AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Medizin und Ethik in der Pandemie - Bundeszentrale für ...

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71. Jahrgang, 24–25/2021, 14. Juni 2021

     AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
  Medizin und Ethik
   in der Pandemie
         Peter Dabrock                           Harriet A. Washington
  „NOT KENNT KEIN GEBOT“?                        RASSISMUS
 ETHISCHE PERSPEKTIVEN DER                 IM GESUNDHEITSSYSTEM
   PANDEMIE-BEKÄMPFUNG                    DER VEREINIGTEN STAATEN
         Philipp Osten                                Mira Chang
      ETHIK DES IMPFENS.                         ETHIK UND
    IMPFENTSCHEIDUNGEN,                   RECHTSRAHMEN GLOBALER
  ETHISCHE KONFLIKTE UND                   ARZNEIMITTELVERSUCHE
 HISTORISCHE HINTERGRÜNDE
                                           Annette Riedel · Sonja Lehmeyer
    Daniela Angetter-Pfeiffer                      ETHISCHE
    LEBEN ODER STERBEN?                      HERAUSFORDERUNGEN
 TRIAGE IM WANDEL DER ZEIT                   FÜR DIE PFLEGE IN DER
                                              COVID-19-PANDEMIE

                   ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                        FÜR POLITISCHE BILDUNG
               Beilage zur Wochenzeitung
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Medizin und Ethik in der Pandemie
                       APuZ 24–25/2021
PETER DABROCK                                      HARRIET A. WASHINGTON
„NOT KENNT KEIN GEBOT“? ETHISCHE                   RASSISMUS IM GESUNDHEITSSYSTEM
PERSPEKTIVEN DER PANDEMIE-BEKÄMPFUNG               DER VEREINIGTEN STAATEN
Die Gesellschaft steht in der Corona-Pandemie      Immer wieder wird behauptet, Afroamerikane-
im Spannungsfeld zwischen individuellen            rinnen und -amerikaner weigerten sich aufgrund
Freiheitsrechten und kollektivem Gesundheits-      der berüchtigten Tuskegee-Studie, an klinischer
schutz. Aufgabe der Ethik ist es, den Diskurs zu   Forschung teilzunehmen. Dieses Argument
begleiten, indem sie Pluralität fördert, Nach-     verkennt jedoch die strukturellen Defizite des US-
denklichkeit erzeugt und Orientierung bietet.      Gesundheitssystems und macht aus Opfern Täter.
Seite 04–10                                        Seite 27–33

PHILIPP OSTEN                                      MIRA CHANG
ETHIK DES IMPFENS. IMPFENTSCHEIDUNGEN,             ETHIK UND RECHTSRAHMEN GLOBALER
ETHISCHE KONFLIKTE UND HISTORISCHE                 ARZNEIMITTELVERSUCHE
HINTERGRÜNDE                                       Im ethisch umstrittenen Feld der Arzneimit-
Die Covid-19-Impfung weckt große Hoff-             telversuche zeigt sich die Abhängigkeit des
nungen. Zugleich ist sie Gegenstand scharfer       Globalen Südens besonders deutlich. Ein ver-
Debatten. Während für die Verteilung der ersten    bindlicher globaler Rechtsrahmen zum Schutz
Dosen ein Konsens auf wissenschaftlicher und       von Versuchspersonen sollte sich maßgeblich am
politischer Basis gefunden wurde, führt die        Menschenrechtsparadigma orientieren.
Diskussion über eine Impfpflicht in die Irre.      Seite 34–39
Seite 12–19
                                                   ANNETTE RIEDEL · SONJA LEHMEYER
DANIELA ANGETTER-PFEIFFER                          ETHISCHE HERAUSFORDERUNGEN FÜR
LEBEN ODER STERBEN?                                DIE PFLEGE IN DER COVID-19-PANDEMIE
TRIAGE IM WANDEL DER ZEIT                          In der Pandemie ist das Pflegepersonal nicht
Entsteht in einer medizinischen Notlage ein        nur psychischen und physischen, sondern auch
Missverhältnis zwischen Behandlungsbedarf und      erheblichen moralischen Belastungen ausgesetzt.
-kapazitäten, müssen Ärzt:innen entscheiden,       Professionelle und ethische Reflexion hilft,
wem zuerst geholfen wird. Damit es dabei           moralischem Stress vorzubeugen. Das käme
möglichst gerecht zugeht, wurden unterschiedli-    letztlich auch den Patient*innen zugute.
che Systeme der Triagierung entwickelt.            Seite 40–45
Seite 20–26
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EDITORIAL
Wer bekommt ein Intensivbett und wird an ein Beatmungsgerät angeschlossen,
wenn es nicht genügend Plätze gibt? Ist ein junges Leben mehr wert als ein
altes? Wie kann der moralische Stress eines Pflegers gemindert werden, der eine
schwerkranke Patientin isolieren muss, sodass sie sich nicht von ihren Ange-
hörigen verabschieden kann? Wie lassen sich Impfstoffe entwickeln, ohne die
Probanden als Mittel zum Zweck zu behandeln? Wie wird über Impfpriorisie-
rungen entschieden? Sollen Individuen, um eine sogenannte Herdenimmunität
zu erreichen, dazu verpflichtet werden, sich impfen zu lassen? Ist die zeitweise
Aufhebung von Patenten auf Impfstoffe geboten, um Entwicklungsländer bei
der Eindämmung der Krankheit zu unterstützen?
   Die Corona-Pandemie spitzt nicht nur virologische und epidemiologische
Fragen zu, sondern auch moralische. Ethik, als die Wissenschaft von der Moral,
spielt eine entscheidende Rolle in deren Diskussion. Das zeigt etwa die enorme
Aufmerksamkeit, die Gremien wie dem Deutschen Ethikrat in der Pandemie
zuteilwird – ebenso wie deren gestiegener Einfluss auf die Gesundheitspolitik
der Bundesregierung. Im Kern geht es in der Pandemie darum, Freiheitsrechte
und Bevölkerungsschutz abzuwägen, Eigenverantwortung und staatliche Maß-
nahmen auszutarieren sowie rationales Denken und individuelle Autonomie zu
verbinden. Hinzu kommen Fragen der Verteilungsgerechtigkeit – sowohl inner-
halb Deutschlands als auch im globalen Maßstab.
   Zwar kann Ethik in der Pandemie keine eindeutigen Antworten geben. Aber
sie kann helfen, Missstände in Forschung und Pflege zu identifizieren, Leitlinien
zu formulieren – für den Fall einer Triage-Situation oder für die Impfstoffver-
teilung – und mit guten Gründen gerechtfertigte medizinische Behandlungs-
methoden zu entwickeln. Ob bei künftigen Pandemien ähnliche Diskussionen
geführt werden, bleibt abzuwarten. Denn nicht zuletzt können sich moralische
Einstellungen und ethische Abwägungen im Laufe der Zeit wandeln.

                                                      Robin Siebert

                                                                               03
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APuZ 24–25/2021

                                                ESSAY

                  „NOT KENNT KEIN GEBOT“?
           Ethische Perspektiven der Pandemie-Bekämpfung
                                          Peter Dabrock

