Menschen - Lebenslang - FCZB

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Menschen - Lebenslang - FCZB
#2 – 2019

         Menschen
                   Inklusiv leben

Lebenslang   Berufliche und persönliche Weiterentwick-
             lung braucht passende Bildungsange­bote.
lernen       Wie sehen inklusive Modelle aus?
Menschen - Lebenslang - FCZB
Gemeinsam groß werden.
Und das ist erst der Anfang.
Je früher Kinder lernen, dass Unterschiede ganz normal sind, desto
selbstverständlicher werden sie später einmal mit ihnen umgehen.
Für ein Miteinander wie nie zuvor: Inklusion von Anfang an.

Mehr unter www.aktion-mensch.de
Menschen - Lebenslang - FCZB
Editorial

                                                                                        D
                                                                                                         er Spruch „Was Hänschen nicht
                                                                                                         lernt, lernt Hans nimmermehr“ ist
                                                                                                         so alt wie falsch. Denn längst haben
                                                                                                         Hirnforscher festgestellt, dass das
                                                                                                         menschliche Gehirn auch im hohen
                                                                                                         Alter noch Neues abspeichern kann
                                                                                                         – man muss es nur lebenslang
                                                                                        herausfordern. Der Mensch ist immer auf der Suche
                                                                                        nach spannenden Erfahrungen und Erkenntnissen,
                                                                                        sagt Hirnforscher Gerald Hüther (Seite 56). Des­
                                                                                        halb ist es nie zu spät, etwas Neues zu beginnen
                                                                                        (Seite 22). Unsere Neugierde kann aber auch
                                                                                        verkümmern, wenn man ihr keine Nahrung gibt.
                                                                                        Deshalb ist es so wichtig, dass alle Menschen Gele­
                                                                                        genheit bekommen, sich weiterzuentwickeln, egal,
                                                                                        wie alt und gebildet sie sind, egal, ob mit Behinde­
                                                                                        rung oder ohne. Dabei ist Erwachsenenbildung weit
                                                                                        mehr als eine berufliche Notwendigkeit (Seite 11).
                                                                                        Sie bietet vor allem auch die Möglichkeit, die eigene
                                                                                        Persönlichkeit zu entfalten und zu stärken (Seite 84),
                                                                                        teilzuhaben am gesellschaftlichen Leben (Seite 90)
                                                                                        und sich in demokratische Prozesse einzubringen
                                                                                        (Seite 52). Umso wichtiger, dass möglichst viele der
                                                                                        zahlreichen Weiterbildungsangebote barrierefrei
                                                                                        werden – nicht zuletzt im wachsenden digitalen
                                                                                        Sektor (Seite 40). Seit einigen Jahren ist es sogar
                                                                                        das gute Recht von Menschen mit Behinderung,
                                                                                        an Bildungsangeboten gemeinsam mit Menschen
                                                                                        ohne Behinderung teilnehmen zu können und
                                                                                        nicht abgeschottet in separaten Angeboten der
                                                                                        Behindertenhilfe. In einigen Städten sind bereits
                                                                                        Kooperationen und Leuchtturmprojekte entstanden,
                                                                                        die zeigen, wie es gehen kann, beispielsweise
                                                                                        an der Volkshochschule Bamberg (Seite 44).
                                                                                        Apropos: Zu den Grundideen von Volkshochschulen
                                                                                        gehört es, dass jeder Mensch seine besonderen
                                                                                        Kompetenzen an andere weitergeben kann. Schön,
Fotos Käte Kieseyer (oben), Constantin Mirbach (unten)

                                                                                        dass langsam, aber sicher auch Menschen mit
                                                                                        kognitiven Einschränkungen als Lehrende in der
                                                                                        Erwachsenenbildung mitwirken (Seite 76). So lernen
                                                                                        ihre Kursteilnehmer nicht nur Fachliches, sondern
                                                         Titel                          gleichzeitig auch etwas über gelebte Inklusion, und
                                                         Susanne Bundt (rechts)         entwickeln einen anderen Blick auf Menschen mit
                                                         hat gelernt, wie sie auf       Behinderung.
                                                         einem Bauernhof mithel­
                                                         fen kann. Damit entlastet      Christina Marx
                                                         sie unter anderem Sebas­       Chefredakteurin
                                                         tian Gut, der dort arbeitet.

                                                         Menschen #2 – 2019                                                                      3
Menschen - Lebenslang - FCZB
Seite 90
Im bayerischen Weilheim
haben sich Menschen
mit Behinderung wie
Hubert Kainer (Foto) zu
ehrenamtlichen Tier-
Kümmerern ausbilden
lassen. Eine Idee mit
Entwicklungspotenzial.

                                               Foto Constantin Mirbach

4                         Menschen #2 – 2019
Menschen - Lebenslang - FCZB
Inhalt
 6 M
    an lernt nie aus                  52 Lesen und schreiben für die        Kunstreich
    Wer lebenslang lernen will,            Demokratie
                                                                               Tanzen, musizieren, schreiben: drei
    braucht entsprechende                  Wer sich politisch engagieren
                                                                               Beispiele für künstlerische inklusive
    Bildungs­angebote. Wie inklusiv        will, muss nicht schreiben und
                                                                               Erwachsenenbildung.
    ist die Erwachsenenbildung?            lesen können. Aber es hilft.
                                                                               18 Tänzerin Neele Buchholz
14 Aufstieg für alle?                 56 Wenn der richtige Impuls
    Fachkräfte mit Behinderung             kommt                               38 mittelpunkt-Schreibwerkstatt
    haben es im Beruf oft schwerer.        Eine gute Nachricht: Die ver-
                                                                               60 Musikprojekt Werkstatt Utopia
    Woran liegt das?                       lorene Lust am Lernen kann
                                           jederzeit wiederbelebt werden.
20 D
    as gute Recht auf Bildung
    Professor Marianne Hirschberg      62 Zweite
                                               Chance
    zur Bedeutung inklusiver               Beispiele beruflicher Neuorien-     Standards
    Erwachsenenbildung für die             tierung nach einer psychischen      96 M
                                                                                   ehr wissen
    Gesellschaft.                          Erkrankung.
                                                                               97 Impressum
22 N
    eue Wege wagen                    68 F
                                           it für Vielfalt
                                                                               98  Ausblick: Recht haben –
    Vier mutige Menschen berich-           Unterschiedlichkeit in Unter-
                                                                                   Recht bekommen
    ten, wie sie eingeschlagene            nehmen bietet Chancen wenn
    Pfade verlassen haben.                 alle den Umgang damit lernen.

30 W
    eiter wachsen                     72 A lle müssen mitziehen
    Wissenswertes zu Bildungsur-           Rebecca Babilon erforschte die
    laub, finanzieller Förderung und       inklusive Erwachsenenbildung        Menschen online
    Anlaufstellen.                         in England. Ein Resümee.
                                                                               Fassungen der Texte in Einfacher
34 D
    ie Grundhaltung muss              76 R ollentausch                       Sprache und als Hörausgabe unter:
    stimmen                                Sechs Menschen mit Behinde-
                                                                               www.aktion-mensch.de/magazin
    Heterogene Gruppen zu un-              rung erzählen, wie es ist, selbst
    terrichten, verlangt spezielles        Lehrende zu sein.
    Know-how.
                                       84 D
                                           as starke Ich                               www.youtube.com/
40 L
    ernen im Netz                         Tipps und Möglichkeiten, sich                user/AktionMensch
    E-Learning-Angebote bieten             gegen Diskriminierung und
    Menschen mit Behinderung               Mobbing zu wehren.
                                                                                        www.facebook.com/
    neue Möglichkeiten.
                                       90 T
                                           eilhabe durch Teilgabe                      aktion.mensch
44 B
    ildung für alle: So werden            Welche Rahmenbedingungen
    Sprachkurs & Co. inklusiv              braucht es, damit Menschen
    Zwei Einrichtungen zeigen, wie         mit Behinderung sich ehren-                  www.twitter.com/

    inklusive Weiterbildung geht.          amtlich engagieren können?                   aktion_mensch

Menschen #2 – 2019                                                                                                     5
Menschen - Lebenslang - FCZB
Man lernt nie aus
6                       Menschen #2 – 2019
Menschen - Lebenslang - FCZB
Menschen #2 – 2019
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                     Fotos EyeEm/Valentyn Semenov (links), skynesher (rechts)
Menschen - Lebenslang - FCZB
Lernen hört nach der Schule und der Berufsausbildung nicht auf.
    Unser gesamtes Erwachsenenleben hindurch ist es sinnvoll und oft
    auch notwendig, dass wir unsere Kompetenzen aktualisieren und
    erweitern. Sei es für den Beruf oder auch für andere Lebensbereiche.
    So gesehen ist das Erwachsenenalter die längste und umfassendste
    Bildungsphase. Ein Überblick.

