassenzimmer konnte einem schon                      Das erinnert an Schülerinnen und Schüler, die ein Gruppen-
               lange so vorkommen, als hätte man mit einer Zeitmaschine                    referat erstellen sollten und die am Ende jeweils einen Ein-
               eine Reise in die Vergangenheit unternommen. Da befin-                      zelvortrag vor der Klasse halten.
               det sich die Uralt-Tafel wie ein Altar am Kopf des Raumes –                 Das alles frustriert. Dennoch bleibt die Hoffnung, dass sich
               und gelegentlich riecht auch das Wasser im Tafeleimer, als                  durch die – wenn auch langsam erfolgenden – Milliardenin-
               stammte es aus der 1960ern. Es fehlt an stabilem Internet                   vestitionen und die neue Aufmerksamkeit für das Thema
               und digitalen Lernmitteln. Der Unterricht findet im wahrs-                  Schule auch grundsätzlich etwas wandeln kann. Das Ziel
               ten Sinn des Wortes hinter verschlossenen Türen statt: ohne                 muss eine bessere individuelle Förderung jeder Schülerin
               dass Lehrerinnen und Lehrer sich gegenseitig besuchen                       und jedes Schülers sein: mit den Mitteln eines modernen
               und hinterher Tipps geben und kritisieren. Und noch etwas                   Unterrichts in vielfältigen Formaten, in dem die Lehrkräfte
               hat sich nie ausreichend geändert: Diejenigen, die aus bil-                 mehr Coach als Vorturner sind. Solcher Fortschritt ist mög-
               dungsfernen Familien kommen, erhalten unterm Strich die                     lich, aber auch nicht leicht in Zeiten, in denen der Lehrkräfte-
               schlechteren Noten und Bildungschancen.                                     mangel nicht von heute auf morgen verschwinden wird. Und
               Die Corona-Krise hat die öffentliche Aufmerksamkeit für                     in denen Schulen sicher noch eine Weile Gebäude mit vielen
               diese Probleme, die allen Verantwortlichen seit Ewigkeiten                  ähnlich großen Räumen sein werden – und nicht moderne
               bekannt sind, erhöht. Besteht nun die Chance, dass von der                  Lernlandschaften mit einer Vielzahl von Gemeinschafts- und
               Krise mehr bleibt als die Erinnerung an mäßig geglücktes                    Rückzugsorten.
               Homeschooling? Verändert sich dauerhaft etwas zum Bes-                      Meine Bitte an Lehrergewerkschaften und -verbände ist:
               seren?                                                                      Seien Sie das Sprachrohr für die Lehrerinnen und Lehrer, die
               Wer auf die unmittelbare Krisenbewältigung blickt, findet                   Schule neu gestalten wollen! Stemmen Sie sich nicht gegen
               beides: Anlass zu Hoffnung, aber auch Hinweise darauf, dass                 Ideen wie verpflichtende Fortbildungen im digitalen Unter-
               die Politik und das gesamte Bildungssystem den Wandel nur                   richten in den Ferien, sondern pochen sie darauf, dass jede
               viel zu langsam gestemmt bekommen. Da wurden zwar, für                      Lehrerin und jeder Lehrer eine solche Fortbildung bekommt.
               die Verhältnisse im deutschen Bildungsföderalismus ver-                     Das brächte die Kultusministerinnen und -minister unter
               gleichsweise schnell, Sonderprogramme für Leihlaptops für                   Zugzwang.
               Schülerinnen und Schüler aus armen Familien geschnürt.                      Meine Bitte an alle Lehrkräfte: Warten Sie nicht auf die Poli-
               Gleichzeitig ist es bislang nicht gelungen, die Milliarden aus              tik, sondern fangen Sie, wo immer es machbar ist, an! Es gibt
               dem Digitalpakt zügiger als geplant an die Schulen zu brin-                 keine bessere Revolution in der Schule als Unterricht, der
               gen. Das Geld ist da, aber es fließt zu langsam.                            wirklich die individuelle Entwicklung der Schülerinnen und
               Einmal mehr zeigt sich auch: Im deutschen Bildungsfödera-                   Schüler in den Mittelpunkt stellt. Echte Revolutionen kom-
               lismus funktioniert Kooperation nur schwerfällig oder gar                   men von unten, nicht von oben.
               nicht. Einen gemeinsamen Stufenplan mit klaren Regeln,
               bei welchem Inzidenzwert die Schulen in den Wechsel- und                    Tobias Peter,
               Distanzunterricht gehen sollen, gibt es auch ein Jahr nach                  Hauptstadtkorrespondent beim RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND)
               Beginn der Pandemie nicht. Jedes Land macht, was es will.                   und Host des Podcasts „Die Schulstunde“

  Erziehung und Wissenschaft | 04/2021
Erziehung & Wissenschaft 04/2021 - GEW
INHALT   3

                                                                   Prämie
Inhalt                                                           des Monat
                                                                           s
                                                                        Seite 5
                                                                                              IMPRESSUM
                                                                                              Erziehung und Wissenschaft
                                                                                              Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung · 73. Jg.

                                                                                              Herausgeberin:
                                                                                              Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
                                                                                              im Deutschen Gewerkschaftsbund
                                                                                              Vorsitzende: Marlis Tepe
                                                                                              Redaktionsleiter: Ulf Rödde
Gastkommentar                                                                                 Redaktion: Jürgen Amendt
                                                                                              Redaktionsassistentin: Katja Wenzel
Fortschritt ist möglich                                                          Seite 2     Postanschrift der Redaktion:
                                                                                              Reifenberger Straße 21
                                                                                              60489 Frankfurt am Main
Impressum                                                                        Seite 3     Telefon 069 78973-0
                                                                                              Fax 069 78973-202
                                                                                              katja.wenzel@gew.de
                                                                                              www.gew.de
Auf einen Blick                                                                  Seite 4     facebook.com/GEW.DieBildungsgewerkschaft
                                                                                              twitter.com/gew_bund

Prämie des Monats                                                                Seite 5     Redaktionsschluss ist in der Regel
                                                                                              der 7. eines jeden Monats.
                                                                                              Erziehung und Wissenschaft erscheint elfmal jährlich.
                                                                                              Nachdruck, Aufnahme in Onlinedienste und Internet
Schwerpunkt: Corona-Pandemie – eine Zwischenbilanz                                            ­sowie Vervielfältigung auf Datenträger der „Erziehung
                                                                                               und Wissenschaft“ auch auszugweise nur nach vorheri-
1. Corona deckt Probleme der Bildungspolitik auf: Kein „Weiter so wie bisher“!   Seite 6      ger schriftlicher Genehmigung der Redaktion.

2. Jugendhilfe: Am Rande der Gesellschaft – und der Kräfte                       Seite 10    Die E&W finden Sie als PDF auf der GEW-Website unter:
                                                                                              www.gew.de/eundw.
3. Gesundheitsschutz und Bildungsauftrag: Bildung im Ausnahmezustand             Seite 12    Hier wird die E&W auch archiviert.

4. Schule unter schwierigen Bedingungen: Augen zu und durch                      Seite 14    Gestaltung:
                                                                                              Werbeagentur Zimmermann GmbH
5. Krise in der betrieblichen Berufsausbildung: Absehbarer Fachkräftemangel      Seite 16    Kurhessenstraße 14
                                                                                              60431 Frankfurt am Main
6. 750-Milliarden-Euro-Paket EU-Hilfe: „Größte Bildungskrise seit 100 Jahren“    Seite 18
                                                                                              Für die Mitglieder ist der Bezugspreis im Mitglieds-
7. DIPF-Direktor Kai Maaz zur Situation der Schulen: „Prüfungen sind nicht alles“ Seite 20   beitrag enthalten. Für Nichtmitglieder beträgt der
                                                                                              Bezugspreis jährlich Euro 7,20 zuzüglich Euro 11,30
8. Situation der Studentinnen und Studenten: WG-Zimmer statt Hörsaal             Seite 22    Zustellgebühr inkl. MwSt. Für die Mitglieder der
                                                                                              Landesverbände Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen,
9. GEW-Kommentar: Eine harte Aufgabe                                             Seite 25    Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland,
                                                                                              Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen werden die
                                                                                              jeweiligen Landeszeitungen der E&W beigelegt. Für un-
                                                                                              verlangt eingesandte Manuskripte und Rezensionsexem-
Jugendhilfe und Sozialarbeit                                                                  plare wird keine Verantwortung übernommen. Die mit
                                                                                              dem Namen des Verfassers gekennzeichneten Beiträge
Große Koalition reformiert das SGB VIII: Die Crux mit dem Kindeswohl             Seite 26    stellen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder
                                                                                              der Herausgeberin dar.

