Monitoring zur Gleichbehandlung von Sinti und Roma & zur Bekämpfung von Antiziganismus

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Monitoring zur Gleichbehandlung von Sinti und Roma & zur Bekämpfung von Antiziganismus
Monitoring
zur Gleichbehandlung
von Sinti und Roma
& zur Bekämpfung
von Antiziganismus
Monitoring
zur Gleichbehandlung
von Sinti und Roma
& zur Bekämpfung
von Antiziganismus
Zentralrat Deutscher Sinti und Roma
Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Sozialfabrik/Forschung und Politikanalyse e. V.
Impressum

Veröffentlicht durch:
Zentralrat Deutscher Sinti und Roma
Bremeneckgasse 2 | 69117 Heidelberg | Deutschland
www.sintiundroma.de
Design und Layout:
Thekla Priebst | www.theklapriebst.de
Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche:
Dirk Gebhardt
©2018 Zentralrat Deutscher Sinti und Roma
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Dieses Dokument gibt nicht die Meinung der Europäischen
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Inhalt

    Vorwort . . ............................................................................................................................................................. 06
    Einleitung ......................................................................................................................................................... 08
    Zusammenfassung .. .............................................................................................................................. 09
    Abkürzungen . . .............................................................................................................................................. 10
    Empfehlungen ............................................................................................................................................               11

I   Institutionelle Rahmenbedingungen
    1. Belange der Sinti und Roma in der Legislative ...................................................................... 12
    2. Die Nationale Kontaktstelle .. .............................................................................................................. 12
    3. EU-Programme auf nationaler Ebene .......................................................................................... 13
    4. Die Städteebene............................................................................................................................................ 16
    5. Politische und zivilgesellschaftliche Teilhabe der Sinti und Roma . . ....................... 19
    6. Ethnische Datenerhebung .. .................................................................................................................. 22

II Gleichbehandlung
                                                                                                                                                                                   5
    1. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)
       und der Schutz von Sinti und Roma............................................................................................... 23
    2. Antidiskriminierungsarbeit in der Bekämpfung von Antiziganismus .. ............... 24
    3. Diskriminierung und Segregation von Roma-Kindern im Schulsystem . . ........... 26
    4. Die Einschränkung der Freizügigkeitsrechte ......................................................................... 28
    5. Diskriminierung beim Zugang zu Wohnraum ..................................................................... 30
    6. Abschiebungen von Roma-Asylbewerbern in die Balkanländer . . ............................. 31

III Antiziganismus
    2. Hasskriminalität ......................................................................................................................................... 33
    3. Hassrede online ........................................................................................................................................... 35
    4. Antiziganismus in den Medien ........................................................................................................ 38
    5. Antiziganismus in politischen Diskursen ................................................................................. 40
    6. Rechtsextremismus .................................................................................................................................. 44
    7. Antiziganismus in der Polizei ............................................................................................................ 46
    8. Antiziganismus im Fußball . . ............................................................................................................... 49
    9. Förderung antiziganistischer Filmproduktionen . . ............................................................... 50
    10. Bevölkerungseinstellungen gegenüber Sinti und Roma ............................................... 52

    Bibliographie................................................................................................................................................. 54
Vorwort

    Romani Rose
    Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma legt in                          humanisierung, als rassistische Gewalt, wie auch
    Zusammenarbeit mit dem Verein Sozialfabrik –                             als struktureller Rassismus in vielen Institutionen
    Forschung und Politikanalyse sowie mit dem Do-                           der europäischen Staaten. Der Zentralrat veröf-
    kumentations- und Kulturzentrum Deutscher                                fentlichte mit der ‚Allianz gegen Antiziganismus‘
    Sinti und Roma einen Monitoringbericht zur Um-                           ein Grundlagenpapier und eine Arbeitsdefinition
    setzung des „EU-Rahmens für nationale Strategien                         für Antiziganismus, um ein umfassenderes Ver-
    zur Integration der Roma“ in Deutschland vor.                            ständnis der Wirkungsmechanismen und notwen-
    In vielen Ländern Europas wurdenund werden oft-                          digen Gegenstrategien zu schaffen.2
    mals bis heute Sinti und Roma als ein sogenanntes                            Die Universität Leipzig veröffentlichte im No-
    soziales Problem behandelt und damit stigmati-                           vember 2018 die aktuellen Studienergebnisse zu
    siert, was Regierungen im Rahmen von sogenann-                           autoritären und rechtsextremen Einstellungen
    ten Armutsstrategien dann zu lösen versuchten.                           in Deutschland. Das Leipziger Forschungsteam
    Solche Ansätze ignorieren und leugnen oft den                            kommt zu dem Schluss, dass der massive Antizi-
    zugrunde liegenden Antiziganismus und tra-                               ganismus oft aus dem Blick gerät: 60 Prozent der
    gen gerade dazu bei den Kreis von Ausgrenzung                            Deutschen stimmen der Aussage zu, dass Sinti
    und Rassismus zu reproduzieren. Den Opfern des                           und Roma zur Kriminalität neigten. In den ost-
    strukturellen Rassismus wird selbst die Schuld an                        deutschen Bundesländern glauben dies sogar 70
    ihrer desolaten Lage zugeschrieben                                       Prozent der Bevölkerung. Neben asylsuchenden
6
         Der Antiziganismus, diese spezifische Form von                      Menschen ziehen Sinti und Roma die meisten Ag-
    Rassismus, verhindert eine gleichberechtige Teil-                        gressionen auf sich. Demnach hätten 56 Prozent
    habe von Sinti und Roma in nahezu allen gesell-                          der Befragten Probleme mit Sinti und Roma in ih-
    schaftlichen Bereichen. Wenn wir über die desolate                       rer Nachbarschaft und 49,2 Prozent wollen sie aus
    Wohnsituation oder die in weiten Teilen schlechte                        den Innenstädten verbannen. Antiziganismus, so
    Bildungssituation und die Segregation von Sinti                          halten die Leipziger Forschenden fest, ist in den
    und Roma in Schulen sprechen, dann müssen wir                            neuen Bundesländern verbreiteter als in den alten,
    diese vielfach dokumentierten Benachteiligungen                          wo der Sockel bereits sehr hoch ist. In den neuen
    als das begreifen, was sie sind: nämlich als mate-                       Bundesländern leben nur sehr wenige Sinti oder
    riell gewordenen Rassismus. Diese Ablehnung, die                         Roma; ähnlich wie es dort einen Antisemitismus
    zusammen mit dem seit Jahren anwachsenden ex-                            ohne Juden gibt, gibt es dort einen Antiziganismus
    tremen Nationalismus immer gewaltbereiter wird,                          ohne Sinti oder Roma.
    bedroht zunehmend die Minderheit in nahezu al-                               Es hat in Deutschland Jahrzehnte gedauert,
    len europäischen Ländern.                                                bis der Holocaust an 500.000 Sinti und Roma im
         Im Oktober 2017 wurde in einer wegweisenden                         NS-besetzten Europa durch die Bundesregierung
    Entschließung des Europäischen Parlaments1 zum                           im Jahr 1982 anerkannt wurde – als Ergebnis ei-
    ersten Mal umfassend der Antiziganismus als die                          ner jahrzehntelangen Bürgerrechtsarbeit der Sinti
    Ursache für Hass, Gewalt, Diskriminierung und                            und Roma. Mit der Unterzeichnung des Rahmen-
    gesellschaftliche Ausgrenzung benannt, von der                           übereinkommens des Europarates zum Schutz na-
    große Teile der Minderheit unmittelbar betroffen                         tionaler Minderheiten im Jahr 1995 wurden auch
    sind. Der Antiziganismus ist ebenso wie der Anti-                        die deutschen Sinti und Roma neben der dänischen
    semitismus seit Jahrhunderten in der europäischen                        Minderheit, den Friesen und den Sorben als natio-
    Geschichte tief verwurzelt. Er äußert sich als ras-                      nale Minderheit anerkannt. Dies war ein wichtiger
    sistisches Vorurteil in der Bevölkerung, als Ent-                        Erfolg der Bürgerrechtsarbeit des Zentralrats und
    1		 http://zentralrat.sintiundroma.de/europaeisches-parlament-erzielt-
                                                                             seiner Landesverbände, dem weitere positive Ent-
    		einen-wichtigen-fortschritt-um-die-grundrechte-von-sinti-und-
    		roma-zu-thematisieren/                                                 2		 http://zentralrat.sintiundroma.de/grundlagenpapier-antiziganismus/
wicklungen folgten. Schleswig-Holstein hat deut-     programme zum Erfolg führen.3 Der nun vorge-
sche Sinti und Roma als Minderheit in der Landes-    legte Bericht analysiert kritisch die politischen
verfassung benannt, und zahlreiche Bundesländer      Entwicklungen wie auch die Maßnahmen, wel-
haben Staatsverträge oder Rahmenvereinbarun-         che die Gleichbehandlung von Sinti und Roma in
gen mit den Landesverbänden Deutscher Sinti          Deutschland fördern sollen.
und Roma abgeschlossen. Im Jahr 2015 wurde der           Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma for-
beim Bundesministerium des Innern angesiedel-        dert die deutsche Bundesregierung auf sich dafür
te Beratende Ausschuss für Fragen der deutschen      einzusetzen, dass die Bekämpfung von Antiziga-
Sinti und Roma eingerichtet, welcher der Minder-     nismus ein fester Bestandteil sämtlicher EU Hand-
heit den Kontakt zu der Bundesregierung und dem      lungsstrategien wird und damit zum Kern einer eu-
Deutschen Bundestag sichert.                         ropäischen Rahmenstrategie für Roma nach 2020.
    Inzwischen gibt es positive Entwicklungen in     Deutschland soll eine tragende Kraft sein, auch ba-
der Bekämpfung von Antiziganismus. Am 27. März       sierend auf den eigenen Erfahrungen und der eige-
2019 berief die Bundesregierung die Mitglieder der   nen Geschichte, damit die Bekämpfung von Antizi-
im Koalitionsvertrag vereinbarten unabhängigen       ganismus europaweit zu einer Priorität wird.
Expertenkommission Antiziganismus ein, die vom           Die Entwicklung hin zu einem demokratischen
Zentralrat Deutscher Sinti und Roma seit mehre-      Europa, zu der Demokratie, in der wir heute leben,
ren Jahren gefordert wurde. Dieses Gremium soll      war und ist keine Selbstverständlichkeit. Der Anti-
                                                                                                                          7
die Ursachen, Erscheinungsformen und Konse-          ziganismus zielt genauso wie der Antisemitismus
quenzen des Antiziganismus in Deutschland un-        vordergründig auf die Angehörigen der Sinti und
tersuchen und dafür Gegenstrategien entwickeln.      Roma wie der Juden, tatsächlich aber bedeuten sie
Zudem begrüßt es der Zentralrat außerordentlich,     einen Angriff auf die Demokratie, auf den Rechts-
dass die Bundesregierung seit wenigen Jahren mit     staat und auf die Menschenrechte.
dem Programm „Demokratie leben“ auch jährlich            Die Bekämpfung des Antiziganismus ist nicht
mehrere Millionen Euro in die politische Bildung     zuerst die Aufgabe der Minderheit selbst. Es ist die
über Antiziganismus investiert.                      Aufgabe der Mehrheitsgesellschaft und ihrer Insti-
    Die aktuellen Evaluationen der europäischen      tutionen; es ist die Aufgabe der europäischen Insti-
Rahmenstrategie für Roma zeigen deutlich, dass       tutionen und der europäischen Staaten, denn Sinti
die Bekämpfung der Wirkungsmechanismen des           und Roma sind gleichberechtigte Bürgerinnen und
Antiziganismus eine zentrale Voraussetzung ist,      Bürger ihrer Heimatländer.
damit Inklusions- und Antidiskriminierungs-          3   https://ec.europa.eu/info/files/2018-communication-evaluation-
                                                         eu-framework-national-roma-integration-strategies-2020_en
Einleitung