„Not kennt kein Gebot“, sagt ein Sprichwort.               ZWISCHEN LEBEN UND FREIHEIT
Hielten wir uns in dieser nun bereits über ein
Jahr andauernden Pandemie an dieses Wort, wür-       Der Stresstest der Pandemie besteht darin, diese
den wir in Anarchie versinken. Offensichtlich –      ethischen Orientierungsmuster in ein für mög-
das zeigen Länge und Ausmaß dieser beispiello-       lichst alle angemessenes Verhältnis zu setzen. So
sen Krise – zwingen uns bestimmte Lagen, unser       stellte der Deutsche Ethikrat bereits zu Beginn
Erfahrungswissen ständig zu korrigieren. Das-        der Pandemie fest, dass sich nahezu alle ethisch
selbe gilt für Verhaltensstandards. Sie mögen in     relevanten Spannungen und Konflikte der Coro-
akuter Not außer Kraft gesetzt werden; dauert        na-Krise unter die schwer zu findende Balance
jedoch die Not länger an, dann verlangt sie auf      zwischen Lebens- und Gesundheitsschutz, Frei-
höherer Ebene Anpassungen. Das bedeutet: Eine        heits- und Selbstbestimmungsrechten sowie der
Lage wie die Pandemie (von „Situation“ sollte        Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Lebens
man angesichts ihrer Zeitzerdehnung nicht mehr       drehen.03 Dabei sind es allerdings zahlreiche De-
sprechen) lässt nicht nur die Tragfähigkeit ge-      tailprobleme, die mit der Dauer der Pandemie
sellschaftlicher, politischer und moralischer Ein-   zunehmen und angesichts sich deshalb auch ver-
stellungsmuster wie unter einem Brennglas er-        dichtender Komplexität politische Entscheidun-
scheinen: Wer unterstützt wen und verzichtet auf     gen und Steuerung zunehmend erschweren.
eigene Vorteile? Umgekehrt: Wer pocht auf seine          Erwähnt seien ohne Anspruch auf Vollstän-
etablierten Rechte?                                  digkeit: Welche freiheitseinschränkenden Maß-
    Die Pandemie setzt auch die ethischen Grund-     nahmen lassen sich unter Maßgabe des ethi-
orientierungen, die solche Einstellungsmuster auf    schen und verfassungsrechtlichen Grundsatzes
einer höheren Ebene kritisch hinterfragen, selbst    der Verhältnismäßigkeit rechtfertigen, um indi-
einem Stresstest aus.01 Einstellungsmuster, die      viduellen und bevölkerungsbezogenen Gesund-
menschliches Handeln und Entscheiden danach          heits- und Lebensschutz zu rechtfertigen? Welche
bewerten, ob sie jemandem oder einer Grup-           Risikoschwellen akzeptieren „wir“ (wer immer
pe rechtens oder gut, nicht rechtens oder falsch     das Recht hat, dieses Pronomen legitimer- oder
erscheinen, kann man Moral nennen. Ethik, die        öffentlichkeitswirksamerweise für sich zu bean-
nicht mit Moral gleichgesetzt werden sollte, ist     spruchen) im Verhältnis zum allgemeinen Le-
dagegen die kritische Reflexion über Moral. Zu       bensrisiko, ohne deshalb (dauerhaft) Freiheitsein-
deren Beurteilung greift sie auf bestimmte for-      schränkungen akzeptieren zu müssen? Wie viel
male Kriterien zurück, wie etwa Widerspruchs-        Freiheit auch zur Selbstgefährdung muss erlaubt
freiheit, sachliche Angemessenheit und vor allem     sein, ohne deshalb (nie auszuschließende) Fremd-
die Fähigkeit der Verallgemeinerung einer mora-      gefährdungen überhand nehmen zu lassen? Gibt
lischen Maxime.02 Doch auch materielle Kriterien     es bei Therapien und Vorsorgemaßnahmen legiti-
sind wichtig: primär etwa die Achtung der Men-       me Kriterien für Vorzugs- oder Nachrangigkeits-
schenwürde und daraus unmittelbar abgeleitet         behandlungen, die – beispielsweise bei einer ver-
der Respekt vor der Selbstbestimmung, aber auch      späteten Impfung – tödliche Konsequenzen nach
Gesundheits- und Lebensschutz, Gerechtigkeit,        sich ziehen können? War es richtig, die Impfprio-
Solidarität, Nutzen und Gemeinwohl – um nur          risierung maßgeblich am Risiko der Erkrankung
die wichtigsten ethischen Kriterien in der Pande-    und deren Bekämpfung, aber viel weniger an ar-
miebekämpfung zu nennen.                             beits- oder ausbildungsbedingter Exposition und

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Medizin und Ethik in der Pandemie APuZ

mangelnden Möglichkeiten, diese zu verhindern,                      che Gewalt sprunghaft steigen lässt), im Bereich
auszurichten? Soll das in der Gesundheitsversor-                    von Sport, Religion und Kultur (wenn Millionen
gung normalerweise leitende Kriterium der medi-                     von Kulturschaffenden ihre Lebensgrundlage ver-
zinischen Notwendigkeit als Dringlichkeit oder                      lieren oder wenn weiten Teilen der Bevölkerung
als Erfolgsaussicht interpretiert werden? Welche                    die Möglichkeit genommen wird, Sport, Religion
Folgen hätte das eine wie das andere im Falle mög-                  und Kultur als ein Element der eigenen Persön-
licher Triage, also der Auswahl von Patient:innen                   lichkeit mit anderen genießend leben zu dürfen)?
bei zu knappen Intensivbetten, für besonders vul-                   Welche Schäden sind im Bereich zivilgesellschaft-
nerable Menschen, aber auch für das Zusammen-                       lich-politischer Gesellschaftsgestaltung in Kauf zu
leben der Gesellschaft? Welche Kollateralschäden                    nehmen (wenn drängende Fragen etwa zur Kli-
der Pandemiebekämpfung werden hingenommen                           makrise mehr und mehr in den Hintergrund gera-
im Bereich menschlicher Beziehungen (wenn bei-                      ten und so den nachrückenden Generationen Le-
spielsweise pflegebedürftige, demente oder gar                      bensführungsmöglichkeiten genommen werden
sterbende Personen in Pflegeeinrichtungen zum                       oder wenn sich angesichts der „Hartnäckigkeit“
Schutz der anderen Bewohner:innen nicht be-                         der Pandemie, aber auch angesichts erkennbarer
sucht werden dürfen)?123 Welche Schäden sind hin-                   Governance-Defizite die gesamtgesellschaftliche
nehmbar im Bereich der Gesundheit (wenn an                          Stimmungslage signifikant verschlechtert und dies
sich notwendige Therapien verschoben, vernach-                      das Vertrauen gegenüber den staatlichen Institu-
lässigt oder unterlassen werden), bei der Bildung                   tionen und gegenüber breit akzeptierten „Wahr-
(wenn auch nach über einem Jahr keine nachhalti-                    heitsagenturen“ wie vor allem Wissenschaft und
gen Konzepte angesichts des gerade in sogenann-                     Qualitätsmedien erodiert)? Was und wer erhält
ten bildungsfernen Milieus drohenden Bildungs-                      nicht nur kurzfristig und mit warmen Worten,
und Betreuungsnotstands vorliegen), im Bereich                      sondern in spürbarer sozialer und finanzieller An-
der Sozialfürsorge (wenn deren Ausfall häusli-                      erkennung die Nobilitierung „Systemrelevanz“,
                                                                    und was bringt eine Gesellschaft mit dieser Zu-
01 Angesichts der Flut an ethisch relevanten Veröffentlichun-       schreibung zwischen strategischem Selbstinteres-
gen zur Corona-Pandemie ist es schwierig, einen Überblick zu        se, Absolutionssehnsucht für bisherige Missach-
gewinnen. Die folgenden Hinweise sind notwendig selektiv,           tung und ernsthaftem Transformationswillen zum
sollen aber auf grundlegende und weiterführende Literatur
                                                                    Ausdruck?
aufmerksam machen: Nikil Mukerji/Adriano Mannino, Covid-19:
Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit, Stuttgart
2020; Bernd Kortmann/Günther G. Schulze (Hrsg.), Jenseits von             KONKRETE ETHIK JENSEITS
Corona. Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der             VON PROTEST UND LEGITIMATION
Wissenschaft, Bielefeld 2020; Geert Kein/Romy Jaster (Hrsg.),
Nachdenken über Corona. Philosophische Essays über die Pan-
                                                                    „Wir“, das heißt die bundesrepublikanische
demie und ihre Folgen, Stuttgart 2021. Viele Zeitschriften haben
Sonderhefte veröffentlicht, so u. a. Philosophische Rundschau
                                                                    Gesellschaft, haben uns angesichts einer jahr-
2/2020, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1/2021, Zeitschrift    zehntelangen Geschichte von weitgehender
für Praktische Philosophie 2/2020, Leviathan 1/2021, Zeitschrift    wirtschaftlicher Stabilität ohne derartige bevölke-
für medizinische Ethik 2/2021. Unter www.theologie-​und-​kir-       rungsmedizinisch tiefe Einschnitte wie die gegen-
che.de/coronavirus-​pandemie.html finden sich nicht nur Links
                                                                    wärtigen angewöhnt, auf das mit dem Balanceakt
zu theologischen Statements, sondern zu solchen vieler anderer
wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Perspektiven. Für den
                                                                    von Gesundheitsschutz und Freiheitsermögli-
für konkrete Ethik immer wichtigen Blick auf das Verfassungs-       chung daherkommende Herausforderungsbün-
recht lohnt ein beständiger Blick auf www.verfassungsblog.de.       del mit der Faustformel zu antworten: So viel
02 Ohne hier auf die ethischen Spezialdebatten eingehen zu          Freiheit wie möglich, so wenig Zwang wie nötig.
können, ob und wie Verallgemeinerung moralischer Positionen
                                                                        Die auftretenden Spannungsverhältnisse nicht
gelingt, seien in lockerer Anlehnung an Kants Kategorischen Im-
perativ zumindest zwei Kontrollfragen erwähnt: Kann eine mo-
                                                                    nur intuitiv, sondern auf Grundlage umfassen-
ralische Position in einer vergleichbaren Situation von möglichst   der Reflexion zu bearbeiten und angemessen ins
allen möglichen Akteuren als begründet angenommen werden?           Verhältnis zu setzen, ist Aufgabe guter Politik.
Wird jemand durch eine entsprechende Position oder Entschei-        Und diese Aufgabe ist in der sich wechselseitig
dung als pures Mittel zum Zweck missbraucht und damit in seiner
                                                                    he­raus­for­dernden Spannung zwischen a) auf un-
Würde missachtet? Weitere Hinweise und Literatur unter www.
spektrum.de/lexikon/philosophie/verallgemeinerung/2127.
                                                                    terschiedlichen Ebenen (von der kommunalen bis
03 Vgl. Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung in        zur europäischen) Entscheidungen treffender De-
der Corona-Krise. Ad-hoc-Empfehlung, Berlin 2020.                   mokratie, b) rechtsstaatlichen Einhegungen und