                                                                                              Verlag mit Anzeigenabteilung:
Bildungspolitik                                                                               Stamm Verlag GmbH
                                                                                              Goldammerweg 16
Lehrkräftemangel in MINT-Fächern steigt weiter: Fünf nach zwölf                  Seite 28    45134 Essen
                                                                                              Verantwortlich für Anzeigen: Mathias Müller
                                                                                              Telefon 0201 84300-0
                                                                                              Fax 0201 472590
Hochschule und Forschung                                                                      anzeigen@stamm.de
                                                                                              www.erziehungundwissenschaft.de
1. Biologin Lena Wilfert zu den Brexit-Folgen: Heimweh nach Cornwall             Seite 30    gültige Anzeigenpreisliste Nr. 41
                                                                                              vom 01.01.2019,
2. Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs: „Unverändert miserabel“           Seite 32    Anzeigenschluss
                                                                                              ca. am 5. des Vormonats

                                                                                              Nutzungsrechte für digitale Pressespiegel erhalten Sie
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1. Patentierung für die Herstellung unter Verschluss: Impfstoff für alle?!       Seite 34    Erfüllungsort und Gerichtsstand: Frankfurt am Main
2. Kolumbianische Gewerkschaft FECODE kämpft: „Wir wollen frei leben“            Seite 36

Gesellschaftspolitik
                                                                                              ISSN 0342-0671
Bildungsinitiative Ferhat Unvar in Hanau: „Wir müssen etwas verändern“           Seite 38
                                                                                                                                                        e
                                                                                              Die E&W wird auf 100 Prozent chlorfrei
                                                                                              gebleichtem Recyclingpapier gedruckt.
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Leserforum                                                                       Seite 39
                                                                                                                                                 Pan a
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Titel: Werbeagentur Zimmermann
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Erziehung & Wissenschaft 04/2021 - GEW
4 AUF EINEN BLICK

                Grenzen gesetzt                                                       Silberner Bär für Lehrer-Doku
                Das Landesarbeitsgericht (LAG) Köln hat mit Urteil vom 7. Okto-       Ein Film über eine Schulklasse im nordhessischen Stadtallen-
                ber 2020 (5 Sa 451/20, https://openjur.de/u/2312089.html) die         dorf und ihren Lehrer hat bei der Berlinale überzeugt: Der
                Befristung eines Arbeitsvertrags für unwirksam erklärt, weil die      Preis der Jury des Film-
                Beschäftigung nicht der wissenschaftlichen Qualifizierung för-        festivals ging an den Do-
                derlich war. Ein wegweisendes Urteil, mit dem erstmals die mit        kumentarfilm „Herr Bach-
                der Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (­WissZeitVG)       mann und seine Klasse“.
                geänderten Befristungsbedingungen gewürdigt werden, für               Regisseurin Maria Speth
                die sich die GEW im Gesetzgebungsverfahren vehement einge-            hat dafür 2017 ein halbes
                setzt hatte. Das LAG hat festgestellt, dass die Befristung einer      Jahr lang die Klasse 6b der
                Kollegin an einem nordrhein-westfälischen Forschungsinstitut          Stadtallendorfer Georg-
                sich nicht auf den Qualifizierungstatbestand des WissZeitVG           Büchner-Schule und ihren

                                                                                                                                                       Foto: Madonnen Film
                gründen könne, denn hierfür reiche der bloße Zugewinn an Be-          Lehrer Dieter Bachmann
                rufserfahrung nicht aus. Klingt banal, stellt aber tatsächlich eine   begleitet. In dem 217-mi-
                gängige Befristungspraxis an Hochschulen und Forschungsin-            nütigen Dokumentarfilm
                stituten in Frage. Berufung vor dem Bundesarbeitsgericht ist          geht es um den Musikleh-
                zugelassen und wurde bereits eingelegt. Die GEW freut sich, in        rer Bachmann und seine Dieter Bachmann
                dieser Sache bald ein höchstrichterliches Urteil zu haben.            aus zwölf Nationen stam-
                www.gew.de/lag-befristungsmissbrauch                                  menden Schülerinnen und
                                                                                      Schüler. Bachmann, der mittlerweile pensioniert und GEW-
                                                                                      Mitglied ist, zeigt in dem Film die Notwendigkeit, jedem Kind
                Personalrätepreis 2021                                                zu vermitteln, dass es wertvoll sei. Der Film soll am 16. Sep-
                Bereits zum elften Mal lobt die                                       tember in die Kinos kommen.
                Zeitschrift „Der Personalrat“
                den „Deutschen Personalräte-
                Preis“ aus. Er steht unter dem                                        Online-Lehre funktioniert
                Motto „Initiativen für Beschäftigte“. Ausgezeichnet werden            Die Corona-Pandemie beeinträchtigt den Vorlesungs- und
                Personalräte für beispielhafte Projekte und Initiativen aus           Prüfungsbetrieb an den Hochschulen kaum. Das ist das Er-
                den Jahren 2019 bis 2021. Bewerben können sich sowohl                 gebnis einer Befragung von mehr als 27.000 Studentinnen
                ­einzelne Personalratsmitglieder, komplette Gremien, aber             und Studenten sowie 665 Hochschullehrkräften durch das
                 auch dienststellenübergreifende Personalrats-Kooperationen.          Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), die Mitte März ver-
                 Mitmachen können darüber hinaus Jugend- und Auszubilden-             öffentlicht wurde. Demnach fiel nur knapp 1 Prozent der ge-
                 den- sowie Schwerbehindertenvertretungen – diese jeweils             planten Vorlesungen aus. Wie das CHE weiter mitteilte, konn-
                 über den Personalrat ihrer Dienststelle. Verliehen wird der          ten durch die Umstellung auf digitale Formate auch Seminare,
                 Preis Mitte November in Berlin. Bewerbungsschluss ist der            Übungen und Tutorien von fast allen Lehrenden wie geplant
                 31. Mai. Weitere Infos: www.dprp.de                                  angeboten werden.
                                                                                      Fächerübergreifend waren die Studierenden mit der Orga-
                                                                                      nisation an ihrer Uni mehrheitlich zufrieden. Drei von vier
                Umfrage zur Covid-19-Impfung                                          vergaben laut Mitteilung gute oder sehr gute Noten für die
                Bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie spielen Impfun-                Möglichkeit, weiter Prüfungsleistungen zu erbringen oder
                gen eine entscheidende Rolle. Lehrkräfte an Grund-, Förder-           ­angerechnet zu bekommen.
                und Sonderschulen sind in die Priorisierungsgruppe 2 ein-              Nur 20 Prozent der Hochschullehrkräfte wünschen sich eine
                sortiert, alle anderen in Prio-Gruppe 3. Sichere und effektive         Rückkehr zu reinen Präsenzveranstaltungen. Die große Mehr-
                Impfstoffe sind der Schlüssel für eine erfolgreiche Bekämp-            heit will, dass digitale Lehrelemente mit eingebunden wer-
                fung der Pandemie. Im Rahmen der wissenschaftlichen Stu-               den und Präsenzveranstaltungen ergänzen. Nur 2 Prozent
                die „Sicht und Meinung der Lehrerschaft zu Covid-19 und                sprachen sich langfristig für ein reines Online-Modell aus
                zur Dringlichkeit einer Covid-19 Impfung“ führt die Charité            (s. Schwerpunkt in dieser Ausgabe, S. 22 ff.).
                Berlin derzeit eine bundesweite Befragung von Lehrkräf-
                ten an allgemeinbildenden Schulen durch. Die Umfrage soll
                die Sicht und Meinung der Lehrerschaft zu Covid-19 am Ar-
                beitsplatz Schule und zur Dringlichkeit einer Impfung gegen             In eigener Sache
                Covid-19 erfassen. Zudem werden medizinische Parameter                  Die Drucklegung dieser Ausgabe der E&W erfolgte
                zur Einschätzung des individuellen Erkrankungs- und Kom-                am 25. März 2021. Aktuelle Entwicklungen hinsicht-
                plikationsrisikos für Covid-19 erfragt (Alter, Geschlecht, Vor-         lich der Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-
                erkrankungen). Die Teilnahme erfolgt über einen Link, ist               Pandemie konnten daher nicht mehr berücksichtigt
                anonym, und eine Registrierung ist nicht erforderlich.                  werden.
                bit.ly/charite-impfumfrage-lehrkraefte

   Erziehung und Wissenschaft | 04/2021
Erziehung & Wissenschaft 04/2021 - GEW
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                                       Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Reifenberger Straße 21, 60489 Frankfurt a. M., Fax: 0 69 / 7 89 73-102
Erziehung & Wissenschaft 04/2021 - GEW
6 CORONA-PANDEMIE – EINE ZWISCHENBILANZ

                  Die Corona-Krise ist wie ein Escape-Room
                  aus dem wir nur rauskommen, wenn wi
                  zusammenarbeiten. Können wir bitte
                  aufhören zu streiten und nochmal die
                  Aufgabe lesen?