    Dieser Monitoringbericht bietet sowohl einen         Gebhardt (Sozialfabrik) hat die Kapitel zu EU-Fun-
    Überblick über die Programme und Maßnahmen,          dingprogrammen und zu lokalen Programmen ge-
    die auf die Gleichbehandlung benachteiligter Sinti   schrieben; Mirja Leibnitz (Sozialfabrik) zur Freizü-
    und Roma abzielen, als auch über die Entwicklung     gigkeit und zur Diskriminierung im Schulsystem
    des Antiziganismus in Deutschland. Die Studie        und beim Wohnraum. Beiträge wurden ebenfalls
    schließt zusätzlich Empfehlungen zur Bekämp-         geleistet von Kostas Gkantinas (Sozialfabrik) zu
    fung von Antiziganismus und zur Verbesserung         Abschiebungen, von Anna Striethorst (Sozialfab-
    von Maßnahmen ein, die auf die Gleichbehand-         rik) zu Antiziganismus in Filmproduktionen und
    lung von Sinti und Roma abzielen. Der Bericht        von Joana Skowronek (Sozialfabrik) und Franzis-
    stützt sich auf Methoden der qualitativen Sozi-      ka Rocholl zu Hasskriminalität im Internet. Anja
    alforschung und basiert auf Literaturrecherchen      Reuss, Ruhan Karakul und Jara Kehl (Zentralrat)
    und Interviews mit beteiligten und betroffenen       sowie Markus End haben Teile des Berichts kom-
    Akteuren. Die ausgewertete Literatur umfasst Ge-     mentiert und redigiert.
    setzestexte, parlamentarische Anfragen aus dem
    Bundestag und den Landtagen, Berichte von Bun-       Dieser Bericht wurde als Teil des Pilotprojekts
    des- und Landesministerien und Stadtverwaltun-       Roma Civil Monitor - „Aufbau des Handlungsver-
    gen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und      mögens der Roma-Zivilgesellschaft und Stärkung
    Forschungszentren. Strukturierte und halbstruk-      ihrer Teilhabe im Monitoring der nationalen Stra-
    turierte Interviews wurden mit folgenden Akteu-      tegien zur Integration der Roma“ verfasst. Dieses
8   ren geführt: Regierungsbehörden auf Bundes- und      Pilotprojekt wird von der Generaldirektion Justiz
    Landesebene, Stadtverwaltungen, Vertretern von       und Verbraucher der Europäischen Kommission
    Organisationen der Sinti und Roma, zivilgesell-      umgesetzt. Es wird koordiniert durch die Central
    schaftlichen Organisationen sowie Wissenschaft-      European University (CEU) und das Centre for Po-
    lern. 22 Interviews wurden durchgeführt sowie 4      licy Studies (CPS), in Partnerschaft mit dem Eu-
    Anfragen wurden per Email geantwortet. Diese         ropean Roma Grassroots Organisations Network
    informierten insbesondere über die Wirksamkeit       (ERGO Network), dem European Roma Rights
    von Maßnahmen, die wesentlicher Gegenstand           Centre (ERRC), der Stiftung Fundación Secretari-
    des vorliegenden Monitoringberichts sind.            ado Gitano (FSG) und dem Roma Education Fund
        Dieser Bericht wurde von Sozialfabrik/For-       (REF). In dieses Monitoringprojekt sind 90 Nicht-
    schung und Politikanalyse e. V. in Zusammenar-       regierungsorganisationen (NROs) und Experten
    beit mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma     aus 27 Mitgliedsstaaten involviert.
    und dem Dokumentations- und Kulturzentrum
    Deutscher Sinti und Roma erstellt. Guillermo Ruiz    Dieser Bericht wurde für die Europäische Kom-
    Torres (Sozialfabrik), der herausgebende Koordi-     mission verfasst. Er spiegelt aber nur die Meinung
    nator, hat einen Großteil der Kapitel in Absprache   der Autoren wieder. Die Europäische Kommission
    mit Jonathan Mack (Zentralrat) verfasst. Letzte-     ist nicht verantwortlich für die Nutzung der in die-
    rer hat den gesamten Prozess eng begleitet. Dirk     sem Bericht enthaltenen Informationen.
Zusammenfassung

