Einstellungen und Haltungen zur Inklusion - Sensibilisierungskampagne #ichwillwählen Beratung von Erwachsenen mit kognitiver Beeinträchtigung ...

 
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Einstellungen und Haltungen zur Inklusion - Sensibilisierungskampagne #ichwillwählen Beratung von Erwachsenen mit kognitiver Beeinträchtigung ...
EDITION                                      N r. 2
SZH/CSPS                                     2020

     Einstellungen und
     Haltungen zur Inklusion
           Sensibilisierungskampagne #ichwillwählen
       Beratung von Erwachsenen mit
     kognitiver Beeinträchtigung
           Förderung des Selbstvertrauens mit Marte Meo
Inhalt
Romain Lanners
Editorial                                                                  1

Rundschau                                                                  2

SCHWERPUNKT

Niels Anderegg und Rita Sauter
Vom «Ich-Will» zum «Wir-Können»
Warum die Haltung der Schulleitung wesentlich ist                          6

Hendrik Trescher, Anna Lamby und Michael Börner
Einstellungen zu Inklusion im Kontext «geistiger Behinderung»
Lebensbereiche Freizeit, Arbeit und Wohnen im Vergleich                   13

Nicole Hollenbach-Biele
Deutschland auf dem Weg zu einem inklusiven Schulsystem
Elternerfahrungen in einem laufenden Systemumbau                          20

Margrit Egger und Peter Lienhard
Gemeinsam die integrative Haltung stärken
Handlungs- und Gesprächsvorschläge für Schulen                            28

Dokumentation zum Schwerpunkt                                             34

WEITERE THEMEN

Jan Habegger, Tanja Stocker, Daniel Stalder und François Muheim
#ichwillwählen: eine Kampagne von insieme Schweiz
Ein Interview mit den Verantwortlichen dieser Sensibilisierungskampagne   35

Matthias Pfiffner, René Stalder und Stefania Calabrese
Beratung von Erwachsenen mit kognitiver Beeinträchtigung
Eine systematische Literaturübersicht                                     41

Renate Burri
Förderung des Selbstvertrauens mit Marte Meo
Die Marte-Meo-Methode als Möglichkeit zur schulischen Förderung von
Kindern traumatisierter Eltern                                            48

Impressum                                                                 27

Bücher / Erzählte Behinderung / Forschung / Agenda                        54

Inserate                                                                  61

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
EDITORIAL                           1

Romain Lanners

Inklusion braucht Zahlen und Aufklärung

Noch vor zwanzig Jahren hielten viele die                        dazu dienen, Benachteiligungen von Lernen-
schulische Integration für eine Utopie. Die                      den mit einer Beeinträchtigung zu vermeiden
Statistik belehrt uns eines Besseren und                         oder zu verringern. Dieser Anspruch ist recht-
zeigt, dass inklusive Bildung Realität gewor-                    lich verankert, also keine Ausnahme, sondern
den ist. Die Zahlen der «alten» BFS-Statistik                    ein Regelfall. Es handelt sich um formelle
belegten bereits, dass die Separationsquote                      Anpassungen der Lern- und Prüfungsbedin-
in den letzten fünfzehn Jahren um 40 %, al-                      gungen ohne Modifikation der Lern- bzw.
so von 5,2 % auf 3,4 % gesunken ist. Das                         Ausbildungsziele. Eine Erleichterung findet
heisst, die Zahl der separiert geschulten                        nicht statt, da die gleichen Ziele erreicht wer-
                                                                                                                       Dr. phil.
Lernenden fiel von 50 000 auf jetzt 31 000                       den müssen. Die Brille ist die älteste Form des
                                                                                                                       Romain Lanners
(Lanners, 2018, S. 10). Dies ist ein grosser                     Nachteilsausgleichs. Heute kommt kaum je-
                                                                                                                       Direktor
Fortschritt. Dank der neuen Statistik der                        mand mehr auf die Idee, das Tragen einer
                                                                                                                       SZH / CSPS
Sonderpädagogik des BFS (2019) wissen wir                        Brille als unzulässige Prüfungserleichterung
                                                                                                                       Speichergasse 6
zudem, dass im Schuljahr 2017/18 …                               zu bezeichnen oder eine ungerechte Bevorzu-
                                                                                                                       3011 Bern
… nur 1,8 % der Lernenden eine Sonder-                           gung zu insinuieren. Die Integrationswelle
                                                                                                                       romain.lanners @
    schule besuchten,                                            hat nun die Berufsbildung und die Gymnasien
                                                                                                                       szh.ch
… 53,2 %, also mehr als die Hälfte der Ler-                      erreicht. Fakt ist, dass es im Bereich Sek II an
    nenden mit einem nachgewiesenen be-                          Aufklärung, Austausch und Harmonisierung
    sonderen Bildungsbedarf (verstärkte                          mangelt.
    sonderpädagogische Massnahme), in ei-                              Beide Beispiele zeigen, wie Zahlen und
    ne Regelklasse integriert waren und                          Aufklärung die Meinungsbildung zur Inklu-
… bei 4,3 % aller Schülerinnen und Schüler                       sion beeinflussen. Ich wünsche Ihnen eine
    Lernziele angepasst worden sind.                             spannende Lektüre unserer Beiträge über
Überraschend ist, dass 17,4 % der Lernenden                      Einstellungen und Haltungen zur Inklusion.
in einer Sonderschule nach dem Regellehr-
plan unterrichtet werden (BFS, 2019, S. 11).                     Literatur
Da die Sonderschulung nachhaltig die Bil-                        BFS (Bundesamt für Statistik) (2019). Statistik der
dungs- und Berufschancen beeinträchtigt,                            Sonderpädagogik. Schuljahr 2017/18. Neuen-
besteht hier dringender Handlungsbedarf.                            burg: BFS. www.bfs.admin.ch/asset/de/1960-
      Der Journalist René Donzé irrt, wenn er                       1800 [Zugriff am 07.01.2020].
in seinem Artikel vom 15.12.2019 in der                          Lanners, R. (2018). Das Sonderpädagogik-Kon-
NZZ am Sonntag Massnahmen des Nachteils­                            kordat feiert seinen zehnten Geburtstag.
ausgleichs mit «Ausnahmen bei Prüfungen»                            Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik,
und mit einem «erleichterten Lehrabschluss»                         24 (10), 6–13. Permalink: www.szh-csps.ch/
gleichsetzt. Der Nachteilsausgleich umfasst                         z2018-10-01
vielfältige individuelle Massnahmen, welche

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020                         www.szh-csps.ch/z2020-02-00
2   RUNDSCHAU

