Einstellungen und Haltungen zur Inklusion - Sensibilisierungskampagne #ichwillwählen Beratung von Erwachsenen mit kognitiver Beeinträchtigung ...
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EDITION N r. 2 SZH/CSPS 2020 Einstellungen und Haltungen zur Inklusion Sensibilisierungskampagne #ichwillwählen Beratung von Erwachsenen mit kognitiver Beeinträchtigung Förderung des Selbstvertrauens mit Marte Meo
Inhalt Romain Lanners Editorial 1 Rundschau 2 SCHWERPUNKT Niels Anderegg und Rita Sauter Vom «Ich-Will» zum «Wir-Können» Warum die Haltung der Schulleitung wesentlich ist 6 Hendrik Trescher, Anna Lamby und Michael Börner Einstellungen zu Inklusion im Kontext «geistiger Behinderung» Lebensbereiche Freizeit, Arbeit und Wohnen im Vergleich 13 Nicole Hollenbach-Biele Deutschland auf dem Weg zu einem inklusiven Schulsystem Elternerfahrungen in einem laufenden Systemumbau 20 Margrit Egger und Peter Lienhard Gemeinsam die integrative Haltung stärken Handlungs- und Gesprächsvorschläge für Schulen 28 Dokumentation zum Schwerpunkt 34 WEITERE THEMEN Jan Habegger, Tanja Stocker, Daniel Stalder und François Muheim #ichwillwählen: eine Kampagne von insieme Schweiz Ein Interview mit den Verantwortlichen dieser Sensibilisierungskampagne 35 Matthias Pfiffner, René Stalder und Stefania Calabrese Beratung von Erwachsenen mit kognitiver Beeinträchtigung Eine systematische Literaturübersicht 41 Renate Burri Förderung des Selbstvertrauens mit Marte Meo Die Marte-Meo-Methode als Möglichkeit zur schulischen Förderung von Kindern traumatisierter Eltern 48 Impressum 27 Bücher / Erzählte Behinderung / Forschung / Agenda 54 Inserate 61 Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
EDITORIAL 1 Romain Lanners Inklusion braucht Zahlen und Aufklärung Noch vor zwanzig Jahren hielten viele die dazu dienen, Benachteiligungen von Lernen- schulische Integration für eine Utopie. Die den mit einer Beeinträchtigung zu vermeiden Statistik belehrt uns eines Besseren und oder zu verringern. Dieser Anspruch ist recht- zeigt, dass inklusive Bildung Realität gewor- lich verankert, also keine Ausnahme, sondern den ist. Die Zahlen der «alten» BFS-Statistik ein Regelfall. Es handelt sich um formelle belegten bereits, dass die Separationsquote Anpassungen der Lern- und Prüfungsbedin- in den letzten fünfzehn Jahren um 40 %, al- gungen ohne Modifikation der Lern- bzw. so von 5,2 % auf 3,4 % gesunken ist. Das Ausbildungsziele. Eine Erleichterung findet heisst, die Zahl der separiert geschulten nicht statt, da die gleichen Ziele erreicht wer- Dr. phil. Lernenden fiel von 50 000 auf jetzt 31 000 den müssen. Die Brille ist die älteste Form des Romain Lanners (Lanners, 2018, S. 10). Dies ist ein grosser Nachteilsausgleichs. Heute kommt kaum je- Direktor Fortschritt. Dank der neuen Statistik der mand mehr auf die Idee, das Tragen einer SZH / CSPS Sonderpädagogik des BFS (2019) wissen wir Brille als unzulässige Prüfungserleichterung Speichergasse 6 zudem, dass im Schuljahr 2017/18 … zu bezeichnen oder eine ungerechte Bevorzu- 3011 Bern … nur 1,8 % der Lernenden eine Sonder- gung zu insinuieren. Die Integrationswelle romain.lanners @ schule besuchten, hat nun die Berufsbildung und die Gymnasien szh.ch … 53,2 %, also mehr als die Hälfte der Ler- erreicht. Fakt ist, dass es im Bereich Sek II an nenden mit einem nachgewiesenen be- Aufklärung, Austausch und Harmonisierung sonderen Bildungsbedarf (verstärkte mangelt. sonderpädagogische Massnahme), in ei- Beide Beispiele zeigen, wie Zahlen und ne Regelklasse integriert waren und Aufklärung die Meinungsbildung zur Inklu- … bei 4,3 % aller Schülerinnen und Schüler sion beeinflussen. Ich wünsche Ihnen eine Lernziele angepasst worden sind. spannende Lektüre unserer Beiträge über Überraschend ist, dass 17,4 % der Lernenden Einstellungen und Haltungen zur Inklusion. in einer Sonderschule nach dem Regellehr- plan unterrichtet werden (BFS, 2019, S. 11). Literatur Da die Sonderschulung nachhaltig die Bil- BFS (Bundesamt für Statistik) (2019). Statistik der dungs- und Berufschancen beeinträchtigt, Sonderpädagogik. Schuljahr 2017/18. Neuen- besteht hier dringender Handlungsbedarf. burg: BFS. www.bfs.admin.ch/asset/de/1960- Der Journalist René Donzé irrt, wenn er 1800 [Zugriff am 07.01.2020]. in seinem Artikel vom 15.12.2019 in der Lanners, R. (2018). Das Sonderpädagogik-Kon- NZZ am Sonntag Massnahmen des Nachteils kordat feiert seinen zehnten Geburtstag. ausgleichs mit «Ausnahmen bei Prüfungen» Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, und mit einem «erleichterten Lehrabschluss» 24 (10), 6–13. Permalink: www.szh-csps.ch/ gleichsetzt. Der Nachteilsausgleich umfasst z2018-10-01 vielfältige individuelle Massnahmen, welche Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020 www.szh-csps.ch/z2020-02-00
2 RUNDSCHAU Rundschau INTERNATIONAL rungen am 3. Dezember veröffentlichte das Bundesamt für Statistik verschiedene Statis- AUT: Menschen mit Behinderungen tiken zum Thema Kinder und Behinderung. von Gewalt betroffen Weitere Informationen: www.admin.ch Mit der vom Sozialministerium veröffent- ➝ Medienmitteilung vom 02.12.2019 lichten Studie zu «Erfahrungen und Präven- tion von Gewalt an Menschen mit Behin Mitsprache von Menschen mit derungen» liegen für Österreich erstmals Behinderungen in politischen aktuelle Daten zur Situation von Menschen Prozessen mit Behinderungen in Einrichtungen vor. Der Die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) Fokus der Studie lag auf Gewalterfahrungen verpflichtet die Vertragsstaaten, Menschen im Verlauf des Lebens von Menschen mit mit Behinderung in die Gesetzgebung oder Behinderungen, die Einrichtungen der Be- Formulierung von Politiken, die sie betref- hindertenhilfe nutzen, in psychosozialen fen, einzubeziehen. Die Mitsprache muss in Einrichtungen leben oder sich im Massnah- allen Phasen eines solchen Prozesses ge- menvollzug befinden. Insgesamt zeigt die währleistet sein. In der Schweiz ist diese Ver- Studie, dass Menschen mit Behinderungen pflichtung nur ungenügend umgesetzt, die deutlich häufiger von Gewalt betroffen sind Praxis bei Bund und Kantonen ist uneinheit- als Menschen ohne Behinderungen. Eine be- lich. Eine Kurzstudie vom Schweizer Kompe- sonders gefährdete Gruppe sind Menschen, tenzzentrum für Menschenrechte ( SKMR ) die Unterstützungsbedarf bei Grundbedürf- fasst die Vorgaben der UN-Behinderten- nissen wie beispielsweise der Körperpflege rechtskonvention zur Beteiligung von Men- sowie bei der Kommunikation haben. schen mit Behinderung zusammen, erläutert Weitere Informationen: www.sozialministe- den Anwendungsbereich und präsentiert in rium.at/gewaltpraevention vier Bereichen eine Reihe von Empfehlun- gen: 1. Beteiligung von Menschen mit Behin- derung in Vernehmlassungsverfahren; 2. Be- NATIONAL teiligung von Menschen mit Behinderung bei der Formulierung von Gesetzen, Aktionsund Statistiken zum Thema Kinder und Massnahmenplänen; 3. Verbesserung der Behinderung Möglichkeiten zur Partizipation; 4. Formali- In der Schweiz lebten im Jahr 2017 rund sierung der Beteiligung und Vereinheitli- 54 000 Kinder mit einer Behinderung. Jedes chung der Praxis. fünfte dieser Kinder war in seiner Fähigkeit Weitere Informationen: www.skmr.ch beeinträchtigt, so zu leben wie andere gleich- ➝ Themenbereiche ➝ Institutionelle Fragen altrige Kinder. 