    Text Robert Fechner, Astrid Eichstedt, Stefanie Wulff

    Die Maxime, dass wir unser ganzes Leben                 viduelle berufliche Weiterbildungen. Nur etwa
    lang lernen (müssen), ist nicht neu und betrifft        20 Prozent der besuchten Weiterbildungen sind
    so gut wie alle Erwachsenen, unabhängig von             nicht berufsbezogen.
    ihrer beruflichen Situation oder davon, ob sie
    eine Behinderung haben oder nicht. Dieser
    Grundsatz hat mit der Digitalisierung und dem           Erwachsenenbildung umfasst alle
    damit verbundenen gesellschaftlichen Wandel             Lebensbereiche
    enorm an Bedeutung gewonnen. Die Neuerun-
    gen, an die es sich anzupassen gilt, kommen in          Auch außerhalb des beruflichen Kontextes gibt es
    deutlich kürzeren Abständen und verbreiten sich         ein Leben lang viel zu lernen. Allerdings nimmt
    schnell.                                                die Teilnahme an nicht berufsbezogenen Weiter-
                                                            bildungen laut AES erst bei den Mitte 50-Jährigen
    Der zuletzt erschienene Adult Education Survey          deutlich zu. Zum lebenslangen Lernen zählt auch
    (AES), in dem alle zwei Jahre europaweit die Wei-       der Erwerb von Kompetenzen, die dazu dienen,
    terbildungsaktivitäten von Personen zwischen 18         die eigene Persönlichkeit zu entfalten, mit Verän-
    und 65 Jahren erfasst werden, ergab für Deutsch-        derung und Einschnitten im Leben zurechtzukom-
    land im Jahr 2016 eine Weiterbildungsrate von           men, körperlich und seelisch gesund zu bleiben.
    50 Prozent. Jeder zweite Erwachsene, Männer wie         Nicht wenige Erwachsene, beispielsweise mit
    Frauen zu nahezu gleichem Anteil, hat also im           einer Behinderung oder als Zugewanderte, brau-
    Jahr 2016 an einer Weiterbildung teilgenommen.          chen auch Weiterbildungsangebote, um ein mög-
    1991 lag die Teilnahmequote noch bei 37 Pro-            lichst selbstständiges Leben führen zu können,
    zent. Damit steht Deutschland heute im europäi-         teilzuhaben am gesellschaftlichen Leben in all
    schen Vergleich gut dar. Nur in den Niederlanden        seinen Bereichen und nicht zuletzt, um ihr Recht
    (60 Prozent), Österreich (58 Prozent) und Schwe-        auf Mitbestimmung wahrnehmen zu können.
    den (57 Prozent) haben noch mehr Erwachsene             Der Deutsche Kulturrat, die Dachorganisation der
    Weiterbildungen besucht. Die Weiterbildungsakti-        deutschen Kulturverbände, nennt in einem aktuel-
    ven in Deutschland besuchen durchschnittlich            len Papier zur Erwachsenenbildung neben der
    1,7 Angebote pro Jahr und investieren dafür etwa        berufsbezogenen Anpassungs- und Aufstiegsfort-
    eine Arbeitswoche. Der Löwenanteil der Weiterbil-       bildung folgende Aufgaben:
    dungsaktivitäten, nämlich rund 70 Prozent, entfällt
    in Deutschland, ähnlich wie in seinen Nachbarlän-       •d
                                                              ie Möglichkeit, Basiskompetenzen zu erwerben
    dern, auf betriebliche Weiterbildungen. Ange-            und Schulabschlüsse nachzuholen;
    sichts des hohen Innovations- und Veränderungs-
    drucks in der Arbeitswelt ist das wenig verwun-         •d
                                                              ie Vermittlung von Schlüsselkompetenzen, etwa
    derlich. Hinzu kommen weitere zehn Prozent indi-         Fremdsprachen, zur Interaktion mit anderen;

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Menschen - Lebenslang - FCZB
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                                                                                                                 ngebote zur Festigung und Weiterentwicklung
                                                                                                                der eigenen Identität, zur Selbstverortung in der                                                   2.508
                                                                                                                Gemeinschaft und zur Vermittlung eines ge-
                                                                                                                meinsamen Wertesystems.

                                                                                                               •N
                                                                                                                 icht zuletzt biete sie Erwachsenen Unterstüt-
                                                                                                                zung in ihren verschiedenen Rollen und Lebens-
                                                                                                                bereichen – beispielsweise in der Familie, der
                                                                                                                Nachbarschaft oder in der Freizeit.
                                                                                                                                                                                            741.723
                                                                                                               Grundsätzlich gilt, dass heute bei der Suche nach
                                                                                                               einer Weiterbildung deutlich mehr auf Relevanz
                                                                                                               und Verwertbarkeit geachtet wird. Das zweckfreie
                                                                                                               Philosophiestudium rein aus Interesse betreiben
                                                                                                               häufig eher Menschen im Rentenalter. Die Viel-       741.723 Veranstaltungen der Erwachsenenbil-
                                                                                                               zahl der Aufgaben spiegelt sich auch in der Zahl     dung fanden 2016 insgesamt statt, davon 2.508
                                                                                                               der Angebote. Bei einem immer größeren Teil der      speziell für Menschen mit Behinderung. Das
                                                                                                               organisierten Kurse handelt es sich inzwischen       entspricht 1,6 Prozent aller Veranstaltungen.
                                                                                                               um E-Learning-Formate, die online oder als
                                                                                                               Mischform zwischen Präsenzkurs und Online­
                                                                                                               modulen, dem Blended Learning, angeboten wer-
                                                                                                               den. Bei den 18- bis 24-Jährigen lag die Teilnah-    Angebote erreichen nicht alle
Quelle Horn, H., Lux, T. & Ambos, I. (2018). Weiterbildungsstatistik im Verbund 2016 – Kompakt. (DIE Survey:
Daten und Berichte zur Weiterbildung). Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag. https://doi.org/10.3278/85/0018w

                                                                                                               mequote an digital gestützten Weiterbildungen
                                                                                                               2016 laut AES bereits bei über der Hälfte. Das       Besonders was die Vermittlung von Basiskompe-
                                                                                                               Thema Barrierefreiheit, beispielsweise bei Videos,   tenzen betrifft, haben die Institutionen der öffentli-
                                                                                                               wird dabei längst noch nicht ausreichend beach-      chen Erwachsenenbildung in den vergangenen
                                                                                                               tet.                                                 Jahren viel geleistet. Sei es im Hinblick auf Alpha-
                                                                                                                                                                    betisierung, nachdem 2011 durch eine erste um-
                                                                                                               Angebote der Erwachsenenbildung werden von           fassende Studie zu Literalität bekannt wurde, wie
                                                                                                               öffentlich-rechtlichen, gemeinnützigen, betriebli-   viele Erwachsene in Deutschland nicht ausrei-
                                                                                                               chen oder kommerziellen Anbietern organisiert.       chend lesen und schreiben können. Oder sei es
                                                                                                               Dazu kommt noch das schwer zu beziffernde            für die Integration von Flüchtlingen, beispielswei-
                                                                                                               selbst organisierte Lernen anhand von Fachzeit-      se durch die Vermittlung von Sprachkenntnissen.
                                                                                                               schriften oder -büchern, Lernprogrammen oder         Überhaupt ist die Zahl der Menschen mit Migrati-
                                                                                                               Wissenssendungen. Einer der größten öffentli-        onshintergrund, die an Weiterbildungen teilneh-
                                                                                                               chen Anbieter sind die Volkshochschulen, die         men, in Deutschland in den letzten Jahren gestie-
                                                                                                               2019 ihre 100-jährige Geschichte feiern. Ihr Leit-   gen. Laut AES lag sie 2016 aber immer noch
                                                                                                               gedanke lautet: Wissen teilen. Erwachsene lernen     zehn Prozent unterhalb der von Menschen ohne
                                                                                                               miteinander voneinander. Die egalitäre Grund-        Migrationshintergrund. Die Teilnahmequoten von
                                                                                                               idee, die Plattformen wie Wikipedia oder Lernan-     Erwachsenen ohne Ausbildungsabschluss
                                                                                                               gebote auf Kanälen wie YouTube heute so popu-        (29 Prozent) und von Arbeitslosen (27 Prozent)
                                                                                                               lär macht, findet sich also schon Anfang des         liegen deutlich unter der von Erwerbstätigen
                                                                                                               20. Jahrhunderts in den Volkshochschulen.            (56 Prozent) und ist zuletzt sogar leicht gesun-

                                                                                                               Menschen #2 – 2019                                                                                            9
Menschen - Lebenslang - FCZB
inklusive Angebote in der Erwachsenenbildung
                                                             bislang eher die Ausnahme.

                                                             Dass das so ist, hat mehrere Ursachen. Etwa die
                                                             Frage der Kostenübernahme einer für Teilneh-
                                                             mende benötigten Assistenz. Ein Anspruch auf
                                                             Unterstützung für eine Weiterbildung besteht für
                                                             Menschen mit Behinderung nach einer abge-
                                                             schlossenen Erstausbildung nämlich bislang
                                                             nicht. Hinzu kommt eine oft mangelnde Erfahrung

„Vor allem im ländlichen                                     der Lehrenden im Umgang mit Menschen mit
                                                             Behinderung. Entsprechende Qualifizierungen

Raum spielt das Thema                                        gibt es wenige, was darauf hindeutet, dass sie
                                                             auf der bildungspolitischen Prioritätenliste bislang

Mobilität eine große                                         nicht weit oben stehen.