    Rundschau
    INTERNATIONAL                                        rungen am 3. Dezember veröffentlichte das
                                                         Bundesamt für Statistik verschiedene Statis-
    AUT: Menschen mit Behinderungen                      tiken zum Thema Kinder und Behinderung.
    von Gewalt betroffen                                 Weitere Informationen: www.admin.ch
    Mit der vom Sozialministerium veröffent-             ➝ Medienmitteilung vom 02.12.2019
    lichten Studie zu «Erfahrungen und Präven-
    tion von Gewalt an Menschen mit Behin­               Mitsprache von Menschen mit
    derungen» liegen für Österreich erstmals             Behinderungen in politischen
    aktuelle Daten zur Situation von Menschen            Prozessen
    mit Behinderungen in Einrichtungen vor. Der          Die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK)
    Fokus der Studie lag auf Gewalterfahrungen           verpflichtet die Vertragsstaaten, Menschen
    im Verlauf des Lebens von Menschen mit               mit Behinderung in die Gesetzgebung oder
    Behinderungen, die Einrichtungen der Be-             Formulierung von Politiken, die sie betref-
    hindertenhilfe nutzen, in psychosozialen             fen, einzubeziehen. Die Mitsprache muss in
    Einrichtungen leben oder sich im Massnah-            allen Phasen eines solchen Prozesses ge-
    menvollzug befinden. Insgesamt zeigt die             währleistet sein. In der Schweiz ist diese Ver-
    Studie, dass Menschen mit Behinderungen              pflichtung nur ungenügend umgesetzt, die
    deutlich häufiger von Gewalt betroffen sind          Praxis bei Bund und Kantonen ist uneinheit-
    als Menschen ohne Behinderungen. Eine be-            lich. Eine Kurzstudie vom Schweizer Kompe-
    sonders gefährdete Gruppe sind Menschen,             tenzzentrum für Menschenrechte ( SKMR )
    die Unterstützungsbedarf bei Grundbedürf-            fasst die Vorgaben der UN-Behinderten-
    nissen wie beispielsweise der Körperpflege           rechtskonvention zur Beteiligung von Men-
    sowie bei der Kommunikation haben.                   schen mit Behinderung zusammen, erläutert
    Weitere Informationen: www.sozialministe-            den Anwendungsbereich und präsentiert in
    rium.at/gewaltpraevention                            vier Bereichen eine Reihe von Empfehlun-
                                                         gen: 1. Beteiligung von Menschen mit Behin-
                                                         derung in Vernehmlassungsverfahren; 2. Be-
    NATIONAL                                             teiligung von Menschen mit Behinderung bei
                                                         der Formulierung von Gesetzen, Aktions­und
    Statistiken zum Thema Kinder und                     Massnahmenplänen; 3. Verbesserung der
    Behinderung                                          Möglichkeiten zur Partizipation; 4. Formali-
    In der Schweiz lebten im Jahr 2017 rund              sierung der Beteiligung und Vereinheitli-
    54 000 Kinder mit einer Behinderung. Jedes           chung der Praxis.
    fünfte dieser Kinder war in seiner Fähigkeit         Weitere Informationen: www.skmr.ch
    beeinträchtigt, so zu leben wie andere gleich-       ➝ Themenbereiche ➝ Institutionelle Fragen
    altrige Kinder. 6992 Kinder erhielten eine Hil-      ➝ Publikationen
    flosenentschädigung der Invalidenversiche-
    rung und 1622 lebten während des ganzen              Selbstbestimmtes Wohnen für
    oder eines Teils des Jahres in einer spezia­         Menschen mit Behinderungen
    lisierten Institution. Anlässlich des Interna­       Am Internationalen Tag der Menschen mit
    tionalen Tages der Menschen mit Behinde-             Behinderungen, am 3. Dezember 2019, fand

                                                      Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
RUNDSCHAU        3

in Bern eine Tagung zum Thema «Selbstbe-                         braucht es jedoch eine noch weitergehende
stimmtes Wohnen» statt. Rund 140 Teilneh-                        Zugänglichkeit bzw. Öffnung von Dienstleis-
mende von Bund, Kantonen, Behinderten­                           tungen und Produkten für Menschen mit
organisationen, Branchenverbänden sowie                          Behinderungen und gleichzeitig auch eine
Betroffene diskutierten über flexiblere An-                      umfassendere Sensibilisierungsarbeit nicht
gebote an Wohnraum, unterstützende                               nur bei Behörden und Privaten, sondern in
Dienstleistungen, innovative Technologien                        breiten Kreisen der Gesellschaft. Auch soll
und die Finanzierung des Wohnens. In der                         das Element der Partizipation stärker ins
Schweiz leben rund 1,8 Millionen Menschen                        Zentrum rücken.
mit Behinderungen. Nicht alle von ihnen                          Weitere Informationen:
haben die Möglichkeit, über ihre Wohnsitu-                       www.edi.admin.ch/ebgb
ation selbst zu entscheiden. Ein Teil von
ihnen, rund 30 000 Personen, ist auf inten­                      Neues Informationsblatt
sive Unterstützung angewiesen und lebt in                        des SZH zu Dyspraxie
einem institutionellen Setting. Neue Finan-                      Die Kantone haben in den letzten Jahren
zierungsmodelle wie die Subjektfinanzie-                         den Informationsbedarf der Regelklas-
rung werden derzeit mit grosser Aufmerk-                         sen-Lehrpersonen, die Lernende mit ver-
samkeit beobachtet und diskutiert. Ähnli-                        schiedenen Störungen und Beeinträchti-
ches ergibt sich auch zu den ambulanten                          gungen begleiten, erkannt. Die Conférence
Dienstleistungen für das private Wohnen.                         latine de pédagogie spécialisée ( lateini-
Das Wohnangebot ist in den letzten Jahren                        sche Konferenz der Sonder- und Heilpäda-
flexibler und vielfältiger geworden. Es exis-                    gogik ) sowie die Conférence intercantona-
tieren zwar weiterhin klassische Heimstruk-                      le de l’instruction publique de la Suisse
turen, aber viele Institutionen haben ihr An-                    romande et du Tessin, CIIP ( Erziehungsdi-
gebot zunehmend in Richtung dezentrale,                          rektoren-Konferenz der Westschweiz und
wohnungsartige, in Wohnsiedlungen einge-                         des Kantons Tessin ) haben das SZH im Jahr
bettete Strukturen weiterentwickelt. Eben-                       2013 beauftragt, Informationsblätter für
so gibt es starke Bemühungen, den Über-                          die Begleitung dieser Kinder in Regelklas-
gang zwischen institutionellem und priva-                        sen zu erarbeiten. Bis jetzt wurden neun In-
tem Wohnen zu verbessern. In Bezug auf die                       formationsblätter ( auf französisch ) heraus-
Finanzierungsmodalitäten ergibt sich ein zu-                     gegeben. Sie enthalten allgemeine Anga-
nehmender Bedarf an Klärung von Aufga-                           ben zur jeweiligen Störung / Behinderung
ben und Verantwortlichkeiten zwischen den                        und deren Auswirkungen auf das Lernen. Es
verschiedenen Akteuren. Es gilt dabei wei-                       werden konkrete pädagogische Anpassun-
tere Erfahrungen zu sammeln und diese An-                        gen des Unterrichts und Massnahmen des
sätze zu optimieren. Durch das «Testen» des                      Nachteilsausgleichs vorgeschlagen. Ausser-
neuen Modells der Subjektfinanzierung in                         dem beinhalten die Informationsblätter
einzelnen Kantonen können empirische Re-                         Hinweise auf weiterführende Literatur.
sultate zu diesem zukunftsweisenden Finan-                       Weitere Informationen:
zierungsmodell frühzeitig ausgetauscht und                       www.szh.ch/fr/projets/projets/fiches-d-in-
geprüft werden. Zur Förderung der Autono-                        formation-pour-les-enseignant-e-s
mie und damit zur Verbesserung der Lebens-
qualität von Menschen mit Behinderungen

