Menschen - Lebenslang - FCZB
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#2 – 2019 Menschen Inklusiv leben Lebenslang Berufliche und persönliche Weiterentwick- lung braucht passende Bildungsangebote. lernen Wie sehen inklusive Modelle aus?
Gemeinsam groß werden. Und das ist erst der Anfang. Je früher Kinder lernen, dass Unterschiede ganz normal sind, desto selbstverständlicher werden sie später einmal mit ihnen umgehen. Für ein Miteinander wie nie zuvor: Inklusion von Anfang an. Mehr unter www.aktion-mensch.de
Editorial D er Spruch „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ ist so alt wie falsch. Denn längst haben Hirnforscher festgestellt, dass das menschliche Gehirn auch im hohen Alter noch Neues abspeichern kann – man muss es nur lebenslang herausfordern. Der Mensch ist immer auf der Suche nach spannenden Erfahrungen und Erkenntnissen, sagt Hirnforscher Gerald Hüther (Seite 56). Des halb ist es nie zu spät, etwas Neues zu beginnen (Seite 22). Unsere Neugierde kann aber auch verkümmern, wenn man ihr keine Nahrung gibt. Deshalb ist es so wichtig, dass alle Menschen Gele genheit bekommen, sich weiterzuentwickeln, egal, wie alt und gebildet sie sind, egal, ob mit Behinde rung oder ohne. Dabei ist Erwachsenenbildung weit mehr als eine berufliche Notwendigkeit (Seite 11). Sie bietet vor allem auch die Möglichkeit, die eigene Persönlichkeit zu entfalten und zu stärken (Seite 84), teilzuhaben am gesellschaftlichen Leben (Seite 90) und sich in demokratische Prozesse einzubringen (Seite 52). Umso wichtiger, dass möglichst viele der zahlreichen Weiterbildungsangebote barrierefrei werden – nicht zuletzt im wachsenden digitalen Sektor (Seite 40). Seit einigen Jahren ist es sogar das gute Recht von Menschen mit Behinderung, an Bildungsangeboten gemeinsam mit Menschen ohne Behinderung teilnehmen zu können und nicht abgeschottet in separaten Angeboten der Behindertenhilfe. In einigen Städten sind bereits Kooperationen und Leuchtturmprojekte entstanden, die zeigen, wie es gehen kann, beispielsweise an der Volkshochschule Bamberg (Seite 44). Apropos: Zu den Grundideen von Volkshochschulen gehört es, dass jeder Mensch seine besonderen Kompetenzen an andere weitergeben kann. Schön, Fotos Käte Kieseyer (oben), Constantin Mirbach (unten) dass langsam, aber sicher auch Menschen mit kognitiven Einschränkungen als Lehrende in der Erwachsenenbildung mitwirken (Seite 76). So lernen ihre Kursteilnehmer nicht nur Fachliches, sondern Titel gleichzeitig auch etwas über gelebte Inklusion, und Susanne Bundt (rechts) entwickeln einen anderen Blick auf Menschen mit hat gelernt, wie sie auf Behinderung. einem Bauernhof mithel fen kann. Damit entlastet Christina Marx sie unter anderem Sebas Chefredakteurin tian Gut, der dort arbeitet. Menschen #2 – 2019 3
Seite 90 Im bayerischen Weilheim haben sich Menschen mit Behinderung wie Hubert Kainer (Foto) zu ehrenamtlichen Tier- Kümmerern ausbilden lassen. Eine Idee mit Entwicklungspotenzial. Foto Constantin Mirbach 4 Menschen #2 – 2019