Rolle. Wie komme ich
                                                             Frederik Poppe, Professor für Rehabilitation und
                                                             Teilhabe an der Hochschule Merseburg sowie
                                                             Vorsitzender der Gesellschaft Erwachsenenbil-
zu den Institutionen,                                        dung und Behinderung e. V. (GEB), nennt zwei
                                                             weitere Gründe, die Inklusion in der Erwachse-
 die etwas anbieten?“                                        nenbildung erschweren. „Vor allem im ländlichen
                                                             Raum spielt das Thema Mobilität eine große Rol-
– Professor Frederik Poppe                                   le. Wie komme ich zu den Institutionen, die etwas
                                                             anbieten? Durch Einsparungen im ÖPNV und den
                                                             Wegfall des Zivildienstes hat sich die Situation
        ken. Das Ziel der Erwachsenenbildung, Bildungs-      häufig verschlechtert.“ Als zweiten Grund nennt er
        abstände zu verringern, bleibt eine schwierige       die Herausforderung, die Angebote barrierefrei zu
        Aufgabe. Menschen mit Behinderung, insbeson-         machen, etwa Dolmetscher, Audiodeskription,
        dere jene mit Lernschwierigkeiten, sind als Ziel-    Unterstützte Kommunikation und Leichte Sprache
        gruppe der Erwachsenenbildung bislang kaum           bereitzustellen. Dafür brauche es flexible und un-
        präsent. Für sie gibt es hauptsächlich getrennte     bürokratische Finanzierungskonzepte.
        Parallel­angebote innerhalb der Behindertenhilfe
        oder -selbsthilfe.                                   Andererseits, so Frederik Poppe, habe sich aber
                                                             schon einiges zum Besseren geändert. „Vor der
        Dabei wäre gerade der öffentliche Sektor der Er-     Ratifizierung der UN-BRK hatten wir noch ein
        wachsenenbildung, der in der Regel ohne formel-      ganz anderes Klima. Da biss man im Hinblick auf
        le Beschränkungen wie vorherige Abschlüsse           Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen bei
        allen offensteht, eigentlich wie geschaffen dafür,   den Anbietern der allgemeinen Erwachsenenbil-
        dem in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-       dung meist auf Granit. Das war nicht nur Desin­
        BRK) formulierten Recht auf Zugang für Erwach-       teresse, sondern sogar Ablehnung. Damals gab
                                                                                                                    Foto privat

        sene mit Behinderung zu inklusiven Bildungsan-       es noch stärkere Berührungsängste als heute,
        geboten zu entsprechen. Tatsächlich aber bilden      und der Personenkreis von Menschen mit

10                                                                                         Menschen #2 – 2019
Gründe für die Teilnahme an
Weiterbildungen insgesamt ...

                                         berufliche Tätigkeit besser ausüben 57 %
Wissen/Fähigkeiten zu einem interessierenden Thema erwerben 37 %
                 im Alltag nutzbare Kenntnisse/Fähigkeiten erwerben 36 %
                                             berufliche Chancen verbessern 29 %
                                                 Verpflichtung zur Teilnahme 23 %
                                                             Arbeitsplatz sichern 22 %
        organisatorische/technische Veränderungen bei der Arbeit 17 %
                    Aussichten auf Arbeitsplatz/neue Stelle verbessern 13 %
                                   Zertifikat/Prüfungsabschluss erwerben 11 %
                                        Leute kennenlernen und Spaß haben 10 %

Quelle: AES 2016. Basis: Non-formale
Weiterbildungsaktivitäten der 18- bis
64-Jährigen

                                                                                                                                              berufliche Tätigkeit

... und bei den 50- bis
                                                                                                                                              besser ausüben

69-Jährigen                                                                                                                                   Nutzen im Alltag

                                                                                                                                              Fähigkeiten zu einem
                                                                                                                                              interessierenden
     64                                                                                                                                       Thema erweitern

                                                                                                                                              Leute kennenlernen
                                                                                                                                              und Spaß haben
                                           51                           51

                                                                                                            46                                gesünder leben

               41                                                                                                                             ehrenamtliche Tätig-
                                                38 39                             35                                                          keit besser ausführen
                                                                             39                                                               können
          34
                                                                                                       30

                                                                                                  23             23

                                                                                                                           14
                                                        10                             11                             11
                    7                                                                       7 7
                             4                                5 5
                        3

          50–54 Jahre                           55–59 Jahre                  60–64 Jahre               65–69 Jahre

                                                                                                                                Angaben in Prozent. Quelle: AES 2016.
                                                                                                                                Basis: Bildungsaktivitäten der 50- bis
                                                                                                                                69-Jährigen

Menschen #2 – 2019                                                                                                                                                       11
Teilnehmerquoten in der Weiterbildung
und ihren Segmenten

      49 51 50

                                    35 37 36
                                                                                                                                        2012

                                                                                                                                        2014
                                                                                        13 12 13
                                                               9 9                                                                      2016
                                                                         7

    Weiterbildung                  betriebliche               individuelle         nicht berufsbezogene
      gesamt                      Weiterbildung             berufsbezogene             Weiterbildung
                                                             Weiterbildung

Angaben in Prozent. Quellen: AES 2012,

                                                                                                                  10.400
2014, 2016. Basis: 18- bis 64-Jährige

                                                                                                            Rund
                                                                                                            Frauen haben 2017 Weiterbildungsange-
                                                                                                            bote für besondere Adressaten – Ältere,
                                                                                                            Analphabeten, Arbeitslose, Menschen mit
Lernfelder in der betrieblichen,                                                                            Migrationshintergrund oder Menschen mit
                                                                                                            Behinderung – wahrgenommen. Nur rund
individuell berufsbezogenen und nicht                                                                       2.700 Teilnehmer waren Männer.

berufsbezogenen Weiterbildung

                                                                                                                                                      Quelle Horn, H., Lux, T. & Ambos, I. (2018). Weiterbildungsstatistik im Verbund 2016 – Kompakt. (DIE Survey:
                                                                                                                                                      Daten und Berichte zur Weiterbildung). Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag. https://doi.org/10.3278/85/0018w
                                                  14
             30                                                                   28                                          betriebliche
                                             13
   54                                                                                                                         Weiterbildung
                                                       74                              64
            16                                                                8

                                                                                                                              individuelle
                                            Pädagogik und                                                                     berufsbezogene
  Gründung,                                                                   Gesundheit
                                           Sozialkompetenz                                                                    Weiterbildung
  Sprachen,                                                                   und Sport
 Kultur, Politik                                                                                                              nicht berufsbezogene
                                                                     4
                                                                 7                                                            Weiterbildung
                             17                                                                 20
                         9                                                                    10
                                  74                                                                  71
                                                                     89

                      Natur, Technik,                          Wirtschaft,                         gesamt
                        Computer                              Arbeit, Recht

Angaben in Prozent. Quelle: AES 2016.
Basis: Non-formale Weiterbildungsaktivi-
täten der 18- bis 64-Jährigen

12                                                                                                                           Menschen #2 – 2019
kognitiver Behinderung wurde häufig nicht          haben sich beispielsweise in mehreren Städten
       als Zielgruppe von Bildungsformaten akzeptiert.“      und Gemeinden Netzwerke aus Bildungseinrich-
       Heute ist der Weiterbildungsbedarf dieser Ziel-       tungen, Trägern der Behindertenhilfe und -selbst-
       gruppe und ihr Recht darauf deutlich anerkannter.     hilfe gebildet um eine inklusive Weiterbildungs-
       Das Deutsche Institut für Erwachsenenbildung          landschaft zu erschaffen. Es gibt erste Bemühun-
       beispielsweise hat seine ProfilPASS-Material-         gen, Lehrende in der Erwachsenenbildung besser
       sammlung mithilfe von EU-Mitteln 2018 auch in         für inklusives Lehren zu qualifizieren, und es gibt
       einer für Menschen mit kognitiven Einschränkun-       innovative Möglichkeiten für barrierefreies Lernen
       gen angepassten Version in Einfacher Sprache          im Netz, die als Vorbild dienen können. Nicht zu-
       veröffentlicht. Seit Oktober 2019 wird in einem       letzt: Heute sind – wenn auch bislang nur verein-
       weiteren Projekt an einer Version gearbeitet,         zelt – Menschen mit Behinderung als Teilnehmen-
       die sich speziell an Menschen mit kognitiven          de von regulären Weiterbildungen präsent und
       Einschränkungen richtet.                              vereinzelt auch als Dozenten und Experten nicht
                                                             nur in eigener Sache im Einsatz.
       Mit den ProfilPASS-Materialien können, von quali-
       fizierter Beratung begleitet, Interessen und Fähig-   Das Thema Finanzierung aber bleibt angesichts
       keiten erfasst und dokumentiert werden, die in        leerer kommunaler Kassen vielerorts ein Kernpro-
       der Ausbildung, im Beruf oder Ehrenamt, in der        blem. Wie kann es gelingen, nachhaltig inklusive
       Freizeit oder im Familienleben bereits erworben       Strukturen in der Erwachsenenbildung zu etablie-
       wurden. Ausgehend von dem erstellten Profil wer-      ren – auch über einzelne Leuchtturmprojekte und
       den dann in der Beratung passende Tätigkeiten         Anschubfinanzierungen hinaus –, zumal die Bil-
       und Weiterbildungsziele identifiziert.                dung Ländersache ist und sich die Rahmenbedin-
                                                             gungen von Bundesland zu Bundesland unter-
       Inzwischen wenden sich auch zunehmend Kultur-         scheiden? Eine Möglichkeit wäre beispielsweise
       und Bildungsinstitutionen an die Gesellschaft für     ein bundesweiter Fonds für inklusive Erwachse-
       Erwachsenenbildung, die sich für Menschen mit         nenbildung, auf den alle Länder Zugriff haben
       Einschränkungen öffnen wollen. Diejenigen unter       könnten, um beispielsweise die Mobilität und
       ihnen, die sich in Sachen inklusive Erwachsenen-      Assistenzleistung für all diejenigen gewährleisten
       bildung auf den Weg gemacht haben, besitzen           zu können, die sie benötigen. Mindestens ebenso
       eine gewisse Vorbildfunktion. Besonders im Be-        wichtig ist sicherlich Wissenstransfer, also der
       reich der kulturellen Bildung hat sich bereits viel   Austausch über und die Verbreitung von Erfahrun-
       getan. Museen im ganzen Land bemühen sich             gen gelungener Modellprojekte, um aus ihnen
       seit einigen Jahren sehr darum, inklusive Besu-       bundesweit lernen zu können. Mit solchen positi-
       cherprogramme zu entwickeln, ihre Ausstellungen       ven Beispielen ließe sich auch der Nutzen inklusi-
       allen zugänglich zu machen und gezielt Men-           ver Erwachsenenbildung für unsere Gesellschaft
       schen mit Behinderung anzusprechen.                   verdeutlichen. Denn indem sie neue Begeg­nungs­
                                                             räume für Menschen mit und ohne Behinderung
                                                             im Alltag schafft, bringt sie uns ein wichtiges
       Erprobte Lösungsansätze                               Stück voran auf dem Weg in eine Gesellschaft,
                                                             die niemanden ausgrenzt.
       Mittlerweile gibt es auch auf kommunaler Ebene
       eine ganze Reihe guter und erprobter Lösungsan-
       sätze, wie eine bessere inklusive Erwachsenenbil-           ehr wissen
                                                                  M
       dung in der Zukunft gestaltet werden kann. So              Links und Tipps zum Beitrag ab Seite 96.