6992 Kinder erhielten eine Hil- ➝ Publikationen flosenentschädigung der Invalidenversiche- rung und 1622 lebten während des ganzen Selbstbestimmtes Wohnen für oder eines Teils des Jahres in einer spezia Menschen mit Behinderungen lisierten Institution. Anlässlich des Interna Am Internationalen Tag der Menschen mit tionalen Tages der Menschen mit Behinde- Behinderungen, am 3. Dezember 2019, fand Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
RUNDSCHAU 3 in Bern eine Tagung zum Thema «Selbstbe- braucht es jedoch eine noch weitergehende stimmtes Wohnen» statt. Rund 140 Teilneh- Zugänglichkeit bzw. Öffnung von Dienstleis- mende von Bund, Kantonen, Behinderten tungen und Produkten für Menschen mit organisationen, Branchenverbänden sowie Behinderungen und gleichzeitig auch eine Betroffene diskutierten über flexiblere An- umfassendere Sensibilisierungsarbeit nicht gebote an Wohnraum, unterstützende nur bei Behörden und Privaten, sondern in Dienstleistungen, innovative Technologien breiten Kreisen der Gesellschaft. Auch soll und die Finanzierung des Wohnens. In der das Element der Partizipation stärker ins Schweiz leben rund 1,8 Millionen Menschen Zentrum rücken. mit Behinderungen. Nicht alle von ihnen Weitere Informationen: haben die Möglichkeit, über ihre Wohnsitu- www.edi.admin.ch/ebgb ation selbst zu entscheiden. Ein Teil von ihnen, rund 30 000 Personen, ist auf inten Neues Informationsblatt sive Unterstützung angewiesen und lebt in des SZH zu Dyspraxie einem institutionellen Setting. Neue Finan- Die Kantone haben in den letzten Jahren zierungsmodelle wie die Subjektfinanzie- den Informationsbedarf der Regelklas- rung werden derzeit mit grosser Aufmerk- sen-Lehrpersonen, die Lernende mit ver- samkeit beobachtet und diskutiert. Ähnli- schiedenen Störungen und Beeinträchti- ches ergibt sich auch zu den ambulanten gungen begleiten, erkannt. Die Conférence Dienstleistungen für das private Wohnen. latine de pédagogie spécialisée ( lateini- Das Wohnangebot ist in den letzten Jahren sche Konferenz der Sonder- und Heilpäda- flexibler und vielfältiger geworden. Es exis- gogik ) sowie die Conférence intercantona- tieren zwar weiterhin klassische Heimstruk- le de l’instruction publique de la Suisse turen, aber viele Institutionen haben ihr An- romande et du Tessin, CIIP ( Erziehungsdi- gebot zunehmend in Richtung dezentrale, rektoren-Konferenz der Westschweiz und wohnungsartige, in Wohnsiedlungen einge- des Kantons Tessin ) haben das SZH im Jahr bettete Strukturen weiterentwickelt. Eben- 2013 beauftragt, Informationsblätter für so gibt es starke Bemühungen, den Über- die Begleitung dieser Kinder in Regelklas- gang zwischen institutionellem und priva- sen zu erarbeiten. Bis jetzt wurden neun In- tem Wohnen zu verbessern. In Bezug auf die formationsblätter ( auf französisch ) heraus- Finanzierungsmodalitäten ergibt sich ein zu- gegeben. Sie enthalten allgemeine Anga- nehmender Bedarf an Klärung von Aufga- ben zur jeweiligen Störung / Behinderung ben und Verantwortlichkeiten zwischen den und deren Auswirkungen auf das Lernen. Es verschiedenen Akteuren. Es gilt dabei wei- werden konkrete pädagogische Anpassun- tere Erfahrungen zu sammeln und diese An- gen des Unterrichts und Massnahmen des sätze zu optimieren. Durch das «Testen» des Nachteilsausgleichs vorgeschlagen. Ausser- neuen Modells der Subjektfinanzierung in dem beinhalten die Informationsblätter einzelnen Kantonen können empirische Re- Hinweise auf weiterführende Literatur. sultate zu diesem zukunftsweisenden Finan- Weitere Informationen: zierungsmodell frühzeitig ausgetauscht und www.szh.ch/fr/projets/projets/fiches-d-in- geprüft werden. Zur Förderung der Autono- formation-pour-les-enseignant-e-s mie und damit zur Verbesserung der Lebens- qualität von Menschen mit Behinderungen Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
4 RUNDSCHAU KANTONAL / REGIONAL sich in der Praxis genauso wie in der Wissen- schaft weiterentwickelt, wurde im Juni 2019 SG: Informationsplattform zu die Gesellschaft für Entwicklungspsycholo Kinderrechten gische Sprachtherapie (GSEST) als gemein- Kinder, Jugendliche, Eltern und Fachpersonen nütziger, unabhängiger Verein mit Sitz in Zü- haben oft nur geringe Kenntnisse der Kinder- rich von einem Komitee um Susanne Mathieu rechte. Die neue Webseite kinderrechtesg.ch gegründet. Mit der GSEST soll ein innovatives des Kantons St. Gallen widmet sich ausge- und internationales Netzwerk für Fachleute wählten Kinderrechten, beantwortet zentrale geschaffen werden. Damit diese Arbeit ge- Fragen von Kindern und Jugendlichen oder leistet werden kann, werden noch weitere bietet Anregungen für das individuelle Enga- Mitglieder gesucht. gement. Weitere Rubriken der Webseite sind Weitere Informationen: www.gsest.ch Materialien zu Kinderrechten sowie Organi- sationen, die sich im engeren Sinne für Kin- derrechte einsetzen. VARIA Weitere Informationen: www.kindersg.ch/ kinderrechte DE: Internet-Verzeichnis in Leichter Sprache ZH: Zürcher Neuromotorik (ZNM-2) Leichte Sprache soll allen Menschen Zugang Im Vergleich zur ursprünglichen Version der zu Informationen und Kommunikation eröff- Zürcher Neuromotorik (Largo et al., 2002, nen. Nicht zuletzt wegen der Verordnung zur revidiert 2007) wurde in der aktualisierten Schaffung barrierefreier Informationstech- ZNM-2 die Altersspanne von 5 bis 18 auf 3 nik nach dem Behindertengleichstellungsge- bis 18 Jahre ausgeweitet. Die Aufgaben wur- setz (BITV 2.0) haben Angebote in Leichter den über alle Altersstufen vereinheitlicht Sprache stetig zugenommen. Die Webplatt- und auf Basis der Erfahrungen aus der 1. Ver- form HWelt.de sammelt alle Internetseiten sion angepasst: Adaptive fein- und grobmo- in Leichter und Einfacher Sprache und stellt torische Aufgaben wurden neu dazu genom- sie in einem zentralen Pool zur Verfügung. men und zwei weniger zuverlässige Aufga- Weitere Informationen: https://hwelt.de ben weggelassen. Weitere Informationen: Pro Infirmis-Musikwettbewerb 2019 https://fuerdaskind.ch/znm2 Im Rahmen des Pro Infirmis-Musikwettbe- werbes «Musik unterscheidet nicht» wurden ZH: Zentrum für kleine Kinder zwölf Musikvideos eingereicht und auf der wird zu GSEST Webseite veröffentlicht. Mit einfach produ- Das Zentrum für kleine Kinder gehörte im zierten Videos sollen Brücken zwischen Men- deutschsprachigen Raum zu den renommier- schen mit und ohne Behinderung gebaut testen Weiterbildungsinstitutionen im Früh- werden. Der temporeiche Rap «Glaub an di» bereich. In den letzten 25 Jahren bildeten der Jugendarbeit Chur mit NiceO gewann sich hier Fachleute zur Thematik der frühen den Pro Infirmis Kristall des Jahres 2019. Spracherwerbsstörungen nach dem Konzept Weitere Informationen: von Dr. Barbara Zollinger weiter. Damit die- www.musik-unterscheidet-nicht.ch ses Wissen erhalten und lebendig bleibt und Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