                                                                                                                                   @ac

              Kein „Weiter so wie bisher“!
               // Die Corona-Pandemie hat ver-    In der Corona-Pandemie kann man           enten billigend in Kauf genommen hat.
               drängte und verschleppte Pro­      den Eindruck gewinnen, das Wohl der       Das Thema Bildungsbenachteiligung
               bleme der Bildungspolitik gna-     Bildungsnation Deutschland hängt an       kam dagegen erst verstärkt auf, als es
               denlos zum Vorschein gebracht.     „gerechten“ und „vergleichbaren“ Abi­     galt, die Unzufriedenheit der Beschäf-
               Jede Krise birgt aber auch die     turnoten. Die Reifeprüfungen korrekt      tigten mit dem unzureichenden Infekti-
               Chance, Dinge noch einmal neu      umzusetzen war so wichtig, dass man die   onsschutz an den Schulen abzuwehren.
               zu denken, Fehler zu analysieren   Gesundheitsgefährdung der Lehrkräfte      Strukturen, die zu einer Verfestigung
               und aus diesen zu lernen. //       sowie der Abiturientinnen und Abituri-    sozialer Ungleichheit führen, wurden da-

  Erziehung und Wissenschaft | 04/2021
Erziehung & Wissenschaft 04/2021 - GEW
CORONA-PANDEMIE – EINE ZWISCHENBILANZ                            7

                                                        Jugendkulturen. Die Schule steht in der     bote und Kommunikationsformen des
                                                        Verantwortung, die Heranwachsenden          neuen, digitalen Zeitalters möglich
                                                        zu unterstützen, die Entwicklungen          wäre. Hinzu kommen Verhaltenskon-
                                                        mitzugestalten und verantwortungs-          trollen durch die Erfassung von Meta-
                                                        bewusst mit digitalen Medien umzuge-        daten wie Bearbeitungsdauer und Auf-
                                                        hen. In der Pandemie hat sich allerdings    merksamkeitsspanne. Abgesehen von
                                                        gezeigt, dass in der Nutzung digitaler      der Problematik einer solchen Daten-
                                                        Medien und Tools nicht nur Chancen          erhebung geht es dabei wohl in erster
                                                        liegen, sondern dass auch die Gefahr        Linie um die Kontrolle und Optimierung
                                                        neuer sozialer Gaps besteht. Die Politik    des „Humankapitals“ und nicht um die
                                                        hat auf die ungleiche Ausstattung der       Bildung kritisch denkender und kreati-
                                                        Lernenden mit digitalen Endgeräten          ver junger Menschen.
                                                        mit einem Sonderprogramm reagiert.          Die Gleichsetzung von Fernunterricht
                                                        Das war gut und richtig. Allerdings war     mit dem Lernen mit digitalen Mitteln
                                                        die Umsetzung des Programms wieder          ist ebenfalls sehr einseitig. Sie sugge-
                                                        von Ausschlüssen und Diskriminierun-        riert, dass Lernen auf Distanz nur digital
                                                        gen geprägt: Geflüchtete Kinder und         möglich sei. Dabei lernten und lernen

 m,                                                     Jugendliche waren nicht mitbedacht
                                                        worden, ebenso die besonderen Be-
                                                        dürfnisse der Lernenden mit Behin-
                                                                                                    Kinder und Jugendliche schon immer
                                                                                                    auch zu Hause mit analogen Mitteln
                                                                                                    wie Büchern, Papier, Bleistift und An-

ir
                                                        derungen und Unterstützungsbedarf           schauungsmaterial. Wesentliche Kenn-
                                                        (s. E&W 3/2021). Auch kamen nicht alle      zeichen guten Unterrichts sind der
                                                        Endgeräte, die gebraucht wurden, an         Methodenmix und die Einbeziehung der
                                                        den Schulen an.                             Umwelt außerhalb der Schule. Wie viel
                                                        Insgesamt läuft die Umsetzung des           biologisches und ökologisches Wissen
                                                        ­Digitalpaktes schleppend. Geteilte Zu-     kann man bei einem Waldspaziergang
                                                         ständigkeiten zwischen Bund, Ländern       oder im Stadtpark erwerben? Gerade
                                                         und Kommunen führen zu erheblichen         hierbei ist eine gute Mischung von ana-
                                                         Reibungsverlusten. Schulen, die ohne-      logem Erleben und dem Einsatz digitaler
                                                         hin abgehängt sind und in armen Kom-       Hilfsmittel besonders fruchtbar. Mit dem
                                                         munen liegen, drohen den Anschluss zu      Smartphone und entsprechenden Apps
                                                         verlieren. Versprechen, dienstliche End-   lassen sich Pflanzen und Tiere bestim-
                                                         geräte zu stellen, Fortbildungen anzu-     men, Sammlungen anlegen und Wissen
                                                         bieten sowie Hard- und Software durch      recherchieren. Viele Lehrkräfte haben in
                                                         IT-Experten zu administrieren, werden      der Verschränkung digitaler und analo-
                                                         meist nicht eingehalten. Hier muss die     ger Methoden kreative Unterrichtsideen
                                                         Kooperation zwischen den verschiede-       entwickelt. Der Austausch und die För-
                                                         nen Entscheidungs- und Verwaltungs-        derung dieser Konzepte trägt wesentlich

chimbau, Twitter                                         ebenen dringend verbessert werden.
                                                         Indes sind Tablets und digitale Lern-
                                                                                                    mehr zur Bildung der jungen Menschen
                                                                                                    bei als die kritiklose Übernahme der
                                                         programme natürlich kein Allheilmit-       Tools aus der Digitalindustrie.
                                          Grafik: GEW

                                                         tel gegen die vielfältigen Probleme im     Zu überprüfen ist, ob die Angebote auf
                                                         System Schule. In der politischen De-      den diversen Lernplattformen barriere-
                                                         batte wird dagegen häufig so getan, als    frei sind, durchgängige Sprachbildung
                                                         könnte man alle Herausforderungen          berücksichtigen und Differenzierungen
   gegen weiterhin nicht in Frage gestellt.              vom Lehrkräftemangel bis zur großen        beinhalten. Auch hier will die GEW zum
   In vielen bildungspolitischen Feldern                 Heterogenität der Lerngruppen digital      Erfahrungsaustausch beitragen. In dem
   sind nun Neujustierungen notwendig,                   lösen. Ein massiv von der Digitalwirt-     Bundesforum „Bildung in der digitalen
   um die Bildung krisenfest zu machen:                  schaft beworbenes Zauberwort heißt         Welt“ werden die Expertisen der GEW-
                                                         in diesem Zusammenhang „Learning           Bundesausschüsse und -Landesverbän-
   1. Digitalisierung                                    Analytics“ (s. E&W 11/2019). Da die        de zusammengetragen und in die öf-
   Den Digitalpakt und dessen Erwei-                     Aufgabenformate hier meist einem           fentliche Debatte eingebracht.
   terungen hat die GEW grundsätzlich                    Richtig-Falsch-Schema folgen und die
   begrüßt. Junge Menschen wachsen in                    Programme auf Motivationskonzepte          2. Gemeinsames Lernen – Inklusion
   einer digitalisierten Welt auf, digitale              des Reiz-Reaktions-Lernens setzen, be-     Eine weitere Erfahrung aus der Pan-
   Medien spielen eine entscheidende                     wirken sie das Gegenteil dessen, was       demie ist, dass eine gute Qualität in-
   Rolle in ihrer Sozialisation und in den               mit der Nutzung der kreativen Ange-        klusiven Unterrichts hilfreich war, alle     >>>

                                                                                                                     Erziehung und Wissenschaft | 04/2021
Erziehung & Wissenschaft 04/2021 - GEW
8 CORONA-PANDEMIE – EINE ZWISCHENBILANZ