Menschen #2 – 2019                                                                                           13
AUFSTIEG

     FÜR

       ALLE?
                                Foto Stocksy/Connor Dwyer

14         Menschen #2 – 2019
Trotz gleicher formaler Qualifikationen und hoher Motivation: Auch
                                          erfahrene Fachkräfte mit Behinderung finden viel schwerer einen Job
                                          oder machen langsamer Karriere innerhalb ihres Berufs. Vorbehalte
                                          sind nur ein Grund dafür. Oft mangelt es ihnen auch an sogenannten
                                          weichen Faktoren, also an zusätzlichen Erfahrungen. Torsten Prenner
                                          vom Arbeitgeber-Service für schwerbehinderte Akademiker, erklärt,
                                          woran das liegt – und was man dagegen tun kann.

                                          Interview Stefanie Wulff

                                          Hoch qualifizierten Bewerbern mit Behinderung         troffenen erst einmal neu orientieren. Plötzlich ist
                                          fehlen häufig die Sahnehäubchen im Lebens­            alles anders. Man kann vielleicht nicht mehr so
                                          lauf: das Auslandssemester, die Teilnahme an          viel reisen. Und 50-Stunden-Wochen wie bisher
                                          relevanten Kongressen, die fachliche Weiterbil­       sind eventuell auch nicht mehr drin. Diese Perso-
                                          dung. Aufgrund physischer und finanzieller            nengruppe macht übrigens 65 Prozent aller von
                                          Barrieren sind sie viel schwieriger zu erlangen.      uns betreuten Menschen aus.
                                          Welche Auswirkungen hat das bei der
                                          Jobsuche?                                             Welche Schwierigkeiten haben jüngere
                                             Das hat schon negative Auswirkungen. Größere       Akademiker?
                                          Unternehmen schauen zum Beispiel durchaus                Junge Akademiker, die ihr Hochschulstudium
                                          darauf, ob jemand Auslandserfahrungen mitbringt.      mit einer Behinderung absolviert haben, brauchen
                                          Oder was er oder sie neben dem Studium noch           bei besonderem Unterstützungsbedarf oft länger
                                          alles gemacht hat. Fehlen relevante Fortbildun-       für ihr Studium. Sie müssen sich besonders orga-
                                          gen, sind auch das Minuspunkte. Deshalb haben         nisieren, zum Beispiel, was die eigene Pflege und
                                          Betroffene ein Stück weit doppelte Nachteile aus      Assistenz angeht. Deshalb bleibt weniger Zeit,
                                          ihrer Behinderung.                                    andere Dinge neben dem Studium zu machen.
                                                                                                Das Dilemma: Gerade bei diesen Aktivitäten wer-
                                          Vor welchen besonderen Herausforde­                   den Kontakte geknüpft. Denn wer bekommt zum
                                          rungen stehen ältere Menschen?                        Beispiel meist die Promotionsstelle? Eben eine
Foto Stocksy/Alejandro Moreno De Carlos

                                             Viele ältere Fachkräfte haben erst im Laufe        ehemalige studentische Hilfskraft.
                                          ihres Berufslebens eine Behinderung erworben.
                                          Sie haben oft schon jahrzehntelange berufliche        Welche Lösungen könnte es für diese
                                          Erfahrungen. In der Regel leben sie in festeren       Probleme geben?
                                          Strukturen, haben vielleicht Familie und Wohnei-        Besonders wichtig ist, dass schwerbehinderte
                                          gentum. Sie sind deshalb teils nicht mehr so flexi-   Menschen laufend an Weiter- und Fortbildungen
                                          bel und können nicht ohne Weiteres umziehen für       beteiligt werden. Gerade wenn ich in bestimmten
                                          eine neue Stelle. Außerdem müssen sich die Be-        Bereichen Einschränkungen habe, ist es wichtig,

                                          Menschen #2 – 2019                                                                                           15
„Es ist besonders                                      Wird durch den digitalen Wandel und
                                                            die rasch wachsende Zahl an Online­
     wichtig, dass                                          angeboten der beruflichen Weiterbil­
                                                            dung manches auch etwas leichter?
     schwerbehinderte                                         Ja, es gibt mittlerweile viele gute und barriere-
                                                            arme Angebote. Sie sind leicht zu bedienen, man

     Menschen laufend                                       kann sie selbst organisieren und von zu Hause
                                                            aus nutzen. Allerdings denke ich, Menschen mit

     an Weiter- und                                         Behinderung sollten auch mehr aus ihrer persönli-
                                                            chen Umgebung herauskommen können. Ich
                                                            halte es für wichtig, an normalen Angeboten in
     Fortbildungen                                          der Gruppe teilzunehmen und sich dort zu ver-
                                                            netzen. Auch das ist Inklusion: dass nicht behin-
     beteiligt werden.“                                     derte Menschen Schwerbehinderte kennenlernen
                                                            und in ihrer Umgebung als selbstverständlich
                                                            wahrnehmen.

                                                            Stichwort persönliche Kontakte:
                                                            Welche Rolle können Mentoring­
         auf dem neusten Stand zu sein. Dann habe ich,      programme spielen?
      wenn ich mich beruflich neu orientieren möchte           Eine tolle Sache und sehr wichtig! Aus fachli-
      oder muss, bessere Karten auf dem Arbeitsmarkt.       cher Sicht kann die Agentur für Arbeit gut beraten.
      Gesetzgeber und Bildungsanbieter sind gefragt,        Aber wenn es um praktische Lösungen für Proble-
      entsprechend barrierefreie Angebote vorzuhalten.      me und um Erfahrungen geht, dann kann Mento-
         Außerdem geht es darum, das Selbstbewusst-         ring im Sinne der Peerberatung viel mehr errei-
      sein der Bewerber zu stärken. Wenn ihnen auch         chen. Menschen, die in ähnlicher Situation sind,
      auf der einen Seite die üblichen weichen Fakto-       können wertvolle Hinweise und Tipps geben – vor
      ren fehlen, bringen sie dafür doch ganz andere        allem in Bezug auf die Themen Einstieg oder Wie-
      Erfahrungen mit. Vielleicht sind sie selbst Arbeit-   dereinstieg in den Beruf und das eigene Selbstbe-
      geber und beschäftigen persönliche Assistenz-         wusstsein. Einige Beispiele: der Hildegardis-Verein
      kräfte. Diese Erfahrungen können wertvolle Res-       in Bonn, der Deutsche Verein der Blinden und Seh-
      sourcen im Arbeitsalltag sein.                        behinderten und die Initiative My Handicap bieten
         Dann müssen wir natürlich weiter an der Um-        Mentoringprogramme an.
      setzung von Inklusion arbeiten. Der Arbeitgeber-
      Service für schwerbehinderte Akademiker führt         Vor dem Hintergrund Ihrer täglichen
      dazu verschiedene Projekte durch. Zum Beispiel        Beratungspraxis: Welche Arten von
      der Aufbau des inklusiven Expert*innen-Netz-          Weiterbildungen oder Beratung wün­
      werks IXNET. Dabei geht es um Vernetzung und          schen sich arbeitssuchende Fachkräf­
      Support durch Peers und Experten, um die Karrie­      te mit Behinderung besonders?
      rechancen von schwerbehinderten Akademikern              Wenn es nicht klappt mit der Jobsuche und in
      zu erhöhen. Außerdem möchten wir die Informati-       Bewerbungsverfahren wollen die meisten wissen:
      onslage für schwerbehinderte Menschen, die            Woran liegt es? Ist es ein fachliches Problem?
      Erfahrung im Ausland sammeln möchten, verbes-         Fehlt mir eine Weiterbildung? Oder habe ich mich
      sern. Hierzu möchten wir ein eigenes Projekt auf      nicht geschickt genug verkauft? Wurde ich diskri-
      die Beine stellen.                                    miniert? Die meisten wünschen sich in diesen

16                                                                                        Menschen #2 – 2019
persönlichen Fragen mehr Klarheit. Deshalb ha-
                                                                                 ben wir auch ein spezielles Programm für schwer-
                                                                                 behinderte Akademiker aufgelegt. Sie können im
                                                                                 Rahmen einer einwöchigen Maßnahme ein per-
                                                                                 sönliches Coaching nutzen. Insgesamt sind die
                                                                                 Weiterbildungsangebote vielfältig. Wichtig ist hier
                                                                                 wieder die Barrierefreiheit und die Bereitschaft
                                                                                 der Bildungsträger, auf die Belange behinderter
                                                                                 Menschen Rücksicht zu nehmen.