Die Maßnahmen, die auf die soziale Eingliede-        der Sinti und Roma hat um die Anerkennung als
rung benachteiligter Sinti und Roma und auf die      Minderheit gekämpft und den strukturellen Ras-
Bekämpfung von Antiziganismus abzielen, sind         sismus thematisiert. Der EU-Rahmen und De-
in den letzten zehn Jahren auf Bundes- und Län-      mokratieförderprogramme haben einen weiteren
derebene ausgebaut worden. Verschiedene Fak-         Impuls gesetzt.
toren haben diese Entwicklung gefördert. Die             Diese Maßnahmen wurden in einer Zeit ein-
Verabschiedung des EU-Rahmens für nationale          geleitet, in der ein Zuwachs von Antiziganismus
Strategien zur Integration der Roma hat die Bun-     beobachtet werden kann, der sich in politischen
des- und Landesregierungen sowie lokale Behör-       und medialen Diskursen widerspiegelt. So werden
den angeregt, Maßnahmen auszubauen. So haben         Roma, die als EU-Bürger aus Bulgarien und Ru-
beispielsweise die Kommunen ihre Programme           mänien und als Asylsuchende aus den Balkanlän-
umgestaltet, um den Anforderungen von sozi-          dern in die Bundesrepublik Deutschland gekom-
al benachteiligten, eingewanderten Bürgern aus       men sind und kommen, per se als Ausnutzer des
Bulgarien und Rumänien gerecht zu werden – EU-       deutschen Sozialsystems konstruiert. In der Folge
Bürgern der Roma-Minderheiten und der Mehr-          sind Sinti und Roma zunehmend Opfer von Hass-
heitsgesellschaft. Parallel hierzu hat die Bundes-   kriminalität; antiziganistische Narrative sind
regierung Programme zur Demokratieförderung          gängig im Internet sowie in medialen und politi-
ausgebaut, um rechtsextremen Tendenzen in der        schen Diskursen. Trotz der oben genannten posi-
Gesellschaft entgegenzuwirken. Ein Teil dieser       tiven Entwicklungen im Bereich politischer Maß-
Programme fokussierte auch auf das Empower-          nahmen haben sich die existierenden juristischen    9
ment von Sinti und Roma und die Bekämpfung           und politischen Instrumente zur Bekämpfung
von Antiziganismus. Die Bürgerrechtsbewegung         von Antiziganismus als unzureichend erwiesen.
Abkürzungen

     ADS        Antidiskriminierungsstelle des Bundes
     AfD        Alternative für Deutschland
     ALG I/II   Arbeitslosengeld I/II
     AG         Arbeitsgruppe
     AGG        Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz
     ASMK       Arbeits- und Sozialministerkonferenz
     ARIC       Antirassistisch-Interkulturelles Informationszentrum
     AsylbLG    Asylbewerberleistungsgesetz
     BAMF       Bundesanstalt für Migration und Flüchtlinge
     CDU        Christlich Demokratische Union
     CSU        Christlich-Soziale Union
     DGB        Deutscher Gewerkschaftsbund
     EC         Europäische Kommission (European Commission)
10
     EFRE       Europäischer Fonds für Regionale Entwicklung
                (European Regional Development Fond)
     EuGH       Europäischer Gerichtshof
     ESF        Europäischer Sozialfonds
     EU         Europäische Union
     EVZ        Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft
     EHAP       Europäischer Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten
                Personen (Fund for European Aid to the Most Deprived)
     FRA        Agentur der Europäischen Union für Grundrechte
                (Fundamental Rights Agency)
     KMK        Kultusministerkonferenz
     LADS       Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung Berlin
     NRO        Nicht-Regierungsorganisation
     NPD        Nationaldemokratische Partei Deutschlands
     SGB        Sozialgesetzbuch
     SPD        Sozialdemokratische Partei Deutschlands
     UN         Vereinten Nationen (United Nations)
     UNICEF     Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen
Empfehlungen

Expertenkommission zum                               Recht auf die Einreichung
Antiziganismus                                       von Verbandsklagen
Die Expertenkommission soll die vielfältigen Ur-     Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)
sachen, Erscheinungsformen und Auswirkungen          muss dahingehend geändert werden, dass die
von Antiziganismus in Politik und Gesellschaft       Möglichkeiten zur Einreichung von Verbandskla-
untersuchen, Strategien zur Bekämpfung des Anti-     gen ausgeweitet werden. Antidiskriminierungsver-
ziganismus entwickeln und entsprechende Hand-        bänden und -organisationen muss das Recht auf
lungsvorschläge und Empfehlungen an die po-          die Einreichung von Verbandsklagen im Namen
litischen Entscheidungsträger aussprechen. Die       der Opfer zugestanden werden.
Expertenkommission soll Studien in Auftrag ge-
ben, wodurch alle gesellschaftspolitischen Lebens-   Beteiligung von Sinti und Roma
bereiche abgedeckt werden, in denen Antiziganis-     in den Rundfunkräten und
mus zum Ausdruck kommt. Zudem fehlen bisher          Landesmedienanstalten
Studien zu Perspektiven und Erfahrungen der von
                                                     Vertreter von Sinti und Roma sollen in Rundfun-
Antiziganismus betroffenen Menschen, die in Zu-
                                                     kräte und Landesmedienanstalten berufen werden.
sammenarbeit mit Selbstorganisationen von Sinti
                                                     Die Berufung von Sinti und Roma in die Kontroll-
und Roma durchgeführt werden sollten.
                                                     gremien der privaten und öffentlich-rechtlichen
                                                     Medien stellt ausdrücklich eine gesellschaftspoliti-
Monitoring von Antiziganismus
                                                     sche und rechtliche Verpflichtung dar, die sich aus    11
Zahlreiche Berichte, journalistische Beiträge und    der Anerkennung der Sinti und Roma als autoch-
wissenschaftliche Studien belegen den strukturel-    thone nationale Minderheit in Deutschland ergibt.
len Antiziganismus und die Diskriminierung von       Dazu hat sich die Bundesrepublik Deutschland mit
Sinti und Roma. Dennoch fehlen Monitoring-In-        der Ratifizierung des Rahmenübereinkommens
strumente und -Strukturen sowie tiefgreifende        zum Schutz nationaler Minderheiten zur Einbezie-
Fallstudien, durch die das Ausmaß, die Vielschich-   hung der Sinti und Roma ins gesellschaftliche und
tigkeit und die Komplexität des Phänomens sicht-     politische Leben verpflichtet.
bar werden. Während die staatliche Statistik zur
„politisch motivierten Kriminalität“ seit Kurzem     Antiziganismus als Fokus in der
die antiziganistische Hasskriminalität dokumen-      Europäischen Agenda Post 2020
tiert, sollte die Bundesregierung eine unabhängi-
                                                     Die Rahmenstrategie der Europäischen Union zur
ge Stelle zum Monitoring des Antiziganismus in
                                                     Roma-Inklusion von 2011 setzte den Fokus auf die
allen Bereichen einrichten und finanzieren. Diese
                                                     soziale Komponente. Auf Nachdruck von Sinti- und
Stelle untersucht und dokumentiert kontinuierlich
                                                     Roma-Organisationen und NROs wurde im Eu-
alle antiziganistischen Vorfälle und Entwicklun-
                                                     ropäischen Parlament und von der Europäischen
gen und ermöglicht damit eine systematische Er-
                                                     Kommission erkannt, dass Antiziganismus einer
fassung und Aufarbeitung in allen Bereichen des
                                                     der wichtigsten Faktoren für die soziale Ausgren-
öffentlichen Lebens, selbst wenn diese strafrecht-
                                                     zung von benachteiligten Sinti und Roma darstellt.
lich nicht relevant sind.
                                                     Die Bundesregierung muss sich dafür einsetzen,
                                                     dass die Bekämpfung von Antiziganismus Priorität
                                                     in der Agenda Post 2020 zur Inklusion von Roma
                                                     wird. Deutschland soll eine tragende Kraft sein,
                                                     auch basierend auf den eigenen Erfahrungen und
                                                     der eigenen Geschichte, damit die Bekämpfung von
                                                     Antiziganismus europaweit zu einer Priorität wird.
I I nst i t u t i on e l l e R a h m e n b edin gun gen