                                                                                                                       05
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c) zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeiten, die für            Herausforderungen wie der Corona-Pandemie
den demokratischen Rechts- und Sozialstaat den                  zu begegnen. Vielmehr ist die Anerkennung un-
nötigen wie förderlichen Resonanzraum bilden.                   terschiedlicher Positionen auch (bis zu einem ge-
Eine Ethik der Pandemiebekämpfung hat diesen                    wissen Grade) normativ geboten, wenn sich die
Versuch von good governance kritisch, aber auch                 Partizipation an öffentlichen Debatten und poli-
konstruktiv zu begleiten, wenn sie nicht in purer               tischen Entscheidungen aus Menschenwürde und
Protestkommunikation oder in reiner Legitimati-                 Menschenrechten ableitet. Damit deutet sich aber
onsbeschaffung, neuerdings „ethics washing“ ge-                 bereits die Grenze der Berücksichtigung unter-
nannt, aufgehen will.                                           schiedlicher Positionen an. Die ist nämlich dann
    Die Ethik der Pandemiebekämpfung kann                       gegeben, wenn Vorschläge für politische Strate-
sich dann nicht – wie in weiten Teilen der ana-                 gien und öffentliches Handeln die verfassungs-
lytischen Philosophie – damit begnügen, allein                  rechtlichen Grundlagen der hiesigen Rechts- und
die innere Konsistenz von Begriffsbildungen                     Gesellschaftsordnung angreifen. In der teils hef-
oder vermeintliche Kohärenz von Argumenta-                      tigen zivilgesellschaftlichen Pandemiediskussion
tionsgängen zu überprüfen. Sie muss, im Sinne                   sind solche Grenzverletzungen erkennbar, wenn
einer konkreten Ethik,04 zum einen zwar solch                   nach etabliertem Wissensstand gesundheitsschüt-
distanzgewinnende Rückfragen stellen, zum an-                   zende Auflagen missachtet und dadurch ande-
deren aber auch unter Einbeziehung anderer wis-                 re (zum Beispiel Demonstrationen begleiten-
senschaftlicher und kultureller Wissensbestände                 de Polizist:innen) gefährdet werden oder wenn
sowie kritischer Selbstreflexion einen Korridor                 im Zuge von Protestveranstaltungen demokra-
verantwortlicher Handlungsperspektiven eröff-                   tiefeindliche oder andere strafrechtlich relevante
nen. Mit dem Motto „Pluralität achten – Nach-                   Äußerungen getätigt werden.
denklichkeit erzeugen – Orientierung anbieten“,                     Aber diesseits dieser Grenzüberschreitun-
das sich der Deutsche Ethikrat 2016 für seine Ar-               gen ist die Balance zwischen „Alternativlosig-
beit gegeben hatte, lässt sich das Aufgabenport-                keit“ und Beliebigkeitspluralismus im Streit um
folio konkreter Ethik verantwortlichen Handelns                 den richtigen Weg der Pandemiebekämpfung oft
in der Pandemie sinnvoll strukturieren.                         schwer zu finden. Das liegt nicht nur an exter-
                                                                nen Faktoren wie Erfolg oder Misserfolg bei der
                PLURALITÄT ACHTEN                               Impfstoff- oder Schnelltestbeschaffung, die sich
                                                                auf die je akute Stimmung im Land und überdies
Angesichts der ethischen Grundspannung, in der                  auf moralische Achtungszuschreibungen auswir-
Pandemie unter Aufrechterhaltung des gesamt-                    ken. Vielmehr zeigt sich auch in der Pandemie,
gesellschaftlichen Systems Lebens- und Gesund-                  dass bei allem moralischen Pluralismus in unserer
heitsschutz einerseits und Freiheitsermöglichung                Gesellschaft bestimmte Einstellungen sich der-
andererseits auszubalancieren, muss man nicht                   artig etabliert haben, dass sie im üblichen Wech-
nur vor allen Formen moralischer oder politi-                   selspiel aus Lebensformen und institutionellen
scher „Alternativlosigkeit“ warnen, sondern auch                Settings durch verfassungsgerichtliche Urteile
– deskriptiv wie normativ – proaktiv auf Plura-                 rechtliche Bindungswirkung entfalten und andere
lität setzen. Diese Pluralitätsoption ist nicht nur             konkurrierende moralische Maßstäbe ausstechen
Realität moderner Demokratien oder ein Klug-                    können. An einem mit zunehmender Dauer der
heitsimperativ in einer komplexen Gesellschaft,                 Pandemie immer virulenter werdenden Beispiel
möglichst viele Kompetenzen und auch Positi-                    lässt sich dieses Überschreiten der rechtlichen
onen zu berücksichtigen, um höchst komplexen                    Verbindlichkeitsschwelle von moralischen Ein-
                                                                stellungen gut veranschaulichen: Ob Geimpfte
04 Unter konkreter Ethik verstehe ich eine solche moderni-
                                                                (nach dem Nachweis, dass sie selbst die Infektion
tätssensible Ethik, die versucht, moralische Überzeugungen,     nicht mehr übertragen können) die ihnen unter
ethische Prinzipien, in Theorien eingebettete Wissensbestände   den Bedingungen des Infektionsschutzgesetzes
und Welt- und Menschenbilddeutung möglichst kohärent wie        als Individuen vorenthaltenen Grundfreiheiten
kritisch zusammenzudenken, um daraus einen verantwortba-
                                                                zurückerhalten, weil die Maßnahmen für sie als
ren Entscheidungskorridor zu ermitteln; vgl. Peter Dabrock,
Befähigungsgerechtigkeit. Ein Grundkonzept konkreter Ethik
                                                                nicht mehr verhältnismäßig gelten, oder ob man
in fundamentaltheologischer Perspektive. Unter Mitarbeit von    darin eine Privilegierung für Geimpfte sieht, weil
Ruth Denkhaus, Gütersloh 2012, S. 17–72.                        die Nicht-Geimpften zweifach benachteiligt sind,

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Medizin und Ethik in der Pandemie - Bundeszentrale für ...
Medizin und Ethik in der Pandemie APuZ