                                                                                 Was würden Sie sich vonseiten der
                                                                                 Arbeitgeber wünschen, um Fachkräfte
                                                                                 mit Behinderung zu unterstützen?
                                                                                    Viele Arbeitgeber sind heute schon engagiert
                                                                                 und schließen beispielsweise Inklusionsvereinba-
                                                                                 rungen im eigenen Unternehmen. Trotzdem:
                                                                                 Obwohl der Markt nach Fachkräften sucht, ist es
                                                                                 für schwerbehinderte Akademiker schwierig, eine
                                                                                 Stelle zu finden oder Karriere zu machen. Ich
                                                                                 würde mir wünschen, dass mehr Arbeitgeber sie
                                                                                 als das ansehen, was sie sind: sehr qualifizierte
                                                                                 und motivierte Mitarbeiter und Führungskräfte.
                                                                                 Ihre Anstellung kann auch mit Zuschüssen der
                                                                                 Bundesagentur für Arbeit und der Integrationsäm-
                                                                                 ter unterstützt werden. Wichtig sind auch die
                                                                                 Kultur und das Arbeitsklima in den Unternehmen.
                                                                                 Ängste und Vorbehalte muss man ernst nehmen.
                                                                                 Dementsprechend muss auch in diesen Berei-
                                                                                 chen informiert und geschult werden. Integrati-
                                                                                 onsämter bieten hier viele Hilfestellungen. Sehr
Foto GettyImages/Jorg Greuel; Zentrale Auslands- und Fachvermittlung (Porträt)

                                                                                 gut finde ich auch, wenn Unternehmen sich aus-
                                                                                 tauschen und gegenseitig unterstützen, wie zum
                                                                                 Beispiel im UnternehmensForum, ein Bündnis von        Torsten Prenner arbeitet seit knapp 30 Jahren bei
                                                                                 Firmen, das die Inklusion behinderter Menschen        der Bundesagentur für Arbeit. Seit dem Jahr 2000
                                                                                 auf dem ersten Arbeitsmarkt seit vielen Jahren        ist er bei der bundesweit tätigen Zentralen Aus-
                                                                                 aktiv unterstützt.                                    lands- und Fachvermittlung (ZAV) in Bonn zustän-
                                                                                                                                       dig für die Beratung und Vermittlung schwerbehin-
                                                                                                                                       derter Akademiker. Einige Jahre
                                                                                       ehr wissen
                                                                                      M                                                lang war er außerdem Schwer-
                                                                                      Links und Tipps zum Beitrag ab Seite 96.         behindertenvertrauensperson
                                                                                                                                       in der ZAV.

                                                                                 Menschen #2 – 2019                                                                                        17
Kunstreich

18           Menschen #2 – 2019
Schritt für Schritt

                                             Im Alter von drei Jahren hat sie die Leidenschaft fürs
                                             Tanzen gepackt. Seitdem mag die inzwischen 28-jäh-
                                             rige Neele Buchholz nicht mehr darauf verzichten
                                             und lernt immer mehr dazu. Ihre ersten Tanzschritte
                                             machte die Bremerin, die das Downsyndrom hat,
                                             bei einem integrativen Tanzkurs im Verein impuls. Mit
                                             13 Jahren wurde sie Mitglied der Jugendtanztheater-
                                             kompanie „Die Anderen“ am Tanzwerk Bremen. Darauf
                                             folgten Theaterkurse und Workshops sowie Rollen im
                                             Musical „Jakobs Aufbruch“ der Jugendkirche Bremen
                                             und in der Oper „Eugen Onegin“ am Theater Bremen.
                                             Als 18-Jährige startete Neele Buchholz ihre Laufbahn
                                             beim Verein tanzbar_bremen, der sich dem zeitgenös-
                                             sischen Tanz verschrieben hat. Dort beschloss sie
                                             auch, die Laufbahn als Tänzerin einzuschlagen. Nach
                                             einer individuell auf sie zugeschnittenen Ausbildung
                                             ist sie seit 2014 fest angestellt.

                                             Sie entwickelte das Projekt KompeTanz mit, arbeitet
                                             als Tänzerin sowie als anleitende und künstlerische
                                             Mitarbeiterin. Inzwischen hat sie mit „Paradies-Tanz“
                                             ihr erstes eigenes Kursformat entwickelt und ihren
                                             Lernhorizont einmal mehr erweitert. Neben den be-
                                             kannten Schauspielern Emilia Schüle, David Kross
                                             und Axel Stein war sie als Sarah im Kinofilm „Simpel“
                                             zu sehen. Man darf gespannt sein, was sie noch alles
                                             ausprobieren wird.
                     Foto Daniela Buchholz

                                                    
                                                    Mehr erfahren unter:
                                                    www.tanzbarbremen.com

Menschen #2 – 2019                                                                                    19
Kommentar

Das gute Recht auf Bildung
Deutschland hat sich mit der Inkraftsetzung der UN-Behindertenrechtskon-
vention (BRK) als deutschem Recht ab dem 26. März 2009 unter anderem
dazu verpflichtet, ein Bildungssystem zu verwirklichen, an dem Menschen
mit Behinderung vollständig und gleichberechtigt teilhaben können. Da-
rin ausdrücklich inbegriffen sind Angebote für Erwachsenenbildung und
lebenslanges Lernen. „Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass Menschen
mit Behinderungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen
Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung, Berufsausbildung, Erwachse-
nenbildung und lebenslangem Lernen haben. Zu diesem Zweck stellen die
Vertragsstaaten sicher, dass für Menschen mit Behinderungen angemesse-
                                                                                Illustration Tania Garcia

ne Vorkehrungen getroffen werden.“ Artikel 24 Absatz 5 BRK

Text Marianne Hirschberg

20                                                         Menschen #2 – 2019
Deutschland und seine Bun-          für Kinder und Jugendliche –         der Gesellschaft zu begreifen
              desländer haben sich also           sowohl im Hinblick auf den           und zu erleben, ist für alle
              verpflichtet, zur Verwirklichung    Einzelnen als auch auf unsere        Gesellschaftsmitglieder rele-
              dieses Rechts konkrete Maß-         Gesellschaft als Ganzes.             vant. Letztlich ist es ein Weg,
              nahmen anzubieten. Ist dies in                                           um das Bewusstsein für Men-
              den vergangenen zehn Jahren         Für Erwachsene mit Behinde-          schenrechte, Toleranz und die
              systematisch und in strukturell     rungen ist inklusive Bildung ein     positiven Effekte der Vielfalt
              ausreichendem Maß gesche-           wichtiger Schlüssel für ihre per-    in unserer heterogenen Gesell-
              hen? Wohl kaum.                     sönliche Entwicklung und für         schaft zu stärken. Höchste
                                                  ihre Teilhabe an der Gesell-         Zeit, ihn konsequent zu
              Mit der Behindertenrechts-          schaft, zu der alle gehören. Viel    verfolgen.
              konvention ist ein Wechsel im       zu lange wurde weitgehend
              Verständnis von Behinderung         ignoriert, dass auch behinderte
              verbunden, weg von einer in-        Erwachsene den Wunsch, den
              dividualisierten medizinischen      Bedarf und das Recht haben,
              Sichtweise hin zu einem men-        sich ein Leben lang weiterzu-
              schenrechtlichen Ansatz. Dies       entwickeln, ihre Begabungen,            Marianne Hirschberg ist Profes-
              bedeutet, die Vielfalt mensch-      ihre Kreativität sowie ihre             sorin mit den Forschungsschwer-
              lichen Lebens und den gesell-       geistigen und körperlichen              punkten Menschenrechte, Dis­
              schaftlichen Beitrag jedes ein-     Fähigkeiten voll zur Entfaltung         ability Studies und Inklusive
              zelnen Menschen zu würdigen.        zu bringen.                             Bildung an der Fakultät Gesell-
              Für das Bildungssystem heißt                                                schaftswissenschaften der Hoch-
              das: gemeinsames Lernen von         Und nicht zuletzt: Die volle            schule Bremen.
              Anfang an und ein Leben lang.       und gleichberechtigte Teilhabe          Ihr aktuelles Forschungsprojekt
              Es gilt, Institutionen – auch die   an Kursen, in denen Inklusion           „Inklusive Bildung in der Alpha-
              der Erwachsenenbildung – so         erfolgreich gelebt wird, kann           betisierungspraxis und im Sys-
              zu gestalten und weiterzuent-       Erwachsenen mit und ohne                tem des Zweiten Bildungswegs
              wickeln, dass alle Menschen         Behinderungen ein Bewusstsein           – Qualifikationen, Kompetenzen
              qualitativ hochwertige Bildungs-    ihrer Würde vermitteln und ihr          und Bedarfe des pädagogischen
              möglichkeiten erhalten, sich        Selbstwertgefühl steigern. Ein          Personals“ dient dazu, Lehrkräfte
              wertgeschätzt fühlen, partizipie-   wichtiger Effekt für die Persön-        der Erwachsenenbildung zu
              ren und ihr Potenzial entfalten     lichkeitsstärkung, besonders für        befähigen, inklusive Lerngruppen
              können.                             diejenigen, die das als Kinder          qualitativ hochwertig zu unter-
                                                  und Jugendliche nicht erleben           richten. Auf Basis von Gruppen-
              Im Bereich der Schulbildung         durften.                                diskussionen und einer bundes-
              gibt es erkennbare, wenn                                                    weiten Fragebogenerhebung mit
              auch teils eher verpflichtete       Für unsere Gesellschaft bietet          Lehrkräften an Volkshochschulen
              Bemühungen und vor allem            inklusive Erwachsenenbildung            wird ein Fortbildungsmodul ent-
              heftige Diskussionen über die       die Chance, Berührungsängste            wickelt und erprobt. Das Projekt
              Umsetzung von Inklusion. Im         und Befangenheiten abzubau-             wird vom Bundesministerium für
              Vergleich dazu blieb die Er-        en, die sich durch den Mangel           Bildung und Forschung von April
              wachsenenbildung hierzulande        an Begegnung miteinander über           2018 bis März 2021 gefördert.
              bislang von diesem Thema            Jahrzehnte hinweg aufgebaut
              weitgehend unberührt – mit          haben. Verständnis und Respekt
              einigen Ausnahmen in den Be-        für kulturelle und individuelle
              reichen der kulturellen und der     Vielfalt lässt sich auf diese Wei-
              sportlichen Bildung. Dabei sind     se ebenso fördern wie die ge-
Foto privat