THEMENSCHWERPUNKTE 2020 5 Themenschwerpunkte 2020 Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik Heft Schwerpunkt Ankündigung Einsendeschluss 1 / 2020 Inklusion im Erwachsenenbereich 10.08.2019 10.10.2019 2 / 2020 Einstellungen und Haltungen zur Inklusion 10.09.2019 10.10.2019 3 / 2020 Frühe Bildung 10.09.2019 10.11.2019 4 / 2020 Behinderung in den Medien 10.10.2019 10.12.2019 5 – 6 / 2020 Mehrfachbehinderung 10.11.2019 10.01.2020 7 – 8 / 2020 Nachteilsausgleich 10.01.2020 10.03.2020 9 / 2020 Lebensende 10.03.2020 10.05.2020 10 / 2020 Universal Design 10.04.2020 10.06.2020 11 –12 / 2020 Humor 10.05.2020 10.07.2020 Autorinnen und Autoren werden gebeten, so früh wie möglich einen Artikel per Mail anzukündigen. Die Redaktion entscheidet erst nach der Sichtung eines Beitrages über dessen Veröffentlichung. Bitte beachten Sie vor dem Einreichen Ihres Artikels unsere Redaktionsrichtlinien unter www.szh.ch/zeitschrift. Freie Artikel Nebst Beiträgen zum Schwerpunkt publizieren wir regelmässig auch freie Artikel. Die Redaktion nimmt gerne laufend Ihre Artikel zu einem heilpädagogischen Thema nach Wahl entgegen: redaktion@szh.ch Thèmes des Dossiers 2020 Revue suisse de pédagogie specialisée Numéro Dossier 1 (mars, avril, mai 2020) Participation citoyenne 2 (juin, juillet, août 2020) Compensation des désavantages 3 (septembre, octobre, novembre 2020) Difficultés et troubles du comportement à l’école 4 (décembre 2020, janvier, février 2021) Alimentation et handicap Une description des thèmes 2020 est disponible sur le site Internet du CSPS : www.csps.ch/revue ➝ Thèmes 2020 Informations auteurs : merci de prendre contact avec la rédaction avant l’envoi d’une contribution sur l’un de ces thèmes ou sur un sujet de votre choix : redaction@csps.ch Lignes directrices rédactionnelles : www.csps.ch/revue Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
6 E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N Niels Anderegg und Rita Sauter Vom «Ich-Will» zum «Wir-Können» Warum die Haltung der Schulleitung wesentlich ist Zusammenfassung Die Haltung von Führungspersonen ist für die Gestaltung und Entwicklung inklusiver Schulen wesentlich. Doch mit der Haltung der Führungspersonen allein ist noch nichts gewonnen. Es stellen sich zwei zentrale Fragen. Erstens: Wie gelingt es, dass die Haltung einer Person in einem System, in einer Organisation von allen Fachpersonen geteilt wird? Zweitens: Wie werden aus Haltungen Handlungen? Denn eine inklusive Haltung zu haben, heisst noch nicht, dass in- nerhalb einer Schule auch inklusiv gehandelt wird. Résumé Bien que la posture adoptée par les personnes exerçant des fonctions de direction soit essentielle au développement de l’école inclusive, elle ne fait pas tout à elle seule. Deux questions centrales se posent. D’une part, comment faire pour que cette posture soit partagée par toutes et tous les professionnel-le-s impliqué-e-s dans un système, dans une organisation ? D’autre part, comment une posture devient-elle action ? En effet, avoir une posture inclusive ne signi- fie pas pour autant que l’on agisse effectivement de manière inclusive au sein d’une école. Permalink: www.szh-csps.ch/z2020-02-01 Bei einer Diskussion unter Kindergärtnerin- Führung, kann Führung als zielbezogene nen mokieren sich diese darüber, dass die Einflussnahme als kleinster gemeinsamer Kinder aufgrund von HarmoS (Interkantonale Nenner bezeichnet werden (Blessin & Wick, Vereinbarung über die Harmonisierung der 2017). obligatorischen Schule) immer jünger wer- den und sich ihr Beruf darum verändert hat. Haltung als Interpretation von Die Schulleiterin meint trocken: «Ja, als Schu- politischen Vorgaben le müssen wir lernen, damit umzugehen, Die Ziele der öffentlichen Schule sind nor- denn wir haben immer die richtigen Kinder.» mative Setzungen durch die Gesellschaft. Einige Kindergärtnerinnen nicken und disku- Über politische Prozesse werden Vorgaben tieren dann über ein anderes Thema. in Form von Lehrplänen oder Gesetzen fest- Mit der Aussage «Wir haben immer die gelegt, welche für die Schulen verbindlich richtigen Kinder» wird die Haltung der sind. Die Gesellschaft gibt über die Politik Schulleiterin sichtbar und es zeigt sich, wie vor, was sie unter einer «guten Schule» ver- sie sich Inklusion vorstellt. Doch ist dieses steht. Die Schule hat die Aufgabe, diese Sich-Einbringen der Schulleiterin Führung? Vorgaben umzusetzen. Dabei ist der Pro- Wie wäre es, wenn eine der Kindergärtne- zess kein linearer Vorgang, sondern ge- rinnen diesen Satz gesagt hätte? Und wel- schieht in einem «dritten Raum», wie es chen Zusammenhang gibt es zwischen Hal- Ball, Maguire und Braun (2012) nennen: Je- tung und Führung? Betrachtet man unter- de politische Vorgabe braucht eine Überset- schiedliche Definitionen und Modelle von zung – d. h., was ist damit gemeint – und Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N 7 eine Umsetzung – d. h., wie wird das, was Haltung zur Inklusion führend ist. Diese gemeint ist, in die Praxis umgesetzt. Aufgabe kann auch von einer Lehrperson, Dass eine «gute Schule» heute eine in- einer Heilpädagogin oder einem Heilpäda- klusive Schule ist, sollte unbestritten sein. gogen übernommen werden. Diese können Mit der Ratifizierung der UN-Behinderten- als Teacher Leaders (Strauss, 2019) eine rechtskonvention hat sich die Schweiz zu thematische Führungsfunktion überneh- einem inklusiven Bildungssystem bekannt men. Entscheidend ist, dass diese Füh- und damit die entsprechende politische rungsfunktion von der Schulleitung aktiv Vorgabe für die Schulen gemacht. Doch was gewollt und unterstützt sowie von den in den einzelnen Kantonen und den