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
4   RUNDSCHAU

    KANTONAL / REGIONAL                                sich in der Praxis genauso wie in der Wissen-
                                                       schaft weiterentwickelt, wurde im Juni 2019
    SG: Informationsplattform zu                       die Gesellschaft für Entwicklungspsycholo­
    Kinderrechten                                      gische Sprachtherapie (GSEST) als gemein-
    Kinder, Jugendliche, Eltern und Fachpersonen       nütziger, unabhängiger Verein mit Sitz in Zü-
    haben oft nur geringe Kenntnisse der Kinder-       rich von einem Komitee um Susanne Mathieu
    rechte. Die neue Webseite kinder­rechtesg.ch       gegründet. Mit der GSEST soll ein innovatives
    des Kantons St. Gallen widmet sich ausge-          und internationales Netzwerk für Fachleute
    wählten Kinderrechten, beantwortet zentrale        geschaffen werden. Damit diese Arbeit ge-
    Fragen von Kindern und Jugendlichen oder           leistet werden kann, werden noch weitere
    bietet Anregungen für das individuelle Enga-       Mitglieder gesucht.
    gement. Weitere Rubriken der Webseite sind         Weitere Informationen: www.gsest.ch
    Materialien zu Kinderrechten sowie Organi-
    sationen, die sich im engeren Sinne für Kin-
    derrechte einsetzen.                               VARIA
    Weitere Informationen: www.kindersg.ch/
    kinderrechte                                       DE: Internet-Verzeichnis in
                                                       Leichter Sprache
    ZH: Zürcher Neuromotorik (ZNM-2)                   Leichte Sprache soll allen Menschen Zugang
    Im Vergleich zur ursprünglichen Version der        zu Informationen und Kommunikation eröff-
    Zürcher Neuromotorik (Largo et al., 2002,          nen. Nicht zuletzt wegen der Verordnung zur
    revidiert 2007) wurde in der aktualisierten        Schaffung barrierefreier Informationstech-
    ZNM-2 die Altersspanne von 5 bis 18 auf 3          nik nach dem Behindertengleichstellungsge-
    bis 18 Jahre ausgeweitet. Die Aufgaben wur-        setz (BITV 2.0) haben Angebote in Leichter
    den über alle Altersstufen vereinheitlicht         Sprache stetig zugenommen. Die Webplatt-
    und auf Basis der Erfahrungen aus der 1. Ver-      form HWelt.de sammelt alle Internetseiten
    sion angepasst: Adaptive fein- und grobmo-         in Leichter und Einfacher Sprache und stellt
    torische Aufgaben wurden neu dazu genom-           sie in einem zentralen Pool zur Verfügung.
    men und zwei weniger zuverlässige Aufga-           Weitere Informationen: https://hwelt.de
    ben weggelassen.
    Weitere Informationen:                             Pro Infirmis-Musikwettbewerb 2019
    https://fuerdaskind.ch/znm2                        Im Rahmen des Pro Infirmis-Musikwettbe-
                                                       werbes «Musik unterscheidet nicht» wurden
    ZH: Zentrum für kleine Kinder                      zwölf Musikvideos eingereicht und auf der
    wird zu GSEST                                      Webseite veröffentlicht. Mit einfach produ-
    Das Zentrum für kleine Kinder gehörte im           zierten Videos sollen Brücken zwischen Men-
    deutschsprachigen Raum zu den renommier-           schen mit und ohne Behinderung gebaut
    testen Weiterbildungsinstitutionen im Früh-        werden. Der temporeiche Rap «Glaub an di»
    bereich. In den letzten 25 Jahren bildeten         der Jugendarbeit Chur mit NiceO gewann
    sich hier Fachleute zur Thematik der frühen        den Pro Infirmis Kristall des Jahres 2019.
    Spracherwerbsstörungen nach dem Konzept            Weitere Informationen:
    von Dr. Barbara Zollinger weiter. Damit die-       www.musik-unterscheidet-nicht.ch
    ses Wissen erhalten und lebendig bleibt und

                                                    Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
THEMENSCHWERPUNKTE 2020                              5

Themenschwerpunkte 2020
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik

   Heft                        Schwerpunkt                                                 Ankündigung        Einsendeschluss
   1 / 2020                    Inklusion im Erwachsenenbereich                             10.08.2019         10.10.2019
   2 / 2020                    Einstellungen und Haltungen zur Inklusion                   10.09.2019         10.10.2019
   3 / 2020                    Frühe Bildung                                               10.09.2019         10.11.2019
   4 / 2020                    Behinderung in den Medien                                   10.10.2019         10.12.2019
   5 – 6 / 2020                Mehrfachbehinderung                                         10.11.2019         10.01.2020
   7 – 8 / 2020                Nachteilsausgleich                                          10.01.2020         10.03.2020
   9 / 2020                    Lebensende                                                  10.03.2020         10.05.2020
   10 / 2020                   Universal Design                                            10.04.2020         10.06.2020
   11 –12 / 2020               Humor                                                       10.05.2020         10.07.2020

   Autorinnen und Autoren werden gebeten, so früh wie möglich einen Artikel per Mail anzukündigen.
   Die Redaktion entscheidet erst nach der Sichtung eines Beitrages über dessen Veröffentlichung.
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   Freie Artikel
   Nebst Beiträgen zum Schwerpunkt publizieren wir regelmässig auch freie Artikel. Die Redaktion nimmt gerne
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Thèmes des Dossiers 2020
Revue suisse de pédagogie specialisée

   Numéro                                                        Dossier
   1 (mars, avril, mai 2020)                                     Participation citoyenne
   2 (juin, juillet, août 2020)                                  Compensation des désavantages
   3 (septembre, octobre, novembre 2020)                         Difficultés et troubles du comportement à l’école
   4 (décembre 2020, janvier, février 2021)                      Alimentation et handicap

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Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
6                       E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N

Niels Anderegg und Rita Sauter

Vom «Ich-Will» zum «Wir-Können»
Warum die Haltung der Schulleitung wesentlich ist

Zusammenfassung
Die Haltung von Führungspersonen ist für die Gestaltung und Entwicklung inklusiver Schulen wesentlich. Doch mit
der Haltung der Führungspersonen allein ist noch nichts gewonnen. Es stellen sich zwei zentrale Fragen. Erstens: Wie
gelingt es, dass die Haltung einer Person in einem System, in einer Organisation von allen Fachpersonen geteilt wird?
Zweitens: Wie werden aus Haltungen Handlungen? Denn eine inklusive Haltung zu haben, heisst noch nicht, dass in-
nerhalb einer Schule auch inklusiv gehandelt wird.

Résumé
Bien que la posture adoptée par les personnes exerçant des fonctions de direction soit essentielle au développement
de l’école inclusive, elle ne fait pas tout à elle seule. Deux questions centrales se posent. D’une part, comment faire
pour que cette posture soit partagée par toutes et tous les professionnel-le-s impliqué-e-s dans un système, dans une
organisation ? D’autre part, comment une posture devient-elle action ? En effet, avoir une posture inclusive ne signi-
fie pas pour autant que l’on agisse effectivement de manière inclusive au sein d’une école.

Permalink: www.szh-csps.ch/z2020-02-01

                        Bei einer Diskussion unter Kindergärtnerin-                   Führung, kann Führung als zielbezogene
                        nen mokieren sich diese darüber, dass die                     Einflussnahme als kleinster gemeinsamer
                        Kinder aufgrund von HarmoS (Interkantonale                    Nenner bezeichnet werden (Blessin & Wick,
                        Vereinbarung über die Harmonisierung der                      2017).
                        obligatorischen Schule) immer jünger wer-
                        den und sich ihr Beruf darum verändert hat.                   Haltung als Interpretation von
                        Die Schulleiterin meint trocken: «Ja, als Schu-               politischen Vorgaben
                        le müssen wir lernen, damit umzugehen,                        Die Ziele der öffentlichen Schule sind nor-
                        denn wir haben immer die richtigen Kinder.»                   mative Setzungen durch die Gesellschaft.
                        Einige Kindergärtnerinnen nicken und disku-                   Über politische Prozesse werden Vorgaben
                        tieren dann über ein anderes Thema.                           in Form von Lehrplänen oder Gesetzen fest-
                             Mit der Aussage «Wir haben immer die                     gelegt, welche für die Schulen verbindlich
                        richtigen Kinder» wird die Haltung der                        sind. Die Gesellschaft gibt über die Politik
                        Schulleiterin sichtbar und es zeigt sich, wie                 vor, was sie unter einer «guten Schule» ver-
                        sie sich Inklusion vorstellt. Doch ist dieses                 steht. Die Schule hat die Aufgabe, diese
                        Sich-Einbringen der Schulleiterin Führung?                    Vorgaben umzusetzen. Dabei ist der Pro-
                        Wie wäre es, wenn eine der Kindergärtne-                      zess kein linearer Vorgang, sondern ge-
                        rinnen diesen Satz gesagt hätte? Und wel-                     schieht in einem «dritten Raum», wie es
                        chen Zusammenhang gibt es zwischen Hal-                       Ball, Maguire und Braun (2012) nennen: Je-
                        tung und Führung? Betrachtet man unter-                       de politische Vorgabe braucht eine Überset-
                        schiedliche Definitionen und Modelle von                      zung – d. h., was ist damit gemeint – und