         >>>   Kinder und Jugendlichen während der         3. Ausstattung der Schulen                               Schule. Die Jugendhilfe unterliegt seit
               Schulschließungen im Distanzunterricht      Überdeutlich wurde, wie fatal sich das                   Jahren den gleichen Sparzwängen wie
               zu erreichen. Gründe dafür sind, dass       Sparen an der Bildung auswirkt. Zu                       die Bildungseinrichtungen. Die Mittel
               inklusive Schulen Unterrichtskonzepte       Beginn der Pandemie konnten Hygi-                        müssen aufgestockt und Konzepte ei-
               entwickelt haben, die einerseits auf die    enepläne nicht eingehalten werden,                       ner besseren, systematischen Zusam-
               Selbstverantwortung und das selbst-         weil es in den Schulen an elementaren                    menarbeit von Schule und Jugendhilfe
               ständige Lernen setzen und anderer-         Dingen wie fließendem Wasser, Seife                      entwickelt werden.
               seits der Verschiedenheit der Lernen-       und Tüchern fehlte. Lüftungsvorgaben
               den Rechnung tragen. Hilfreich sind         konnten aufgrund maroder Fenster                         Fazit
               offene Aufgaben, die gemeinschaftlich       nicht umgesetzt werden. Das Unter-                       Lehrende und Lernende brauchen jetzt
               und auf verschiedenen Niveaus bear-         richten in kleineren Gruppen scheiterte                  Zeit, Erfahrungen auszutauschen, Ver-
               beitet werden können. Statt aber die        an fehlendem Personal und fehlenden                      säumtes nachzuarbeiten und mitei­nan­
               schulische Inklusion massiv zu fördern,     Räumen. All diese Defizite mussten                       der über das Erlebte ins Gespräch zu
               konnte es der Politik nicht schnell genug   von Schulleitungen, Lehrkräften, Eltern                  kommen. Was sie nicht brauchen, sind
               gehen, ihre althergebrachten Vorstel-       sowie den Schülerinnen und Schülern                      Stoff- und Prüfungsdruck sowie das
               lungen von Klassenarbeiten, Frontalun-      kompensiert werden. Klar ist, auf allen                  Lamento von der „verlorenen Corona-
               terricht und Stoffhuberei wiederherzu-      Ebenen muss mehr Geld für die Schulen                    Generation“. Viele Kinder und Jugendli-
               stellen.                                    zur Verfügung gestellt werden. Ein Mas-                  che haben Neues und Anderes gelernt.
               Es wurde sogar massiv versucht, den         terplan gegen den Fachkräftemangel ist                   Sie waren und sind natürlich auch psy-
               Eindruck zu erwecken als seien Bil-         ebenfalls überfällig.                                    chisch durch die Corona-Krise belas-
               dungsbenachteiligungen erst mit der                                                                  tet. Sie brauchen Unterstützung und
               Pandemie entstanden. Wie wenig wirk-        4. Kinderarmut und häusliche Gewalt                      Empowerment – und keine Defizitori-
               lich an alle Schülerinnen und Schü-         Das Leid von Kindern aus Armutsver-                      entierung. Das ständige Jammern vom
               ler gedacht wurde, wird allein daran        hältnissen und aus psychosozial belas-                   „verpassten Stoff“ negiert die pädago-
               deutlich, dass man Kinder mit sonder-       teten Familien wird während der Pan-                     gischen Anstrengungen der Lehrkräfte
               pädagogischem Unterstützungsbedarf          demie verstärkt in der Öffentlichkeit                    und stempelt eine ganze Generation
               zunächst einmal komplett vergessen          diskutiert. Die Politik nahm dieses Pro-                 Lernender zu „Losern“.
               hatte. Auch an Kinder und Jugendliche,      blem zum Anlass, auf Schulöffnungen                      Nach der Pandemie werden der Vertei-
               die dabei sind, die Zielsprache Deutsch     ohne ausreichenden Infektionsschutz                      lungskampf um Ressourcen sowie der
               zu erwerben, wurde nicht gedacht.           zu setzen. Ganz so, als sei das Problem,                 Wunsch nach „Normalität“ eine neue
               Hier waren die Kinder im Vorteil, die       dass immer mehr Kinder familiärer Ge-                    Qualität erreichen. Hier ist die GEW ge-
               an einer inklusiv arbeitenden Schule        walt und Vernachlässigung ausgesetzt                     fragt, sich massiv einzumischen. Schon
               lernen. Sie gehören zu ihrer Klasse und     sind, erst mit der Pandemie entstanden                   jetzt drängen Stiftungen und Unterneh-
               werden selbstverständlich mitgedacht.       und könnte durch Präsenzunterricht ge-                   men verstärkt in die Debatte. Sie werden
               Das Thema Schulstruktur und Inklusion       löst werden. Aber schon vorher gab es                    gerne angehört, weil sie einfache und
               muss deshalb nach der Pandemie unbe-        nur wenige Konzepte des umfassenden                      verständliche Lösungen anzubieten ha-
               dingt verstärkt in die politische Debatte   Kinderschutzes und der systemischen                      ben. Die Zusammenarbeit mit Gewerk-
               eingebracht werden.                         Zusammenarbeit von Jugendhilfe und                       schaften wird von der Politik eher als
                                                                                                                    anstrengend empfunden, weil diese For-
                                                                                                                    derungen stellen, die Geld und Personal
                                                                                                                    kosten. Jetzt ist entscheidend, dass sich
                                                                                                                    die GEW als bildungspolitischer Profi
                                                                                                                    anbietet und die berechtigten Forderun-
                                                                                                                    gen mit konkreten pädagogischen und
                                                                                                                    bildungspolitischen Ideen und Konzep-
                                                                                                                    ten verbindet. Dabei hilft das Alleinstel-
                                                                                                                    lungsmerkmal der GEW: Sie organisiert
                                                                                                                    Beschäftigte aus allen Bildungsbereichen
                                                                                                                    und kann die verschiedenen Perspekti-
                                                                                                                    ven optimal miteinander verbinden. Sie
                                                                                                                    hat ein klares Konzept, was unter Bildung
                                                                                                                    zu verstehen ist und wie eine strukturel-
                                                                                                                    le Veränderung des Schulsystems ausse-
                                                                                                                    hen muss.
                                                                                                  Foto: StockSnap

                   Nach der Pandemie sind in vielen bildungspolitischen
                   Feldern Neujustierungen notwendig.                                                               Ilka Hoffmann,
                                                                                                                    GEW-Vorstandsmitglied Schule

  Erziehung und Wissenschaft | 04/2021
Erziehung & Wissenschaft 04/2021 - GEW
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Erziehung & Wissenschaft 04/2021 - GEW
10 CORONA-PANDEMIE – EINE ZWISCHENBILANZ

                Am Rande der Gesellschaft –
                und der Kräfte
                 // Wer in der Jugendhilfe arbeitet,           genau hinzuschauen, oder als Begleiter,
                 hat oft kaum eine Wahl: Benach-               der so lange kommt wie nötig. „Ohne
                 teiligte Kinder, Jugendliche und              Vertrauen und emotionale Nähe geht
                 Familien brauchen Unterstüt-                  das nicht, von beidem geht in Videokon-
                 zung – gerade dann, wenn die                  ferenzen zu vieles verloren.“ Also setzt
                 Zeiten schwierig sind. Und das                sich der 62-Jährige seine Maske auf und
                 Arbeiten via Laptop oder Tablet               geht hinein in die meist nicht gerade
                 stößt schnell an Grenzen. //                  großzügig geschnittenen Wohnungen:
                                                               Er sei „nicht sehr ängstlich“, erklärt er
                 Alle Welt geht ins Digitale, auch Harald      dazu nur, und dass Lüften wichtig, im
                 Bischoff bietet für das Gespräch mit der      Winter aber schwierig sei. Ausführlich
                 E&W eine Videokonferenz an: „Dann             berichtet er von den Fortschritten, die
                 können wir uns auch sehen“, sagt er.          er erlebt: Die Mutter, mit der er seit
                 Der Sozialarbeiter, 62, drei Jahrzehnte       zwei Jahren bespricht, wie sie ihre eige-
                 Berufserfahrung, lehnt neue Medien            nen Grenzen findet und zugleich ihren
                 nicht ab. Doch für seine Arbeit sei das       Kindern welche setzt, habe sich enorm