ver- Lehrpersonen akzeptiert wird. Teacher Lea- schiedenen Schulen unter einer inklusiven ders können ihre Wirkung also nur dann zur Schule verstanden und wie dies umgesetzt Geltung bringen, wenn in einer Schule Füh- wird, ist sehr unterschiedlich (Anderegg, rung vor allem systemisch und nicht hierar- 2019a; Huber, Sturm & Köper, 2017). Und da chisch gelebt wird. man aus verschiedenen Untersuchungen weiss, dass die Schulleitung bezogen auf die Werte einer Schule eine zentrale Akteu- Es braucht an jeder Schule eine Person, rin ist (Day et al., 2009), ist die Haltung der welche die thematische Führung in Schulleitung gegenüber der Inklusion ent- der Inklusion übernimmt. scheidend. Dabei kann die Haltung der Schulleitung gegenüber dem Thema Inklu- sion auch als Interpretation dieser politi- Betrachtet man die vielfältigen Aufgaben schen Vorgabe verstanden werden. So wird einer Schulleitung, so ist es gar nicht mög- eine Schulleitung, welche Inklusion als lich, dass diese in allen Themen die Führung einen wichtigen pädagogischen Wert sieht, innehat. Denn eine Schulleitung, welche in diese sehr viel ernsthafter an der eigenen den Themen Digitalisierung, Inklusion, Ta- Schule umsetzen, als jemand, der die Inklu- gesschule, Qualitätsmanagement und vie- sion eher als eine Modeerscheinung der Po- len anderen Führung übernimmt, gibt es litik interpretiert. wohl kaum. Solange nicht verschiedene Personen für unterschiedliche Themen die Teacher Leadership Führung übernehmen, solange wird es zu- Wenn in den vorhergehenden Abschnitten fällig sein, welche Schulen sich vorwiegend von der Schulleitung gesprochen wurde, ist dem Thema Inklusion und welche sich an- dies eine verkürzte Sichtweise. In der heuti- deren Themen zuwenden. Die thematische gen, internationalen Schulführungsfor- Vielfalt einer Schule ist zwar auf Personen schung geht man von verteilten Führungs- angewiesen, darf jedoch nicht von der modellen (Distributed Leadership) aus Schulleitung abhängig sein. Wenn es um die (bspw. MacBeath & Dempster, 2009; Spilla- Gestaltung und Weiterentwicklung der In- ne, 2006). Führung wird bei diesem Ver- klusion an Schulen geht, dann braucht es an ständnis weniger hierarchisch und stärker jeder Schule eine Person, welche die thema- systemisch betrachtet (Endres & Weibler, tische Führung übernimmt. Dies kann die 2019). Insofern muss es nicht zwingend die Schulleitung sein, muss es aber nicht. Wenn Schulleitung sein, welche in Bezug auf die im Folgenden jeweils von der Schulführung Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
8 E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N gesprochen wird, dann ist eine systemische Autonomie. Lehrpersonen müssen im Un- Sicht auf Führung gemeint und die Funktion terricht situativ auf die einzelnen Schülerin- von Teacher Leaders bewusst mitgemeint. nen und Schüler eingehen und immer wie- Die Aufgabe der Schulleitung ist es, für der neue Lösungen finden. Würden sie da- das Ganze zu denken und darauf zu achten, bei lediglich den Vorgaben der Schulleitung dass es für die verschiedenen Themen je folgen, wie es beispielsweise im Konzept mindestens eine Person an der Schule hat, von Instructional Leadership vorgesehen die sich dafür einsetzt. In Bezug auf die Hal- ist, so führt dies zur Deprofessionalisierung tung muss die Schulleitung dafür sorgen, (Fullan, 2014; Mehta, 2013). Insofern ist es dass sich die verschiedenen Themen ergän- nicht klug, Haltungen einfach zu verordnen. zen und in der Schule eine gemeinsame pä- Vielmehr müssen sie von den Lehrpersonen dagogische Haltung besteht (Schratz et al., mitgetragen werden. 2019). Dies führt zur Frage, wie es gelingt, Ball, Maguire und Braun (2012) zeigen eine Haltung in einer Organisation wie der in ihrer Untersuchung, dass die Umsetzung Schule zu verbreiten und so zu gestalten, von politischen Vorgaben Artefakte, Diskur- dass sie von der ganzen Organisation mit- se und Interpretationen braucht. Mit Arte- getragen wird. fakten sind Festschreibungen wie der oben erwähnte Satz der Schule Hedingen ge- meint. Solche Festschreibungen definieren, Eine Haltung kann nicht verordnet werden, was an der Schule gilt, und alle Mitglieder sie muss von der betroffenen Person als einer Schule können sich darauf beziehen. sinnhaft erachtet werden. Die gemeinsame Haltung ist dadurch nicht beliebig und auch nicht verhandelbar bzw. kann dann verhandelt werden, wenn der Haltung kann nicht verordnet Satz angepasst oder neu geschrieben wird. werden Ein Satz kann jedoch unterschiedlich ver- Haltungen werden an Schulen häufig in standen werden. Durch diskursive Prozesse Leitbildern oder anderen Dokumenten fest- werden die Interpretationen der einzelnen gehalten und definiert. So steht beispiels- Personen sichtbar. Wenn beispielsweise weise an der Schule Hedingen auf dem Ti- eine Lehrperson in der Pause begeistert telblatt des sonderpädagogischen Konzep- vom letzten Elterngespräch erzählt – «ge- tes der Satz: «Wir übernehmen gemeinsam meinsam wurde geschaut, wer was über- die Verantwortung für alle Kinder.» Damit nehmen kann» – wird der Leitsatz gelebt wird eine Haltung und gleichzeitig auch und man kann sich vorstellen, was damit eine Erwartung ausgedrückt. Wird diese gemeint ist. Gleichzeitig kann eine solche Haltung jedoch nicht von allen Personen ge- Geschichte auch handlungsleitend werden teilt, endet sie an der Schwelle zum Klassen- und die Chance ist gross, dass andere Lehr- zimmer. An den Lehrpersonenkonferenzen personen beim nächsten Elterngespräch wird zustimmend genickt und im Schulzim- Ähnliches anstreben. mer autonom und möglicherweise entge- Durch diskursive Prozesse werden nicht gen der vereinbarten Haltung gehandelt. nur Interpretationen «sichtbar», gleichzeitig Dabei ist dieses Verhalten durchaus sinn- können diese Prozesse bewusst gesteuert voll, denn Unterrichten benötigt eine hohe werden. An der Schule Hedingen schreibt Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N 9 die Schulleitung einen wöchentlichen Rund- anderen Schülerinnen und Schüler der Klas- brief an alle Mitarbeitenden und die Behör- se lernen und den Schulalltag verbringen denmitglieder. Dieser hat hauptsächlich die kann. Oder wenn es darum geht, wie And- Funktion, Informationen der Schulleitung al- rea, die/der weder Junge noch Mädchen ist, len zugänglich zu machen. Gleichzeitig dient auch im Sportunterricht Teil der Klassenge- er auch als Möglichkeit, diskursive Prozesse meinschaft sein kann und Yusuf trotz seiner anzustossen und zu führen. So beginnt ein Fluchterfahrung und Kriegstraumatisierung Rundbrief häufig mit einer kleinen Geschich- in die Zukunft