              inklusive Bildungsangebote für      nerelle Kompetenz im Umgang
              Erwachsene ebenso wichtig wie       hiermit. Behinderung als Teil

              Menschen #2 – 2019                                                                                              21
Neue Wege wagen
     Ausgetretene Pfade verlassen und etwas ganz Neues ausprobieren
     erfordert Mut. Vier Menschen berichten von ihren Erfahrungen.

     Protokolle Theresa Boll Fotos Jewgeni Roppel

                                    „Ich bin nicht der Typ, der meckert.“

22                                                                          Menschen #2 – 2019
aber nicht ganz auf und nahm erst mal
                                                            unbezahlten Urlaub – man weiß ja nie,
                                                            was kommt. Mit der Zeit bildete ich mich
                                                            in Seminaren fort und lernte, wie man
                                                            ein eigenes Unternehmen führt. Vieles

Sascha Lang                                                 brachte ich mir einfach selbst bei und
                                                            wuchs mit jeder Herausforderung.

Sascha Lang betreibt seine eigene Event- und Booking-       Weil ich blind bin, stellte ich beim Integ-
agentur, Red Lion Entertainment. Der 44-jährige Vater       rationsamt in Schleswig-Holstein einen
von zwei Kindern ist blind und arbeitete zuvor viele        Antrag, um für bestimmte Aufgaben im
Jahre lang als Postbeamter in seinem Heimatland             Eventbereich eine Unterstützung zu be-
Luxemburg. Als er sich entschied, stattdessen lieber        kommen. Doch das Amt verweigerte mir
seine Leidenschaft für Musik und Events zum Beruf zu        die Arbeitsassistenz. Die Begründung:
machen, stieß er auf einige Widerstände.                    Wegen meines gültigen Arbeitsvertrags
                                                            in Luxemburg hätte ich keinen Anspruch
                                                            auf Arbeitsassistenz zum Aufbau einer
                Eigentlich galt meine Leidenschaft          selbstständigen beruflichen Existenz.
                schon immer dem Radio, der Künstler-        Eine ungerechte Entscheidung, wie ich
                betreuung und Events. Aber als Künst-       fand, schließlich sollte jeder Mensch die
                lerbetreuer einmal wirklich Geld verdie-    gleichen Chancen haben, sich ein zwei-
                nen? Daran glaubte ich früher nicht. Also   tes Standbein aufzubauen. Also klagte
                entschied ich mich auf Wunsch meiner        ich bis vor das Bundesverwaltungsge-
                Eltern lieber für das sichere Beamten-      richt. Der Prozess hat mich viel Zeit ge-
                tum und arbeitete 16 Jahre lang als         kostet und wurde zur finanziellen Belas-
                Postbeamter in Luxemburg bei der            tung – wir standen kurz vor dem Ruin.
                staatlichen Telekom in der Buchhaltung.     Aber ich bin nicht der Typ, der meckert.
                Dort betreute ich die Fehlbuchungen         Ich wollte diesen Kampf unbedingt aus-
                von Kunden – nach 16 Jahren eine            fechten – für mich und viele andere.
                extrem unspektakuläre Arbeit.               Irgendeiner musste es ja tun. Vier Jahre
                                                            lang kämpfte ich also für die richtige
                Eine Leidenschaft nicht auszuleben, das     Interpretation und Anwendung des Ge-
                passte nicht zu mir – ich brauche Action!   setzes – am Ende mit Erfolg. Auf das
                2008 wollte ich es dann doch wissen         Urteil von 2018, das seitdem für viele
                und gründete meine eigene Event- und        vergleichbare Fälle die Entscheidung
                Bookingagentur – der Liebe wegen in         der Behörden beeinflusst, bin ich stolz.
                Trier. In Luxemburg arbeitete ich nur
                noch in Teilzeit als Beamter und pendel-    Trotz aller Herausforderungen haben
                te wochenweise. Aber irgendwann             meine Frau und ich in diesem Jahr
                musste ich mich entscheiden: Sicherer       sogar noch unser erstes eigenes Res-
                Beamtenjob oder spannende Selbst-           taurant in Bad Segeberg eröffnet – wir
                ständigkeit? Ich setzte auf das Abenteu-    lieben einfach den Sprung ins kalte
                er: 2013 zog ich mit meiner inzwischen      Wasser. Ich habe gelernt, in mich und
                gegründeten Familie von Trier nach Bad      meine Familie zu vertrauen und dass
                Segeberg bei Hamburg und wollte mich        meine Behinderung überhaupt nicht
                dort auf meine Selbstständigkeit kon-       wichtig ist – sondern nur der Wille,
                zentrieren. Meine Beamtenstelle gab ich     den eigenen Weg zu gehen.

Menschen #2 – 2019                                                                                        23
Aufgabe haben, soziale Kontakte halten,
                                                         sichtbar bleiben und das Leben spüren.
                                                         Vor einigen Monaten bin ich über mei-

     Ulrike Pfaff                                        nen jetzigen Job das erste Mal mit der
                                                         Start-up-Szene in Berührung gekommen
                                                         und habe das Social Impact Lab in
     Ulrike Pfaff, 65, ist PR-Referentin und steht       Bonn, eine Art Gründerschmiede für
     kurz vor der Rente. Statt in Zukunft eine ruhige    soziale Start-ups, kennengelernt. Die
     Kugel zu schieben, hat sie sich kurzerhand          jungen Gründer haben mich fasziniert,
     entschieden, ihr erstes Start-up zu gründen.        aber auch etwas befremdet. Schließlich
     Mit exxpertinnen.de möchte sie eine Plattform       waren sie in der Regel deutlich jünger
     schaffen, die sich an Frauen ab 55 richtet, die     als ich und ihre Arbeitsweise eine ganz
     nach der Rente so leben möchten wie vor der         andere. Doch dann wurde mir klar: Es
     Rente – mit Teilhabe in allen Lebensbereichen.      wird Zeit, dass da auch mal eine Alte
                                                         mitmischt. Das habe ich getan und dort
                                                         seit März 2019 ein Stipendium – und
             Rente – damit verbinden viele: sich end-    lerne von null an, wie man gründet.
             lich zurücklehnen, reisen, sich ehren-
             amtlich engagieren. Für mich bedeutet       Neben dem Beruf zu lernen und zu
             sie eine Zäsur. Sie passt nicht zu mir,     gründen, ist anstrengend. Es gibt Tage,
             und ich glaube, so geht es vielen Frauen    da kann ich abends kaum abschalten.
             in meinem Alter. Wir sind vielleicht die    Dennoch: Jeder kann es in jedem Alter
             erste Generation, die auch nach dem         schaffen, da bin ich mir sicher. Man
             Renteneintritt noch voller Tatendrang ist   braucht eine gewisse Portion positive
             und sich im Alter nicht so bescheiden       Naivität, um auch in schlechten Zeiten
             will wie unsere Mütter und Großmütter.      an seine Idee zu glauben. Und die Be-
             Das ist der Grund, weshalb ich etwas        reitschaft, seine Idee immer wieder zu
             anders mache. Ich selbst werde von          hinterfragen und wenn nötig anzupas-
             der Rente allein nicht leben können,        sen. Das gelingt nicht immer so einfach,
             habe mich viel zu lang vor dem Thema        und ich habe herbe Rückschläge erlebt,
             weggeduckt. Aber ich bin fest ent-          auch im Privatleben. Zwei Todesfälle in
             schlossen: Ich möchte meinen Lebens-        dieser Zeit haben mich vorübergehend
             standard weiterführen wie bisher. Diesen    aus der Bahn geworfen. Aber diese Zeit
             Anspruch sollten viel mehr Frauen für ihr   hat auch geholfen, sich ganz deutlich
             Leben haben. Mit 60 steht uns schließ-      bewusst zu machen, ob man das hier
             lich noch ein Drittel unseres Lebens        wirklich will. Und ich habe festgestellt:
             bevor.                                      Ich will das, ganz sicher! Wann meine
                                                         Arbeit getan ist? Dann, wenn ich Lust
             Bislang ist Altersarmut hauptsächlich       dazu habe. Wenn ich mein Leben finan-
             weiblich. Und dem möchte ich mit mei-       ziell weiterführen kann, ohne Sorgen.
             nem Start-up entgegenwirken. Damit          Und wenn ich dazu beitragen konnte,
             Frauen wie ich ihre Potenziale und          dass sich die Sichtweise auf Frauen in
             Fähigkeiten entfalten und einsetzen         meinem Alter verändert. Aber bis dahin
             können, weiter Geld verdienen, eine         ist es noch ein weiter Weg.