                                                                                                            Fotos: Christoph Bächtle
                 „kaum vorstellbar“ – und zwar in al-          entwickelt: „Zu Beginn war ich zweimal
                 len drei Tätigkeiten: Bischoff begleitet      die Woche da, nun nur noch alle 14
                 schwer Drogenabhängige, ist ambulan-          Tage. Wenn alles gut geht, kommt sie
                 ter Betreuer psychisch instabiler Men-        bald ohne mich zurecht.“
                 schen und sozialpädagogischer Famili-                                                                                 Das ständige Austarieren zwischen den
                 enhelfer. „Was davon sollte ich aus der       Ein „steter Kampf“                                                      Bedürfnissen und Rechten der Eltern,
                 Distanz machen?“, fragt er, „je mehr          Aus Sicht des Familienhelfers wie des                                   Kinder und Mitarbeitenden sei das
                 Anlaufstellen schließen, desto mehr Ge-       Jugendhilfesystems wäre das ein großer                                  Anstrengendste, sagt Betriebsrätin Iska
                 sprächsbedarf gibt es. Und wer ohnehin        Erfolg. Doch zur Wahrheit gehört auch:                                  Müller.
                                     psychische Probleme       Bezahlt wird Bischoff für jede Stunde,
                                          hat, erlebt diese    die er bei der Mutter sitzt, nicht für die
                                           weit schlimmer      Hin- und Rückfahrt, nicht für Gespräche                                 und Jugendliche. Die Belastung sei im-
                                                als zuvor.“    mit dem Jugendamt oder seinem Trä-                                      mens, schildert Thomßen, zuvorderst
                                               Als sozialpä-   ger. Und auch nicht für die Zeit, in der                                für jene, die in den Wohngruppen arbei-
                                               dagogischer     er darauf wartet, dass ihm eine neue                                    ten: „Die Kolleginnen und Kollegen kön-
                                            Familienhelfer     Familie vermittelt wird. Fragt man ihn,                                 nen nicht aus der Ferne arbeiten. Und
                                                ist Bischoff   was er sich wünscht, sagt er: „Bessere                                  sie haben ja auch Angehörige, um die
                                              im Sinne des     Arbeitsbedingungen, ganz unabhängig                                     sie sich sorgen.“ Zugleich beobachten
                                           Kinderschutzes      von der Pandemie.“ Und: „Mehr Auf-                                      die nahezu 200 Mitarbeiterinnen und
                                                unterwegs;     merksamkeit dafür, was wir leisten.“                                    Mitarbeiter, wie Kinder und Jugendli-
                                                     um vor    „Bei uns arbeitet ein Bereich an vor-                                   che verlorenzugehen drohen: „Wir hö-
                                                         Ort   derster Front, der in den Debatten                                      ren von Depressionen, von Magersucht
                                                               kaum vorkommt“, erklärt Wera Thom-                                      und vielem mehr“, sagt Thomßen, und:
                                                               ßen. Der Tübinger Träger KIT Jugend-                                    „Die Kinder- und Jugendpsychiatrien in
                                                               hilfe, bei dem sie arbeitet, bietet von                                 und um Tübingen sind voll.“ Thomßen
                                                               Jugendwohngruppen über Schulsozial-                                     leitet den Bereich „Vermittlungs- und
                                                               arbeit bis zur sozialpädagogischen Fa-                                  Beratungsdienst für Erziehungsstellen“
                                                               milienhilfe die ganze Bandbreite an Un-                                 bei ihrem Träger; das sind pädagogisch
                                                               terstützung für benachteiligte Kinder                                   ausgebildete Familien, die im Auftrag

                                                                   Fragt man Harald Bischoff, was er sich wünscht, antwortet er:
                                                                   „Bessere Arbeitsbedingungen, ganz unabhängig von der ­Pandemie.“

    Erziehung und Wissenschaft | 04/2021
CORONA-PANDEMIE – EINE ZWISCHENBILANZ                                11

des Jugendamtes Kinder aufnehmen.            Sinne der Kinder, unserer eigenen             Denn zur Realität gehört auch: Einen
„Auch die arbeiten längst an ihren           Grenzen, auf der Suche nach flexiblen         großen Teil der Arbeit mit denen, die
Grenzen“, berichtet sie, „was sie leisten,   Lösungen. Das ständige Austarieren            wenig Stimme haben, leisten prekär
ist schon ohne Homeschooling beacht-         ist das Anstrengendste“, so Müller. Die       Beschäftigte, die mit jedem Laut ihren
lich.“ Deswegen werden sie eng beglei-       Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der          Job riskieren könnten. Karla Gruber
tet, ebenso wie die Kinder, die auch in      KIT-Jugendhilfe wurden, wie die Grund-        etwa äußert sich hier nicht mit ihrem
diesen Zeiten den Kontakt zu ihren leib-     und Förderschullehrkräfte sowie die Er-       richtigen Namen, weil sie sonst kaum
lichen Eltern nicht verlieren sollen. „Das   zieherinnen und Erzieher, in die zweite       die wenig professionelle Haltung ihres
Elternrecht sticht sozusagen Corona“,        Priorisierungsgruppe für das Impfen           freien Trägers offen ansprechen kann.
sagt Thomßen.                                aufgenommen. „Doch was ist mit den            Sie ist Schulbegleiterin, was norma-
„Also sorgen wir für Bedingungen, zu         Erziehungsstellen und mit den Jugend-         lerweise im Wortsinne bedeutet, eine
denen diese Treffen möglich sind“,           lichen in den Wohngruppen?“, fragt            Schülerin oder einen Schüler mit Behin-
erzählt die Sozialarbeiterin Iska Mül-       Müller und sagt: „Im Grunde hätte auch        derung in den Unterricht zu begleiten.
ler. Sie berät und begleitet bei der         längst ein Impfstoff für Kinder und Ju-       Seit die Schulen für den Präsenzunter-
KIT Jugendhilfe Tübingen die Familien        gendliche umfassend getestet werden           richt geschlossen sind, loggt sie sich
und ist stellvertretende Betriebsrats-       müssen. Normalität wäre so wichtig.“          mit der ganzen Klasse von zu Hause aus
vorsitzende. Ihre Arbeit beschreibt          Weil es die große Lösung nicht gibt,          ein – sozusagen als eines von mehr als
sie als stetes Lavieren in dem Feld „So      kämpfen Thomßen, Müller und all die           20 Videokonferenz-Kästchen auf dem
digital wie möglich, so präsent wie nö-      anderen immerfort für Einzellösungen:         Bildschirm. „So kann ich aber nicht hel-
tig“. Einige Erziehungsstellen, Kinder       dafür, dass Kinder in die Notbetreuung        fen“, sagt sie, „ich bin weder Schülerin
und Jugendliche hätten sich an lange         dürfen, ein niedrigschwelliger Zugang         noch Ersatzlehrerin. Meine Aufgabe ist,
Telefonate gewöhnt: „Manche öffnen           zum Jugendamt erhalten bleibt und             einem autistisch veranlagten Schüler zu
sich sogar mehr, wenn sie mich nicht         vieles mehr. „Es ist ein steter Kampf für     helfen, sein Lernen zu strukturieren, ihn
sehen“, erklärt sie. Es gebe aber auch       Menschen, die unter dem Radar der Öf-         emotional zu stärken.“ In einem Schul-
jene, die sagen: „Du kommst gar nicht        fentlichkeit leben – im Grunde von Mit-       system, fügt sie hinzu, das immer noch
mehr!“ Da sie sich gegen Besuche in          arbeiterinnen und Mitarbeitern, denen         nicht auf Verschiedenheit ausgelegt ist,
Innenräumen entschieden hat, unter-          es ebenso geht“, konstatiert Müller. Sie      sei das umso schwieriger.
nimmt sie Spaziergänge mit Eltern wie        appelliert auch an ihre Kolleginnen und       Gruber fordert: Ein Träger, der Schul-
Kindern. Kolleginnen und Kollegen, die       Kollegen, sich lauter zu Wort melden:         begleiter vermittelt, sollte in der der-
mit Kinderschutz zu tun haben, hätten        „Sozialarbeiter helfen. Sie gehen zu sel-     zeitigen Lage vernünftige Bedingungen
sich im ersten Lockdown sogar mit            ten an die Öffentlichkeit.“                   schaffen, in denen Begleitung überhaupt
Smileys vor die Fenster der Kinder ge-                                                     möglich ist: „Im Grunde braucht es gut
stellt und gewunken.                         Reformen überfällig                           belüftete, große Räume, in denen wir
All das zerrt an den                            In der „Fachgruppe ambulante und           mit den Schülerinnen und Schülern an
Nerven: „Was ist                                  stationäre Kinder- und Jugendhilfe“      verschiedenen Geräten arbeiten kön-
kindgerecht, was ist                                   der GEW Baden-Württemberg           nen.“ Dafür, fügt sie hinzu, wäre es auch
elterngerecht, was                                     ist deswegen stete Herausfor-       gut, wenn Schulbegleiterinnen und -be-
mitarbeitergerecht?                                        de­rung: Wie schafft man in     gleiter nicht – wie sie selbst – eher zufäl-
Seit einem Jahr sind                                 Zeiten von Rationalisierung und       lig eine pädagogische Ausbildung haben:
wir im Gespräch: im                                  Unsicherheit mehr Sichtbarkeit,       „Bisher gibt es nicht einmal ein professi-
                                                    bes­sere Bedingungen und damit         onelles Berufsbild. Gäbe es das, wäre es
                                                               gute Bildung, Erziehung     auch leichter, gegen eine stete Beschäf-
                                                                    und Betreuung für      tigung über Halbjahresverträge zu argu-
                                                                   Kinder und Jugend­      mentieren.“ Gruber findet, so misslich
                                                                    liche, die diese am    das Leben in der Pandemie auch sei: „Sie
                                                                      dringendsten be-     sollte wenigstens als letzter Weckruf
                                                                     nötigen? Bischoff,    betrachtet werden, um ein ganzes Paket
                                                                        der Vorsitzende    überfälliger Reformen anzupacken.“
                                                                       der Gruppe: „Or-
                                                                         te, um gemein-    Jeannette Goddar,
                                                                       sa­me Positionen    freie Journalistin
                                                                          zu entwickeln,
                                                                             sind enorm
                                                                           wichtig.“       „Bei uns arbeitet ein Bereich an vorderster
                                                                                           Front, der in den Debatten kaum vorkommt“,
                                                                                           erklärt Wera Thomßen vom Tübinger Träger
                                                                                           KIT Jugendhilfe.