Inhalt 6 M an lernt nie aus 52 Lesen und schreiben für die Kunstreich Wer lebenslang lernen will, Demokratie Tanzen, musizieren, schreiben: drei braucht entsprechende Wer sich politisch engagieren Beispiele für künstlerische inklusive Bildungsangebote. Wie inklusiv will, muss nicht schreiben und Erwachsenenbildung. ist die Erwachsenenbildung? lesen können. Aber es hilft. 18 Tänzerin Neele Buchholz 14 Aufstieg für alle? 56 Wenn der richtige Impuls Fachkräfte mit Behinderung kommt 38 mittelpunkt-Schreibwerkstatt haben es im Beruf oft schwerer. Eine gute Nachricht: Die ver- 60 Musikprojekt Werkstatt Utopia Woran liegt das? lorene Lust am Lernen kann jederzeit wiederbelebt werden. 20 D as gute Recht auf Bildung Professor Marianne Hirschberg 62 Zweite Chance zur Bedeutung inklusiver Beispiele beruflicher Neuorien- Standards Erwachsenenbildung für die tierung nach einer psychischen 96 M ehr wissen Gesellschaft. Erkrankung. 97 Impressum 22 N eue Wege wagen 68 F it für Vielfalt 98 Ausblick: Recht haben – Vier mutige Menschen berich- Unterschiedlichkeit in Unter- Recht bekommen ten, wie sie eingeschlagene nehmen bietet Chancen wenn Pfade verlassen haben. alle den Umgang damit lernen. 30 W eiter wachsen 72 A lle müssen mitziehen Wissenswertes zu Bildungsur- Rebecca Babilon erforschte die laub, finanzieller Förderung und inklusive Erwachsenenbildung Menschen online Anlaufstellen. in England. Ein Resümee. Fassungen der Texte in Einfacher 34 D ie Grundhaltung muss 76 R ollentausch Sprache und als Hörausgabe unter: stimmen Sechs Menschen mit Behinde- www.aktion-mensch.de/magazin Heterogene Gruppen zu un- rung erzählen, wie es ist, selbst terrichten, verlangt spezielles Lehrende zu sein. Know-how. 84 D as starke Ich www.youtube.com/ 40 L ernen im Netz Tipps und Möglichkeiten, sich user/AktionMensch E-Learning-Angebote bieten gegen Diskriminierung und Menschen mit Behinderung Mobbing zu wehren. www.facebook.com/ neue Möglichkeiten. 90 T eilhabe durch Teilgabe aktion.mensch 44 B ildung für alle: So werden Welche Rahmenbedingungen Sprachkurs & Co. inklusiv braucht es, damit Menschen Zwei Einrichtungen zeigen, wie mit Behinderung sich ehren- www.twitter.com/ inklusive Weiterbildung geht. amtlich engagieren können? aktion_mensch Menschen #2 – 2019 5
Lernen hört nach der Schule und der Berufsausbildung nicht auf. Unser gesamtes Erwachsenenleben hindurch ist es sinnvoll und oft auch notwendig, dass wir unsere Kompetenzen aktualisieren und erweitern. Sei es für den Beruf oder auch für andere Lebensbereiche. So gesehen ist das Erwachsenenalter die längste und umfassendste Bildungsphase. Ein Überblick. Text Robert Fechner, Astrid Eichstedt, Stefanie Wulff Die Maxime, dass wir unser ganzes Leben viduelle berufliche Weiterbildungen. Nur etwa lang lernen (müssen), ist nicht neu und betrifft 20 Prozent der besuchten Weiterbildungen sind so gut wie alle Erwachsenen, unabhängig von nicht berufsbezogen. ihrer beruflichen Situation oder davon, ob sie eine Behinderung haben oder nicht. Dieser Grundsatz hat mit der Digitalisierung und dem Erwachsenenbildung umfasst alle damit verbundenen gesellschaftlichen Wandel Lebensbereiche enorm an Bedeutung gewonnen. Die Neuerun- gen, an die es sich anzupassen gilt, kommen in Auch außerhalb des beruflichen Kontextes gibt es deutlich kürzeren Abständen und verbreiten sich ein Leben lang viel zu lernen. Allerdings nimmt schnell. die Teilnahme an nicht berufsbezogenen Weiter- bildungen laut AES erst bei den Mitte 50-Jährigen Der zuletzt erschienene Adult Education Survey deutlich zu. Zum lebenslangen Lernen zählt auch (AES), in dem alle zwei Jahre europaweit die Wei- der Erwerb von Kompetenzen, die dazu dienen, terbildungsaktivitäten von Personen zwischen 18 die eigene Persönlichkeit zu entfalten, mit Verän- und 65 Jahren erfasst werden, ergab für Deutsch- derung und Einschnitten im Leben zurechtzukom- land im Jahr 2016 eine Weiterbildungsrate von men, körperlich und seelisch gesund zu bleiben. 