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„Wir sind vielleicht die erste Generation, die sich im Alter nicht so
                   bescheiden will wie unsere Mütter und Großmütter.“

Menschen #2 – 2019                                                                  25
„Die Erfahrung, dass mir die geistige Herausforderung guttut, ist toll
              und hat mich sehr viel selbstbewusster gemacht.“

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                                                                     Menschen #2 – 2019
sie der Auslöser, dass ich mich ent-
                                                     schied, meinen Realschulabschluss an
                                                     der Volkshochschule nachzuholen.

Markus Weih                                          Das war nicht leicht, denn insbesondere
                                                     in Mathe und Englisch hatte ich schon
                                                     immer Schwierigkeiten. Ich lernte nach
Markus Weih, Jahrgang 1990, entschied sich           der Arbeit und musste mir vieles neu
zwölf Jahre nach seinem Hauptschulabschluss,         aneignen. Was mich aber besonders
seinen Realschulabschluss nachzuholen.               motivierte, war, dass es sich mit jedem
Der Grund? Seine Tochter, der er ein Vorbild         neu Gelernten besser anfühlte. Und ich
sein möchte. Die Erfahrungen des Lernens im          wusste plötzlich viel deutlicher als frü-
Erwachsenenalter veränderten noch sehr viel          her, wofür ich den Stoff lernte, denn ich
mehr für ihn als nur seinen Schulabschluss.          konnte ihn direkt im Alltag anwenden
                                                     und meine neu entdeckten Stärken
                                                     einsetzen: E-Mails besser formulieren
       Es klingt so banal, aber: Wo ein Wille ist,   und kompetenter auftreten, gekonnt
       ist auch ein Weg, das habe ich selbst         argumentieren und anderen Menschen
       erlebt. Ich habe schon öfter mit dem          Fachthemen präzise erklären. Meine
       Gedanken gespielt, meinen Realschul-          Frau sagte mir in dieser Zeit sogar,
       abschluss nachzuholen. Irgendwie habe         dass ich trotz des sehr anstrengenden
       ich schon lange gespürt, dass da mehr         Lernpensums – oder vielleicht deswe-
       in mir schlummert als das, was ich in         gen – viel ausgeglichener sei als zuvor.
       meiner Schulzeit gezeigt habe. Damals
       besuchte ich die Gesamtschule und             Das merkte ich auch und beschloss,
       driftete dort ab der sechsten Klasse          mich parallel zur Abendschule sogar
       irgendwie in die Punkszene ab. In dieser      noch zum Baumkontrolleur weiterzubil-
       Zeit hatte ich überhaupt keine Motivati-      den. Denn ich habe realisiert, dass ich
       on mehr zum Lernen und mogelte mich           auch beruflich viel größere Herausforde-
       nur noch durch, bis ich die Schule mit        rungen annehmen kann, als ich dachte.
       einem Hauptschulabschluss verlassen           Ich könnte mir heute sogar vorstellen,
       konnte. Damit einen guten Job zu finden,      den Meister oder gar den Technikerab-
       war schwer. Ich nahm, was ich bekom-          schluss mit Staatsexamen zu machen,
       men konnte, und startete eine Ausbil-         um dann vielleicht im Bereich Arboristik,
       dung als Garten- und Landschaftsbauer.        also Baumpflege, zu studieren. Die Er-
       Das war nicht gerade mein Traumberuf.         fahrung, dass mir die geistige Heraus-
       Die Arbeit wurde mir schnell zu einfach,      forderung guttut, ist toll und hat mich
       weil ich nicht viel nachdenken musste.        sehr viel selbstbewusster gemacht.
                                                     Es ist also nicht nur der Realschulab-
       Als meine kleine Tochter 2018 kurz vor        schluss, für den ich gelernt habe. Ich
       dem Schuleintritt stand, ärgerte ich mich     kann mich heute viel besser ausdrü-
       plötzlich sehr, dass ich ihr später nicht     cken, habe gelernt, mehr an mich zu
       mehr würde vorweisen können als einen         glauben, und weiß, wofür ich lerne –
       Hauptschulabschluss. Tatsächlich war          für mein Leben.

27
Menschen #2 – 2019                                                                               27
Ursula Thiemens
Die 74-jährige Ursula Thiemens, Physiotherapeutin aus         24 Einsätze mitgemacht, und es werden
dem Münsterland, war in den letzten Jahren viel im            sicher noch mehr. Jedes Mal bevor ich
Ausland unterwegs. Aber nicht etwa, um zu reisen: Die         anreise, verkündet ein Pastor in der Kir-
Wahlbonnerin hilft seit 2008 Menschen in sozial schwä-        che: „Ursula kommt!“ und fragt, wer mei-
cheren Regionen, Ambulanzen für Physiotherapie aufzu-         ne Hilfe benötigt. Und es kommen viele.
bauen und Volontäre auszubilden, die ihre Angehörigen         Die Menschen in den Orten, in denen ich
mit Behinderung und andere Patienten physiotherapeu-          tätig bin, haben wenig Mittel für eine
tisch unterstützen möchten.                                   gute medizinische Versorgung. Wer ge-
                                                              sundheitlich eingeschränkt ist oder eine
                                                              Behinderung hat, fristet häufig ein Da-
                 Ich war noch nicht ganz in den Ruhe-         sein im Bett. Undenkbar für mich. Men-
                 stand eingetreten, da hörte ich vom Se-      schen wieder fit machen für den Alltag,
                 nior Expert Service (SES) in Bonn und        ihnen möglichst viel Aktivität und Selbst-
                 vom Engagement ehemaliger Fachleute,         ständigkeit zurückgeben: Dafür gebe ich
                 die vermittelt vom SES ihr Wissen nach       mein Wissen an die Volontäre weiter.
                 dem Berufsleben in sozialen Projekten –
                 vorrangig im Ausland – zum Einsatz           Anfangs konnte ich mich nur schwer
                 bringen. Und ich wusste sofort: Das ma-      verständigen. Heute lerne ich täglich
                 che ich! Denn reiselustig war ich schon      Spanisch in einem Onlinekurs und kann
                 immer. Warum also nicht mal in fernere       mich recht gut unterhalten. Mit meinen
                 Länder reisen und Menschen mit meiner        Auslandseinsätzen begann auch meine
                 langjährigen Berufserfahrung helfen?         Reise in die Onlinewelt. Einen Laptop
                                                              bedienen, Präsentationen erstellen,
                 Was mich dann erwartete, war ein eher        überall online erreichbar sein. Alles Din -
                 abenteuerlicher Start in China: Mein ers-    ge, die heute ganz selbstverständlich
                 ter Einsatz führte mich in ein Land, in      für mich sind.
                 dem ich mich nicht ohne Dolmetscher
                 verständigen konnte. Meine Physiothera-      Das Schönste an diesem neuen Le -
                 pieschüler wirkten zwar wissbegierig und     bensweg ist aber, dass ich vor Ort wirk-
                 aufmerksam, hatten das Gelernte jedoch       lich etwas bewirken kann: Ob jung oder
                 bis zu meinem nächsten Besuch ein Jahr       alt – die Patienten erleben teilweise
                 später schon wieder vergessen. Das frus-     zum ersten Mal, was eigentlich noch
                 trierte mich und ließ mich an meinem         möglich ist. Mit gezielten Bewegungs -
                 Einsatz zweifeln. Doch statt aufzugeben,     übungen und viel gutem Zureden ge -
                 probierte ich es mit einem anderen Land.     lingt häufig das Unglaubliche: Men -
                 Seit 2011 werde ich in Mexiko einge-         schen, die zuvor hoffnungslos waren,
                 setzt, in den Orten San Juan de los La-      können plötzlich wieder gehen, ihren
                 gos, Atotonilco und Tepatitlán. Die Erfah-   Arm bewegen oder mit den Händen
                 rungen hier waren ganz andere und ich        greifen. „Ursula macht Wunder“ heißt es
                 habe das Land lieben gelernt – die auf-      in solchen Fällen häufig – das gibt mir
                 geschlossenen Menschen und ihre Herz-        viel, und ich habe gelernt, was man
                 lichkeit. Mittlerweile habe ich bereits      alles im Leben erreichen kann.