I Institutionelle
  Rahmenbedingungen
             1. Belange der Sinti und Roma                                        Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma for-
             in der Legislative                                               dert vom Deutschen Bundestag seit Jahren die
                                                                              Einrichtung einer Expertenkommission zum An-
             Im Bundestag werden Themen, die Sinti und Roma
                                                                              tiziganismus, die ähnlich wie der Unabhängige
             als autochthone Minderheit betreffen, im Ge-
                                                                              Expertenkreis Antisemitismus einmal pro Legisla-
             sprächskreis nationale Minderheiten im Innenaus-
                                                                              turperiode einen Bericht und Empfehlungen zum
             schuss diskutiert, der mehrmals im Jahr tagt und an
                                                                              Thema Antiziganismus vorlegen soll. Die Exper-
             dem der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma teil-
                                                                              tenkommission soll die vielfältigen Ursachen, Er-
             nimmt. In anderen Ausschüssen wie im Ausschuss
                                                                              scheinungsformen und Auswirkungen von Antizi-
             für Menschenrechte und humanitäre Hilfe wer-
                                                                              ganismus in Politik und Gesellschaft untersuchen,
             den ebenfalls Angelegenheiten von Belang für den
                                                                              Strategien zur Bekämpfung des Antiziganismus
             Schutz von Menschenrechten von Sinti und Roma
                                                                              entwickeln und entsprechende Handlungsvor-
             im Inland wie auch im Ausland behandelt. Der Bun-
                                                                              schläge und Empfehlungen an die politischen Ent-
             destag befasst sich ebenfalls mit Angelegenheiten
                                                                              scheidungsträger aussprechen. Im Februar 2017
             der Sinti und Roma durch die parlamentarischen
                                                                              organisierten die Regierungsfraktionen ein inter-
             Anfragen der Fraktionen an die Bundesregierung.
                                                                              nes Fachgespräch zur Expertenkommission.
             In den letzten zwei Legislaturperioden sind mehrere
             parlamentarischen Anfragen zum Thema im Bun-
                                                                                          2. Die Nationale Kontaktstelle
             destag und Landtagen gestellt worden.1
                                                                                          Die Nationale Kontaktstelle Sinti und Roma ist im
12
             Ein weiteres Instrument zur Behandlung von An- Referat M II 4 des Bundesinnenministeriums (Na-
             gelegenheiten der Community sind die parla- tionale Minderheiten in Deutschland; europäische
             mentarischen Anhörungen, in denen spezifische Minderheitenpolitik) angesiedelt. Die Kontaktstel-
             Themen behandelt werden. Am 12.11.2014 fand le hatte in den letzten zwei Jahren einen intensi-
             beispielsweise eine Anhörung im Ausschuss für veren Kontakt mit zivilgesellschaftlichen Organi-
             Menschenrechte und humanitäre Hilfe im Bun- sationen. Entgegen der Kritik der Europäischen
             destag „Lage der Sinti und Roma in Deutschland Kommission, der Parteien Bündnis 90/Die Grü-
             und in der EU: Ausgrenzung und Teilhabe“ statt, nen und Die Linke sowie von zivilgesellschaftli-
             an der der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma chen Organisationen beharrt die Bundesregierung
             und die Romane Romnja Initiative teilnahmen.2                                auf ihrer Haltung, dass die Kontaktstelle keine
                    Im Bundesrat wird seit 1993 anlässlich des Jah- Zuständigkeit hat, Programme zu entwerfen oder
             restages von Himmlers „Auschwitz-Erlass“ vom 16. solche Program­me mit den Bundesländern oder
             Dezember 1942 jeweils in der letzten Plenarsitzung Kommunalverwaltungen abzustimmen. Die Bun-
             des Jahres des nationalsozialistischen Völkermor- desregierung begründet ihre Position im föderalen
             des an 500.000 Sinti und Roma mit einer offiziellen System Deutschlands und verweist darauf, dass
             Gedenkstunde im Bundesrat gedacht. Traditionell die Kontaktstelle nicht in die Politik zu Sinti und
             finden an diesem Tag Gespräche mit den Minis- Roma von Ländern, Städten und Gemeinden ein-
             terpräsidenten der Länder und Vorstandsmitglie- greifen darf (Deutscher Bundestag 2015).
             dern des Zentralrats statt, die es dem Zentralrat                                In einer Evaluierung der deutschen Maßnah-
             und seinen Landesverbänden ermöglichen, wichti- menpakete der Bundesregierung erklärte die Eu-
             ge politische Anliegen direkt in den Bundesrat ein- ropäische Kommission, dass die Koordinierungs-
             zubringen.                                                                   rolle der Kontaktstelle gestärkt werden sollte. Die
                                                                                          Kommission empfiehlt, dass Daten erhoben wer-
             1		 Siehe Liste der Kleinen Anfragen im Literaturverzeichnis.
             2		 Der Bundestag ist aber auch ein Ort, an dem antiziganistische Vorurteile
                                                                                          den sollten, damit die Wirkung der Mainstream-
             (re)produziert und weiter tradiert werden. Die Debatte um die Erklärung der
             Balkanländer als sogenannte sichere Drittstaaten steht beispielhaft dafür.
                                                                                          und zielgerichteten Maßnahmen, welche auf Sinti
             Bitte siehe in dieser Publikation das Kapitel zum Antiziganismus in politi-
             schen Diskursen.
                                                                                          und Roma als Gruppe abzielen, evaluiert werden
Inst i t ut i onelle Rahmenb e d in g un g e n I

kann. Die Kommission forderte ebenfalls eine stär- 3. EU-Programme auf nationaler Ebene
kere Zusammenarbeit mit Organisationen der Sin-
                                                     Die Bundesregierung betont auch in ihrem aktu-
ti- und Roma (Europäische Kommission 2014).
                                                     ellen Fortschrittsbericht zur Umsetzung des EU-
                                                     Rahmens im Jahr 2016 (Bundesministerium des In-
        DER FORTS CHRIT TSBERICHT ZUR                nern 2017) ihren Standpunkt, dass „keine speziellen
    UMSE T ZUNG DER M A S SN A HMENPA K E TE         Politiken für bestimmte Gruppen“ durchgeführt
Seit 2012 hat die Bundesregierung einen Fort-        werden  und Projekte grundsätzlich allen potenziel-
schrittsbericht veröffentlicht, in dem sie die Um- len Adressaten offen stünden. Angesichts dieses
setzung der Integrierten Maßnahmenpakete dar- „Mainstreaming“-Ansatzes von Sinti- und Roma-
legt. Der letzte Fortschrittsbericht beinhaltet eine Angelegenheiten innerhalb des EU-Rahmens geht
detailliertere Auflistung von Initiativen und Pro- die folgende Darstellung der Frage nach, inwieweit
jekten, die auf die Gleichbehandlung und sozi- Maßnahmen innerhalb der EU-Programme Euro-
ale Eingliederung von Sinti und Roma abzielen. päischer Sozialfonds (ESF), Europäischer Fonds für
Nichtsdestotrotz weist dieser Fortschrittsbericht Regionale Entwicklung (EFRE) und Europäischer
eine Fülle von Mängeln auf:                          Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten
                                                     Personen (EHAP) auch Sinti und Roma erreichen,
  •• Es werden Maßnahmen und Programme               bzw. ob und wie dies überprüft wird.
      dargestellt, zu denen jeder Bürger und/
      oder Migrant Zugang finden kann. Dabei             DER EUROPÄ IS CHE S OZI A L FONDS (ESF)
      wird nicht erörtert, ob Sinti und Roma                                                                                                 13
      an diesen Programmen und Maßnahmen             Die Verwaltungsstruktur des ESF in Deutschland
      teilgenommen haben bzw. ob und wie             in der aktuellen Förderperiode 2014–20 teilt die-
      diese für die Mitglieder der Community         sen auf Länder- (insgesamt 4,8 Milliarden Euro)
      wirklich zugänglich sind.                      und Bundesprogramme (2,7 Milliarden Euro) auf.
      Außerdem wird der Fokus nicht klar ein-        Der  Fortschrittsbericht der Bundesregierung stellt
      gegrenzt und es bleibt unklar, wieso diese     insbesondere solche Programme dar, die sich (wie
      Programme und Maßnahmen aufgelistet            BIWAQ,    „Jugend stärken im Quartier“ und die „In-
      werden und nicht andere.                       tegrationsrichtlinie Bund“) explizit an Zugewan-
                                                     derte oder Menschen mit Migrationshintergrund
  •• Es bestehen keine Information über die          wenden. Einige der in diesen Programmen geför-
      Auswirkung dieser Maßnahmen und                derten Projekte haben Roma (das Flüchtlingspro-
      Programme auf die Gleichbehandlung und         jekt „FairBleib“ in fünf niedersächsischen Kom-
      soziale Eingliederung benachteiligter Sinti    munen) bzw. Zugewanderte aus Südosteuropa
      und Roma bzw. auf Veränderung eines ge-        (Projekte in Dortmund, Duisburg, Mannheim und
      samtgesellschaftlichen Klimas, welches die     Tuttlingen) als explizite Zielgruppe.
      Teilhabe von Sinti und Roma verbessern             Innerhalb einer für diesen Bericht ausgewerteten
      würde. Keine Informationen werden außer-       Stichprobe von vier Bundesländern (Bayern, Berlin,
      dem über die Evaluation der aufgelisteten      Hamburg, Nordrhein-Westfalen [NRW]) ist Berlin
      Programme und Maßnahmen geliefert.             das einzige Land, das in seiner ESF-Programmstruk-
  •• Auch in diesem letzten Bericht der Bundes-      tur explizit die Zielgruppe „Roma“ aufgreift.3
      regierung ist kein neuer Ansatz zur Pla-       Auf Projektebene nennt ein Projekt in den vier Län-
      nung und Entwicklung von Maßnahmen             dern „Sinti und Roma“ als explizite Zielgruppe: das
     zu erkennen.
                                                     3		 Das von der Senatsstelle für Integration, Arbeit und Soziales betreute
                                                     ESF-Förderinstrument 19 lautet „Förderung der beruflichen Orientierung
                                                     und Qualifizierung von Migranten/innen sowie der sozialen Eingliederung
                                                     und Bekämpfung der Armut von Neuzuwanderern einschließlich Roma und
                                                     Flüchtlinge“.
I I nst i t u t i on e l l e R a h m e n b edin gun gen