indem sie erstens einem erhöhten Gesundheitsri-                   de und für nicht wenige auch religionskulturel-
siko ausgesetzt und ihnen zweitens Kultur- und                    le Akteur:innen als systemrelevant erkannt. Die
Bildungsgüter versagt sind, ist nicht nur eine Fra-               höchst kontroversen Debatten um die sogenann-
ge des Framings. Hinter dieser Frage verbirgt sich                ten Querdenker und um die Schau­spie­ler:innen-
der ethische Grundkonflikt, ob entweder Frei-                     Aktion #allesdichtmachen zeigen, wie die zeitli-
heitsentfaltung oder Gleichheit, hier verstanden                  che Zerdehnung einer Krisensituation, fehlende
als für alle gleicher Zugang zum öffentlichen Le-                 berufliche, finanzielle, aber auch Anerkennungs-
ben (jedenfalls solange noch nicht alle ein Impfan-               perspektiven gesellschaftliche Diskurse erschwe-
gebot erhalten haben), die Maßgabe politischen                    ren. Ethisch ist daraus im Umkehrschluss zu fol-
Entscheidens sein soll. Ethisch ist diese Debatte                 gern: Nichts – selbst wenn dies kurzfristig Zeit
mit ihren Pro- und Contra-Argumenten durch-                       kostet und die Rechenschaft der Regierenden
aus offen. Das gilt allerdings nicht für das (deut-               schwerer macht – ist so falsch, wie mit fatalen
sche Verfassungs-)Recht. Denn im Verfassungs-                     Slogans wie „Öffnungsdiskussionsorgien“ zivil-
recht hat sich ein klarer Vorrang für individuelle                gesellschaftliche Beteiligung zu dämpfen oder gar
Freiheitsrechte sedimentiert; in einem Urteil aus                 unterdrücken zu wollen. Dass es viel zu häufig an
dem Jahr 2020 sprach das Bundesverfassungsge-                     von den Regierenden organisierten, moderierten
richt in geradezu feierlichem Ton von der „au-                    und ausgewerteten Beteiligungsmöglichkeiten
tonomen Selbstbestimmung“, die es zu schützen                     gefehlt hat, war und ist nicht nur eine verlorene
gelte.05 Damit werden Gleichbehandlungserwar-                     Chance, einzigartige „Vor-Ort“-Expertise etwa
tungen, die auf kollektive Solidarität bei nicht                  von Krankenhaus- und Pflegepersonal, Lehren-
persönlich verursachtem Infektionsrisiko setzen,                  den oder Vereinsvorständen zu nutzen, sondern
rechtlich hintangestellt. Das ist für eine Ethik, die             auch ein Mangel an Respekt vor plural verfass-
nicht nur eine breite Konvergenz mit verfassungs-                 ter Öffentlichkeit und dem plural verfassten Sou-
rechtlichen Standards sucht,06 sondern morali-                    verän politischer Entscheidungen. Anders finden
sche Einstellungen auf ihre Gründe und ihre Re-                   gesellschaftlich schwierig auszuhandelnde und zu
produzierbarkeit hin befragt, ein zweischneidiges                 verantwortende Maßnahmen nicht den Rückhalt,
Schwert. Denn die Solidaritätsressourcen, derer                   den sie dringend benötigen.
auch der Gebrauch der Freiheit immer wieder be-
darf, sind nicht unerschöpflich, sondern müssen                         NACHDENKLICHKEIT ERZEUGEN
gepflegt werden. Dies fällt umso schwerer, zumal
die Ungleichbehandlung nicht derart im normati-                   Die diskursiven Spannungen ergeben sich nicht
ven Fokus des (deutschen) Rechts steht. In vielen                 nur aus der notorischen weltanschaulichen Plu-
ostasiatischen Ländern sind kollektive Maßnah-                    ralität in der Gesellschaft, sondern auch daraus,
men vermutlich auch deshalb rechtlich leichter                    dass die medizinische wie gesellschaftspoliti-
umsetzbar, weil sie – bei aller dort nicht zu miss-               sche Lage derartig komplex ist, dass selbst ähn-
achtenden Pluralität im Einzelnen – moralisch als                 liche Positionen zu den leitenden moralischen
selbstverständlicher gelten. Vermutlich wird man                  und ethischen Grundorientierungen in der Folge
nach der Pandemie ethisch, rechtlich und poli-                    sehr unterschiedliche Standpunkte nach sich zie-
tisch fragen müssen, ob der Ausgleich zwischen                    hen können. Entsprechende Kontroversen, Wi-
Freiheit und Solidarität für ähnliche Gefahrenla-                 derstreite und Zerwürfnisse lassen sich beispiels-
gen nachjustiert werden muss.                                     weise an der festgefahrenen Debatte zwischen
    Dass unsere Gesellschaft wesentlich davon                     Vertreter:innen von Öffnungsstrategien vs. Har-
lebt, dass Pluralität geachtet werden muss, wird                  ter-Lockdown-Sofort-Ansätzen           identifizieren
schließlich an den Debatten um die sogenann-                      (um tendenziell von Verschwörungserzählungen
te Systemrelevanz deutlich. Mit zunehmender                       geleitete sogenannte Querdenker noch gar nicht
Dauer werden beispielsweise Kulturschaffen-                       zu erwähnen).
                                                                      In diesen Konflikten kann es nicht primäre
                                                                  Aufgabe der Ethik sein, unmittelbar für die eine
05 Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 26. 2. 2020, 2 BVR
                                                                  oder andere Position Partei zu ergreifen. Bevor
2347/15.
06 Das ist, was prima vista nachvollziehbar ist, weil beide auf
                                                                  sie das tut (denn am Ende kann man sich nicht
der Dialektik von Menschenwürde und Menschenrechten basie-        nicht verhalten), gilt es, auf die auf dem Weg von
ren (sollten).                                                    moralischen Überzeugungen zu gesellschaftlicher

                                                                                                                      07
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Medizin und Ethik in der Pandemie - Bundeszentrale für ...
APuZ 24–25/2021

Praxis (in Medizin, Politik, Recht, Wirtschaft und    vermeintlich klarer wissenschaftlicher „Fakten-
Kultur) liegenden Weggabelungen hinzuwei-             lage“ ausgehen und eindeutige politische Fol-
sen. In die eine wie in die andere Richtung wei-      gerungen ziehen wollen. Hier muss (nicht nur)
terschreiten zu können, kann oftmals mit guten,       Ethik auf Wissenschaftstheorie und Wissen-
auch wissensbasierten Gründen gerechtfertigt          schaftspraxis verweisen. Die Theorie, sofern sie
werden. Ethik muss deshalb zunächst dazu bei-         Naturwissenschaften in den Blick nimmt, muss
tragen, im gesellschaftlichen Diskurs Komplexi-       Überhöhungen wissenschaftlicher Aussagen zu
täts- und Differenzsensibilität zu fördern. Das       ewigen Wahrheiten dekonstruieren und sie statt-
muss aber noch lange nicht bedeuten, dass einem       dessen auf den ihnen angemessenen Status von
„anything goes“ das Wort geredet wird.                zu einem bestimmten Zeitpunkt bestmöglicher,
    Zur Verdeutlichung dieser ethischen Aufgabe       aber grundsätzlich falsifizierbarer Evidenz redu-
sei auf das Beispiel der Beurteilung von und den      zieren. Zudem ist zu betonen und öffentlich zu
Umgang mit wissenschaftlichem Wissen (im Un-          kommunizieren, dass schon aus der je berech-
terschied zu bloßen Behauptungen) verwiesen.          tigten Perspektive unterschiedlicher Wissen-
Neben sogenannten Querdenkern, deren anti-            schaften unterschiedliche Konsequenzen gezo-
wissenschaftliche Attitüde weit über das Pan-         gen werden können. Das gilt nicht nur für den
demiegeschehen hinausreicht und ein sichtbares        bekannten Gap zwischen Natur- und Sozialwis-
Indiz für tieferliegende gesellschaftliche Spaltun-   senschaften, sondern auch innerhalb der Medi-
gen ist, lässt sich auch im Mainstream der Pan-       zin: Ein virologischer Zugang unterscheidet sich
demiebekämpfung ein Widerstreit um den Status         von einem epidemiologischen oder einem inten-
wissenschaftlichen Wissens und seines politi-         sivmedizinischen. Im Laufe der Pandemie haben
schen Status feststellen. Aus der Sicht komple-       sich die Kriterien und Maßeinheiten für infek-
xitäts- und differenzsensibler Ethik müssen alle      tionspolitische Entscheidungen immer wieder
Positionen kritisch betrachtet werden, die von        geändert. Erinnert sei an die absolute Zahl der

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Medizin und Ethik in der Pandemie - Bundeszentrale für ...
Medizin und Ethik in der Pandemie APuZ