                                                                                   Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N   7

eine Umsetzung – d. h., wie wird das, was                        Haltung zur Inklusion führend ist. Diese
gemeint ist, in die Praxis umgesetzt.                            Aufgabe kann auch von einer Lehrperson,
       Dass eine «gute Schule» heute eine in-                    einer Heilpädagogin oder einem Heilpäda-
klusive Schule ist, sollte unbestritten sein.                    gogen übernommen werden. Diese können
Mit der Ratifizierung der UN-Behinderten-                        als Teacher Leaders (Strauss, 2019) eine
rechtskonvention hat sich die Schweiz zu                         thematische Führungsfunktion überneh-
einem inklusiven Bildungssystem bekannt                          men. Entscheidend ist, dass diese Füh-
und damit die entsprechende politische                           rungsfunktion von der Schulleitung aktiv
Vorgabe für die Schulen gemacht. Doch was                        gewollt und unterstützt sowie von den
in den einzelnen Kantonen und den ver-                           Lehrpersonen akzeptiert wird. Teacher Lea-
schiedenen Schulen unter einer inklusiven                        ders können ihre Wirkung also nur dann zur
Schule verstanden und wie dies umgesetzt                         Geltung bringen, wenn in einer Schule Füh-
wird, ist sehr unterschiedlich (Anderegg,                        rung vor allem systemisch und nicht hierar-
2019a; Huber, Sturm & Köper, 2017). Und da                       chisch gelebt wird.
man aus verschiedenen Untersuchungen
weiss, dass die Schulleitung bezogen auf
die Werte einer Schule eine zentrale Akteu-                      Es braucht an jeder Schule eine Person,
rin ist (Day et al., 2009), ist die Haltung der                  welche die thematische Führung in
Schulleitung gegenüber der Inklusion ent-                        der Inklusion übernimmt.
scheidend. Dabei kann die Haltung der
Schulleitung gegenüber dem Thema Inklu-
sion auch als Interpretation dieser politi-                      Betrachtet man die vielfältigen Aufgaben
schen Vorgabe verstanden werden. So wird                         einer Schulleitung, so ist es gar nicht mög-
eine Schulleitung, welche Inklusion als                          lich, dass diese in allen Themen die Führung
einen wichtigen pädagogischen Wert sieht,                        innehat. Denn eine Schulleitung, welche in
diese sehr viel ernsthafter an der eigenen                       den Themen Digitalisierung, Inklusion, Ta-
Schule umsetzen, als jemand, der die Inklu-                      gesschule, Qualitätsmanagement und vie-
sion eher als eine Modeerscheinung der Po-                       len anderen Führung übernimmt, gibt es
litik interpretiert.                                             wohl kaum. Solange nicht verschiedene
                                                                 Personen für unterschiedliche Themen die
Teacher Leadership                                               Führung übernehmen, solange wird es zu-
Wenn in den vorhergehenden Abschnitten                           fällig sein, welche Schulen sich vorwiegend
von der Schulleitung gesprochen wurde, ist                       dem Thema Inklusion und welche sich an-
dies eine verkürzte Sichtweise. In der heuti-                    deren Themen zuwenden. Die thematische
gen, internationalen Schulführungsfor-                           Vielfalt einer Schule ist zwar auf Personen
schung geht man von verteilten Führungs-                         angewiesen, darf jedoch nicht von der
modellen (Distributed Leadership) aus                            Schulleitung abhängig sein. Wenn es um die
(bspw. MacBeath & Dempster, 2009; Spilla-                        Gestaltung und Weiterentwicklung der In-
ne, 2006). Führung wird bei diesem Ver-                          klusion an Schulen geht, dann braucht es an
ständnis weniger hierarchisch und stärker                        jeder Schule eine Person, welche die thema-
systemisch betrachtet (Endres & Weibler,                         tische Führung übernimmt. Dies kann die
2019). Insofern muss es nicht zwingend die                       Schulleitung sein, muss es aber nicht. Wenn
Schulleitung sein, welche in Bezug auf die                       im Folgenden jeweils von der Schulführung

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
8             E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N

              gesprochen wird, dann ist eine systemische                    Autonomie. Lehrpersonen müssen im Un-
              Sicht auf Führung gemeint und die Funktion                    terricht situativ auf die einzelnen Schülerin-
              von Teacher Leaders bewusst mitgemeint.                       nen und Schüler eingehen und immer wie-
                   Die Aufgabe der Schulleitung ist es, für                 der neue Lösungen finden. Würden sie da-
              das Ganze zu denken und darauf zu achten,                     bei lediglich den Vorgaben der Schulleitung
              dass es für die verschiedenen Themen je                       folgen, wie es beispielsweise im Konzept
              mindestens eine Person an der Schule hat,                     von Instructional Leadership vorgesehen
              die sich dafür einsetzt. In Bezug auf die Hal-                ist, so führt dies zur Deprofessionalisierung
              tung muss die Schulleitung dafür sorgen,                      (Fullan, 2014; Mehta, 2013). Insofern ist es
              dass sich die verschiedenen Themen ergän-                     nicht klug, Haltungen einfach zu verordnen.
              zen und in der Schule eine gemeinsame pä-                     Vielmehr müssen sie von den Lehrpersonen
              dagogische Haltung besteht (Schratz et al.,                   mitgetragen werden.
              2019). Dies führt zur Frage, wie es gelingt,                        Ball, Maguire und Braun (2012) zeigen
              eine Haltung in einer Organisation wie der                    in ihrer Untersuchung, dass die Umsetzung
              Schule zu verbreiten und so zu gestalten,                     von politischen Vorgaben Artefakte, Diskur-
              dass sie von der ganzen Organisation mit-                     se und Interpretationen braucht. Mit Arte-
              getragen wird.                                                fakten sind Festschreibungen wie der oben
                                                                            erwähnte Satz der Schule Hedingen ge-
                                                                            meint. Solche Festschreibungen definieren,
Eine Haltung kann nicht verordnet werden,                                   was an der Schule gilt, und alle Mitglieder
sie muss von der betroffenen Person als                                     einer Schule können sich darauf beziehen.
sinnhaft erachtet werden.                                                   Die gemeinsame Haltung ist dadurch nicht
                                                                            beliebig und auch nicht verhandelbar bzw.
                                                                            kann dann verhandelt werden, wenn der
              Haltung kann nicht verordnet                                  Satz angepasst oder neu geschrieben wird.
              werden                                                        Ein Satz kann jedoch unterschiedlich ver-
              Haltungen werden an Schulen häufig in                         standen werden. Durch diskursive Prozesse
              Leitbildern oder anderen Dokumenten fest-                     werden die Interpretationen der einzelnen
              gehalten und definiert. So steht beispiels-                   Personen sichtbar. Wenn beispielsweise
              weise an der Schule Hedingen auf dem Ti-                      eine Lehrperson in der Pause begeistert
              telblatt des sonderpädagogischen Konzep-                      vom letzten Elterngespräch erzählt – «ge-
              tes der Satz: «Wir übernehmen gemeinsam                       meinsam wurde geschaut, wer was über-
              die Verantwortung für alle Kinder.» Damit                     nehmen kann» – wird der Leitsatz gelebt
              wird eine Haltung und gleichzeitig auch                       und man kann sich vorstellen, was damit
              eine Erwartung ausgedrückt. Wird diese                        gemeint ist. Gleichzeitig kann eine solche
              Haltung jedoch nicht von allen Personen ge-                   Geschichte auch handlungsleitend werden
              teilt, endet sie an der Schwelle zum Klassen-                 und die Chance ist gross, dass andere Lehr-
              zimmer. An den Lehrpersonenkonferenzen                        personen beim nächsten Elterngespräch
              wird zustimmend genickt und im Schulzim-                      Ähnliches anstreben.
              mer autonom und möglicherweise entge-                               Durch diskursive Prozesse werden nicht
              gen der vereinbarten Haltung gehandelt.                       nur Interpretationen «sichtbar», gleichzeitig
              Dabei ist dieses Verhalten durchaus sinn-                     können diese Prozesse bewusst gesteuert
              voll, denn Unterrichten benötigt eine hohe                    werden. An der Schule Hedingen schreibt