            Hamburger Beratungsprojekt „Qualifizierung und                                            DER EUROPÄ IS CHE FONDS
            berufliche Einstiege für Roma und Sinti“ (Träger:                                   FÜR REGION A L E ENT WICK LUNG (EFRE)
            SBB GmbH und der Landesverein der Sinti in Ham-
                                                                                            Der Europäische Fonds für regionale Entwick-
            burg). Die Zielgruppe der Zugewanderten aus Bul-
                                                                                            lung (EFRE) sieht für Deutschland in der aktu-
            garien und Rumänien ist in NRW in sechs Projek-
                                                                                            ellen Förderperiode 2014–20 EU-Zuwendungen
            ten explizit genannt (Essen, Gelsenkirchen [je 2x],
                                                                                            in Höhe von 10.7 Milliarden vor. Der Fonds wird
            Hamm und Köln), in Hamburg und Baden-Würt-
                                                                                            ausschließlich von den Bundesländern vergeben.
            temberg je einmal. Gegenstand der Projekte sind
                                                                                            Die Operationellen Programme (OP) zielen vor al-
            Sprachkurse, Jugendarbeit, Verzahnung von Aus-
                                                                                            lem auf die Entwicklung von Wirtschaft und For-
            bildung und Beruf sowie Heranführung an den Ar-
                                                                                            schung sowie ökologische Nachhaltigkeit, haben
            beitsmarkt. In Bayern und Berlin gibt es keine Pro-
                                                                                            aber auch Relevanz für Themen der sozialen Inklu-
            jekte, die sich explizit auf diese Zielgruppe beziehen.
                                                                                            sion, insbesondere mittels der Förderung benach-
                 Diese Auswertung von Operationellen Pro-
                                                                                            teiligter Stadtquartiere und über den auf EU-Ebe-
            grammen (OP) und Förderdatenbanken kann al-
                                                                                            ne ausgewiesenen Maßnahmentyp der „Förderung
            lerdings nur begrenzte Informationen über den
                                                                                            der sozioökonomischen Integration benachteilig-
            tatsächlichen Zugang für Sinti und Roma zu ESF-
                                                                                            ter Gruppen, z. B. Roma“ (Interventionskategorie V:
            geförderten Eingliederungsmaßnahmen bieten.
                                                                                           „Promoting sustainable and quality employment
            Zwar wird durch den Teilnehmenden-Fragebogen
                                                                                            and supporting labour mobility“).
            für ESF-Maßnahmen die Zugehörigkeit zu einer
                                                                                                 In diesem Rahmen gehören Berlin und NRW
14         „anerkannten Minderheit“ (womit also deutsche
                                                                                            zu den Bundesländern, die der integrierten Stadt-
            Sinti und Roma gemeinsam mit Sorben, Friesen
                                                                                            entwicklung ein überdurchschnittliches Gewicht
            und Dänen gemeint sind) erfragt. Allerdings wird
                                                                                            einräumen, während die OPs in Hamburg und
            diese Frage nach Angaben der Agentur für Quer-
                                                                                            Bayern keine Maßnahmen in diesem Bereich vor-
            schnittsziele im ESF zu selten beantwortet, um ver-
                                                                                            sehen. Berlin setzt die Mittel des EFRE für inte-
            lässliche Daten gewinnen zu können.4
                                                                                            grierte Stadtentwicklung in den Programmgebie-
                 Innerhalb der Programmverwaltung ist die
                                                                                            ten der „Zukunftsinitiative Stadtteil“ (ZIS II) ein
            Agentur für Gleichstellung im ESF verantwort-
                                                                                            und führt damit seinen Ansatz integrierter Maß-
            lich für die Umsetzung der sogenannten „Quer-
                                                                                            nahmen in benachteiligten Quartieren fort, zu de-
            schnittsziele“ des ESF, zu denen auch die Nicht-
                                                                                            nen auch durch Migranten– inklusive Roma – aus
            diskriminierung gehört. Die Agentur hat aber aus
                                                                                            den neuen EU-Mitgliedsstaaten geprägte Gebiete
            den genannten Gründen keine Informationen über
                                                                                            gehören. Wie das Land Berlin im zweiten Umset-
            die Teilnahme von Sinti und Roma, auch wenn be-
                                                                                            zungsbericht seines Roma-Aktionsplans ausführt,
            kannt ist, dass im ESF-Programm IsA (Integrati-
                                                                                            werden EFRE-Mittel für eine Reihe von Projekten
            on statt Ausgrenzung) einige Projekte (auch) mit
                                                                                            zur Wohnintegration zugewanderter Roma auf
            Roma arbeiten.5
                                                                                            Stadtteilebene verwendet. Dabei handelt es sich
                 Der deutsche ESF-Begleitausschuss, dessen
                                                                                            um Beratung zu Rechten und Pflichten von Mie-
            Aufgabe die Kontrolle der Programmumsetzung
                                                                                            tern und zu unseriösen Vermietungspraktiken so-
            ist, hat neben öffentlichen Stellen einige Mitglie-
                                                                                            wie um Begleitprojekte für Neumietern (Der Senat
            der aus zivilgesellschaftlichen Organisationen
                                                                                            von Berlin 2017: 29ff).
            (z. B. Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohl-
            fahrtspflege), jedoch keinerlei Mitglieder mit ei-
            nem Profil im Bereich Minderheiten/Migration.

             4		 Antwort von Evelyn Zehe, Agentur für Querschnittsziele im ESF, auf eine
             per E-Mail gestellte Informationsanfrage am 11.12.2017.
             5		 Antwort von Evelyn Zehe, Agentur für Querschnittsziele im ESF, auf eine
             E-Mail-Anfrage vom 11.12.2017.
Inst i t ut i onelle Rahmenb e d in g un g e n I