                                                                                                                Erziehung und Wissenschaft | 04/2021
12 CORONA-PANDEMIE – EINE ZWISCHENBILANZ

                                                                                                                                                                                           Foto: pixabay/distelAPPArath
                                                                    Die Corona-Pandemie ist für die
                                                                    Beschäftigten im Bildungssektor
                                                                    eine besondere Herausforderung.

                Bildung im Ausnahmezustand
                 // In der Corona-Pandemie                   che zusammen mit Kolleginnen und                                     oder Sonderpädagoginnen und -päda-
                 müssen Lehrkräfte, Erzieherinnen            Kollegen für eine datenschutzkonforme                                gogen, die Aufgaben. „Doch das reicht
                 und Erzieher den Spagat zwischen            Schulplattform gesorgt. In Studientagen                              nicht“, so Plocher.
                 Gesundheitsschutz und Bildungs­             erarbeiteten Lehrkräfte Konzepte für                                 Immerhin hat der Berliner Senat die
                 auftrag leisten. Wie gelingt das? //        den Distanzunterricht: Wie fördere ich                               Abschlussprüfungen für die 9. und 10.
                                                             selbstständiges Lernen, wie muss ich                                 Klassen für dieses Jahr ausgesetzt. Und
                 Wenn Ryan Plocher morgens um acht           Aufgaben formulieren und Texte auf-                                  immerhin gibt es jetzt, da die Schüle-
                 Uhr seine Schülerinnen und Schüler          bereiten, damit sie ohne Hilfe gut ver-                              rinnen und Schüler sukzessive für min-
                 begrüßt, weiß er genau: Die meisten         ständlich sind? Plocher: „Vieles ist nicht                           destens drei Stunden am Tag in den
                 von ihnen liegen noch im Bett. „Weil        neu, aber im Distanzunterricht so rele-                              Wechselunterricht zurückkommen, vor-
                 die Bandbreite nicht reicht, müssen         vant wie nie zuvor.“                                                 erst Masken für alle und wöchentliche
                 wir im Distanzunterricht in der Regel                                                                            Selbsttests für die Lehrkräfte. Plocher:
                 auf Videokontakt verzichten.“ Sind alle     Abschlussprüfungen ausgesetzt                                        „Das macht den Alltag für uns leichter.“
                 aufmerksam dabei oder schauen sie ne-       Distanzunterricht gelingt laut Plocher                               Den Alltag an Schulen besser in den Griff
                 benher Videos, fragt sich der Englisch-     nur, wenn vier Voraussetzungen erfüllt                               zu bekommen, das ist derzeit auch Ma-
                 lehrer an der Fritz-Karsen-Schule in Ber-   sind: Die Schülerinnen und Schüler ha-                               non Tuckfelds Job. Jeden Tag stöbert die
                 lin-Britz deshalb häufig. Und haben sie     ben einen eigenen Laptop oder ein                                    Gesamtpersonalrätin für den Rheingau-
                 den Stoff überhaupt verstanden? „Nie-       Tablet, schnelles Netz, einen ruhigen                                Taunus-Kreis in Hessen durch Corona-
                 mand erwartet mehr, dass Schülerinnen       Arbeitsplatz und nichts nebenher zu                                  Anweisungen des Kultusministeriums
                 und Schüler Fortschritte machen“, sagt
                 Plocher. „Unser Ziel heißt: Rückschritte
                 verhindern.“ Und wenigstens in Ansät-
                                                                                         Foto: Christian von Polentz

                                                                                                                                             Foto: Andrea Schombara

                 zen die Kompetenzen aufrechterhalten,
                                                                                                                                                                                          Foto: Brigitte Bauer

                 die Schule auch vermittelt: einem struk-
                 turierten Rhythmus zu folgen, etwas
                 systematisch zu bearbeiten, mündlich
                 Position zu beziehen – und sei es nur
                 aus dem Bett.                                Ryan Plocher                                             Manon Tuckfeld                                 Erni Schaaf-Peitz
                 Schule im Ausnahmezustand gehört
                 seit gut einem Jahr zum Alltag von Plo-     bewältigen – auf jüngere Geschwister                                 und schaut nach den „Fugen in den Ver-
                 cher – und er hat noch Glück, wie er        aufzupassen etwa. Plocher: „Schuldis-                                ordnungen“, um Gestaltungsspielräume
                 sagt: Die Fritz-Karsen-Schule ist eine      tanzierte Schülerinnen und Schüler sind                              für die Schulen auszuloten. Gut 50 All-
                 große Einrichtung mit vielen Förder-        komplett verloren.“ Im Extremfall kom-                               tagstipps hat sie bereits an die Perso-
                 stunden, studentischen Hilfskräften und     men sie in Kleinstgruppen von je vier                                nalräte vor Ort verschickt. „Jede Schule
                 ausreichender IT-Ausstattung. Schnell       Kindern je Doppelstunde in die Schule                                muss andere Wege finden, um das Leben
                 haben Quereinsteiger aus der IT-Bran-       und bearbeiten, betreut von Sozial-                                  mit Corona zu gestalten“, sagt sie.

    Erziehung und Wissenschaft | 04/2021
CORONA-PANDEMIE – EINE ZWISCHENBILANZ                             13

Eine Fuge etwa heißt: „Der Unter-       rin.“ Für Kolleginnen, die Sorge ha-
richt kann teilweise in Präsenz er-     ben sich anzustecken, muss sie Ein-
folgen.“ Tuckfelds Botschaft an die     satzbereiche mit möglichst wenig
Personalräte: „Keine Sorge also, ihr    intensivem Kind-Kontakt finden.
verstoßt nicht gegen die Regeln,        Und immer wieder gibt es Diskus-
wenn ihr nicht alle zurückholt.“        sionen im Team: Können wir auch
Und doch melden viele Lehrkräfte        den Kleinsten mit Masken begeg-
der Gesamtpersonalrätin zurück:         nen? Wie viel Körpernähe braucht
Es hakt an allen Ecken und Enden.       welches Kind? Wie fangen wir die
Da sind baufällige Fenster, die aus     Ängste der Kinder auf? Schaaf-
Sicherheitsgründen nicht mehr           Peitz: „Wir arbeiten ständig an kre-
geöffnet werden dürfen; fehlende        ativen Lösungen.“ Materialien zum
Waschmöglichkeiten in den Klas-         Werken auf einem Wagen überall
senzimmern, weil das Land keine         zugänglich machen, nicht nur im
Waschbecken mehr in den Schul-          Bauraum; Händewaschen als klei-
räumen einbaut. „Manche Grund-          nes Ritual inszenieren; die Überga-
schullehrkräfte können von sechs        be der Kinder vor der Kita zu einer
Stunden Anwesenheitszeit vor Ort        intensiven Begegnung machen.
gerade mal zwei Stunden netto un-       Neuerdings steht ein Baldachin vor
terrichten. Den Rest verbringen sie     der Eingangstür, ein kleiner Begeg-
mit Maskenpausen, Lüften und An-        nungsraum für Eltern, Kinder und
stehen zum Händewaschen.“ Ganz          Fachkräfte, der zudem Schutz vor
zu schweigen vom Datenschutz.           Regen bietet. Laminierte Fotos aus
„Der ist auf den meisten Schulplatt-    dem Kita-Alltag baumeln daran,
formen nicht gewährleistet.“            damit Eltern wissen, was drinnen
Viele Lehrkräfte machten trotzdem       vor sich geht, wenn sie ihrem Kind
weiter – dem Bildungsauftrag zulie-     „Tschüss“ gesagt haben. „Wir neh-                                     Eine Initiative der
be. Der Gesundheitsschutz gerate        men uns mehr Zeit für individuelle
ohnehin oft in den Hintergrund. 60      Gespräche, die Atmosphäre ist viel                       SPENDEN FÜR
bis 100 Schülerinnen- und Schüler-      zugewandter“, erzählt Schaaf-Peitz.                      CORONA
kontakte am Tag haben Lehrkräfte        Die bessere Fachkraft-Kind-Relation
nach Einschätzung der Personalrä-       in Corona-Zeiten macht es möglich.
tin im Schnitt.                         Auch anderweitig entsteht Posi-
                                        tives, neue Spielfreundschaften
„Kreative Dienstpläne“                  durch neue Gruppenzusammen-
Erni Schaaf-Peitz hat es zumin-         setzungen etwa. Die Pädagogik än-
dest organisatorisch leichter. „In      dere sich auch unter Pandemie-Be-
Kitas gibt es mehr Spielräume als       dingungen nicht. „Wir folgen nach
im System Schule“, sagt die Lei-        wie vor den Bedürfnissen der Mäd-
terin der Kita Wittlich in der Eifel.   chen und Jungen.“ Und wenn die
Schaaf-Peitz und ihr Team stecken       Kita-Leiterin wieder mal ein Kind
mittlerweile, in „Phase acht oder       sagen hört: „Morgen darf ich ja              FORSCHUNG STÄRKEN –
neun“ der Corona-Betreuung. Es          nicht kommen, weil meine Mama                PATIENTEN UNTERSTÜTZEN
ist ein Wechselspiel von Notbe-         nicht arbeitet“, weiß sie: „Die Kita
treuung, erweiterter Notbetreu-         hat den Paradigmenwechsel ge-
ung, „Spielesettings“, Regelbetrieb     schafft: von einer Verwahrungs-
bei dringendem Bedarf, modifi-          stelle zum wichtigen Bildungs- und
zierter Regelbetrieb und so fort.       Lebensort.“ Vielleicht bleibt auch           Die Initiative „Spenden für Corona“ der Stiftung
„Verlässliche Planung ist unmög-        deshalb bislang keine Fachkraft              Universitätsmedizin unterstützt die Corona-Forschung
lich“, sagt sie. Mit Eltern muss die    auf Dauer aus gesundheitlichen               und zusätzliche Versorgungsprojekte für Patienten.
Kita-Leiterin den genauen Bedarf        Bedenken fern. Schaaf-Peitz: „Wir            Jede Spende hilft!
aushandeln, mit Kolleginnen „kre-       sind Erzieherinnen geworden, um
ative Dienstpläne“, in denen jede       einen Bildungsauftrag zu erfüllen –          Spendenkonto:
Fachkraft immer nur mit denselben       für unsere Kinder.“                          IBAN: DE 09 3702 05 0005 0005 0005
Mädchen und Jungen Kontakt hat.                                                      BIC: BFSWDE33                                        Mehr Infos unter:
„Gerade jetzt brauchen Kinder für       Anja Dilk,                                   Verwendungszweck: Corona                       spenden-fuer-corona.de
ihre Sicherheit die Bezugserziehe-      freie Journalistin