50 Prozent. Jeder zweite Erwachsene, Männer wie Nicht wenige Erwachsene, beispielsweise mit Frauen zu nahezu gleichem Anteil, hat also im einer Behinderung oder als Zugewanderte, brau- Jahr 2016 an einer Weiterbildung teilgenommen. chen auch Weiterbildungsangebote, um ein mög- 1991 lag die Teilnahmequote noch bei 37 Pro- lichst selbstständiges Leben führen zu können, zent. Damit steht Deutschland heute im europäi- teilzuhaben am gesellschaftlichen Leben in all schen Vergleich gut dar. Nur in den Niederlanden seinen Bereichen und nicht zuletzt, um ihr Recht (60 Prozent), Österreich (58 Prozent) und Schwe- auf Mitbestimmung wahrnehmen zu können. den (57 Prozent) haben noch mehr Erwachsene Der Deutsche Kulturrat, die Dachorganisation der Weiterbildungen besucht. Die Weiterbildungsakti- deutschen Kulturverbände, nennt in einem aktuel- ven in Deutschland besuchen durchschnittlich len Papier zur Erwachsenenbildung neben der 1,7 Angebote pro Jahr und investieren dafür etwa berufsbezogenen Anpassungs- und Aufstiegsfort- eine Arbeitswoche. Der Löwenanteil der Weiterbil- bildung folgende Aufgaben: dungsaktivitäten, nämlich rund 70 Prozent, entfällt in Deutschland, ähnlich wie in seinen Nachbarlän- •d ie Möglichkeit, Basiskompetenzen zu erwerben dern, auf betriebliche Weiterbildungen. Ange- und Schulabschlüsse nachzuholen; sichts des hohen Innovations- und Veränderungs- drucks in der Arbeitswelt ist das wenig verwun- •d ie Vermittlung von Schlüsselkompetenzen, etwa derlich. Hinzu kommen weitere zehn Prozent indi- Fremdsprachen, zur Interaktion mit anderen; 8 Menschen #2 – 2019
•A ngebote zur Festigung und Weiterentwicklung der eigenen Identität, zur Selbstverortung in der 2.508 Gemeinschaft und zur Vermittlung eines ge- meinsamen Wertesystems. •N icht zuletzt biete sie Erwachsenen Unterstüt- zung in ihren verschiedenen Rollen und Lebens- bereichen – beispielsweise in der Familie, der Nachbarschaft oder in der Freizeit. 741.723 Grundsätzlich gilt, dass heute bei der Suche nach einer Weiterbildung deutlich mehr auf Relevanz und Verwertbarkeit geachtet wird. Das zweckfreie Philosophiestudium rein aus Interesse betreiben häufig eher Menschen im Rentenalter. Die Viel- 741.723 Veranstaltungen der Erwachsenenbil- zahl der Aufgaben spiegelt sich auch in der Zahl dung fanden 2016 insgesamt statt, davon 2.508 der Angebote. Bei einem immer größeren Teil der speziell für Menschen mit Behinderung. Das organisierten Kurse handelt es sich inzwischen entspricht 1,6 Prozent aller Veranstaltungen. um E-Learning-Formate, die online oder als Mischform zwischen Präsenzkurs und Online modulen, dem Blended Learning, angeboten wer- den. Bei den 18- bis 24-Jährigen lag die Teilnah- Angebote erreichen nicht alle Quelle Horn, H., Lux, T. & Ambos, I. (2018). Weiterbildungsstatistik im Verbund 2016 – Kompakt. (DIE Survey: Daten und Berichte zur Weiterbildung). Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag. https://doi.org/10.3278/85/0018w mequote an digital gestützten Weiterbildungen 2016 laut AES bereits bei über der Hälfte. Das Besonders was die Vermittlung von Basiskompe- Thema Barrierefreiheit, beispielsweise bei Videos, tenzen betrifft, haben die Institutionen der öffentli- wird dabei längst noch nicht ausreichend beach- chen Erwachsenenbildung in den vergangenen tet. Jahren viel geleistet. Sei es im Hinblick auf Alpha- betisierung, nachdem 2011 durch eine erste um- Angebote der Erwachsenenbildung werden von fassende Studie zu Literalität bekannt wurde, wie öffentlich-rechtlichen, gemeinnützigen, betriebli- viele Erwachsene in Deutschland nicht ausrei- chen oder kommerziellen Anbietern organisiert. chend lesen und schreiben können. Oder sei es Dazu kommt noch das schwer zu beziffernde für die Integration von Flüchtlingen, beispielswei- selbst organisierte Lernen anhand von Fachzeit- se durch die Vermittlung von Sprachkenntnissen. schriften oder -büchern, Lernprogrammen oder Überhaupt ist die Zahl der Menschen mit Migrati- Wissenssendungen. Einer der größten öffentli- onshintergrund, die an Weiterbildungen teilneh- chen Anbieter sind die Volkshochschulen, die men, in Deutschland in den letzten Jahren gestie- 2019 ihre 100-jährige Geschichte feiern. Ihr Leit- gen. Laut AES lag sie 2016 aber immer noch gedanke lautet: Wissen teilen. Erwachsene lernen zehn Prozent unterhalb der von Menschen ohne miteinander voneinander. Die egalitäre Grund- Migrationshintergrund. Die Teilnahmequoten von idee, die Plattformen wie Wikipedia oder Lernan- Erwachsenen ohne Ausbildungsabschluss gebote auf Kanälen wie YouTube heute so popu- (29 Prozent) und von Arbeitslosen (27 Prozent) lär macht, findet sich also schon Anfang des liegen deutlich unter der von Erwerbstätigen 20. Jahrhunderts in den Volkshochschulen. (56 Prozent) und ist zuletzt sogar leicht gesun- Menschen #2 – 2019 9
inklusive Angebote in der Erwachsenenbildung bislang eher die Ausnahme. Dass das so ist, hat mehrere Ursachen. Etwa die Frage der Kostenübernahme einer für Teilneh- mende benötigten Assistenz. Ein Anspruch auf Unterstützung für eine Weiterbildung besteht für Menschen mit Behinderung nach einer abge- schlossenen Erstausbildung nämlich bislang nicht. Hinzu kommt eine oft mangelnde Erfahrung „Vor allem im ländlichen der Lehrenden im Umgang mit Menschen mit Behinderung. Entsprechende Qualifizierungen Raum spielt das Thema gibt es wenige, was darauf hindeutet, dass sie auf der bildungspolitischen Prioritätenliste bislang Mobilität eine große nicht weit oben stehen. Rolle. Wie komme ich Frederik Poppe, Professor für Rehabilitation und Teilhabe an der Hochschule Merseburg sowie Vorsitzender der Gesellschaft Erwachsenenbil- zu den Institutionen, dung und Behinderung e. V. (GEB), nennt zwei weitere Gründe, die Inklusion in der Erwachse- die etwas anbieten?“ nenbildung erschweren. „Vor allem im ländlichen Raum spielt das Thema Mobilität eine große Rol- – Professor Frederik Poppe le. Wie komme ich zu den Institutionen, die etwas anbieten? Durch Einsparungen im ÖPNV und den Wegfall des Zivildienstes hat sich die Situation ken. Das Ziel der Erwachsenenbildung, Bildungs- häufig verschlechtert.