        DER EUROPÄ IS CHE HIL FSFONDS FÜR                               Viele weitere Projekte zielen explizit oder implizit
      DIE A M STÄ RKSTEN BEN ACHTEIL IGTEN                              auf Zugewanderte aus Südosteuropa.
                       PERS ONEN (EH A P)                                    Anders als im ESF wird im EHAP-Programm-
                                                                        management das Querschnittsziel Nicht-Diskrimi-
Im neuen Europäischen Hilfsfonds für die am
                                                                        nierung in Form von Maßnahmen für den Zugang
stärksten benachteiligten Personen (EHAP) hat
                                                                        von Minderheiten wie Sinti und Roma zu den Pro-
Deutschland neben Schweden seine nationalen
                                                                        jekten berücksichtigt. Im Begleitausschuss ist die
Handlungsschwerpunkte (HS) explizit auf Zu-
                                                                        Hildegard Lagrenne Stiftung für Bildung, Inklusi-
gewanderte aus EU-Staaten ausgerichtet (Euro-
                                                                        on und Teilhabe von Sinti und Roma in Deutsch-
päische Kommission (2015):18). In Deutschland
                                                                        land als eines von 24 Mitgliedern (neben Vertre-
fördert das Programm die Vermittlung von Zuge-
                                                                        ter des Bundes, der Länder, der Kommunen und
wanderten aus EU-Staaten an Regeldienste (HS1)
                                                                        der Zivilgesellschaft) vertreten. Diese Beteiligung
und in das Bildungssystem (HS2), sowie die Un-
                                                                        bringt zum Ausdruck, dass benachteiligte Roma
terstützung von Menschen, die von Wohnungslo-
                                                                        zumindest implizit als eine Zielgruppe des Fonds
sigkeit bedroht sind (HS3)6. Das Programm richtet
                                                                        gesehen werden. Dies hat unter anderem dazu ge-
sich an zivilgesellschaftliche Organisationen, die
                                                                        führt, dass seit 2017 im Auftrag der das Programm
Projekte gemeinsam mit Kommunen einreichen.
                                                                        koordinierenden Stelle des Bundesministeriums
In Deutschland wurden in einer ersten Förderpha-
                                                                        für Arbeit und Soziales (BMAS) Antiziganismus-
se von 2016–18 rund 90 Projekte mit einem Ge-
                                                                        Trainings für Projektträger durchgeführt werden.
samtumfang von 61 Millionen Euro bewilligt. Das
                                                                        Im Jahr 2017 wurden sieben von zehn vorgesehe-                                         15
Gesamtbudget bis 2020 beläuft sich auf 92.8 Mil-
                                                                        nen Trainings durchgeführt. Der Stellenwert die-
lionen Euro, also ca. 10 % des ESF oder des EFRE.
                                                                        ses Angebots zeigt sich darin, dass 21 EHAP-Pro-
Berlin (13), Hamburg (4), Hannover und Frank-
                                                                        jekte, also knapp 25 %, ihr Interesse am Training
furt (jeweils 3) sowie Köln, Duisburg, Offenbach
                                                                        bekundet haben. Der mit der Durchführung be-
und Stuttgart (jeweils 2 Projekte) bilden die städ-
                                                                        auftragte Trainer berichtete außerdem, dass viele
tischen Schwerpunkte.
                                                                        Projektträger durch ihre Arbeit über Diskriminie-
    Im Vergleich zum ESF haben die Projekte ei-
                                                                        rungsfälle von Roma durch Behördenmitarbeiter
nen stärkeren Zuschnitt auf EU-Neuzugewanderte
                                                                        sensibilisiert wurden und einige auch einen Bedarf
in prekären Lebenslagen. Insgesamt dominiert in
                                                                        an der Beseitigung eigener Stereotype sehen.7 Die
den Projekten, wie in den Handlungsschwerpunk-
                                                                        Trainings werden außerdem unter Beteiligung ei-
ten vorgesehen, die „Brückenlogik“, d. h. das Ziel,
                                                                        nes Mitglieds einer Roma-Organisation (des Ber-
zu Regelangeboten zu vermitteln. Dies geschieht
                                                                        liner Landesrats der Roma und Sinti RomnoKher
zum Teil durch Beratungszentren und Cafés, zum
                                                                        Berlin-Brandenburg) evaluiert.
Teil durch aufsuchende Beratung und Streetwork.
                                                                             Wie im ESF wird die Partizipation von Sinti und
    Laut der EHAP-Projektdatenbank gibt es zwei
                                                                        Roma im EHAP im Rahmen des Programm-Moni-
Projekte mit explizitem Roma-Fokus: die „An-
                                                                        torings, das zahlreiche Merkmale zur demografi-
laufstelle für bedürftige europäische Roma und
                                                                        schen und sozialen Situation der an den Maßnah-
Nicht-Roma“ (Träger: Amaro Foro e. V. in Berlin)
                                                                        men Teilnehmenden erfasst, nicht ausgewertet.8
und die „Verweisberatung Hilfe und Perspekti-
                                                                            .
ve für Roma“ in Frankfurt (Träger: Förderverein
Roma e. V.). Beide Projekte befassen sich mit ei-
nem breiten Spektrum von Unterstützungs- und
Vermittlungsleistungen in Bereichen wie Melde-
                                                                        7 Interview mit Christoph Leucht, dem mit der Durchführung der
wesen, Wohnen, Gesundheit, Arbeit und Bildung.                          		 Antidiskriminierungstrainings mit EHAP-Trägern beauftragten
                                                                           Experten, am 9.12.2017.
                                                                        8 Antwort vom 5.12.2017 auf eine per E-Mail gestellte Anfrage an
6		 Siehe http://www.bmas.de/DE/Themen/Soziales-Europa-und-Internati-   		 Thomas Becker, Koordinator für die Umsetzung des EHAP beim
onales/Europaeische-Fonds/EHAP/ehap.html                                		 Bundesministerium für Arbeit und Soziales.
I I nst i t u t i on e l l e R a h m e n b edin gun gen