schauen kann. Inklusion er- te, einem Foto aus dem Alltag einer Lehrper- hält einen konkreten Sinn, für den sich die son oder der Schulleitung. Damit setzt die Anstrengungen lohnen. Schulleitung Akzente und erzählt, was ihr wichtig ist. An einer Schule eine inklusive Haltung Nur was als sinnvoll erlebt wird, zu haben, bedeutet noch nicht, wird umgesetzt dass innerhalb der Schule auch inklusiv Soll eine Haltung im Unterricht umgesetzt gehandelt wird. werden, muss diese für die betreffende Per- son sinnvoll sein. Dies gilt im besonderen Masse für die Inklusion. Die Vielfalt der Aus Haltungen müssen Handlungen Schülerinnen und Schüler sowie der An- entstehen spruch, allen möglichst gerecht zu werden, An einer Schule eine inklusive Haltung zu ist für eine Lehrperson primär eine Heraus- haben, bedeutet noch nicht, dass innerhalb forderung. Ein gleichförmiger Unterricht, der Schule auch inklusiv gehandelt wird. dem sich die Lernenden anpassen müssen, Erst wenn aus Haltungen auch Handlungen ist sehr viel einfacher herzustellen als ein entstehen, wird eine Haltung wirksam. Ein binnendifferenzierter Unterricht, der den Weg, um von der Haltung zur Handlung zu Lernenden angepasst wird. Sich dieser He kommen, kann über Geschichten gesche- rausforderung zu stellen und den eigenen hen. Geschichten, welche man sich an einer Unterricht stetig weiterzuentwickeln, benö- Schule erzählt, beinhalten häufig konkrete tigt eine pädagogische Überzeugung. Eine Handlungen, welche an der Schule stattge- solche Haltung kann nicht verordnet wer- funden haben. Gleichzeitig hat das Erzäh- den, sie muss von der betroffenen Person lende die Wirkung, diese Handlungen eben- als sinnhaft erachtet werden. falls erfahren zu wollen und die Chance der Inklusion kann aus ethischer oder ge- Nachahmung ist hoch. sellschaftspolitischer Sicht als richtig und Aus systemischer Sicht spielen hier die wichtig angesehen werden. Mehr Wirkung oben beschriebenen diskursiven Prozesse entwickelt die Frage nach der Sinnhaftigkeit eine wesentliche Rolle. Harrison C. White von Inklusion jedoch, wenn die Diskussion (2008) spricht in seiner Netzwerktheorie auf der konkreten Ebene der Schülerinnen von Stories, welche den Sinn in Systeme – und Schüler geführt wird. Die Diskussionen wie beispielsweise eine Schule – transpor- verlaufen anders, wenn z. B. über Pascal ge- tieren und sichtbar machen (Anderegg, sprochen wird und wie er trotz seiner kör- 2018; Anderegg, 2019b). Der bereits ange- perlichen Behinderung gemeinsam mit den sprochene Rundbrief der Schulleitung kann Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
10 E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N als ein Artefakt angesehen werden, über Hier zeigt sich eine weitere Perspektive in den Stories vermittelt werden. Bezug auf die Haltung der Schulleitung. In- Eine andere Möglichkeit ist das Schaf- klusiv bezieht sich nicht nur auf die Schüle- fen von Strukturen, welche die Umsetzung rinnen und Schüler, sondern sie umfasst von Haltungen zu Handlungen unterstüt- auch die Mitarbeitenden. Das bedeutet, zen. Eine solcher Weg wird beispielsweise dass die Schulleitung auch gegenüber den an der Schule Hedingen gegangen, indem Lehrpersonen eine inklusive Haltung ein- sich die Lehrpersonen sowie die Heilpä nehmen muss. Es kann nicht sein, dass die dagoginnen und Heilpädagogen zweimal Lehrpersonen inklusiv unterrichten und die im Jahr über die Zusammenarbeit austau- Schulleitung alle Mitarbeitenden gleichbe- schen. Dazu werden ihnen Zeitgefässe zur handelt. Auch hier braucht es eine Binnen- Verfügung gestellt und die Schulleitung differenzierung. So ist die Zusammenarbeit thematisiert die Form der Zusammenarbeit zwischen den Lehrpersonen unterschiedlich bei verschiedenen Gelegenheiten. Mit The- und dieser Unterschiedlichkeit muss die matisieren ist nicht ein Kontrollieren, son- Schulleitung gerecht werden. Gleich ist für dern ein echtes Interessieren gemeint. Ziel alle die gemeinsame Haltung, welche im ist die im Leitsatz festgehaltene gemeinsa- Leitsatz festgeschrieben und in den dis me Verantwortung und diese – und nicht kursiven Prozessen und den darin enthalte- das Durchführen der gemeinsamen Abspra- nen individuellen Interpretationen immer che – liegt im Interesse der Schulleitung. wieder angeglichen wird. Dadurch entsteht eine Schulgemeinschaft mit einer geteilten Haltung, in der gemeinsam gearbeitet und Inklusion ist eine Vision, voneinander gelernt wird. welche nie erreicht, aber immer gestaltet werden kann. Führung als zielbezogenes Einflussnehmen Folgt man der obenstehenden Argumenta- Ausserdem wird an der Schule Hedingen tion, zeigt sich die Wichtigkeit der zielbezo- nicht zwischen Schülerinnen und Schülern genen Einflussnahme von Führungsperso- mit und ohne besonderen Förderbedarf un- nen. Es zeigt sich aber auch, dass Führung terschieden. Eine Klasse besteht aus einer nicht sicher hergestellt werden kann. Die bestimmten Anzahl von Lernenden und alle Vorstellung der sicheren Erreichung von Zie- Lehrpersonen der Klasse sind grundsätzlich len durch Führung entspringt den perso- für alle zuständig. Es wird aber von Fall zu nenbezogenen Führungstheorien, welche Fall entschieden, welche Person – abhängig davon ausgehen, dass eine Führungsperson von ihrem Wissen und Können – wofür ver- führt und die geführten Personen ihr folgen. antwortlich ist. Dadurch muss die Zusam- Ein Beispiel dafür ist die Great Man Theory. menarbeit immer wieder neu verhandelt wer- Eine solche Vorstellung von Führung ist aus den und folgt nicht dem gängigen Modell, wissenschaftlicher Sicht widerlegt (bspw. dass sich die Heilpädagogin oder der Heilpä- Hosking, Dachler & Gergen, 1995; Uhl-Bien, dagoge um die Lernenden mit besonderem 2006). Führung wird heute viel stärker als Förderbedarf kümmert und damit der Gedan- sozialer Prozess zwischen verschiedenen ke der Inklusion gerade unterlaufen wird. Personen verstanden, der von Machtver- Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N 11 hältnissen, organisationalen Positionen, Literatur Stimmungen, Beziehungen und anderen Anderegg, N. (2018). Führung, Lernen, Erfah- Faktoren beeinflusst wird. rung: Akteure in Netzwerken. Schulfüh- Jedoch nicht nur Führung, sondern rung und Schulentwicklung plural ge- auch Bildung kann nicht sicher hergestellt dacht. In E. Zala-Mezö, N.