“ Als zweiten Grund nennt er abstände zu verringern, bleibt eine schwierige die Herausforderung, die Angebote barrierefrei zu Aufgabe. Menschen mit Behinderung, insbeson- machen, etwa Dolmetscher, Audiodeskription, dere jene mit Lernschwierigkeiten, sind als Ziel- Unterstützte Kommunikation und Leichte Sprache gruppe der Erwachsenenbildung bislang kaum bereitzustellen. Dafür brauche es flexible und un- präsent. Für sie gibt es hauptsächlich getrennte bürokratische Finanzierungskonzepte. Parallelangebote innerhalb der Behindertenhilfe oder -selbsthilfe. Andererseits, so Frederik Poppe, habe sich aber schon einiges zum Besseren geändert. „Vor der Dabei wäre gerade der öffentliche Sektor der Er- Ratifizierung der UN-BRK hatten wir noch ein wachsenenbildung, der in der Regel ohne formel- ganz anderes Klima. Da biss man im Hinblick auf le Beschränkungen wie vorherige Abschlüsse Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen bei allen offensteht, eigentlich wie geschaffen dafür, den Anbietern der allgemeinen Erwachsenenbil- dem in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN- dung meist auf Granit. Das war nicht nur Desin BRK) formulierten Recht auf Zugang für Erwach- teresse, sondern sogar Ablehnung. Damals gab Foto privat sene mit Behinderung zu inklusiven Bildungsan- es noch stärkere Berührungsängste als heute, geboten zu entsprechen. Tatsächlich aber bilden und der Personenkreis von Menschen mit 10 Menschen #2 – 2019
Gründe für die Teilnahme an Weiterbildungen insgesamt ... berufliche Tätigkeit besser ausüben 57 % Wissen/Fähigkeiten zu einem interessierenden Thema erwerben 37 % im Alltag nutzbare Kenntnisse/Fähigkeiten erwerben 36 % berufliche Chancen verbessern 29 % Verpflichtung zur Teilnahme 23 % Arbeitsplatz sichern 22 % organisatorische/technische Veränderungen bei der Arbeit 17 % Aussichten auf Arbeitsplatz/neue Stelle verbessern 13 % Zertifikat/Prüfungsabschluss erwerben 11 % Leute kennenlernen und Spaß haben 10 % Quelle: AES 2016. Basis: Non-formale Weiterbildungsaktivitäten der 18- bis 64-Jährigen berufliche Tätigkeit ... und bei den 50- bis besser ausüben 69-Jährigen Nutzen im Alltag Fähigkeiten zu einem interessierenden 64 Thema erweitern Leute kennenlernen und Spaß haben 51 51 46 gesünder leben 41 ehrenamtliche Tätig- 38 39 35 keit besser ausführen 39 können 34 30 23 23 14 10 11 11 7 7 7 4 5 5 3 50–54 Jahre 55–59 Jahre 60–64 Jahre 65–69 Jahre Angaben in Prozent. Quelle: AES 2016. Basis: Bildungsaktivitäten der 50- bis 69-Jährigen Menschen #2 – 2019 11
Teilnehmerquoten in der Weiterbildung und ihren Segmenten 49 51 50 35 37 36 2012 2014 13 12 13 9 9 2016 7 Weiterbildung betriebliche individuelle nicht berufsbezogene gesamt Weiterbildung berufsbezogene Weiterbildung Weiterbildung Angaben in Prozent. Quellen: AES 2012, 10.400 2014, 2016. Basis: 18- bis 64-Jährige Rund Frauen haben 2017 Weiterbildungsange- bote für besondere Adressaten – Ältere, Analphabeten, Arbeitslose, Menschen mit Lernfelder in der betrieblichen, Migrationshintergrund oder Menschen mit Behinderung – wahrgenommen. Nur rund individuell berufsbezogenen und nicht 2.700 Teilnehmer waren Männer. berufsbezogenen Weiterbildung Quelle Horn, H., Lux, T. & Ambos, I. (2018). Weiterbildungsstatistik im Verbund 2016 – Kompakt. (DIE Survey: Daten und Berichte zur Weiterbildung). Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag. https://doi.org/10.3278/85/0018w 14 30 28 betriebliche 13 54 Weiterbildung 74 64 16 8 individuelle Pädagogik und berufsbezogene Gründung, Gesundheit Sozialkompetenz Weiterbildung Sprachen, und Sport Kultur, Politik nicht berufsbezogene 4 7 Weiterbildung 17 20 9 10 74 71 89 Natur, Technik, Wirtschaft, gesamt Computer Arbeit, Recht Angaben in Prozent. Quelle: AES 2016. Basis: Non-formale Weiterbildungsaktivi- täten der 18- bis 64-Jährigen 12 Menschen #2 – 2019
kognitiver Behinderung wurde häufig nicht haben sich beispielsweise in mehreren Städten als Zielgruppe von Bildungsformaten akzeptiert.“ und Gemeinden Netzwerke aus Bildungseinrich- Heute ist der Weiterbildungsbedarf dieser Ziel- tungen, Trägern der Behindertenhilfe und -selbst- gruppe und ihr Recht darauf deutlich anerkannter. hilfe gebildet um eine inklusive Weiterbildungs- Das Deutsche Institut für Erwachsenenbildung landschaft zu erschaffen. Es gibt erste Bemühun- beispielsweise hat seine ProfilPASS-Material- gen, Lehrende in der Erwachsenenbildung besser sammlung mithilfe von EU-Mitteln 2018 auch in für inklusives Lehren zu qualifizieren, und es gibt einer für Menschen mit kognitiven Einschränkun- innovative Möglichkeiten für barrierefreies Lernen gen angepassten Version in Einfacher Sprache im Netz, die als Vorbild dienen können. Nicht zu- veröffentlicht. Seit Oktober 2019 wird in einem letzt: Heute sind – wenn auch bislang nur verein- weiteren Projekt an einer Version gearbeitet, zelt – Menschen mit Behinderung als Teilnehmen- die sich speziell an Menschen mit kognitiven de von regulären Weiterbildungen präsent und Einschränkungen richtet. vereinzelt auch als Dozenten und Experten nicht nur in eigener Sache im Einsatz. Mit den ProfilPASS-Materialien können, von quali- fizierter Beratung begleitet, Interessen und Fähig- Das Thema Finanzierung aber bleibt angesichts keiten erfasst und dokumentiert werden, die in leerer kommunaler Kassen vielerorts ein Kernpro- der Ausbildung, im Beruf oder Ehrenamt, in der blem. Wie kann es gelingen, nachhaltig inklusive Freizeit oder im Familienleben bereits erworben Strukturen in der Erwachsenenbildung zu etablie- wurden. Ausgehend von dem erstellten Profil wer- ren – auch über einzelne Leuchtturmprojekte und den dann in der Beratung passende Tätigkeiten Anschubfinanzierungen hinaus –, zumal die Bil- und Weiterbildungsziele identifiziert. dung Ländersache ist und sich die Rahmenbedin- gungen von Bundesland zu Bundesland unter- Inzwischen wenden sich auch zunehmend Kultur- scheiden? Eine Möglichkeit wäre beispielsweise und Bildungsinstitutionen an die Gesellschaft für ein bundesweiter Fonds für inklusive Erwachse- Erwachsenenbildung, die sich für Menschen mit nenbildung, auf den alle Länder Zugriff haben Einschränkungen öffnen wollen. Diejenigen unter könnten, um beispielsweise die Mobilität und ihnen, die sich in Sachen inklusive Erwachsenen- Assistenzleistung für all diejenigen gewährleisten bildung auf den Weg gemacht haben, besitzen zu können, die sie benötigen. Mindestens ebenso eine gewisse Vorbildfunktion. Besonders im Be- wichtig ist sicherlich Wissenstransfer, also der reich der kulturellen Bildung hat sich bereits viel Austausch über und die Verbreitung von Erfahrun- getan. Museen