                                                                                                       Erziehung und Wissenschaft | 04/2021
                                                                       Anzeige_94x133.indd 1                                                             12.05.20 16:29
14 CORONA-PANDEMIE – EINE ZWISCHENBILANZ

                Augen zu und durch
                 // Die Corona-Pandemie hat                  In Berlin wurden gut 50.000 Tablets an     Wertschätzung von den Eltern entge-
                 an den Schulen alles auf den                bedürftige Schülerinnen und Schüler        gengebracht.“
                 Kopf gestellt: Präsenzunter-                ausgegeben. Damit konnte die größte        Ende Februar begann für die Grund-
                 richt findet nicht oder nur noch            Not gelindert werden. Durch das büro-      schülerinnen und -schüler in Berlin wie-
                 eingeschränkt statt, der Online-            kratische Vergabeverfahren seien aller-    der der Präsenzunterricht. Die Schule
                 Unterricht klappt mal mehr, mal             dings viele Kinder und Jugendliche, die    von Böhmer hat einen Wechselunter-
                 weniger gut, Lehrkräfte, Schüle-            auf die Geräte angewiesen sind, leer       richt mit halben Klassen konzipiert;
                 rinnen und Schüler sowie deren              ausgegangen, kritisiert der Co-Vorsit-     jede Gruppe kommt täglich für zwei
                 Eltern müssen improvisieren.                zende der Berliner GEW, Tom Erdmann.       Zeitstunden in die Schule. Mit dem Kon-
                 In der medialen Öffentlichkeit              Ihre Schule habe zwar vor einigen Mo-      zept des gestaffelten, täglichen Unter-
                 dominieren die Stimmen bil-                 naten iPads bestellt, erhalten habe sie    richts hat die Schule bereits in der Öff-
                 dungsnaher Familien. Doch wie               die digitalen Endgeräte jedoch erst im     nungsphase von August bis kurz vor den
                 sieht das an Schulen aus, deren             Februar dieses Jahres, beschreibt Böh-     Weihnachtsferien gute Erfahrungen ge-
                 Schülerinnen und Schüler aus                mer die Situation an ihrer Schule. Es      sammelt. „Uns war wichtig, dass die Kin-
                 materiell benach­teiligten Fami-            habe Lieferverzögerungen gegeben           der jeden Tag zur Schule kommen. Eine
                 lien stammen? Zwei Lehrkräfte               und es fehlten immer noch Hüllen und       andere Organisation des Unterrichts,
                 aus Berlin berichten. //                    Ladekoffer, ohne die die iPads nicht he-   zum Beispiel ein Wechselunterricht, bei
                                                             rausgegeben werden dürften. Die Ge-        dem die Schülerinnen und Schüler nur
                 „Die Kinder haben den Lockdown gut          räte seien also auch Ende Februar noch     an einigen Tagen in der Woche oder
                 überstanden“, sagt Franziska Böhmer,        nicht einsatzbereit gewesen. „Manche       wochenweise in die Schule kommen,
                 die Mathe, Kunst und Sport in einer         Eltern haben sich ein Tablet oder einen    überfordert die meist kinderreichen Fa-
                 sogenannten JüL-Klasse* an der Hans-        Laptop selbst gekauft, in den meisten      milien organisatorisch.“ Allerdings müs-
                 Fallada-Schule in Berlin-Neukölln von       Familien wurde jedoch ein Mobiltelefon     sen jetzt alle Grundschulkinder jeden
                 der 1. bis 3. Jahrgangsstufe unterrich-     genutzt.“                                  Tag zur Schule kommen. „Um das gute
                 tet. Bereits den ersten Lockdown im                                                    Hygienekonzept aufrechtzuerhalten“,
                 vergangenen Jahr habe man organi-           Logistische Herausforderung                so Böhmer, „ist das eine größere logis-
                 satorisch gut hinbekommen (s. E&W           Die Hans-Fallada-Schule ist eine in-       tische und organisatorische Herausfor-
                 5/2020 und 7-8/2020). Auch der zweite       klusive Schule im Norden des Bezirks       derung als im Mai 2020.“
                 Lockdown sei gut vorbereitet gewesen.       Neukölln, der durch eine hohe Zahl an      Und wie steht sie zur Öffnung der
                 „Ich habe jedes Kind mindestens einmal      Empfängern von Transferleistungen          Grundschulen mitten in der Pandemie?
                 in der Woche in der Schule gesehen,         charakterisiert ist. Der Anteil der Ein-   „Inhaltlich finde ich das richtig, für die
                 wenn es gekommen ist, um sich neue          wohner, die ALG II beziehen, liegt bei     Kinder war dieser Schritt notwendig,
                 Aufgaben abzuholen beziehungswei-           rund einem Drittel. Zum Vergleich: Ber-    aber die Kolleginnen und Kollegen sor-
                 se erledigte Aufgaben abzugeben. So         linweit bezieht rund jeder Zehnte ALG      gen sich schon“, antwortet Böhmer.
                 konnte ich auch Einzelgespräche führen      II. Viele Schülerinnen und Schüler der     „Einige von uns gehören zur Covid-
                 und mit den Eltern sprechen.“               Grundschule leben in Familien mit vier     19-Risikogruppe. Wir haben zwar alle
                 Auch das Distanzlernen habe gut funk-       und mehr Kindern, über digitale Endge-     FFP2-Masken, aber wir sehen auch,
                 tioniert. „Ich war wirklich erstaunt, wie   räte verfügen nur wenige. „In einigen      dass die Maßnahmen zum Schutz vor
                 gut die Kinder mit der Technik zurecht-     Familien gibt es nur ein Smartphone.“      Ansteckungen nach wie vor unzurei-
                 kamen. Die Kinder hatten richtig Lust       Die Lehrkräfte nahmen, so Böhmer,          chend sind. Die zwei Schnelltests pro
                 aufs Lernen. Die waren sehr motiviert.“     darauf Rücksicht und organisierten         Woche bringen nur eine punktuelle Si-
                 Die Dritt- und Zweitklässler hatten drei-   den Unterricht vor Laptop, iPad und        cherheit.“ Die Stimmung im Kollegium
                 mal die Woche, die Erstklässler zweimal     Smartphone zeitlich so, dass jedes Kind    bis zur Impfung aller Lehrkräfte fasst
                 die Woche Online-Unterricht. „Wir ha-       teilnehmen konnte. Die Stimmung un-        die Lehrerin so zusammen: „Augen zu
                 ben sogar eine Online-Faschingsparty        ter allen Eltern beschreibt Böhmer als     und durch!“
                 gefeiert. Die Kinder waren pünktlich        vergleichsweise entspannt. „Sie sind       Erdmann fordert angesichts solcher Be-
                 und zuverlässig und wurden von den El-      aber zunehmend erschöpft und kom-          richte, Lehrerinnen und Lehrer schnel-
                 tern unterstützt.“ Und das, obwohl die      men an ihre Grenzen. Das Verhältnis zu     ler zu impfen: „Es darf nicht sein, dass
                 digitale Ausstattung in den Haushalten      uns Lehrkräften hat sich im Lockdown       die Liste der Impfeinladungen durch
                 meist alles andere als komfortabel sei,     positiv entwickelt; die Bindung ist en-    ein halbes Dutzend Verwaltungseinhei-
                 wie Böhmer betont.                          ger geworden. Wir bekommen sehr viel       ten gehen muss, nur um zu verhindern,