-C. Strauss & J. werden. Denn es geht letztlich nicht um die Häbig (Hrsg.), Dimensionen von Schulent- Frage, «how we can get the world into our wicklung. Verständnis, Veränderung und children and student» (Biesta, 2013, S. 5), Vielfalt eines Phänomens (S. 151 – 168). sondern «about what we can help our chil- Münster: Waxmann. dren and students to engage with, and thus Anderegg, N. (2019a). Auf die Schulleitung come into the world» (ebd.). Gerade des- kommt es an! Schweizer Perspektive auf halb sind Haltungsfragen in Bildungsorga- den Zusammenhang zwischen Schulfüh- nisationen wesentlich. Führungspersonen rung und Inklusion. In J. Donlic, E. Jak- haben die Aufgabe, auf diese Einfluss zu sche-Hoffmann & H. K. Peterlini (Hrsg.), Ist nehmen, sodass die gemeinsamen Vorstel- inklusive Schule möglich? Nationale und lungen von allen Beteiligten mitgetragen internationale Perspektiven (S. 111 – 132). und mitgestaltet werden. Gemeinsame Vor- Bielefeld: transcript. stellungen können beispielsweise sein, eine Anderegg, N. (2019b). Schulführung als «Schule für alle» zu sein, oder die Teilhabe Netzwerkarbeit im Dienste des Lernens. aller Schülerinnen und Schüler am Schulle- In S. M. Weber, I. Truschkat, C. Schröder, ben und am gemeinsamen Lernen zu er- L. Peters & A. Herz (Hrsg.), Organisation möglichen. Das ist dann ethisch legitim, und Netzwerk. Beiträge der Kommission wenn Führung als ein sozialer Prozess, an Organisationspädagogik (S. 279 – 288). dem alle beteiligt sind, angesehen wird. Wiesbaden: Springer VS. Führung ist in diesem Verständnis ein ge- Ball, S. J., Maguire, M. & Braun, A. (2012). How meinsamer, offener Aushandlungsprozess. Schools do Policy. Policy enactments in Se- Im letzten Satz wurde bewusst nicht condary Schools. New York: Routledge. mehr von einem Ziel, sondern von einer ge- Biesta, G. (2013). The beautiful risk of educati- meinsamen Vorstellung gesprochen. Inklu- on. Boulder, London: Paradigm Publishers. sion ist eine Vision, welche nie erreicht, Blessin, B. & Wick, A. (2017). Führen und füh- aber immer gestaltet werden kann. Insofern ren lassen. Ansätze, Ergebnisse und Kritik kann Inklusion kein Ziel sein, das angestrebt der Führungsforschung (8., überarb. Aufl.). wird, sondern ein Zustand, der immer wie- Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft. der hergestellt wird. Führung kann nicht das Day, C., Sammons, P., Hopkins, D. et al. Ziel haben, dass eine Schule irgendwann ei- (2009). The Impact of School Leadership ne inklusive Schule ist, sondern sie hat die on Pupil Outcomes. Final Report. Notting- Aufgabe, im Hier und Jetzt Inklusion zu ge- ham: University of Nottingham. stalten und die nächsten Schritte zu gehen. Endres, S. & Weibler, J. (2019). Plural Leader- ship. Eine zukunftsweisende Alternative zur One-Man-Show. Wiesbaden: Springer. Fullan, M. (2014). The Principal. Three Keys to Maximazing Impact. San Francisco: Jos- sey-Bass. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
12 E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N Hosking, D. M., Dachler, H. P. & Gergen, K. J. sames Schulleitungshandeln an ausge- (1995). Management and organization: zeichneten Schulen des Deutschen Schul- Relational Alternatives to Individualism. preises. Facetten von Schulleitungshan- Brookfield: Avebury. deln. Innsbruck: Universität Innsbruck. Huber, S., Sturm, T. & Köper, A. (2017). Inklu- Spillane, J. P. (2006). Distributed Leadership. sion und Schulleitung – Schulleitende als San Francisco: Jossey-Bass. Gestaltende inklusiver Schulen (auch) in Strauss, N.-C. (2019). Verteilte Führung – die der Schweiz. In B. Lütje-Klose, S. Miller, Perspektive der «Teacher Leaders». Jour- S. Schwab & B. Streese (Hrsg.), Inklusion: nal für Schulentwicklung, 2, 30 – 35. Profile für die Schul- und Unterrichtsent- Übereinkommen über die Rechte von Men- wicklung in Deutschland, Österreich und schen mit Behinderungen (UN-Behinder- der Schweiz. Theoretische Grundlagen – tenrechtskonvention, UN-BRK), vom empirische Befunde – Praxisbeispiele 13. Dezember 2006, durch die Schweiz (S. 43 – 54). Münster: Waxmann. ratifiziert am 15. April 2014, in Kraft seit MacBeath, J. & Dempster, N. ( 2009). Connec- dem 15. Mai 2014, SR 0.109. ting Leadership and Learning. Principles Uhl-Bien, M. (2006). Relational Leadership for Practice. London: Routledge. Theory: Exporing the social processes of Mehta, J. (2013). The allure of order: High ho- leadership and organizing. The Leader- pes, dashed expectations, and the trou- ship Quarterly, 17, 654 – 676. bled quest to remake American schooling. White, H. (2008). Identity and Control: How New York: Oxford University Press. Social Formations Emerge. Princeton: Schratz, M., Ammann, M., Möltner, V. et al. Princeton University Press. (2019). Von den Besten lernen. Lernwirk- Niels Anderegg Rita Sauter Pädagogische Hochschule Zürich Schule Hedingen Zentrum Management und Leadership Schulleitung Lagerstrasse 2 Schachstrasse 7 8090 Zürich 8908 Hedingen niels.anderegg@phzh.ch rita.sauter@schulehedingen.ch Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N 13 Hendrik Trescher, Anna Lamby und Michael Börner Einstellungen zu Inklusion im Kontext «geistiger Behinderung» Lebensbereiche Freizeit, Arbeit und Wohnen im Vergleich Zusammenfassung Im Fokus des Beitrags steht die Online-Befragung «Einstellung(en) zu Inklusion». Diese befasst sich mit der Frage nach der Einstellung von Menschen in Deutschland zum Thema Inklusion in Bezug auf verschiedene Lebenskontexte (Frei- zeit, Arbeit, Wohnen) im Hinblick auf Menschen mit «geistiger Behinderung». Über eine repräsentative Stichprobe wurden umfangreiche Daten generiert und aufschlussreiche Ergebnisse herausgearbeitet. Der vorliegende Beitrag stellt die Befragung vor und geht auf ausgewählte Einzelergebnisse ein. Zentral ist dabei der Vergleich der verschie- denen Lebenskontexte hinsichtlich ihrer Zustimmungswerte zu den formulierten Thesen. Résumé L'enquête en ligne « Point(s) de vue sur l’inclusion » se trouve au centre de la présente contribution. Elle s’intéresse à connaître l’opinion des gens en Allemagne sur le thème de l’inclusion par rapport à divers contextes de vie (loisirs, travail, logement), en lien avec des personnes ayant une « déficience intellectuelle ». Un échantillon représentatif a permis d'obtenir un grand nombre de données et d’en déduire des résultats significatifs. Cette contribution présente l’enquête et détaille quelques résultats choisis, en accordant une place centrale à la comparaison des divers contextes de vie mis en rapport avec le taux d’approbation des thèses formulées. Permalink: www.szh-csps.ch/z2020-02-03 Hinführung matisiert wird1 (Schwab & Seifert, 2015; Die Untersuchung von Einstellungen ist ge- Gasterstädt & Urban, 2016; Seifried & Heyl, rade in den quantitativ forschenden Sozial- 2016). Konkret heisst das: Haben Men- wissenschaften ein weitverbreitetes For- schen eine positive Einstellung zu Inklusion schungsfeld. Auch im Kontext des Inklu respektive den jeweiligen Personengrup- sionsparadigmas werden entsprechende pen, wird davon ausgegangen, dass sich Forschungsansätze häufig aufgegriffen. dies günstig auf die Realisierung inklusiver Dies spiegelt sich nicht zuletzt in der Fülle Praxen auswirkt – und vice versa. an Publikationen des wissenschaftlichen In diesem Beitrag wird an den Fachdis- Fachdiskurses wider. Die argumentative kurs zum Thema «Einstellung(en) im Kon- Ausgangsposition ist dabei oft die Annah- text von Inklusion» angeschlossen, wobei me, dass das Gelingen von Inklusion mass- der nachgezeichneten Grundannahme im geblich davon abhängig ist, welche Einstel- lung(en) Menschen zum Paradigma und zu 1 Meist sind dies Menschen oder Gruppen von den Personengruppen haben, die implizit Menschen, die von gesellschaftlichem Ausschluss mitgedacht werden, sobald Inklusion the- bedroht oder betroffen sind. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
14 E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N Wesentlichen gefolgt wird. In den Mittel- sowie die Philipps-Universität Marburg punkt werden hierfür erste Ergebnisse der wissenschaftlich begleitet wird.3 In einem repräsentativen Online-Befragung «Ein- Grossteil der verfügbaren Studien aus dem stellung(en) zu Inklusion» gestellt, die im Bereich der inklusionsbezogenen Einstel- Jahr 2018 durchgeführt wurde und in wel- lungsforschung wird meist mehr oder we- cher der Frage nach den Einstellungen der niger direkt der Lebensbereich Schule als Gesamtbevölkerung Deutschlands zum Bezugskontext gewählt – beispielsweise Thema Inklusion nachgegangen wurde. über die Forschung bei (angehenden) Lehr- Als primäre Referenzpunkte der Einstel- personen (Schwab, 2015; Kunz, Luder & lungsforschung dienten zum einen die Le- Moretti, 2010). Im Gegensatz dazu ent- bensbereiche Freizeit, Arbeit und Wohnen schied man sich hier, indem die Lebens sowie zum anderen Menschen mit «geisti- bereiche Freizeit, Arbeit und Wohnen ge- ger Behinderung»2. Letzteres liegt darin wählt wurden, für einen breiteren Zugang. begründet, dass es sich hierbei um Perso- Zu jedem Lebensbereich wurden Thesen nen handelt, die in besonderer Art und formuliert, die – abgesehen von ihrem je Weise von gesellschaftlichem Ausschluss kontextspezifischen Bezug – stets gleich bedroht sind und daher nicht selten als «In- beziehungsweise (möglichst) ähnlich for- klusionsverlierer» (Becker, 2016, S. 33) be- muliert wurden, um eine spätere Gegen- zeichnet werden (Trescher, 2017). Die ge- überstellung der Lebensbereiche zu ermö nannten Eckpunkte sind somit auch die, glichen. Hierbei wurden sowohl negative die im Folgenden aufgegriffen und unter als auch positive Formulierungen gewählt. Bezugnahme auf ausgewählte Ergebnisse Die Thesen wurden entlang eines Katego- beleuchtet werden. Ein besonderes Augen- riensystems festgelegt, das wiederum den merk wird dabei auf die Zustimmungswer- inhaltlichen Bezug der Thesen determinier- te bezüglich der im Fragebogen formulier- te. Unter anderem wurden folgende Kate- ten Thesen gelegt. gorien berücksichtigt: 1. Unterstützung Konzeption und Aufbau 2. Engagement des Fragebogens 3. Erfordernisse Der Fragebogen «Einstellung(en) zu Inklu- 4. Adressatenauswirkung sion» ist Bestandteil des Forschungspro- 5. Umsetzung jekts «Kommune Inklusiv», welches durch 6. geteilte Lebenspraxis die Aktion Mensch e. V. gefördert und 7. Protektion durch die Goethe-Universität Frankfurt 8. Finanzierung 2 Mit der Schreibweise «(geistige) Behinderung» 3 Die wissenschaftliche Begleitung des Projekts, ge- soll zum Ausdruck gebracht werden, dass «(geis- leitet durch Prof. Dr. Hendrik Trescher und Prof. tige) Behinderung» innerhalb der folgenden Aus- Dr. Dieter Katzenbach, forscht auf drei Ebenen, führungen nicht als naturgegebenes Faktum, son- welche jeweils unterschiedliche Teilbereiche in dern vielmehr als Produkt komplexer diskursiver den Blick nehmen. Für nähere Informationen: ak- Praxen verstanden wird. Die Anführungszeichen tion-mensch.de/kommune-inklusiv [Zugriff am betonen insofern den sozio-kulturell-historischen 21.11.2019]. Konstruktionscharakter der Kategorie «(geistige) Behinderung» (Trescher, 2017, S. 27ff.). Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N 15 Tabelle 1: Überblick über die Kategorie Unterstützung Lebensbereich These Zustimmung Wohnen Ich wäre bereit, Menschen mit geistiger Behinderung dabei zu 61,34 % unterstützen, sich sozial in meiner Nachbarschaft zu integrieren. Arbeit Ich wäre bereit, Menschen mit geistiger Behinderung dabei zu 65,97 % unterstützen, sich sozial an meinem Arbeitsplatz zu integrieren. Freizeit Ich wäre bereit, Menschen mit geistiger Behinderung dabei zu 63,07 % unterstützen, sich sozial in die von mir besuchten Freizeitaktivitäten zu integrieren. Gesamt 63,46 % Als Antwortformat wurden unipolare Likert- skriptive Analyse aufgegriffen. Das primäre Skalen mit einem Ratingspektrum von Interesse gilt dabei den Zustimmungswerten 1 bis 7 gewählt (1 = stimme überhaupt nicht zu den formulierten Thesen, anhand derer zu; 7 = stimme voll und ganz zu). Im Anschluss eine Gegenüberstellung der Lebensbereiche an die Konzeption wurde der Fragebogen im vorgenommen wird. Strukturiert wird die Rahmen zweier Pretests (N = 100 und N = 370) Darstellung anhand der kategorialen Zuord- erprobt und überarbeitet.4 nung der Thesen, wobei festgehalten werden muss, dass hier nicht alle Kategorien einer Erhebung und Beschreibung Einzelbetrachtung unterzogen werden kön- der Stichprobe nen. Exemplarisch aufgegriffen werden des- Die Verbreitung des Fragebogens erfolgte über halb die Kategorien Unterstützung, Erforder- ein deutschlandweites Panel. Erreicht wurde nisse und geteilte Lebenspraxis. eine bevölkerungsrepräsentative Stichprobe (N = 3695) unter anderem bezüglich der Kate- Unterstützung gorien Alter, Geschlecht und Bildung. Befragt Die Kategorie Unterstützung fokussiert die wurden Personen zwischen 18 und 95 Jahren. Bereitschaft der Befragten, Menschen mit 47,01 Prozent der Befragten gaben an, Kontakt «geistiger Behinderung» in den jeweiligen zu Menschen mit Behinderung (nicht nur «geis- Lebensbereichen dabei zu unterstützen, tige Behinderung») zu haben. 12,29 Prozent sich sozial zu integrieren (siehe Tab. 1). der Befragten vermerkten, selbst eine Behinde- Mit Blick auf den Gesamtwert zeigt sich, rung zu haben. 1,19 Prozent kreuzten an, selbst dass die Zustimmung deutlich über 50 Pro- eine «geistige Behinderung» zu haben. zent liegt. Daraus kann abgeleitet werden, dass die Befragten eher dazu bereit sind, frei- Zustimmungswerte im Kontext willige Unterstützungsleistungen für Men- Freizeit, Arbeit und Wohnen schen mit «geistiger Behinderung» zu erbrin- Der Datensatz wurde mit verschiedenen Ver- gen, um diesen bei der sozialen Integration fahren analysiert. Im Folgenden wird die de- zu helfen, als diese zu verweigern oder sich diesen zu entziehen. Am höchsten fällt die 4 Für nähere Ausführungen siehe Trescher und Bereitschaft im Bereich Arbeit aus (65,97 %), Hauck (2020). der damit knapp vor Freizeit (63,07 %) und Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