                                                                         Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
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die Schulleitung einen wöchentlichen Rund-                       anderen Schülerinnen und Schüler der Klas-
brief an alle Mitarbeitenden und die Behör-                      se lernen und den Schulalltag verbringen
denmitglieder. Dieser hat hauptsächlich die                      kann. Oder wenn es darum geht, wie And-
Funktion, Informationen der Schulleitung al-                     rea, die/der weder Junge noch Mädchen ist,
len zugänglich zu machen. Gleichzeitig dient                     auch im Sportunterricht Teil der Klassenge-
er auch als Möglichkeit, diskursive Prozesse                     meinschaft sein kann und Yusuf trotz seiner
anzustossen und zu führen. So beginnt ein                        Fluchterfahrung und Kriegstraumatisierung
Rundbrief häufig mit einer kleinen Geschich-                     in die Zukunft schauen kann. Inklusion er-
te, einem Foto aus dem Alltag einer Lehrper-                     hält einen konkreten Sinn, für den sich die
son oder der Schulleitung. Damit setzt die                       Anstrengungen lohnen.
Schulleitung Akzente und erzählt, was ihr
wichtig ist.
                                                                 An einer Schule eine inklusive Haltung
Nur was als sinnvoll erlebt wird,                                zu haben, bedeutet noch nicht,
wird umgesetzt                                                   dass innerhalb der Schule auch inklusiv
Soll eine Haltung im Unterricht umgesetzt                        gehandelt wird.
werden, muss diese für die betreffende Per-
son sinnvoll sein. Dies gilt im besonderen
Masse für die Inklusion. Die Vielfalt der                        Aus Haltungen müssen Handlungen
Schülerinnen und Schüler sowie der An-                           entstehen
spruch, allen möglichst gerecht zu werden,                       An einer Schule eine inklusive Haltung zu
ist für eine Lehrperson primär eine Heraus-                      haben, bedeutet noch nicht, dass innerhalb
forderung. Ein gleichförmiger Unterricht,                        der Schule auch inklusiv gehandelt wird.
dem sich die Lernenden anpassen müssen,                          Erst wenn aus Haltungen auch Handlungen
ist sehr viel einfacher herzustellen als ein                     entstehen, wird eine Haltung wirksam. Ein
binnendifferenzierter Unterricht, der den                        Weg, um von der Haltung zur Handlung zu
Lernenden angepasst wird. Sich dieser He­                        kommen, kann über Geschichten gesche-
rausforderung zu stellen und den eigenen                         hen. Geschichten, welche man sich an einer
Unterricht stetig weiterzuentwickeln, benö-                      Schule erzählt, beinhalten häufig konkrete
tigt eine pädagogische Überzeugung. Eine                         Handlungen, welche an der Schule stattge-
solche Haltung kann nicht verordnet wer-                         funden haben. Gleichzeitig hat das Erzäh-
den, sie muss von der betroffenen Person                         lende die Wirkung, diese Handlungen eben-
als sinnhaft erachtet werden.                                    falls erfahren zu wollen und die Chance der
      Inklusion kann aus ethischer oder ge-                      Nachahmung ist hoch.
sellschaftspolitischer Sicht als richtig und                           Aus systemischer Sicht spielen hier die
wichtig angesehen werden. Mehr Wirkung                           oben beschriebenen diskursiven Prozesse
entwickelt die Frage nach der Sinnhaftigkeit                     eine wesentliche Rolle. Harrison C. White
von Inklusion jedoch, wenn die Diskussion                        (2008) spricht in seiner Netzwerktheorie
auf der konkreten Ebene der Schülerinnen                         von Stories, welche den Sinn in Systeme –
und Schüler geführt wird. Die Diskussionen                       wie beispielsweise eine Schule – transpor-
verlaufen anders, wenn z. B. über Pascal ge-                     tieren und sichtbar machen (Anderegg,
sprochen wird und wie er trotz seiner kör-                       2018; Anderegg, 2019b). Der bereits ange-
perlichen Behinderung gemeinsam mit den                          sprochene Rundbrief der Schulleitung kann

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              als ein Artefakt angesehen werden, über                       Hier zeigt sich eine weitere Perspektive in
              den Stories vermittelt werden.                                Bezug auf die Haltung der Schulleitung. In-
                    Eine andere Möglichkeit ist das Schaf-                  klusiv bezieht sich nicht nur auf die Schüle-
              fen von Strukturen, welche die Umsetzung                      rinnen und Schüler, sondern sie umfasst
              von Haltungen zu Handlungen unterstüt-                        auch die Mitarbeitenden. Das bedeutet,
              zen. Eine solcher Weg wird beispielsweise                     dass die Schulleitung auch gegenüber den
              an der Schule Hedingen gegangen, indem                        Lehrpersonen eine inklusive Haltung ein-
              sich die Lehrpersonen sowie die Heilpä­                       nehmen muss. Es kann nicht sein, dass die
              dagoginnen und Heilpädagogen zweimal                          Lehrpersonen inklusiv unterrichten und die
              im Jahr über die Zusammenarbeit austau-                       Schulleitung alle Mitarbeitenden gleichbe-
              schen. Dazu werden ihnen Zeitgefässe zur                      handelt. Auch hier braucht es eine Binnen-
              Verfügung gestellt und die Schulleitung                       differenzierung. So ist die Zusammenarbeit
              thematisiert die Form der Zusammenarbeit                      zwischen den Lehrpersonen unterschiedlich
              bei verschiedenen Gelegenheiten. Mit The-                     und dieser Unterschiedlichkeit muss die
              matisieren ist nicht ein Kontrollieren, son-                  Schulleitung gerecht werden. Gleich ist für
              dern ein echtes Interessieren gemeint. Ziel                   alle die gemeinsame Haltung, welche im
              ist die im Leitsatz festgehaltene gemeinsa-                   Leitsatz festgeschrieben und in den dis­
              me Verantwortung und diese – und nicht                        kursiven Prozessen und den darin enthalte-
              das Durchführen der gemeinsamen Abspra-                       nen individuellen Interpretationen immer
              che – liegt im Interesse der Schulleitung.                    wieder angeglichen wird. Dadurch entsteht
                                                                            eine Schulgemeinschaft mit einer geteilten
                                                                            Haltung, in der gemeinsam gearbeitet und
Inklusion ist eine Vision,                                                  voneinander gelernt wird.
welche nie erreicht,
aber immer gestaltet werden kann.                                           Führung als zielbezogenes
                                                                            Einflussnehmen
                                                                            Folgt man der obenstehenden Argumenta-
              Ausserdem wird an der Schule Hedingen                         tion, zeigt sich die Wichtigkeit der zielbezo-
              nicht zwischen Schülerinnen und Schülern                      genen Einflussnahme von Führungsperso-
              mit und ohne besonderen Förderbedarf un-                      nen. Es zeigt sich aber auch, dass Führung
              terschieden. Eine Klasse besteht aus einer                    nicht sicher hergestellt werden kann. Die
              bestimmten Anzahl von Lernenden und alle                      Vorstellung der sicheren Erreichung von Zie-
              Lehrpersonen der Klasse sind grundsätzlich                    len durch Führung entspringt den perso-
              für alle zuständig. Es wird aber von Fall zu                  nenbezogenen Führungstheorien, welche
              Fall entschieden, welche Person – abhängig                    davon ausgehen, dass eine Führungsperson
              von ihrem Wissen und Können – wofür ver-                      führt und die geführten Personen ihr folgen.
              antwortlich ist. Dadurch muss die Zusam-                      Ein Beispiel dafür ist die Great Man Theory.
              menarbeit immer wieder neu verhandelt wer-                    Eine solche Vorstellung von Führung ist aus
              den und folgt nicht dem gängigen Modell,                      wissenschaftlicher Sicht widerlegt (bspw.
              dass sich die Heilpädagogin oder der Heilpä-                  Hosking, Dachler & Gergen, 1995; Uhl-Bien,
              dagoge um die Lernenden mit besonderem                        2006). Führung wird heute viel stärker als
              Förderbedarf kümmert und damit der Gedan-                     sozialer Prozess zwischen verschiedenen
              ke der Inklusion gerade unterlaufen wird.                     Personen verstanden, der von Machtver-