im ganzen Land bemühen sich gen gelungener Modellprojekte, um aus ihnen seit einigen Jahren sehr darum, inklusive Besu- bundesweit lernen zu können. Mit solchen positi- cherprogramme zu entwickeln, ihre Ausstellungen ven Beispielen ließe sich auch der Nutzen inklusi- allen zugänglich zu machen und gezielt Men- ver Erwachsenenbildung für unsere Gesellschaft schen mit Behinderung anzusprechen. verdeutlichen. Denn indem sie neue Begegnungs räume für Menschen mit und ohne Behinderung im Alltag schafft, bringt sie uns ein wichtiges Erprobte Lösungsansätze Stück voran auf dem Weg in eine Gesellschaft, die niemanden ausgrenzt. Mittlerweile gibt es auch auf kommunaler Ebene eine ganze Reihe guter und erprobter Lösungsan- sätze, wie eine bessere inklusive Erwachsenenbil- ehr wissen M dung in der Zukunft gestaltet werden kann. So Links und Tipps zum Beitrag ab Seite 96. Menschen #2 – 2019 13
AUFSTIEG FÜR ALLE? Foto Stocksy/Connor Dwyer 14 Menschen #2 – 2019
Trotz gleicher formaler Qualifikationen und hoher Motivation: Auch erfahrene Fachkräfte mit Behinderung finden viel schwerer einen Job oder machen langsamer Karriere innerhalb ihres Berufs. Vorbehalte sind nur ein Grund dafür. Oft mangelt es ihnen auch an sogenannten weichen Faktoren, also an zusätzlichen Erfahrungen. Torsten Prenner vom Arbeitgeber-Service für schwerbehinderte Akademiker, erklärt, woran das liegt – und was man dagegen tun kann. Interview Stefanie Wulff Hoch qualifizierten Bewerbern mit Behinderung troffenen erst einmal neu orientieren. Plötzlich ist fehlen häufig die Sahnehäubchen im Lebens alles anders. Man kann vielleicht nicht mehr so lauf: das Auslandssemester, die Teilnahme an viel reisen. Und 50-Stunden-Wochen wie bisher relevanten Kongressen, die fachliche Weiterbil sind eventuell auch nicht mehr drin. Diese Perso- dung. Aufgrund physischer und finanzieller nengruppe macht übrigens 65 Prozent aller von Barrieren sind sie viel schwieriger zu erlangen. uns betreuten Menschen aus. Welche Auswirkungen hat das bei der Jobsuche? Welche Schwierigkeiten haben jüngere Das hat schon negative Auswirkungen. Größere Akademiker? Unternehmen schauen zum Beispiel durchaus Junge Akademiker, die ihr Hochschulstudium darauf, ob jemand Auslandserfahrungen mitbringt. mit einer Behinderung absolviert haben, brauchen Oder was er oder sie neben dem Studium noch bei besonderem Unterstützungsbedarf oft länger alles gemacht hat. Fehlen relevante Fortbildun- für ihr Studium. Sie müssen sich besonders orga- gen, sind auch das Minuspunkte. Deshalb haben nisieren, zum Beispiel, was die eigene Pflege und Betroffene ein Stück weit doppelte Nachteile aus Assistenz angeht. Deshalb bleibt weniger Zeit, ihrer Behinderung. andere Dinge neben dem Studium zu machen. Das Dilemma: Gerade bei diesen Aktivitäten wer- Vor welchen besonderen Herausforde den Kontakte geknüpft. Denn wer bekommt zum rungen stehen ältere Menschen? Beispiel meist die Promotionsstelle? Eben eine Foto Stocksy/Alejandro Moreno De Carlos Viele ältere Fachkräfte haben erst im Laufe ehemalige studentische Hilfskraft. ihres Berufslebens eine Behinderung erworben. Sie haben oft schon jahrzehntelange berufliche Welche Lösungen könnte es für diese Erfahrungen. In der Regel leben sie in festeren Probleme geben? Strukturen, haben vielleicht Familie und Wohnei- Besonders wichtig ist, dass schwerbehinderte gentum. Sie sind deshalb teils nicht mehr so flexi- Menschen laufend an Weiter- und Fortbildungen bel und können nicht ohne Weiteres umziehen für beteiligt werden. Gerade wenn ich in bestimmten eine neue Stelle. Außerdem müssen sich die Be- Bereichen Einschränkungen habe, ist es wichtig, Menschen #2 – 2019 15