                                                    FA ZIT      dass mit der 2017 in Kraft getretenen Beschrän-
                                                                kung des Zugangs neu Zugewanderter zu Förder-
             Die drei untersuchten EU-Fonds sind in unter-
                                                                maßnahmen nach dem SGB II nun auch gesetzli-
             schiedlichem Maße dazu geeignet, Sinti und Roma
                                                                che Barrieren den Zugang zu Fördermaßnahmen
             in verschiedenen sozialen Problemlagen zu unter-
                                                                erschweren (siehe ausführlicher Abschnitt II.4 in
             stützen. In den beiden Strukturfonds (ESF und
                                                                diesem Bericht). Das bedeutet einen Ausschluss
             EFRE) variiert der potenzielle Beitrag der Fonds
                                                                vieler Maßnahmen, die wie Alphabetisierungs-
             zur Roma-Inklusion stark mit der Ausrichtung der
                                                                und Sprachkurse die Beschäftigungsoptionen von
             Bundesländer und führt beispielsweise in NRW zu
                                                                zugewanderten Roma erhöhen könnten.10
             einer stärkeren Ausrichtung auf spezifische Prob-
             lemlagen von (insbesondere zugewanderten) Roma.
                                                                4. Die Städteebene
             Im wesentlich kleineren Fonds EHAP liegt der
             Schwerpunkt insbesondere bei Zugewanderten in Das Kapitel zu „lokalen Maßnahmen“ im Fort-
             sehr prekären Lebenslagen. Darüber hinaus ist es schrittsbericht der Bundesregierung besteht aus
             aufgrund der sehr allgemeinen Ausrichtung un- einer Auflistung der Initiativen in verschiedenen
             möglich, Aussagen über die Partizipation von Sinti Städten, die über den Deutschen Städtetag abge-
             und Roma in diesen Programmen zu machen.           fragt werden, und einigen vom BAMF geförderten
                 Die Bundesregierung stellt in ihrem Fort- Projekten, die (auch) Roma zur Zielgruppe haben.
             schrittsbericht das Fehlen von Daten zum Zu- Diese eher lose Aufzählung spiegelt die aktuelle Si-
             gang von Sinti und Roma zu EU-Programmen in tuation einer nur geringen Politikkoordination des
16
             den Zusammenhang der aus historischen Grün- Bundes mit der lokalen Ebene in Fragen der Inklu-
             den und zum Schutz der Minderheiten nicht er- sion der benachteiligten Sinti und Roma wider.
             folgenden Erfassung der Ethnizität durch öffentli-     Ansätze von Politikkoordination gab es in den
             che Stellen. Angesichts vorliegender statistischer vergangenen Jahren vor allem im Bereich der Zu-
             Informationen über Vorurteile und Ablehnung wanderung aus Südosteuropa. Im Anschluss an
             gegenüber Sinti und Roma und einer Vielzahl be- das Papier des Städtetags von 2013 (Deutscher
             kannter Diskriminierungsfälle (Strauß 2013) (auch Städtetag 2013). und den Staatssekretärsausschuss
             durch Behördenmitarbeiter) ist dieses „blinde Ver- zu „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der
             trauen“ darauf, dass Sinti und Roma ebenfalls Zu- Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssys-
             gang zu den Projekten haben, als unzureichend zu teme durch Angehörige der EU-Mitgliedstaaten“
             bewerten. Angesichts der Diskriminierung dieser (Bundesministerium des Innern, Bundeministeri-
             Minderheit müsste der Minderheitenschutz eher um für Arbeit und Soziales 2015). waren Städte an
             umgekehrt als Argument für eine solidere Infor- der Politikdefinition zu dieser neuen Gruppe von
             mationsbasis dienen, beispielsweise in Form stich- Zugewanderten beteiligt. Neben der thematischen
             probenartiger und qualitativer Erhebungen oder Ausrichtung des EHAP-Fonds auf EU-Zuwanderer
             Gruppendiskussionen mit Trägern in Zusammen- bewirkte diese Koordination aber vor allem eine
             arbeit mit der Minderheit.                         Einschränkung des Zugangs der Zuwanderer zu
                 Im Rahmen von Interviews mit Trägern von Sozialleistungen. Zum 1.1.2017 wurde der Zugang
             Anlaufstellen für Bürger aus Rumänien und Bul- zu verschiedenen Sozialleistungen nach SBG II
             garien, von denen ein erheblicher Teil Roma sind, und XII für Ausländer in den ersten fünf Jahren
             wurde geäußert, dass Förderprogramme im ESF ihres Aufenthalts eingeschränkt (siehe Abschnitt
             oft auf besser Ausgebildete abzielten und ein Man- II.4 in diesem Bericht). Dies führte zwar vermut-
             gel an niedrigschwelligen Fördermaßnahmen be- lich zur Senkung kommunaler Ausgaben in eini-
             stehe.9 Für zugewanderte Roma kommt hinzu, gen Bereichen, erhöhte aber gleichzeitig drastisch
                                                                die Zahl von hilfsbedürftigen Personen, die voll-
             9		 Interviews mit dem Roma Förderverein Frankfurt
             		 und der Diakonie Dortmund                         10 Interview Joachim Brenner, Förderverein Roma Frankfurt
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ständig von Unterstützungsmaßnahmen ausge-               einige wenige kommunale Projekte zur Bekämp-
schlossen sind.                                          fung des Antiziganismus unterstützt (Berlin, Göt-
    In vielen Städten (z. B. Frankfurt, Hamburg          tingen, Saarbrücken).
und Dortmund) wird Menschen nun auch Nothil-                 Aufgrund der insgesamt nur schwachen Unter-
fe verweigert. Exemplarisch soll hier der Fall ru-       stützung von Bund und Ländern für lokale Politik
mänischer alleinstehender Frauen mit Kindern in          für Sinti und Roma variiert deren Zugang zu sozi-
Frankfurt am Main genannt werden, denen nach             alen und Menschenrechten auf lokaler Ebene sehr
der Räumung einer von ihnen bewohnten infor-             stark und ist abhängig von dem Engagement und
mellen Siedlung auf einer Industriebrache nur für        der Haushaltssituation der Kommunen. Nur weni-
einige Tage Nothilfe gewährt wurde (siehe Ab-            ge Kommunen und Stadtstaaten, in denen Sinti und
schnitt II.5 Wohnen).11 Dies veranschaulicht die         Roma leben, engagieren sich für die Belange der Min-
neue Praxis, Nothilfe vom Beschäftigungsstatus           derheit, und diese verfolgen dabei sehr unterschied-
abhängig zu machen. Ein weiteres Beispiel ist die        liche Ansätze. Im Folgenden werden zwei Städte mit
Praxis in Hamburg, das Freizügigkeitsrecht nun           besonders entwickelten Politikansätzen vorgestellt.
weitaus enger auszulegen und Menschen, die nach
drei Monaten keine Arbeit aufgenommen haben,                                             MÜNCHEN 1 2
sofort zur Ausreise aufzufordern.
    Die Stadt München stellt zu den Auswirkun-           Die Stadt München ist ein Beispiel für eine ver-
gen der neuen Bundespolitik fest, dass die Annah-        gleichsweise aktive und inklusive Politik gegenüber
me der Bundesregierung, eine Zugangsbeschrän-            deutschen Sinti und Roma und zugewanderten                                              17
kung für EU-Bürger zu Sozialleistungen führe zur         Roma, die sich weitgehend unabhängig von euro-
Arbeitsaufnahme oder zur Rückkehr, falsch sei            päischen und Bundesprogrammen entwickelt hat.
(Landeshauptstadt München 2017). und dass an-            Mit der Koordinationsstelle „Sinti, Roma, EU-Zu-
gesichts der andauernden Herausforderungen „sei-         gewanderte“ wurde eine Stelle innerhalb der Ver-
tens der Bundesregierung wenig Unterstützung“            waltung geschaffen, die nicht nur für die Koordi-
erfolgte (ebd.).                                         nation, sondern auch für die Sensibilisierung für
    Auch aus dem Bericht der Stadt Dortmund,             das Thema Antiziganismus und Ausgrenzung von
die der Städtetags-Arbeitsgruppe „Zuwanderung            Sinti und Roma zuständig ist.
aus Rumänien und Bulgarien“ vorsitzt, geht her-              Auch wenn die Angebote angesichts der sozia-
vor, dass weiterhin Koordinierungsbedarf mit dem         len Probleme sicher nicht ausreichend sind, zeich-
Bund zu Themen wie Krankenversicherung, Zu-              net sich die Münchner Politik durch ein breites
gang zu Förderstrukturen und öffentlich geförder-        Angebot von Maßnahmen der sozialen Inklusi-
ter Beschäftigung besteht (Stadt Dortmund (2017).        on aus, die auf deutsche Sinti und Roma oder auf
Allerdings wird in diesem Dokument nicht er-             Zugewanderte aus Südosteuropa in prekären Le-
wähnt, inwieweit nach den Änderungen des SGB II          benslagen zielen. Hierzu gehören Maßnahmen
und XII hier neue Probleme entstanden sind. Eine         der Schulmediation, der Berufsorientierung sowie
Einschätzung des Deutschen Städtetags in einem           eine Vielzahl von miteinander verzahnten Bera-
Interview konnte leider nicht gewonnen werden.           tungsdiensten für EU-Migranten (wie z. B. das Be-
    Im Hinblick auf deutsche Sinti und Roma              ratungscafé für Zugewanderte in prekären Lebens-
und die Bekämpfung des Antiziganismus hat das            situationen). Dabei ist bemerkenswert, dass viele
Bundesprogramm „Demokratie leben!“ (siehe Ab-            Maßnahmen (etwa die Schulmediation oder die
schnitt I.3) wohl die stärkste Bedeutung für lokale      Berufsorientierung) regelfinanziert sind und dass
Politik. Im Programm wurden bisher jedoch nur            der strukturelle Faktor Antiziganismus als integ-