Infizierten, den R-Wert, die Positivrate, die Al-                             ORIENTIERUNG ANBIETEN
tersverteilung, den Sieben-Tages-Inzidenzwert,
die Verdopplungsrate und so weiter. Auch die                       Auch wenn Ethik zur Achtung von Pluralität und
Einschätzung und der Vergleichswert des zeit-                      zur (selbst-)kritischen Nachdenklichkeit sensibi-
lichen, sozialen und individuellen Risikos sowie                   lisieren soll, schließt die selbstkritische Haltung
der Vergleichsmaßstab (zum Beispiel das „all-                      ein, dass man nicht standort- und meinungsfrei
gemeine Lebensrisiko“) sind mit guten wissen-                      sein kann: Das bekannte Diktum Paul Watzla-
schaftlichen Gründen und nicht nur aus Weltan-                     wicks „Man kann nicht nicht kommunizieren!“
schauungsmotiven strittig.                                         muss Ethik, bei aller Aufgabe, Distanz zu morali-
    Wegen dieser Strittigkeiten und Uneindeutig-                   schen Überzeugungen aufzubauen und Komple-
keiten steht es jenen, die sich informieren wollen,                xität auszuhalten, dann so wenden, dass sie auf
aber auch der Politik gut an, nicht nur monoma-                    der genannten Grundlage einen Kompass anbie-
nisch auf eine Perspektive wissenschaftlicher Be-                  tet. Dieser ersetzt politische Entscheidungen in
ratung zu setzen. Richtig ist der Ansatz, Ex­pert:­                der Corona-Pandemie nicht, gibt aber Orientie-
innen­räte interdisziplinär (und am besten zudem                   rung für gangbare Wege.
mit der Expertise etwa von Heim-, Kindertages-                          Dabei kann man im lockeren Anschluss an
stätten- oder Schulleitungen) zu besetzen. For-                    Niklas Luhmanns Idee, dass der Sinnbegriff nach
mulierungen wie „Meine politische Entscheidung                     der Zeit-, Raum-, Sach- und Sozialdimension dif-
folgt allein der Wissenschaft!“ überführen sich                    ferenziert werden muss, ethische Herausforde-
dann ihrer unzulässigen Komplexitätsreduktion.                     rungen des gesellschaftlichen Corona-Diskur-
Denn die Wissenschaft gibt es nicht. Politik hat                   ses und verantwortlicher Pandemiebekämpfung
auf Wissenschaft, die ihren Standards genügt und                   identifizieren:
diese auch kommuniziert, zu hören. Sie darf ihr                         In zeitlicher Hinsicht ist zu berücksichti-
aber nicht hörig sein.                                             gen, dass ethische Reflexion zwar „in Echtzeit“08
    Deshalb muss – auch das ist ein Imperativ der                  stattfinden muss; zugleich sollte diese aber – das
Wissenschaftsethik – Wissenschaft in ihrer orga-                   zeigen die diversen Politikvorschläge – immer im
nisatorischen Verfasstheit die Grenzen ihrer ei-                   Wechsel von „auf Sicht fahren“ und längerfristi-
genen Kommunikation nach innen und außen                           gen Perspektiven verortet sein. Kurzfristigen Co-
selbstkritisch reflektieren. Während beispiels-                    rona-Maßnahmen ohne langfristige Perspektiven
weise der Ethikrat in seinen Stellungnahmen nur                    fehlen Kompass, Rahmen und Nachhaltigkeit.
für sich selbst spricht, hat die Deutsche National-                Nur langfristig angelegte Fahrpläne ohne kurz-
akademie Leopoldina mehrfach den Eindruck er-                      fristige Maßnahmenvorschläge scheitern dagegen
weckt, sie spräche mit ihren Empfehlungen für                      an der Gegenwart. Ethik hat die nicht selten stö-
die Wissenschaft. Jedenfalls hat man diesen Ein-                   rende Aufgabe, bei einseitigen Akzentsetzungen
druck, den die Bundeskanzlerin so kommuni-                         auf die je andere Seite zu verweisen.
zierte,07 nicht zurückgewiesen. Stellungnahmen                          Insofern Raum nicht nur eine geografische,
von Wissenschaftsorganisationen sind aber, dies                    sondern auch eine kulturelle Basiskategorie ist,
gilt es zu bedenken, politische, keine primär wis-                 stellt sich in ethischer Perspektive immer wie-
senschaftlichen Statements. Sie folgen nicht (oder                 der die provozierende Frage, wie sich die Fo-
nur selten) den üblichen Begutachtungsverfah-                      kussierung der Pandemiebekämpfung auf den
ren der wissenschaftsinternen Kritik. Wis­     sen­                Raum des Nationalstaates (beziehungsweise
schaft­ler:­innen und Wissenschaftsorganisationen                  der EU) angesichts einer weltweiten Gesund-
müssen hier zur Vermeidung unnötiger Instru-                       heitskrise rechtfertigen lässt. Dies ist zunächst
mentalisierungen und Enttäuschungen darüber,                       eine Frage internationaler Gerechtigkeit in der
was Wissenschaft kann und soll (und was nicht),                    Bekämpfung schweren Leids in besonders be-
deutlich selbstkritischer mit dem ihnen gegebe-                    troffenen Weltregionen. Sie bekommt zudem
nen Vertrauenspotenzial umgehen. Vertrauen ist                     eine ganz eigennützige Drehung mit Blick auf
eben eine begrenzte Ressource.                                     die Pandemiepolitik in den reicheren Ländern,
                                                                   als die unsolidarische Nicht-Unterstützung der
07 Zu diesen wechselseitigen Erwartungen und Erwartungser-
                                                                   sich entwickelnden Länder dazu führen wird,
wartungen vgl. Jörg Phil Friedrich, Das Ad-hoc-Desaster, in: Die
Welt, 12. 12. 2020, S. 22.                                         08 Vgl. Mukerji/Mannino (Anm. 1).

                                                                                                                         09
APuZ 24–25/2021

dass dortige Herausforderungen (wie Mutati-                       Zunächst hat die Pandemie vielen Menschen,
onen des Virus) früher oder später importiert                die sich, im Weltmaßstab betrachtet, eines ho-
werden.                                                      hen Wohlstandsniveaus erfreuen dürfen, die ba-
    Neben dem ethisch zu reflektierenden Zeit-               sale Verletzlichkeit menschlichen Lebens in nie
und Raumindex verantwortlichen Entscheidens                  gekannter Weise nahegebracht, oft: unter die
muss in sachlicher Perspektive von allen Betei-              Haut gehen lassen. Diese Erfahrung hat nicht
ligten aus den Bereichen Medizin bis Politik die             nur (jedenfalls zeitweilig) ein Gespür dafür auf-
Multiperspektivität der Pandemiebekämpfung                   kommen lassen, was und wer unverzichtbar ist,
ausgehalten und auch öffentlich kommuniziert                 sondern auch verdeutlicht: Freiheit und Selbstbe-
werden. Die sachlich und kommunikativ extrem                 stimmung, die wir in unserer Gesellschaft zuneh-
schwierige Aufgabe war und ist (beziehungswei-               mend als den vornehmsten Ausdruck von Men-
se wäre gewesen) das mutige Eingeständnis in                 schenwürde charakterisieren, können nicht ohne
die Gesellschaft hinein, dass bei hinreichender              Solidarität, Gemeinsinn sowie die Verhinderung
Grundlage auch Entscheidungen und Entschei-                  von zu großen Differenzen und Spaltungen auf
dungsprozesse geändert werden können müssen.                 individueller, aber auch kollektiver Ebene reali-
Die Gesellschaft für das Ideal der Wissenschaft zu           siert werden. Erkennbar muss in der Aufarbei-
sensibilisieren, das heißt, stetig darauf hinzuwei-          tung des Pandemiegeschehens das, was man pa-
sen, dass Erkenntnisfortschritt nur via geordne-             thetisch den Gesellschaftsvertrag nennt, diskursiv
tem und voranschreitendem Fehlermanagement                   neu verhandelt und auch institutionell neu fest-
zu erreichen ist, erscheint in der Pandemie und              gelegt werden.09 Dazu zählt sicher auch, dass ei-
darüber hinaus als eine dringliche und zu ver-               nes der großen Defizite der Pandemie-Politik,
tiefende Aufgabe. Nur damit wird dauerhaft ein               nämlich proaktiv die Quellen der zahlreich vor-
starker Wall gegen den erkennbaren Trend ge-                 handenen Vor-Ort-Expertise nicht anzuzapfen,
baut, Wissenschaft als pure Meinung zu diskre-               eklatant zutage getreten ist. Unter Digitalisie-
ditieren. Ohne Vertrauen in die Komplexität von              rungs-, insbesondere Social-Media-Bedingungen
Wissenschaft werden komplexe Probleme in ei-                 zivilgesellschaftliche Partizipationsmöglichkeiten
ner komplexen Welt nicht verantwortungsvoll                  an politischen Entscheidungen effektiv, transpa-
gelöst werden können.                                        rent und kontrolliert zu organisieren, erscheint
                                                             nach diesem Beteiligungsversagen während der
              ETHIK ALS BEGLEITERIN                          Pandemie als ein höchstes Gebot, will man die
              GESELLSCHAFTLICHER                             rechtsstaatliche Demokratie für zukünftige He-
                  DELIBERATION                               rausforderungen rüsten. Richtig ist zwar: In be-
                                                             teiligungsstarken Deliberationen gehen weder
Angesichts der bereits910 identifizierten zentralen          Politik noch Ethik auf. Dies gilt sowohl jetzt
Spannung zwischen Gesundheitsschutz und Frei-                während der Krise als auch in der dann anstehen-
heitsrechten auf der Grundlage, das gesamtgesell-            den Aufarbeitung des Guten, des Schlechten, des
schaftliche Leben nicht zusammenbrechen zu las-              zu Verzeihenden und des nicht Verzeihbaren.10
sen, verdichten sich die Herausforderungen in der            Orientierung muss deshalb formal und inhaltlich
sozialen Dimension verantwortlicher Pandemie-                kriteriengebildet angeboten, aber auch immer
bekämpfung. Die im Folgenden genannten Beob-                 zeit-, sach- und sozialbedingt überarbeitet wer-
achtungen markieren solche Punkte, die nicht nur             den. Aber ohne eine Deliberation, die wechsel-
in der Corona-Pandemie besonders gravierendes                seitige Verletzlichkeit anerkennt, werden sowohl
Konfliktpotenzial für moralisch verantwortliches             Politik als auch Ethik in der Corona-Pandemie
Handeln, politisches Entscheiden und gesell-                 und danach versagen. Diese Deliberation zu be-
schaftlichen Zusammenhalt offenbart haben, son-              gleiten, das ist Aufgabe der Ethik.
dern weit darüber hinaus gesellschaftlicher Neu-
justierung bedürfen.                                         PETER DABROCK
                                                             ist Professor für Systematische Theologie (Ethik)
                                                             an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-
09 Vgl. Peter Dabrock, Wir werden uns manches nicht ver-
zeihen können, 5. 5. 2021, www.spiegel.de/a-ad1a3426-f354-
                                                             Nürnberg. Er war von 2016 bis 2020 Vorsitzender
4d6c-9730-0d9648f9d141.                                      des Deutschen Ethikrates.
10 Vgl. ebd.                                                 peter.dabrock@fau.de