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dass irgendjemand geimpft wird, der        Auch im Lockdown habe man auf Dis­         chen nicht mehr am Online-Unterricht
noch nicht an der Reihe ist. Thüringen     tanzunterricht nicht vollständig ver-      teilnimmt, wächst bei einer alleiner-
und Brandenburg zeigen, dass es auch       zichtet. Nur die älteren Schülerinnen      ziehenden Mutter auf, die kein Wort
unbürokratisch geht, denn dort stellen     und Schüler, die sich auf die Abschluss-   Deutsch spricht; da gestaltet sich
Kita- und Schulleitungen die Impfbe-       prüfungen vorbereiteten, mussten zum       schon die Kontaktaufnahme zur Mut-
rechtigungen an die Beschäftigten aus.“    Präsenzunterricht erscheinen. Bei den      ter schwierig.“
                                           jüngeren habe das Distanzlernen „im        Die meisten Jugendlichen hätten die
Engere Bindung                             Großen und Ganzen gut funktioniert“.       Zeit zwischen Weihnachten und Ende
Ortswechsel: Marvin K.** unterrichtet      Für ihn sei der Online-Unterricht eine     Februar allerdings gut überstanden,
an einem Gymnasium im Südwesten            unfreiwillige Fortbildung, berichtet K.    betont K. „Sie mussten zwangsläufig
von Berlin Deutsch und Musik für die       „Ich habe im vergangenen Jahr mindes-      selbstständiger werden.“ Während in
Jahrgangsstufen 7 bis 12; auch hier        tens doppelt so viel gelernt wie wäh-      vielen Mittelschichtsfamilien die Eltern
stammen viele Schülerinnen und Schü-       rend meines Referendariats. Gerade in      bei den Aufgaben helfen können, seien
ler aus materiell benachteiligten Fami-    Musik und Deutsch kann man mit On-         seine Schülerinnen und Schüler auf sich
lien. Kurz nach den Sommerferien und       line-Tools unglaublich viel machen.“       alleine gestellt. Wie Böhmer sagt aber
dem Wiederbeginn des Präsenzunter-         Sorgen bereitet K. allerdings, „dass       auch er: „In der Pandemie ist der Kon-
richts sei die Angst vor Ansteckungen      einige Schülerinnen und Schüler wäh-       takt zu meinen Schülerinnen und Schü-
mit dem Corona-Virus bei vielen Kolle-     rend des Lockdowns komplett vom            lern noch intensiver und das Verhältnis
ginnen und Kollegen schon spürbar ge-      Radar verschwunden sind und auch           besser geworden.“
wesen. „Inzwischen, so mein Eindruck,      zu deren Eltern kein Kontakt möglich
fällt vielen zu Hause die Decke auf den    ist.“ Im Präsenzunterricht sei wenigs-     Jürgen Amendt,
Kopf, und sie wollen zurück in die Schu-   tens ein Gespräch zwischen Tür und         Redakteur der „Erziehung und Wissenschaft“
le. Mir geht es ähnlich. Ich sitze jeden   Angel möglich und auch die Schulsozi-
Tag von morgens bis spät abends vor        alarbeiterin könne intervenieren. Der
dem Computer, das geht mir zuneh-          Lockdown schränke diese Möglichkeit        *JüL: Jahrgangsübergreifendes Lernen
mend auf die Nerven.“                      ein. „Ein Schüler, der schon seit Wo-      **Name geändert

   Franziska Böhmer wird jetzt zweimal
   pro Woche getestet. „Die Schnell-
   tests bringen aber nur punktuell
   Sicherheit“, sagt die Lehrerin.

                                                                                                                                               Foto: Kay Herschelmann

                                                                                                       Erziehung und Wissenschaft | 04/2021
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              Die Corona-Krise hat das Hotel-
              und Gaststättengewerbe stark
              getroffen. Den Auszubildenden
              dort fehlt die Berufspraxis.

                                                                                                                                                 Foto: mauritius images/Westend61/zerocreatives
                Absehbarer Fachkräftemangel
                 // Das von der Politik so gern            sel: Die primäre Zuständigkeit für das     Millionen Unternehmen in Deutschland
                 hochgelobte duale System der              Gesetz wurde noch in der Wahlnacht         aus. Und der Rückzug kleinerer Unter-
                 betrieblichen Berufsausbildung            1972 überraschend vom Bundeswirt-          nehmen aus der Ausbildung setzt sich
                 in Deutschland ist in der Krise?          schaftsministerium auf das Bundes-         seit Jahren immer weiter fort.
                 Klar, diese Klage hören wir oft           bildungsministerium übertragen. Der        Mit der Pandemie gestaltet sich diese
                 schon bei jeder ach so k­ leinen          Grundgesetzartikel 12 auf freie Wahl       Krise nun extrem vielfältiger. Es gibt
                 Wirtschaftsflaute. Aber die               des Berufs und der Ausbildung sollte       nicht nur das seit vielen Jahren bekann-
                 ­Pandemie macht diesmal alles             fortan einen höheren Stellenwert er-       te Angebots-Nachfrage-, sondern auch
                  noch viel komplizierter. //              halten als bisher.                         ein gewaltiges Qualitätsproblem. Dabei
                                                                                                      geht es zunächst um diejenigen Auszu-
                 Das Berufsbildungsgesetz (BBiG) ist       Fehlende Praxis                            bildenden, die sich ab Frühsommer vor
                 trotz einiger zwischenzeitlicher Refor-   Dieser kleine historische Rückblick soll   einer Kammer einer Abschlussprüfung
                 men in die Jahre gekommen. Inzwi-         helfen, die aktuellen Probleme besser      unterziehen müssen. Betriebe, etwa
                 schen ist es 52 Jahre alt. Im Sommer      zu verstehen. Wie die jährlichen Statis-   im Friseurhandwerk, aber auch in der
                 1969, in der Endphase einer Koalition     tiken der vergangenen fünf Jahrzehnte      Gastronomie, haben einige Monate
                 von CDU/CSU und SPD, wurde es verab-      belegen, haben es Wirtschaft und Ver-      schließen müssen. Berufspraxis in der
                 schiedet. Doch erst wenige Jahre später   waltungen nur in ganz wenigen Jah-         Ausbildung fiel damit weitgehend flach.
                 rückte der eigentliche Bildungsaspekt     ren vermocht, den jungen Menschen          In einigen Bundesländern werden für
                 des Gesetzes mit einer Novelle unter      bei ihrer Suche nach einem Ausbil-         die jungen Menschen vor der Prüfung
                 Reformkanzler Willy Brandt (SPD) stär-    dungsplatz tatsächlich ein ausreichend     kompakte Hilfen und zusätzliche Kurse
                 ker in den Fokus der Bildungspolitik:     auswahlfähiges Lehrstellenangebot zu       von Innungen und Kammern angebo-
                 Es ging um mehr berufsübergreifen-        machen. Immer dann, wenn auch nur          ten, vor allem in der Gastronomie. Das
                 des, grundlegendes Lernen und auch        leichte Wirtschaftsflauten mit gebur-      für die Berufsausbildung verantwort-
                 um allgemeinbildendes Wissen in der       tenstarken Schulabgänger-Jahrgängen        liche GEW-Vorstandsmitglied Ansgar
                 Ausbildung, mehr Flexibilität für junge   zusammentrafen, kriselte es bei An-        Klinger rät zur Prüfungsvorbereitung zu
                 Menschen bei einem späteren Arbeits-      gebot und Nachfrage gewaltig – und         zusätzlicher Unterstützung, beispiels-
                 platzwechsel und garantierte Fortbil-     der Staat musste immer wieder mit          weise mit ausbildungsbegleitenden
                 dungsmöglichkeiten.                       Hilfsprogrammen und kräftigen Sub-         Hilfen, warnt aber vor einer generellen
                 In der Wirtschaft wie für viele Bil-      ventionen für ausbildende Betriebe in      zeitlichen Verlängerung der aktuellen
                 dungsreformkräfte galt dies damals als    Millionenhöhe eingreifen. Heute bildet     Ausbildungszeit wie vielfach diskutiert.
                 wichtiger politischer Paradigmenwech-     nicht einmal mehr jedes fünfte der 2,2     Denn dies könnte für n     ­achfolgende

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