11		 Artikel der „Hessenschau“ zur Räumung unter:        12		 Für dieses Fallbeispiel wurden Interviews mit der Stadtverwaltung
		http://www.hessenschau.de/gesellschaft/elends-lager-   		 und mit einem freien Träger geführt sowie Ratsberichte zum Thema
     in-frankfurt-abgerissen,raeumung-lager-100.html     		 Zuwanderung aus Südosteuropa ausgewertet.
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             raler Bestandteil der sozialen Arbeit berücksich-                     in Europa“ und eine zusätzliche aufsuchende Bera-
             tigt wird. Ein Beispiel hierfür ist das Berufsorien-                  tung, Kompetenzfeststellungsverfahren und Sprach-
             tierungsprojekt „Drom – Sinti und Roma“.                              kurse sowie Ausbildungsmaßnahmen. Dabei dient
                 München füllt mit diesen lokalen Maßnahmen                        ein 9-Schritte-Modell als Leitlinie für einen mangels
             Lücken eines Finanzierungs- und Politikvakuums                        Qualifikationen und Sprachkenntnissen oft relativ
             auf der Landes- und Bundesebene. So führt die                         langen Weg in eine geregelte Beschäftigung.
             Stadt beispielsweise ein ursprünglich vom BAMF                            Schließlich ist Dortmund auch in Erasmus+-
             finanziertes Pilotprojekt für sozialpädagogisch                       und ROMACT-Initiativen, auch in der transnationa-
             begleitete Sprach- und Integrationskurse für Zu-                      len Kooperation mit Akteuren in den Herkunftsre-
             gewanderte aus Bulgarien und Rumänien mit ei-                         gionen (insbesondere in Bulgarien), aktiv geworden.
             genen Mitteln fort, nachdem der Bund das Pro-                             Die beiden vorgestellten Städte stellen, gemein-
             gramm beendet hat. Außerdem reagierte die Stadt                       sam mit Berlin, innerhalb Deutschlands Ausnahmen
             auf den Ausschluss von EU-Zuwanderern von So-                         mit vergleichsweise umfangreichen lokalen Ansät-
             zialleistungen nach SGB II und XII ab dem 1.1.2017                    zen zur Inklusion zugewanderter Roma dar. Im Falle
             durch die Eröffnung einer Clearingstelle und einen                    Münchens sind diesen auch überwiegend an deut-
             neuen Notfallfonds für die Gesundheitsversor-                         sche Sinti und Roma gerichtete Maßnahmen zur
             gung prekär Beschäftigter.                                            Seite gestellt. Beide Städte zeigen dabei eine von den
                                                                                   meisten Großstädten vertretene Haltung, auf die ex-
                                             DORTMUND 1 3                          plizite Nennung der Zielgruppe „Roma“ im Falle der
18                                                                                 Zugewanderten weitgehend zu verzichten, um nicht
             Die Stadt Dortmund hat in den letzten Jahren eine                     eine Ethnisierung und eine zusätzliche Stigmatisie-
             intensive lokale Koordination der Integration von                     rung der Zugewanderten voranzutreiben.
             zugewanderten Bürgern aus Südosteuropa entwi-                             Entgegen dieser Politikausrichtung verfolgt
             ckelt. Der Ansatz wird im Sozialdezernat koordiniert                  Berlin einen zielgerichteten Ansatz. Seit 2014 im-
             und beinhaltet die Kooperation mit dem Jobcenter                      plementiert die Stadt den Aktionsplan zur Einbe-
             Dortmund und freien Projektträgern. Er hat einen                      ziehung ausländischer Roma. Der Plan besteht aus
             Schwerpunkt in der Arbeitsmarktintegration, um-                       einer Fülle von Maßnahmen in den Bereichen Bil-
             fasst aber auch andere sozialpolitische Bereiche wie                  dung, Gesundheit, Wohnraum, Antidiskriminie-
             Bildung, Gesundheit, Spracherwerb und Wohnen.                         rung und Community Building und hat ein Bud-
             Die Maßnahmen haben in der Regel keine ethnisch                       get von 1.8 Millionen Euro für 2018–2019. Berliner
             definierte Zielgruppe, auch wenn Mitarbeiter mit                      Organisationen der Sinti und Roma haben am Plan
             bulgarischen, rumänischen und Romanes-Sprach-                         die mangelnde Teilnahme an Entscheidungspro-
             kenntnissen eingesetzt werden. Als Überschneidun-                     zessen, die Verteilung von Ressourcen sowie die
             gen mit den Maßnahmen zur Integration neu zu-                         Ethnisierung von Interventionsfeldern wie in den
             gewanderter Flüchtlinge festgestellt wurden, wurde                    Bereichen Gesundheit und Bildung kritisiert.14
             auch diese Zielgruppe in eine erweiterte Gesamtstra-                      Neben diesen Städten gibt es andere, die wie
             tegie Neuzuwanderung einbezogen.                                      Duisburg das Thema Zuwanderung aus Südosteu-
                 Bemerkenswert am Dortmunder Ansatz ist,                           ropa vor allem ordnungsstaatlich behandeln,15 und
             dass es der Stadt gelungen ist, insbesondere EHAP                     eine große Mehrheit, die keine oder keine nennens-
             und umfangreiche ESF-Bundes- und Landesmittel                         werten Initiativen zur sozialen Inklusion der zuge-
             zu akquirieren und die so geschaffenen Angebote                       wanderten und deutschen Sinti und Roma sowie
             miteinander zu verzahnen. Zum Ansatz gehören                          zum Kampf gegen Antiziganismus entwickelt haben.
             die Anlaufstelle für Erstintegration „Willkommen
                                                                                   14 Interview mit Merdjan Jakupov, Amaro Foro.
             13 Für dieses Fallbeispiel wurden zwei Interviews mit Akteuren der    15		 Siehe den folgenden Zeitungsartikel zur Räumungspolitik gegenüber
             		 städtischen Koordination Zuwanderung aus Südosteuropa durch-       		 Zugewanderten in Duisburg: https://www.waz.de/staedte/duisburg/
             		 geführt und der „Sachstandsbericht Zuwanderung aus Südosteuropa"   		nord/weggeraeumt-das-leben-der-rumaenen-und-bulgaren-in-
                (April 2017) ausgewertet.                                               marxloh-id212974281.html
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5. Politische und zivilgesellschaftliche             der im Rahmen der Konferenz der Regierungsche-
Teilhabe der Sinti und Roma                          finnen und Regierungschefs der Länder in Berlin
                                                     einen Beschluss zum Ruherecht für Grabstätten
                             BUNDESEBENE             der unter der nationalsozialistischen Gewaltherr-
Das heutige Verhältnis zwischen Organisationen       schaft verfolgten Sinti und Roma gefasst. Die kon-
der Sinti und Roma und Institutionen der Bundes-     kreten Details der Regelung, die im Jahr 2018 in
und Landesregierungen ist vor allem das Ergebnis     Kraft treten soll, werden jetzt im Rahmen einer
politischer Kämpfe seitens der Selbstorganisatio-    Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter der Federfüh-
nen der Minderheit, die mit der Bürgerbewegung       rung des Bundesministeriums für Familie, Senio-
der Holocaust-Überlebenden und ihrer Angehöri-       ren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und unter Be-
gen ab den 1970er Jahren vorangetrieben wurden.      teiligung der Kommunalen Spitzenverbände, der
Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma ist der      Kirchen und des Zentralrats ausgearbeitet.17
wichtigste Ansprechpartner auf Bundesebene und            Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma enga-
befindet sich im stetigen Austausch mit Bundes-      giert sich mit Nachdruck für die Erfüllung von zwei
ministerien und anderen Institutionen des Bun-       für die Minderheit höchst relevanten Forderungen
des. Als wichtigstes Konsultationsgremium der        an die Politik: erstens die Einrichtung einer ständi-
Bundesregierung wurde 2015 der Beratende Aus-        gen Arbeitsgruppe bei der Kultusministerkonferenz,
schuss für Fragen der deutschen Sinti und Roma       bei der das Thema Sinti und Roma, bzw. nationale
beim Bundesministerium des Innern eingerich-         Minderheiten in Deutschland, ein fester Bestandteil
tet, an dem der Zentralrat sowie die Sinti Allianz   ist und in welche die entsprechenden Minderheiten-                                     19
Deutschland teilnehmen. Er soll den Austausch        organisationen einbezogen werden. Eine Aufgabe
mit der Bundesregierung, dem Deutschen Bundes-       dieser Arbeitsgruppe wäre der Entwurf, das Moni-
tag und den Landesregierungen über Angelegen-        toring und die Evaluierung von Bildungsstandards
heiten und Belange der Minderheit verbessern.16      in Bezug auf die Geschichte und Kultur der Sinti
Der Zentralrat nimmt ebenfalls am Gesprächs-         und Roma. Die zweite Forderung ist die Beteiligung
kreis nationale Minderheiten im Innenausschuss       von Sinti und Roma in Rundfunkräten und Landes-
des Bundestages teil, der mehrmals im Jahr tagt.     medienanstalten (siehe Empfehlungen).18
     Der Zentralrat nimmt auch an den Bund-Län-
der-Konferenzen mit Vertretern der Dachorgani-                                   L A NDESEBENE
sationen der nationalen Minderheiten und Vertre-
                                                     Die offizielle Anerkennung der deutschen Sinti und
tern von Bund und Ländern zur Umsetzung des
                                                     Roma als nationale Minderheit erfolgte durch die
Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler
                                                     Bundesrepublik Deutschland mit der Unterzeich-
Minderheiten und der Europäischen Charta der
                                                     nung des Rahmenübereinkommens zum Schutz na-
Regional- oder Minderheitensprachen des Europa-
                                                     tionaler Minderheiten des Europarates am 11. Mai
rats teil. Der Zentralrat ist außerdem Mitglied im
                                                     1995 und war ein wichtiger Erfolg der Bürgerrechts-
Beirat der Antidiskriminierungsstelle des Bundes
                                                     arbeit des Zentralrats und seiner Landesverbände.
(ADS). Die Hildegard Lagrenne Stiftung ist im Be-
                                                     Der Zentralrat setzt sich seitdem für den Abschluss
gleitausschuss des EHAP vertreten.
                                                     von verbindlichen vertraglichen Vereinbarungen
     Eines der wichtigsten Anliegen des Zentralra-
                                                     zwischen den jeweiligen Landesregierungen und
tes Deutscher Sinti und Roma ist der dauerhafte
                                                     den Institutionen bzw. Selbstorganisationen der
Erhalt der Gräber von im Nationalsozialismus ver-
                                                     deutschen Sinti und Roma ein, in denen die kon-
folgten Sinti und Roma auf Dauer als Familienge-
                                                     kreten Umsetzungsverpflichtungen der Länder aus
dächtnisstätten.
    Am 8. Dezember 2016 haben Bund und Län-          17 Mehr Information dazu ist auf der Website des Zentralrates zu finden:
                                                     		http://zentralrat.sintiundroma.de/arbeitsbereiche/minderheitenrechte/
                                                     18 Siehe hier die Forderung des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma:
16 Interview mit der Kontaktstelle                   		http://zentralrat.sintiundroma.de/arbeitsbereiche/minderheitenrechte/
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