10
Zum Weiterlesen.

2021
Bestell-Nr. 10714

                           2021
                           Bestell-Nr. 10626

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       Bestell-Nr. 10717
APuZ 24–25/2021

                           ETHIK DES IMPFENS
                   Impfentscheidungen, ethische Konflikte
                       und historische Hintergründe
                                           Philipp Osten

 Im Februar 2020 wurde die Erkenntnis unaus-             Die Debatte über Impfungen berührt natur-
 weichlich: Das Coronavirus hatte eine weltwei-      wissenschaftliche und gesellschaftliche Aspekte.
 te Pandemie ausgelöst. Fachleute hatten ein sol-    Beide können sich wandeln. Neue Sichtweisen
 ches Szenario lange erwartet. One Health heißt      und Argumente können neue Überzeugungen
 das Forschungsfeld, das sich mit neu entstehen-     hervorbringen, und auch wissenschaftliche Be-
 den Viren und mit ihrem Ursprung im Tierreich       funde können durch neue Erkenntnisse ins Wan-
 befasst. Laufend aktualisierte Pandemiepläne la-    ken geraten. Das Wissen über Covid-19 und seine
 gen schon lange bereit, um etwaige kommende         Varianten wächst ständig. Zu Beginn der Pande-
 Pandemien einzudämmen; die Pläne des Robert         mie musste man sich mit dem behelfen, was wir
 Koch-Instituts waren zuletzt 2017 aktualisiert      aus vorangegangenen Seuchen wussten. Primär
 worden.01 Auch wenn ab und an Maßnahmen             bestimmten die Erfahrungen mit der Grippe, ganz
 etwa gegen die Vogelgrippe öffentlich diskutiert    konkret mit der Influenza-Pandemie der Jah-
 wurden, erschien der allgemeinen Öffentlich-        re 1918 bis 1920, unseren Blick auf die Corona-
 keit die Vorstellung, von einer Seuche bedroht      Pandemie. Diese Grippe ging vorbei, ohne dass
 zu sein, wie aus der Zeit gefallen. Den Anachro-    es eine Impfung gab. Staaten, die im vergange-
 nismus bald durch medizinischen Fortschritt         nen Jahr auf eine Durchseuchung ihrer Bevölke-
 überwunden zu haben, war bereits in den ers-        rung bei gleichzeitiger Isolation alter und beson-
 ten Wochen der Covid-19-Pandemie ein fester         ders gefährdeter Menschen setzten, orientierten
 Topos. Die Frage „Wann haben wir eine Imp-          sich an diesem Modell. Belege dafür, dass SARS-
 fung?“ stand von Anfang an im Mittelpunkt des       CoV-2 sich so verhalten würde wie der Grippeer-
 öffentlichen Diskurses. Der Soziologe Armin         reger vor 100 Jahren, gab es freilich keine.
 Nassehi bemerkte die Überhöhung dieser Er-              Auch die derzeitige Impfdebatte ist von dem
 wartung, er schrieb: „Die Impfung ist die Hoff-     Wunsch geprägt, sich auf Erfahrungen zu bezie-
 nung. Die Impfung ist nachgerade eschatologisch     hen. In der Bundesrepublik stand das Beispiel
­aufgeladen.“02                                      der Masern im Mittelpunkt der Diskussion und
     Lange bevor genügend Impfstoff vorhan-          bildete die Kulisse, vor deren Hintergrund über
 den war, begann die Debatte über eine Impf-         Zwang und Freiwilligkeit diskutiert wurde.
 pflicht. Sie betraf zuerst die Mitarbeiter:innen
 von Kliniken und Altersheimen, inzwischen hat                    STAND DER DEBATTE
 sie sich auf alle gesellschaftlichen Gruppen aus-               ZU PANDEMIEBEGINN
 gedehnt. Kinder und Jugendliche rückten in den
 Fokus, noch ehe überhaupt ein einziger Impf-        Dass genau zu Beginn der Covid-19-Pandemie in
 stoff für sie in Europa zugelassen war.03 Bemer-    Deutschland zum ersten Mal seit der Wiederver-
 kenswert ist, dass die Diskussion über eine Impf-   einigung eine Impfpflicht in Kraft trat, war Zu-
 pflicht selten von medizinischer Seite angestoßen   fall. In der DDR war es bis zu ihrem Ende vor-
 wurde, sondern vor allem von Politik und Medi-      geschrieben gewesen, seine Kinder impfen zu
 en. Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es nur we-    lassen.04 In Westdeutschland endete die Impf-
 nige Befürworter:innen einer Pflicht zur Covid-     pflicht 1975 mit der Pockenimpfung.
 Impfung. Bei anderen Vakzinen gibt es sie aber           Seit März 2020 jedoch gilt das Masernschutz-
 durchaus.                                           gesetz. Aus heutiger Sicht scheint die öffentliche

12
Medizin und Ethik in der Pandemie APuZ

Debatte darüber aus einer fernen Vergangenheit                      fenkundig gehört es zum guten Ton, den Körper
zu stammen – so unvorstellbar erscheint es heu-                     betreffende Anordnungen des Staates eher unauf-
te, dass sich staatliche Maßnahmen zur Seuchen-                     fällig zu gestalten. Die Kampagne „Deutschland
bekämpfung leise und fast unbemerkt vollziehen.                     sucht den Impfpass“ der Kölner Werbeagentur
Zwar gab es durchaus Diskussionen über die Ma-                      Kaiserkom sollte die Masern-Impfung propa-
sern-Impfung in den Fluren von Kindertagesstät-                     gieren und vermied alle Belehrung. Die Krank-
ten und auf Elternabenden, Zeitungen berich-                        heit erwähnt sie nur am Rande, die mitgeimpften
teten, die „Bild“ sprach 2017 von einer großen                      Mumps und Röteln gar nicht. Inszeniert wur-
Aufregung um den Plan von Gesundheitsminis-                         de stattdessen die Abwesenheit einer staatlichen
ter Hermann Gröhe, impfunwilligen Eltern eine                       Impfkontrolle. Schon lange werden die Kampa-
Strafe von 2500 Euro anzudrohen. Der Artikel                        gnen der Bundeszentrale für gesundheitliche Auf-
war allerdings nur wenige1234 Zeilen lang.05 In der                 klärung (BZgA) von Werbeagenturen ­konzipiert.
breiten Öffentlichkeit war die Pflicht, Kinder ge-                       Bei der im Dresdner Hygienemuseum kon-
gen Masern zu impfen, kaum ein Thema. Das ver-                      zertierten Gesundheitserziehung der DDR sah
abschiedete Gesetz selbst sieht keine Strafen für                   es ähnlich aus. Gesundheitsaufklärung war pri-
impfunwillige Eltern vor, anders als in der DDR.                    mär Werbung für die Leistungsfähigkeit und die
Das Wort „Impfpflicht“ kommt ebenfalls nicht                        Vielseitigkeit öffentlicher Angebote. Doch im-
darin vor. Es verbietet Personen ohne Impfnach-                     mer wieder gab es Ausnahmen von der Weich-
weis allerdings den Besuch von Betreuungsein-                       zeichnung. Während in der DDR Ende der
richtungen und die Arbeit dort.                                     1980er Jahre gegen den Rat vieler Expert:innen
    Da spätestens mit der Einschulung die Ma-                       das Thema Sexualität in Aufklärungskampagnen
sern-Impfung unausweichlich würde, sieht das                        bewusst tabuisiert wurde (Dramaturg:innen und
Gesetz eine Ausnahmeregelung für Schüler:innen                      Journalist:innnen wichen mit ihren Anliegen auf
vor; ein Kindergartenbesuch aber ist für über Ein-                  Spielfilme und Reportagen aus),08 verschaffte sich
jährige ohne Impfnachweis nicht möglich. Hinzu                      die Kölner BZgA mit ihrer Kampagne „Gib AIDS
kommt, dass die Masern-Vakzine ausschließlich                       keine Chance“ Respekt. An diese Erfolge knüpft
in Kombination mit Mumps- und Röteln-Impf-                          die aktuelle Kampagne zur Bekämpfung von Ge-
stoff erhältlich sind. Im Vorfeld der Entschei-                     schlechtskrankheiten, „Juckt’s im Schritt?“, an.
dung hatte der Deutsche Ethikrat zwar an eine                            Masern-Impfkampagnen betonen beharrlich
„allgemeine moralische Pflicht“ zur Impfung ap-                     den Schutz der Geimpften, anstatt zu vermitteln,
pelliert, eine gesetzliche Masern-Impfpflicht (au-                  dass die Vakzinierung Gesunder im Sinne einer
ßer für ausgewählte Berufsgruppen) jedoch aus-                      Herdenimmunität maßgeblich dem Schutz beson-
drücklich nicht empfohlen.06                                        ders anfälliger Personen dient. Mumps und Röteln,
    Die Masern-Impfpflicht scheint recht effektiv                   die beiden Krankheiten, gegen die stets in Kombina-
zu sein.07 Doch kam sie auf Umwegen daher. Of-                      tion mit Masern geimpft wird, werden in den Kam-
                                                                    pagnen erst gar nicht erwähnt. Denn Mumps ist für
                                                                    Mädchen und Frauen weitgehend (wenn auch nicht
01 Vgl. Robert Koch-Institut (RKI), Pandemie-Plan 2016/2017,        vollkommen) ungefährlich, während er bei Jungen
19. 3. 2020, www.rki.de/DE/Content/InfAZ/​N/Neuartiges_Co-
                                                                    und besonders bei erwachsenen Männern Hoden-
ronavirus/Pandemieplan.html.
02 Armin Nassehi, Editorial, in: Kursbuch 206/2021, S. 3.
                                                                    entzündungen mit Folgen bis zur Unfruchtbarkeit
03 Vgl. Ärztekammer Hamburg gegen vorschnelle Coronaimp-            verursachen kann. Röteln schaden Ungeborenen
fungen bei Kindern, 14. 5. 2021, www.aerzteblatt.de/nachrich-       im Mutterleib, wenn sich Schwangere anstecken.
ten/​123854.                                                        Die Botschaft, dass die Masern-Mumps-Röteln-
04 Und zwar gegen Tuberkulose, Diphterie, Keuchhusten,
                                                                    Impfung zu einigen Teilen aus Altruismus erfolgt,
Masern, Kinderlähmung und Wundstarrkrampf.
05 Vgl. Kitas müssen Impfmuffel künftig beim Gesundheits-
                                                                    wird in den Kampagnen nicht vermittelt.
amt melden, 26. 5. 2017, www.bild.de/news/aktuelles/news/-​              Ein weiteres Beispiel für eine sanfte Infor-
51917250.bild.html.                                                 mationspolitik im Zusammenhang mit Seuchen
06 Vgl. Deutscher Ethikrat, Jahresbericht 2019, S. 10 ff.
07 Vgl. Michael Neugebauer/Matthias Ebert/Roger Vo-
gelmann, Beurteilung des neuen Masernschutzgesetzes in              08 Vgl. Philipp Osten, Politik und Gesundheitsaufklärung in
Deutschland: Ergebnisse einer deutschlandweiten Befragung, in:      Ausstellungen, Plakaten und Filmen, 1880–1980, in: Heinz-Peter
Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheits-   Schmiedebach (Hrsg.), Medizin und öffentliche Gesundheit:
wesen 158/2020, S. 74–80.                                           Konzepte, Akteure, Perspektiven, Berlin 2018, S. 201–230.