16 E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N etwas deutlicher vor Wohnen (61,34 %) liegt. geboten» verstanden wird. Als Konsequenz Zurückgeführt werden können diese Diffe- hiesse das auch, dass Inklusion in den ande- renzen womöglich darauf, dass Freizeit und ren Bereichen nach Ansicht der Befragten Wohnen stärker in den Bereich des Privaten differenzierter zu betrachten ist und sich fallen, sodass Unterstützungsleistungen hier eher nicht mittels der gewählten These auf eher als Eingriff in die alltägliche private Le- den Punkt bringen lässt. Inklusion in den bensführung gewertet und daher eher ambi- Bereichen Arbeit und Wohnen scheint sich valent betrachtet werden. einer «einfachen» Lösung zu entziehen. Erfordernisse Geteilte Lebenspraxis Die Kategorie Erfordernisse umfasst kon- Diese Kategorie setzt sich aus negativ for- krete lebenspraktische Konsequenzen, die mulierten Thesen zusammen. Im Kern geht mit der Forderung nach Inklusion in Bezug es um die Bewertung eines möglichen zu den jeweiligen Lebensbereichen verbun- Kontakts zu Menschen mit «geistiger Be- den sein könnten (siehe Tab. 2). hinderung» (siehe Tab. 3). Der Gesamtwert ist höher als bei der Der Gesamtwert liegt (deutlich) unter vorangegangenen Kategorie. Die Thesen 50 Prozent. Dies ist allerdings vor dem Hin- erfahren eine breitere Zustimmung. Darü- tergrund der negativen Formulierung zu be- ber hinaus manifestiert sich eine grössere trachten. Dem Zustimmungsgrad von 21,05 Varianz zwischen den einzelnen Bereichen. Prozent entspricht ein Ablehnungsgrad von So zeigt sich, dass die These im Freizeitbe- 78,95 Prozent, womit der – gemessen an der reich mit einem Abstand von sechs Prozent Auswertung aller Kategorien – höchste Wert (auf Arbeit) und elf Prozent (auf Wohnen) erreicht wird. Die Auswertung zeigt deutlich, den höchsten Zustimmungsgrad erfährt. dass die befragten Personen eine geteilte Dies kann als Hinweis gewertet werden, Lebenspraxis mit Menschen mit «geistiger dass die Frage nach Inklusion im Freizeitbe- Behinderung» eher nicht als Anlass für reich von einem Gros der Befragten als Flucht- oder Vermeidungsstrategien sehen. «Teilnahme an routinemässigen Freizeitan- Interessant ist, dass der sonst eher positiv Tabelle 2: Überblick über die Kategorie Erfordernisse Lebensbereich These Zustimmung Wohnen Inklusion erfordert, dass Menschen mit geistiger Behinderung (im selben 63,13 % Rahmen wie Menschen ohne geistige Behinderung) entscheiden können, wie, wo und mit wem sie wohnen möchten. Arbeit Inklusion im Bereich Arbeit erfordert, dass auch Menschen mit 68,11 % geistiger Behinderung die Möglichkeit haben, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu arbeiten. Freizeit Inklusion im Bereich Freizeit erfordert, dass auch Menschen mit 74,06 % geistiger Behinderung an bestehenden Freizeitangeboten (z. B. in Vereinen) teilnehmen. Gesamt 68,43 % Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N 17 Tabelle 3: Überblick über die Kategorie Geteilte Lebenspraxis Lebensbereich These Zustimmung Wohnen Wenn Menschen mit geistiger Behinderung in meiner Nachbarschaft 18,23 % wohnen würden, würde ich lieber woanders wohnen. Arbeit Wenn an meinem Arbeitsplatz Menschen mit geistiger Behinderung 21,58 % integriert würden, würde ich lieber meinen Arbeitsplatz wechseln. Freizeit Wenn in die von mir besuchten Freizeitaktivitäten Menschen mit 23,33 % geistiger Behinderung integriert würden, würde ich lieber andere Freizeitaktivitäten besuchen. Gesamt 21,05 % behaftete Bereich Freizeit die höchste Zu- sind – abhängig von der jeweiligen Katego- stimmung erfährt. Während diese Diskre- rie – eher durch Ambivalenzen gekennzeich- panz sicherlich auch darauf zurückgeführt nete Bereiche, wenngleich die Werte auch werden kann, dass sich entsprechende hier klar positiv sind. Ausschlaggebend für Wechsel dort unkomplizierter vollziehen las- die eher kritisch-ambivalenten Positionie- sen, könnte der Wert ebenfalls als Anhalts- rungen in den Bereichen Arbeit und Wohnen punkt dafür betrachtet werden, dass durch könnten womöglich etwaige Vorbehalte ge- eine geteilte Lebenspraxis im Bereich Freizeit genüber Menschen mit «geistiger Behinde- eher ein Einschnitt in die eigene Lebensfüh- rung» sein, handelt es sich doch jeweils um rung befürchtet wird. Bereiche, in denen Selbstständigkeit, eigen- verantwortliches Handeln und schlussend- Diskussion und Ausblick lich auch eine gewisse Leistungsfähigkeit am Grundsätzlich zeigen die Ergebnisse – so- stärksten im Fokus stehen. wohl die hier exemplarisch ausgewählten als Werden die vorgestellten Zustimmungs- auch die Gesamtergebnisse – über alle Kate- werte in Bezug zu den Gesamtergebnissen gorien und Lebensbereiche hinweg eine po- gesetzt, lässt sich feststellen, dass kritische sitive Positionierung der Befragten zu Inklu- bis ambivalente Positionierungen vor allem sion respektive inklusiven Veränderungen. mit einem (fehlenden) lebensweltlichen Kon- Dies wiederum kann als Hinweis auf beste- takt zu Menschen mit «(geistiger) Behinde- hende Inklusionspotenziale in den jeweiligen rung» in Verbindung stehen. So zeigt sich et- Bereichen gelesen werden. Mit Blick auf die wa, dass sich vor allem jene Personen positiv verschiedenen Lebensbereiche lässt sich zu den Thesen äusserten, die angaben, Kon- Freizeit dabei als der Bereich identifizieren, takt zu Menschen mit «(geistiger) Behinde- der das grösste Inklusionspotenzial zu haben rung» zu haben oder in der Vergangenheit scheint. Die Ergebnisse der Fragebogenaus- gehabt zu haben. Die Ergebnisse der Analyse wertung stützen damit die Ergebnisse an stützen insofern auch die sogenannte «Kon- derer Studien, die dem Bereich Freizeit ein takthypothese», wonach sich ein lebens- besonders hohes Inklusionspotenzial attes- weltlicher Kontakt (eher) positiv auf die tieren (Trescher, 2015; Markowetz, 2007). Wahrnehmung einer Personengruppe aus- Die Bereiche Arbeit und Wohnen hingegen wirkt (Allport, 1954; Cloerkes, 2007). Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
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