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Menschen   #2 – 2019                                                                         Menschen #2 – 2019
 „Das Schönste ist, dass ich vor Ort wirklich etwas bewirken kann.“

Menschen #2 – 2019                                                                  29
Weiter wachsen
       Im Job lernt man nie aus. Fort- und Weiterbildungen
       tragen dazu bei, dass Erwerbstätige sich kontinuierlich
       weiterentwickeln können, statt irgendwann den Anschluss
       zu verlieren. Berufstätige, die eine Behinderung haben,
       können dafür zusätzliche Fördermittel beantragen.

       Text Susanne Theisen Illustration Lara Paulussen

                                                   Fachliches Know-how für den Job lässt sich über
                                                   zwei Wege dazugewinnen: Fort- oder Weiterbil-
                                                   dungen. Im Rahmen einer Fortbildung eignet man
                                                   sich neue Fähigkeiten an, die man für die Aus-
                                                   übung seines aktuellen Jobs braucht. Eine Weiter-
                                                   bildung muss im Gegensatz dazu nichts mit dem
                                                   aktuellen Job zu tun haben. Mit ihr kann man in
                                                   Inhalte eintauchen, die unabhängig vom eigenen
                                                   Beruf sind.

                                                   Wichtig zu wissen: Angestellte haben keinen all-
                                                   gemeinen gesetzlichen Anspruch auf berufliche
                                                   Bildungsmaßnahmen. Das Unternehmen muss
                                                   sie nicht bewilligen und ist auch nicht verpflichtet,
                                                   dafür zu bezahlen. Gleichzeitig besteht auch kei-
                                                   ne Pflicht zur Fort- und Weiterbildung. Aber: Bei-
                                                   des gilt nicht, wenn Anspruch oder Verpflichtung
                                                   im individuellen Arbeitsvertrag, im Tarifvertrag, in
                                                   einer Betriebsvereinbarung oder im Rahmen eines
                                                   Sozialplans explizit geregelt sind.

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Im Gegensatz dazu besteht ein gesetzlicher              Ansprechpartner für die Kostenübernahme sind
Anspruch auf Bildungsurlaub. Firmen sind ver-           die Rehabilitationsträger, unter anderem die
pflichtet, ihre in Vollzeit arbeitenden Beschäftigten   Deutsche Rentenversicherung (DRV). Sie erbringt
dafür an fünf Tagen pro Jahr – oder an zehn Tagen       neben Leistungen zur Prävention und zur medi-
alle zwei Jahre – bezahlt freizustellen. Bei Teilzeit   zinischen Rehabilitation auch solche zur Teilhabe
verringert sich der Anspruch anteilig. Jüngere          am Arbeitsleben sowie unterhaltssichernde und
Arbeitnehmer haben je nach Bundesland –                 andere ergänzende Leistungen. Die Bundesagen-
denn Bildungsurlaub ist Ländersache – sogar             tur für Arbeit (BA) fördert als Rehabilitationsträ-
noch mehr Tage zur Verfügung. Eine Ausnahme             gerin die berufliche Eingliederung von Menschen
bilden Bayern und Sachsen, dort existieren keine        mit Behinderung. Dafür erbringt sie Leistungen
Regelungen zum Bildungsurlaub. Kursgebühr,              zur Teilhabe am Arbeitsleben, beispielsweise zur
Anreise und Unterbringung müssen Bildungsur-            Aus- und Weiterbildung, sofern diese nicht in der
lauber selbst bezahlen – die Beträge können sie         Zuständigkeit eines anderen Rehabilitationsträ-
aber bei der Steuererklärung als Werbungskosten         gers liegen.
absetzen.
                                                        Eine wichtige Anlaufstelle sind darüber hinaus
                                                        die Integrationsämter. Sie gehören nicht zu den
Teilhabe am lebenslangen Lernen                         Rehabilitationsträgern, sondern erbringen Leis-
                                                        tungen zur begleitenden Hilfe im Arbeitsleben
Menschen mit Behinderung können häufig nicht            an schwerbehinderte Menschen und an deren
ohne Weiteres an einer regulären Fort- oder             Arbeitgeber. Dazu gehören etwa Leistungen zur
Weiterbildung teilnehmen. Es kann zum Beispiel          Übernahme der Kosten einer notwendigen Ar-
sein, dass ein Gebärdensprach- oder Schriftdol-         beitsassistenz oder zur behinderungsgerechten
metscher notwendig ist. Oder es fallen behin-           Einrichtung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen
derungsbedingte Zusatzkosten bei Anfahrt oder           für schwerbehinderte Menschen.
Unterbringung an. Möglich ist auch, dass der
Besuch der Bildungsmaßnahme nicht ohne eine             An diese Träger können sich Angestellte mit Be-
Assistenz erfolgen kann. Im Rahmen der Leistun-         hinderung auch wenden, wenn sie von ihrem
gen zur Teilhabe am Arbeitsleben, die im SGB IX         Arbeitgeber grünes Licht für einen Bildungsurlaub
verankert sind, kann der Staat diese Zusatzkosten       bekommen haben. Wie bei Fort- und Weiterbil-
übernehmen.                                             dungen gilt hier: Ob und in welchem Umfang
                                                        eine Förderung möglich ist, muss im Einzelfall
Ob eine Förderung bewilligt wird, unterliegt immer      geprüft werden. Dafür ist der Bezug zum ausge-
einer Einzelfallprüfung, bei der im Wesentlichen        übten Beruf zentral. Bei dem häufig jedoch nicht
zwei Fragen im Mittelpunkt stehen: Ist die Förde-       berufsbezogenen Bildungsurlaub kommt eventuell
rung behinderungsbedingt erforderlich? Ist die          eine Förderung nach Bundesteilhabegesetz
Bildungsmaßnahme für den Erhalt des Jobs oder           Paragraf 4 Abschnitt 4 infrage. Dort stehen
einen Aufstieg förderlich?

Menschen #2 – 2019                                                                                            31
Leistungen zur Teilhabe im Mittelpunkt, die die    Für Ratsuchende kann es hilfreich sein, das
     persönliche Entwicklung ganzheitlich fördern und      Netzwerk der Ergänzenden Unabhängigen Teil-
     die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermög-      habeberatung (EUTB) zu kontaktieren. Die EUTB
     lichen sollen. Ein entscheidender Faktor bei der      unterstützt Menschen mit Behinderung und deren
     Entscheidung über eine Förderung ist in der Re-       Angehörige unentgeltlich bundesweit zu allen Fra-
     gel das vorhandene Einkommen.                         gen der Teilhabe. Alle Infos und Kontakte bietet
                                                           die EUTB auch in der App „Teilhabeberatung“.

     Zuständigkeiten prüfen
                                                           Finanzspritzen für die Bildung
     Welcher Träger die richtige Anlaufstelle ist, wird
     individuell geprüft. Abhängig ist das unter ande-     Die selbstbestimmte Finanzierung von Bildungs-
     rem davon, welche Behinderung vorliegt, wie alt       maßnahmen ist für Menschen mit Behinderung
     der Antragsteller oder die Antragstellerin ist oder   auch über das sogenannte Persönliche Budget
     in welcher beruflichen Situation er oder sie sich     möglich. Bei dieser Leistungsform erhalten sie
     befindet. Wer sich im ersten Schritt an die DRV,      von den Leistungsträgern, beispielsweise der BA,
     die BA oder das Integrationsamt wendet, macht         eine Geldleistung oder einen Gutschein anstelle
     aber zumindest keinen Fehler. Sollte sich heraus-     von Dienst- oder Sachleistungen. Die Mittel aus
     stellen, dass dieser Träger nicht für die Förderung   diesem Finanztopf können in alle Bereiche der
     der gewünschten Bildungsmaßnahme zuständig            Teilhabe fließen, von der medizinischen Rehabili-
     ist, erhält man dennoch Auskunft über das weite-      tation über die Teilhabe am Arbeits- oder sozialen
     re Vorgehen.                                          Leben bis hin zur Teilhabe an Bildung.

     Es kostet also unter Umständen etwas Geduld,          Alle Bürger haben die Möglichkeit, die Teilnahme
     herauszufinden, welche Behörde im jeweiligen          an einer berufsbezogenen Weiterbildung mithilfe
     Fall zuständig ist und welche Kosten übernom-         des Bundesprogramms „Bildungsprämie“ zu fi-
     men werden. Das gilt auch für die Suche nach          nanzieren. Beantragen können sie Erwerbstätige,
     einem Schulungsanbieter, der auf die jeweils vor-     die mindestens 15 Stunden pro Woche arbeiten
     liegende Behinderung eingestellt ist. Es gibt dafür   und deren zu versteuerndes Jahreseinkommen
     keine Datenbank, die die Recherche erleichtert.       20.000 Euro bei Alleinstehenden (beziehungs-
                                                           weise 40.000 Euro bei gemeinsam Veranlagten)
                                                           nicht überschreitet. Mit dem Prämiengutschein
                                                           können Teilnehmer von Weiterbildungskursen
                                                           50 Prozent der Kursgebühren abdecken, maximal
                                                           aber 500 Euro.

                                                                 ehr wissen
                                                                M
                                                                Links und Tipps zum Beitrag ab Seite 96.

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