                                                                                                                                13
APuZ 24–25/2021

Ein Impfzentrum im American Museum of Natural History in New York City, wo im Mai 2021 vor allem Jugendliche ab
12 Jahren geimpft wurden.
Quelle: picture alliance/Globe-ZUMA, Sonia Moskowitz Gordon

ist die nach einer Überarbeitung erfolgte Um-                 benwirkungen kam die Frage hinzu, wem wel-
benennung des Bundesseuchengesetzes 2001. Es                  cher Impfstoff zur Verfügung stehen sollte. Die
heißt seitdem Infektionsschutzgesetz („Gesetz                 jüngste Diskussion dreht sich um mögliche Pri-
zur Verhütung und Bekämpfung von Infekti-                     vilegien Geimpfter: Ihnen könnte die Teilhabe an
onskrankheiten beim Menschen“). Dass es wei-                  Aktivitäten gestattet werden, die Ungeimpften
terhin effektive seuchenpolizeiliche Maßnahmen                aufgrund von Eindämmungsverordnungen un-
legitimiert, drang erst im Frühjahr 2020 mit Ve-              tersagt sind. Von einzelnen Medien aufgebracht
hemenz – und umso überraschender – in das öf-                 und oft auf Pressekonferenzen angesprochen,
fentliche Bewusstsein. Das Thema Impfen, zu-                  steht eine Impfpflicht gegen Covid-19 gegenwär-
vor fast ausschließlich unter Fachleuten und                  tig gleichwohl nicht ernsthaft zur ­Debatte.
Impfgegnergruppen diskutiert, füllt seit dem                      Im Folgenden werden zunächst die ethischen
Sommer 2020 die Titelseiten der Zeitungen –                   Entscheidungen im Zusammenhang mit der Co-
und es sind die in der Herausarbeitung pola-                  rona-Impfung diskutiert. Dabei werden Beispie-
rer Meinungen geübten Politikressorts, nicht die              le aus der Geschichte des Impfens herangezogen
Wissenschaftsjournalist:innen, die sich des The-              – nicht zuletzt, um zu zeigen, wie sehr die jeweils
mas primär annehmen.                                          herrschende Meinung über das Impfen von wis-
    In den ersten Monaten der Covid-Pandemie                  senschaftlichen Theorien und von politischen,
beschäftigten zunächst die Sicherheit der neu-                historischen und sozialen Umständen abhängt.
en mRNA-Impfstoffe und ihre Testverfahren die
Öffentlichkeit. Sobald die ersten Impfstoffe zu-                              WER BESTIMMT,
gelassen worden waren, ging es um ihre Vertei-                               WAS ETHISCH IST?
lung – sowohl auf internationaler Ebene als auch
zwischen den verschiedenen Alters- und Bevöl-                 Hinter dem Begriff der Ethik, der nach gutem,
kerungsgruppen. Mit den Berichten über Ne-                    richtigem Handeln klingt, verbirgt sich bisweilen