                                                                         Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
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hältnissen, organisationalen Positionen,                         Literatur
Stimmungen, Beziehungen und anderen                              Anderegg, N. (2018). Führung, Lernen, Erfah-
Faktoren beeinflusst wird.                                          rung: Akteure in Netzwerken. Schulfüh-
      Jedoch nicht nur Führung, sondern                             rung und Schulentwicklung plural ge-
auch Bildung kann nicht sicher hergestellt                          dacht. In E. Zala-Mezö, N.-C. Strauss & J.
werden. Denn es geht letztlich nicht um die                         Häbig (Hrsg.), Dimensionen von Schulent-
Frage, «how we can get the world into our                           wicklung. Verständnis, Veränderung und
children and student» (Biesta, 2013, S. 5),                         Vielfalt eines Phänomens (S. 151 – 168).
sondern «about what we can help our chil-                           Münster: Waxmann.
dren and students to engage with, and thus                       Anderegg, N. (2019a). Auf die Schulleitung
come into the world» (ebd.). Gerade des-                            kommt es an! Schweizer Perspektive auf
halb sind Haltungsfragen in Bildungsorga-                           den Zusammenhang zwischen Schulfüh-
nisationen wesentlich. Führungspersonen                             rung und Inklusion. In J. Donlic, E. Jak-
haben die Aufgabe, auf diese Einfluss zu                            sche-Hoffmann & H. K. Peterlini (Hrsg.), Ist
nehmen, sodass die gemeinsamen Vorstel-                             inklusive Schule möglich? Nationale und
lungen von allen Beteiligten mitgetragen                            internationale Perspektiven (S. 111 – 132).
und mitgestaltet werden. Gemeinsame Vor-                            Bielefeld: transcript.
stellungen können beispielsweise sein, eine                      Anderegg, N. (2019b). Schulführung als
«Schule für alle» zu sein, oder die Teilhabe                        Netzwerkarbeit im Dienste des Lernens.
aller Schülerinnen und Schüler am Schulle-                          In S. M. Weber, I. Truschkat, C. Schröder,
ben und am gemeinsamen Lernen zu er-                                L. Peters & A. Herz (Hrsg.), Organisation
möglichen. Das ist dann ethisch legitim,                            und Netzwerk. Beiträge der Kommission
wenn Führung als ein sozialer Prozess, an                           Organisationspädagogik (S. 279 – 288).
dem alle beteiligt sind, angesehen wird.                            Wiesbaden: Springer VS.
Führung ist in diesem Verständnis ein ge-                        Ball, S. J., Maguire, M. & Braun, A. (2012). How
meinsamer, offener Aushandlungsprozess.                             Schools do Policy. Policy enactments in Se-
      Im letzten Satz wurde bewusst nicht                           condary Schools. New York: Routledge.
mehr von einem Ziel, sondern von einer ge-                       Biesta, G. (2013). The beautiful risk of educati-
meinsamen Vorstellung gesprochen. Inklu-                            on. Boulder, London: Paradigm Publishers.
sion ist eine Vision, welche nie erreicht,                       Blessin, B. & Wick, A. (2017). Führen und füh-
aber immer gestaltet werden kann. Insofern                          ren lassen. Ansätze, Ergebnisse und Kritik
kann Inklusion kein Ziel sein, das angestrebt                       der Führungsforschung (8., überarb. Aufl.).
wird, sondern ein Zustand, der immer wie-                           Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.
der hergestellt wird. Führung kann nicht das                     Day, C., Sammons, P., Hopkins, D. et al.
Ziel haben, dass eine Schule irgendwann ei-                         (2009). The Impact of School Leadership
ne inklusive Schule ist, sondern sie hat die                        on Pupil Outcomes. Final Report. Notting-
Aufgabe, im Hier und Jetzt Inklusion zu ge-                         ham: University of Nottingham.
stalten und die nächsten Schritte zu gehen.                      Endres, S. & Weibler, J. (2019). Plural Leader-
                                                                    ship. Eine zukunftsweisende Alternative
                                                                    zur One-Man-Show. Wiesbaden: Springer.
                                                                 Fullan, M. (2014). The Principal. Three Keys to
                                                                    Maximazing Impact. San Francisco: Jos-
                                                                    sey-Bass.

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                     Hosking, D. M., Dachler, H. P. & Gergen, K. J.                    sames Schulleitungshandeln an ausge-
                         (1995). Management and organization:                          zeichneten Schulen des Deutschen Schul-
                         Relational Alternatives to Individualism.                     preises. Facetten von Schulleitungshan-
                         Brookfield: Avebury.                                          deln. Innsbruck: Universität Innsbruck.
                     Huber, S., Sturm, T. & Köper, A. (2017). Inklu-               Spillane, J. P. (2006). Distributed Leadership.
                         sion und Schulleitung – Schulleitende als                     San Francisco: Jossey-Bass.
                         Gestaltende inklusiver Schulen (auch) in                  Strauss, N.-C. (2019). Verteilte Führung – die
                         der Schweiz. In B. Lütje-Klose, S. Miller,                    Perspektive der «Teacher Leaders». Jour-
                         S. Schwab & B. Streese (Hrsg.), Inklusion:                    nal für Schulentwicklung, 2, 30 – 35.
                         Profile für die Schul- und Unterrichtsent-                Übereinkommen über die Rechte von Men-
                         wicklung in Deutschland, Österreich und                       schen mit Behinderungen (UN-Behinder-
                         der Schweiz. Theoretische Grundlagen –                        tenrechtskonvention,             UN-BRK),        vom
                         empirische Befunde – Praxisbeispiele                          13. Dezember 2006, durch die Schweiz
                         (S. 43 – 54). Münster: Waxmann.                               ratifiziert am 15. April 2014, in Kraft seit
                     MacBeath, J. & Dempster, N. ( 2009). Connec-                      dem 15. Mai 2014, SR 0.109.
                         ting Leadership and Learning. Principles                  Uhl-Bien, M. (2006). Relational Leadership
                         for Practice. London: Routledge.                              Theory: Exporing the social processes of
                     Mehta, J. (2013). The allure of order: High ho-                   leadership and organizing. The Leader-
                         pes, dashed expectations, and the trou-                       ship Quarterly, 17, 654 – 676.
                         bled quest to remake American schooling.                  White, H. (2008). Identity and Control: How
                         New York: Oxford University Press.                            Social Formations Emerge. Princeton:
                     Schratz, M., Ammann, M., Möltner, V. et al.                       Princeton University Press.
                         (2019). Von den Besten lernen. Lernwirk-

Niels Anderegg                                      Rita Sauter
Pädagogische Hochschule Zürich                      Schule Hedingen
Zentrum Management und Leadership                   Schulleitung
Lagerstrasse 2                                      Schachstrasse 7
8090 Zürich                                         8908 Hedingen
niels.anderegg@phzh.ch                              rita.sauter@schulehedingen.ch

                                                                                Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N   13

Hendrik Trescher, Anna Lamby und Michael Börner

Einstellungen zu Inklusion im Kontext
«geistiger Behinderung»
Lebensbereiche Freizeit, Arbeit und Wohnen im Vergleich

Zusammenfassung
Im Fokus des Beitrags steht die Online-Befragung «Einstellung(en) zu Inklusion». Diese befasst sich mit der Frage nach
der Einstellung von Menschen in Deutschland zum Thema Inklusion in Bezug auf verschiedene Lebenskontexte (Frei-
zeit, Arbeit, Wohnen) im Hinblick auf Menschen mit «geistiger Behinderung». Über eine repräsentative Stichprobe
wurden umfangreiche Daten generiert und aufschlussreiche Ergebnisse herausgearbeitet. Der vorliegende Beitrag
stellt die Befragung vor und geht auf ausgewählte Einzelergebnisse ein. Zentral ist dabei der Vergleich der verschie-
denen Lebenskontexte hinsichtlich ihrer Zustimmungswerte zu den formulierten Thesen.

Résumé
L'enquête en ligne « Point(s) de vue sur l’inclusion » se trouve au centre de la présente contribution. Elle s’intéresse à
connaître l’opinion des gens en Allemagne sur le thème de l’inclusion par rapport à divers contextes de vie (loisirs,
travail, logement), en lien avec des personnes ayant une « déficience intellectuelle ». Un échantillon représentatif a
permis d'obtenir un grand nombre de données et d’en déduire des résultats significatifs. Cette contribution présente
l’enquête et détaille quelques résultats choisis, en accordant une place centrale à la comparaison des divers contextes
de vie mis en rapport avec le taux d’approbation des thèses formulées.