14
Medizin und Ethik in der Pandemie APuZ

eine hässliche Realität. Ethik ist auch der Versuch,                Ähnliche Konflikte gibt es in Zusammenhang
übergriffige Moralvorstellungen und rücksichts-                 mit der Verteilung von Spenderorganen. Diese
lose Menschenökonomie ebenso einzuordnen wie                    erfolgt bis heute durch die Service-Organisati-
philosophisch begründete Überzeugungen und                      on Eurotransplant, obwohl die Leopoldina – die
Forderungen nach Solidarität und Gerechtigkeit.                 nach der Wiedervereinigung als unabhängiges Be-
Als Wissenschaft betrachtet ist Ethik also die The-             ratungsgremium für Politik und Gesellschaft zur
orie der Moral. Von Ethiker:innen wird erwartet,                Nationalen Akademie der Wissenschaften erho-
dass sie möglichst objektiv die unterschiedlichen               ben wurde – 2015 empfohlen hatte, Entschei-
Positionen zu einem Thema ­darlegen.                            dungen dieser Tragweite „einer (halb-)staatlichen
    Im allgemeinen Sprachgebrauch wird unter                    Stelle auf Bundesebene“ zu überantworten.
Ethik aber etwas ganz anderes verstanden: die                       Entscheidungen, die den Schutz des Lebens
Entwicklung von moralisch fundierten Empfeh-                    berühren, sollten in einer Demokratie nur von
lungen, Leitlinien und Handlungsanweisungen.                    der Bevölkerung selbst getroffen werden, vertre-
In der Medizin können diese bisweilen sehr ef-                  ten durch Parlamente und Regierungen. In Zu-
fektiv durchgesetzt werden. Über die Pflege- und                sammenhang mit der Priorisierung der Covid-
Ärztekammern werden etwa ethische Leitlinien                    Impfstoffe hat man aus diesen Monita gelernt.
der Berufsorganisationen für all deren Mitglie-
der verpflichtend. Die normative Ethik stößt je-                            IMPFPRIORISIERUNG
doch dort an ihre Grenzen, wo sie potenziellen
Patient:innen Vorschriften macht. Denn diese                    Der von Bundesregierung und Bundestag ge-
sind nicht qua Beruf oder Anstellung einer Orga-                meinsam berufene Deutsche Ethikrat nimmt in
nisation beigetreten.                                           der Covid-Pandemie eine Sonderstellung ein.
    In der medizinethischen Diskussion haben                    Denn üblicherweise haben seine Entscheidungen
sich zwei Fraktionen herausgebildet. Eine räumt                 kein rechtliches Gewicht. Bei der Festlegung der
der Autonomie des Einzelnen in Behandlungsent-                  Impfreihenfolge wurden zwar Richtlinien entwi-
scheidungen oberste Priorität ein, die andere hat               ckelt, die einer verbindlichen Norm gleichkom-
eher die Verteilungsgerechtigkeit im Blick. Die bri-            men. Allerdings geschah dies in einer gemeinsa-
santeste Konfrontation erfuhr dieser Widerspruch                men Kommission mit der Leopoldina und der
während der Corona-Pandemie im Zusammen-                        Ständigen Impfkommission, einem vom Robert
hang mit dem Thema der Triage.09 Medizinische                   Koch-Institut koordinierten Ex­pert:​innen­gre­
Fachgesellschaften, aber auch Ethik-Arbeitskrei-                mium, das durch das Infektionsschutzgesetz seit
se einzelner Kliniken, entwickelten Kriterien zur               2001 dazu legitimiert ist, Impfrichtlinien zu er-
Verteilung lebenswichtiger Ressourcen. Der Ge-                  arbeiten. Das Kriterium eines (halb-)staatlichen
setzgeber hingegen blieb in dieser Frage untätig.               Entscheidungsgremiums ist damit erfüllt.
    Der Menschenrechtsanwalt Oliver Tolmein                         Knapp fünfzig Tage vor Verabreichung der
zweifelte an der Entscheidungskompetenz selbst-                 ersten Dosis Comirnaty (dem Vakzin von Pfi-
ernannter Ad-hoc-Gremien, weil er in den ver-                   zer/Biontech) wurde eine Priorisierungsliste be-
öffentlichten Kriterienkatalogen eine besondere                 kannt gegeben. Auf den ersten Blick schien sie
Gefährdung von Menschen mit Behinderungen er-                   nicht den klassischen Regeln einer Impf­    kam­
kannte. Er wandte sich als Vertreter von neun Men-              pagne zu entsprechen, wie sie Ende der 1950er
schen mit Behinderungen mit einer Beschwerde an                 und Anfang der 1960er Jahre in Westdeutsch-
das Bundesverfassungsgericht. Das Gericht stellte               land bei Pockenausbrüchen rasch und dennoch
daraufhin im Juli 2020 fest, dass es „einer eingehen-           wohlgeplant auf die Beine gestellt worden wa-
deren Prüfung“ bedürfe, „wie weit der Einschät-                 ren. Das damalige Ziel war gewesen, Perso-
zungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des                  nen mit vielen Kontakten möglichst zuerst zu
Gesetzgebers für die Regelung konkreter medizi-                 impfen. Die ersten Covid-Impfungen hingegen
nischer Priorisierungsentscheidungen reicht“.10                 wurden zum Jahreswechsel 2020/2021, exakt
                                                                den Vorschriften des Expert:innenpapiers fol-
                                                                gend, in Altenheimen durchgeführt.
09 Zur Triage siehe auch den Text von Daniela Angetter-Pfeif-
fer in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).
                                                                    Bei den ersten Covid-Impfstoffen war zu-
10 Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 16. 7. 2020, 1 BvR   nächst nicht klar, ob und inwieweit sie eine so-
1541/20, Rn. 1–12.                                              genannte sterilisierende Immunität erzeugen,

                                                                                                                  15
APuZ 24–25/2021

sie also nicht nur vor schweren Krankheitsver-       dafür, dass um 1800 in vielen Gegenden gerade
läufen schützen, sondern auch verhindern, dass       einmal die Hälfte der Kinder ihren fünften Ge-
sich der Erreger in den Geimpften vermehrt und       burtstag erlebte.11 Die erste Pockenimpfpflicht
von ihnen übertragen werden kann. Daran muss-        überhaupt führten 1807 Bayern und Hessen ein.
te zunächst gezweifelt werden, da man wusste,        Die überwiegend des Lesens nicht mächtige Be-
dass herkömmliche Coronaviren im Menschen            völkerung wurde in den Kirchen über die Imp-
regelmäßig keine zuverlässige Immunität erzeu-       fungen informiert. Impfärzte blieben für viele
gen. Die für viele andere Impfungen gültige Er-      die einzigen Mediziner, die sie in ihrem Leben
kenntnis, dass man sich nicht nur für sich selbst,   zu Gesicht bekamen. Die Prozedur war brachi-
sondern auch zum Schutz ungeimpfter Drit-            al: Da Kuhpocken selten waren, wurden die Po-
ter impfen lässt, trat damit in den Hintergrund.     ckenblasen aufgeritzt, die sich sieben Tage nach
Oberstes Ziel der Priorisierung war es, die be-      einer Impfung bei den Kindern bildeten. Dann
sonders gefährdeten Gruppen zu schützen und          wurde das herausquellende Sekret gleichaltri-
die öffentliche Infrastruktur aufrechtzuerhal-       gen Impflingen mit einem kleinen Messer unter
ten. Die Impfung von Klinikmitarbeiter:innen         die Haut geschoben. Der Akt ging mit staatli-
mit Kontakt zu Infizierten erfolgte daher mit        cher Kontrolle einher. Beamte der Innenbehör-
ähnlicher ­Dringlichkeit.                            den übertrugen Kirchenbücher in Impflisten,
    Die in den analogen und digitalen Medi-          aus ihnen wurden die ersten Melderegister Eu-
en klar erläuterte Priorisierung war gut vermit-     ropas. Eine Impfgegnerschaft formierte sich
telbar. Zwar sahen Hamburger:innen mit Neid          erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts,
nach Berlin, da in Hamburg zehntausende Do-          als die akademische Medizin nicht mehr auf der
sen Comirnaty entsorgt wurden – in Berlin auf-       Grundlage von Philosophie, sondern auf der Ba-
grund verschiedener Regulierungen aber nicht.        sis naturwissenschaftlicher Erkenntnisse argu-
Doch alles in allem erwies es sich als ausgespro-    mentierte. Die Diskussion über die Impfpflicht
chen günstig, dass die Priorisierung bundesein-      wurde zum Brennglas der Auseinandersetzung
heitlich erfolgte. Erst mit der Freigabe der noch    über den Alleinvertretungsanspruch der exak-
immer knappen Impfstoffe im Mai 2021 (bundes-        ten Naturwissenschaften. Die Autonomie freier
weit ab dem 7. Juni) begannen die Probleme. Nun      Entscheidungen, eine der zentralen Forderungen
sollen Hausärzte die Reihenfolge der Impflinge       der Aufklärung, geriet in Konflikt mit einer an-
unter ihren Patient:innen selbst bestimmen – eine    deren wichtigen Maxime, der Hinwendung zum
höchst undankbare Rolle, hatte doch schon längst     rationalen Denken. Einen Ausweg aus der zu-
eine Debatte darüber eingesetzt, welche „Privile-    nehmend spaltenden Debatte um die Impfpflicht
gien“ Geimpfte genießen dürfen. Anders als bei       fand das Britische Unterhaus im Jahr 1907. Der
der sensiblen Festlegung der Reihenfolge ist der-    Vaccination Act befreite einzelne Kinder von der
zeit keine bundeseinheitliche Regelung dieser        Impfung, wenn ihre Eltern ihre Beweggründe
Frage absehbar. Personen, die den Erreger nicht      und Argumente dagegen ausführlich und schrift-
verbreiten können, würden in der Wahrnehmung         lich dargelegt hatten. Danach herrschte Rechts-
ihrer Grundrechte unzulässig beschränkt, wenn        frieden. Die Zahl der aus Überzeugung Unge-
Eindämmungsverordnungen auch für sie gelten.         impften blieb gering. Ab 1930 waren die Pocken
Für Einzelne wäre das zu Beginn einer Impfkam-       in Großbritannien nicht mehr endemisch. Bei al-
pagne unter Umständen noch vertretbar. Mit ei-       ledem gilt aber: Ausrotten lassen sich nur Krank-
ner wachsenden Zahl Geimpfter verschärft sich        heiten, die ausschließlich oder ganz überwiegend
das Problem jedoch.                                  den Menschen befallen. Die Pocken, die Kin-
                                                     derlähmung und die Masern gehören dazu, die
                  IMPFZWANG?                         Grippe und Covid-19 nicht.
                                                         Welch hohes Konfliktpotenzial die Debat-
Die Ausrottung der Pocken durch die Kuhpo-           te über eine Impfpflicht heute beinhaltet, zeig-
ckenimpfung gehört zu den größten medizini-          te sich im Mai 2021 an einem Beschluss des 124.
schen Erfolgen der Menschheitsgeschichte. Die        Deutschen Ärztetages. Die Delegierten sprachen
Pocken waren so ansteckend, dass jede:r sie be-
kam. Und 17 bis 20 Prozent der Infizierten star-     11 Vgl. Joseph von Schirt, Medizinische Topographie des
ben daran. Sie waren ein wesentlicher Grund          Fürstentums Ochsenhausen, Konstanz 2006.

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