Permalink: www.szh-csps.ch/z2020-02-03

Hinführung                                                       matisiert wird1 (Schwab & Seifert, 2015;
Die Untersuchung von Einstellungen ist ge-                       Gasterstädt & Urban, 2016; Seifried & Heyl,
rade in den quantitativ forschenden Sozial-                      2016). Konkret heisst das: Haben Men-
wissenschaften ein weitverbreitetes For-                         schen eine positive Einstellung zu Inklusion
schungsfeld. Auch im Kontext des Inklu­                          respektive den jeweiligen Personengrup-
sionsparadigmas werden entsprechende                             pen, wird davon ausgegangen, dass sich
Forschungsansätze häufig aufgegriffen.                           dies günstig auf die Realisierung inklusiver
Dies spiegelt sich nicht zuletzt in der Fülle                    Praxen auswirkt – und vice versa.
an Publikationen des wissenschaftlichen                               In diesem Beitrag wird an den Fachdis-
Fachdiskurses wider. Die argumentative                           kurs zum Thema «Einstellung(en) im Kon-
Ausgangsposition ist dabei oft die Annah-                        text von Inklusion» angeschlossen, wobei
me, dass das Gelingen von Inklusion mass-                        der nachgezeichneten Grundannahme im
geblich davon abhängig ist, welche Einstel-
lung(en) Menschen zum Paradigma und zu                           1
                                                                     Meist sind dies Menschen oder Gruppen von
den Personengruppen haben, die implizit                              Menschen, die von gesellschaftlichem Ausschluss
mitgedacht werden, sobald Inklusion the-                             bedroht oder betroffen sind.

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
14   E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N

     Wesentlichen gefolgt wird. In den Mittel-                     sowie die Philipps-Universität Marburg
     punkt werden hierfür erste Ergebnisse der                     wissenschaftlich begleitet wird.3 In einem
     repräsentativen Online-Befragung «Ein-                        Grossteil der verfügbaren Studien aus dem
     stellung(en) zu Inklusion» gestellt, die im                   Bereich der inklusionsbezogenen Einstel-
     Jahr 2018 durchgeführt wurde und in wel-                      lungsforschung wird meist mehr oder we-
     cher der Frage nach den Einstellungen der                     niger direkt der Lebensbereich Schule als
     Gesamtbevölkerung Deutschlands zum                            Bezugskontext gewählt – beispielsweise
     Thema Inklusion nachgegangen wurde.                           über die Forschung bei (angehenden) Lehr-
     Als primäre Referenzpunkte der Einstel-                       personen (Schwab, 2015; Kunz, Luder &
     lungsforschung dienten zum einen die Le-                      Moretti, 2010). Im Gegensatz dazu ent-
     bensbereiche Freizeit, Arbeit und Wohnen                      schied man sich hier, indem die Lebens­
     sowie zum anderen Menschen mit «geisti-                       bereiche Freizeit, Arbeit und Wohnen ge-
     ger Behinderung»2. Letzteres liegt darin                      wählt wurden, für einen breiteren Zugang.
     begründet, dass es sich hierbei um Perso-                     Zu jedem Lebensbereich wurden Thesen
     nen handelt, die in besonderer Art und                        formuliert, die – abgesehen von ihrem je
     Weise von gesellschaftlichem Ausschluss                       kontextspezifischen Bezug – stets gleich
     bedroht sind und daher nicht selten als «In-                  beziehungsweise (möglichst) ähnlich for-
     klusionsverlierer» (Becker, 2016, S. 33) be-                  muliert wurden, um eine spätere Gegen-
     zeichnet werden (Trescher, 2017). Die ge-                     überstellung der Lebensbereiche zu ermö­
     nannten Eckpunkte sind somit auch die,                        glichen. Hierbei wurden sowohl negative
     die im Folgenden aufgegriffen und unter                       als auch positive Formulierungen gewählt.
     Bezugnahme auf ausgewählte Ergebnisse                         Die Thesen wurden entlang eines Katego-
     beleuchtet werden. Ein besonderes Augen-                      riensystems festgelegt, das wiederum den
     merk wird dabei auf die Zustimmungswer-                       inhaltlichen Bezug der Thesen determinier-
     te bezüglich der im Fragebogen formulier-                     te. Unter anderem wurden folgende Kate-
     ten Thesen gelegt.                                            gorien berücksichtigt:
                                                                   1. Unterstützung
     Konzeption und Aufbau                                         2. Engagement
     des Fragebogens                                               3. Erfordernisse
     Der Fragebogen «Einstellung(en) zu Inklu-                     4. Adressatenauswirkung
     sion» ist Bestandteil des Forschungspro-                      5. Umsetzung
     jekts «Kommune Inklusiv», welches durch                       6. geteilte Lebenspraxis
     die Aktion Mensch e. V. gefördert und                         7. Protektion
     durch die Goethe-Universität Frankfurt                        8. Finanzierung

     2   Mit der Schreibweise «(geistige) Behinderung»             3
                                                                       Die wissenschaftliche Begleitung des Projekts, ge-
         soll zum Ausdruck gebracht werden, dass «(geis-               leitet durch Prof. Dr. Hendrik Trescher und Prof.
         tige) Behinderung» innerhalb der folgenden Aus-               Dr. Dieter Katzenbach, forscht auf drei Ebenen,
         führungen nicht als naturgegebenes Faktum, son-               welche jeweils unterschiedliche Teilbereiche in
         dern vielmehr als Produkt komplexer diskursiver               den Blick nehmen. Für nähere Informationen: ak-
         Praxen verstanden wird. Die Anführungszeichen                 tion-mensch.de/kommune-inklusiv [Zugriff am
         betonen insofern den sozio-kulturell-historischen             21.11.2019].
         Konstruktionscharakter der Kategorie «(geistige)
         Behinderung» (Trescher, 2017, S. 27ff.).

                                                                Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
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Tabelle 1: Überblick über die Kategorie Unterstützung

    Lebensbereich           These                                                                                           Zustimmung

    Wohnen                  Ich wäre bereit, Menschen mit geistiger Behinderung dabei zu                                    61,34 %
                            unterstützen, sich sozial in meiner Nachbarschaft zu integrieren.

    Arbeit                  Ich wäre bereit, Menschen mit geistiger Behinderung dabei zu                                    65,97 %
                            unterstützen, sich sozial an meinem Arbeitsplatz zu integrieren.

    Freizeit                Ich wäre bereit, Menschen mit geistiger Behinderung dabei zu                                    63,07 %
                            unterstützen, sich sozial in die von mir besuchten Freizeitaktivitäten
                            zu integrieren.

                                                                                                                 Gesamt     63,46 %

Als Antwortformat wurden unipolare Likert-                       skriptive Analyse aufgegriffen. Das primäre
Skalen mit einem Ratingspektrum von                              Interesse gilt dabei den Zustimmungswerten
1 bis 7 gewählt (1 = stimme überhaupt nicht                      zu den formulierten Thesen, anhand derer
zu; 7 = stimme voll und ganz zu). Im Anschluss                   eine Gegenüberstellung der Lebensbereiche
an die Konzeption wurde der Fragebogen im                        vorgenommen wird. Strukturiert wird die
Rahmen zweier Pretests (N = 100 und N = 370)                     Darstellung anhand der kategorialen Zuord-
erprobt und überarbeitet.4                                       nung der Thesen, wobei festgehalten werden
                                                                 muss, dass hier nicht alle Kategorien einer
Erhebung und Beschreibung                                        Einzelbetrachtung unterzogen werden kön-
der Stichprobe                                                   nen. Exemplarisch aufgegriffen werden des-
Die Verbreitung des Fragebogens erfolgte über                    halb die Kategorien Unterstützung, Erforder-
ein deutschlandweites Panel. Erreicht wurde                      nisse und geteilte Lebenspraxis.
eine bevölkerungsrepräsentative Stichprobe
(N = 3695) unter anderem bezüglich der Kate-                     Unterstützung
gorien Alter, Geschlecht und Bildung. Befragt                    Die Kategorie Unterstützung fokussiert die
wurden Personen zwischen 18 und 95 Jahren.                       Bereitschaft der Befragten, Menschen mit
47,01 Prozent der Befragten gaben an, Kontakt                    «geistiger Behinderung» in den jeweiligen
zu Menschen mit Behinderung (nicht nur «geis-                    Lebensbereichen dabei zu unterstützen,
tige Behinderung») zu haben. 12,29 Prozent                       sich sozial zu integrieren (siehe Tab. 1).
der Befragten vermerkten, selbst eine Behinde-                        Mit Blick auf den Gesamtwert zeigt sich,
rung zu haben. 1,19 Prozent kreuzten an, selbst                  dass die Zustimmung deutlich über 50 Pro-
eine «geistige Behinderung» zu haben.                            zent liegt. Daraus kann abgeleitet werden,
                                                                 dass die Befragten eher dazu bereit sind, frei-
Zustimmungswerte im Kontext                                      willige Unterstützungsleistungen für Men-
Freizeit, Arbeit und Wohnen                                      schen mit «geistiger Behinderung» zu erbrin-
Der Datensatz wurde mit verschiedenen Ver-                       gen, um diesen bei der sozialen Integration
fahren analysiert. Im Folgenden wird die de-                     zu helfen, als diese zu verweigern oder sich
                                                                 diesen zu entziehen. Am höchsten fällt die
4   Für nähere Ausführungen siehe Trescher und                   Bereitschaft im Bereich Arbeit aus (65,97 %),
    Hauck (2020).                                                der damit knapp vor Freizeit (63,07 %) und

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
16                   E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N

                     etwas deutlicher vor Wohnen (61,34 %) liegt.                  geboten» verstanden wird. Als Konsequenz
                     Zurückgeführt werden können diese Diffe-                      hiesse das auch, dass Inklusion in den ande-
                     renzen womöglich darauf, dass Freizeit und                    ren Bereichen nach Ansicht der Befragten
                     Wohnen stärker in den Bereich des Privaten                    differenzierter zu betrachten ist und sich
                     fallen, sodass Unterstützungsleistungen hier                  eher nicht mittels der gewählten These auf
                     eher als Eingriff in die alltägliche private Le-              den Punkt bringen lässt. Inklusion in den
                     bensführung gewertet und daher eher ambi-                     Bereichen Arbeit und Wohnen scheint sich
                     valent betrachtet werden.                                     einer «einfachen» Lösung zu entziehen.

                     Erfordernisse                                                 Geteilte Lebenspraxis
                     Die Kategorie Erfordernisse umfasst kon-                      Diese Kategorie setzt sich aus negativ for-
                     krete lebenspraktische Konsequenzen, die                      mulierten Thesen zusammen. Im Kern geht
                     mit der Forderung nach Inklusion in Bezug                     es um die Bewertung eines möglichen
                     zu den jeweiligen Lebensbereichen verbun-                     Kontakts zu Menschen mit «geistiger Be-
                     den sein könnten (siehe Tab. 2).                              hinderung» (siehe Tab. 3).
                          Der Gesamtwert ist höher als bei der                          Der Gesamtwert liegt (deutlich) unter
                     vorangegangenen Kategorie. Die Thesen                         50 Prozent. Dies ist allerdings vor dem Hin-
                     erfahren eine breitere Zustimmung. Darü-                      tergrund der negativen Formulierung zu be-
                     ber hinaus manifestiert sich eine grössere                    trachten. Dem Zustimmungsgrad von 21,05
                     Varianz zwischen den einzelnen Bereichen.                     Prozent entspricht ein Ablehnungsgrad von
                     So zeigt sich, dass die These im Freizeitbe-                  78,95 Prozent, womit der – gemessen an der
                     reich mit einem Abstand von sechs Prozent                     Auswertung aller Kategorien – höchste Wert
                     (auf Arbeit) und elf Prozent (auf Wohnen)                     erreicht wird. Die Auswertung zeigt deutlich,
                     den höchsten Zustimmungsgrad erfährt.                         dass die befragten Personen eine geteilte
                     Dies kann als Hinweis gewertet werden,                        Lebenspraxis mit Menschen mit «geistiger
                     dass die Frage nach Inklusion im Freizeitbe-                  Behinderung» eher nicht als Anlass für
                     reich von einem Gros der Befragten als                        Flucht- oder Vermeidungsstrategien sehen.
                     «Teilnahme an routinemässigen Freizeitan-                     Interessant ist, dass der sonst eher positiv

Tabelle 2: Überblick über die Kategorie Erfordernisse

 Lebensbereich    These                                                                                              Zustimmung

 Wohnen           Inklusion erfordert, dass Menschen mit geistiger Behinderung (im selben                            63,13 %
                  Rahmen wie Menschen ohne geistige Behinderung) entscheiden
                  können, wie, wo und mit wem sie wohnen möchten.

 Arbeit           Inklusion im Bereich Arbeit erfordert, dass auch Menschen mit                                      68,11 %
                  geistiger Behinderung die Möglichkeit haben, auf dem allgemeinen
                  Arbeitsmarkt zu arbeiten.

 Freizeit         Inklusion im Bereich Freizeit erfordert, dass auch Menschen mit                                    74,06 %
                  geistiger Behinderung an bestehenden Freizeitangeboten
                  (z. B. in Vereinen) teilnehmen.

                                                                                                      Gesamt         68,43 %

                                                                                Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N                17

Tabelle 3: Überblick über die Kategorie Geteilte Lebenspraxis

  Lebensbereich             These                                                                                           Zustimmung

  Wohnen                    Wenn Menschen mit geistiger Behinderung in meiner Nach­barschaft                                18,23 %
                            wohnen würden, würde ich lieber woanders wohnen.

  Arbeit                    Wenn an meinem Arbeitsplatz Menschen mit geistiger Behinderung                                  21,58 %
                            integriert würden, würde ich lieber meinen Arbeitsplatz wechseln.

  Freizeit                  Wenn in die von mir besuchten Freizeitaktivitäten Menschen mit                                  23,33 %
                            geistiger Behinderung integriert würden, würde ich lieber andere
                            Freizeitaktivitäten besuchen.

                                                                                                                 Gesamt     21,05 %

behaftete Bereich Freizeit die höchste Zu-                       sind – abhängig von der jeweiligen Katego-
stimmung erfährt. Während diese Diskre-                          rie – eher durch Ambivalenzen gekennzeich-
panz sicherlich auch darauf zurückgeführt                        nete Bereiche, wenngleich die Werte auch
werden kann, dass sich entsprechende                             hier klar positiv sind. Ausschlaggebend für
Wechsel dort unkomplizierter vollziehen las-                     die eher kritisch-ambivalenten Positionie-
sen, könnte der Wert ebenfalls als Anhalts-                      rungen in den Bereichen Arbeit und Wohnen
punkt dafür betrachtet werden, dass durch                        könnten womöglich etwaige Vorbehalte ge-
eine geteilte Lebenspraxis im Bereich Freizeit                   genüber Menschen mit «geistiger Behinde-
eher ein Einschnitt in die eigene Lebensfüh-                     rung» sein, handelt es sich doch jeweils um
rung befürchtet wird.                                            Bereiche, in denen Selbstständigkeit, eigen-
                                                                 verantwortliches Handeln und schlussend-
Diskussion und Ausblick                                          lich auch eine gewisse Leistungsfähigkeit am
Grundsätzlich zeigen die Ergebnisse – so-                        stärksten im Fokus stehen.
wohl die hier exemplarisch ausgewählten als                            Werden die vorgestellten Zustimmungs-
auch die Gesamtergebnisse – über alle Kate-                      werte in Bezug zu den Gesamtergebnissen
gorien und Lebensbereiche hinweg eine po-                        gesetzt, lässt sich feststellen, dass kritische
sitive Positionierung der Befragten zu Inklu-                    bis ambivalente Positionierungen vor allem
sion respektive inklusiven Veränderungen.                        mit einem (fehlenden) lebensweltlichen Kon-
Dies wiederum kann als Hinweis auf beste-                        takt zu Menschen mit «(geistiger) Behinde-
hende Inklusionspotenziale in den jeweiligen                     rung» in Verbindung stehen. So zeigt sich et-
Bereichen gelesen werden. Mit Blick auf die                      wa, dass sich vor allem jene Personen positiv
verschiedenen Lebensbereiche lässt sich                          zu den Thesen äusserten, die angaben, Kon-
Freizeit dabei als der Bereich identifizieren,                   takt zu Menschen mit «(geistiger) Behinde-
der das grösste Inklusionspotenzial zu haben                     rung» zu haben oder in der Vergangenheit
scheint. Die Ergebnisse der Fragebogenaus-                       gehabt zu haben. Die Ergebnisse der Analyse
wertung stützen damit die Ergebnisse an­                         stützen insofern auch die sogenannte «Kon-
derer Studien, die dem Bereich Freizeit ein                      takthypothese», wonach sich ein lebens-
besonders hohes Inklusions­potenzial attes-                      weltlicher Kontakt (eher) positiv auf die
tieren (Trescher, 2015; Markowetz, 2007).                        Wahrnehmung einer Personengruppe aus-
Die Bereiche Arbeit und Wohnen hingegen                          wirkt (Allport, 1954; Cloerkes, 2007).

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
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