„Es ist besonders Wird durch den digitalen Wandel und die rasch wachsende Zahl an Online wichtig, dass angeboten der beruflichen Weiterbil dung manches auch etwas leichter? schwerbehinderte Ja, es gibt mittlerweile viele gute und barriere- arme Angebote. Sie sind leicht zu bedienen, man Menschen laufend kann sie selbst organisieren und von zu Hause aus nutzen. Allerdings denke ich, Menschen mit an Weiter- und Behinderung sollten auch mehr aus ihrer persönli- chen Umgebung herauskommen können. Ich halte es für wichtig, an normalen Angeboten in Fortbildungen der Gruppe teilzunehmen und sich dort zu ver- netzen. Auch das ist Inklusion: dass nicht behin- beteiligt werden.“ derte Menschen Schwerbehinderte kennenlernen und in ihrer Umgebung als selbstverständlich wahrnehmen. Stichwort persönliche Kontakte: Welche Rolle können Mentoring auf dem neusten Stand zu sein. Dann habe ich, programme spielen? wenn ich mich beruflich neu orientieren möchte Eine tolle Sache und sehr wichtig! Aus fachli- oder muss, bessere Karten auf dem Arbeitsmarkt. cher Sicht kann die Agentur für Arbeit gut beraten. Gesetzgeber und Bildungsanbieter sind gefragt, Aber wenn es um praktische Lösungen für Proble- entsprechend barrierefreie Angebote vorzuhalten. me und um Erfahrungen geht, dann kann Mento- Außerdem geht es darum, das Selbstbewusst- ring im Sinne der Peerberatung viel mehr errei- sein der Bewerber zu stärken. Wenn ihnen auch chen. Menschen, die in ähnlicher Situation sind, auf der einen Seite die üblichen weichen Fakto- können wertvolle Hinweise und Tipps geben – vor ren fehlen, bringen sie dafür doch ganz andere allem in Bezug auf die Themen Einstieg oder Wie- Erfahrungen mit. Vielleicht sind sie selbst Arbeit- dereinstieg in den Beruf und das eigene Selbstbe- geber und beschäftigen persönliche Assistenz- wusstsein. Einige Beispiele: der Hildegardis-Verein kräfte. Diese Erfahrungen können wertvolle Res- in Bonn, der Deutsche Verein der Blinden und Seh- sourcen im Arbeitsalltag sein. behinderten und die Initiative My Handicap bieten Dann müssen wir natürlich weiter an der Um- Mentoringprogramme an. setzung von Inklusion arbeiten. Der Arbeitgeber- Service für schwerbehinderte Akademiker führt Vor dem Hintergrund Ihrer täglichen dazu verschiedene Projekte durch. Zum Beispiel Beratungspraxis: Welche Arten von der Aufbau des inklusiven Expert*innen-Netz- Weiterbildungen oder Beratung wün werks IXNET. Dabei geht es um Vernetzung und schen sich arbeitssuchende Fachkräf Support durch Peers und Experten, um die Karrie te mit Behinderung besonders? rechancen von schwerbehinderten Akademikern Wenn es nicht klappt mit der Jobsuche und in zu erhöhen. Außerdem möchten wir die Informati- Bewerbungsverfahren wollen die meisten wissen: onslage für schwerbehinderte Menschen, die Woran liegt es? Ist es ein fachliches Problem? Erfahrung im Ausland sammeln möchten, verbes- Fehlt mir eine Weiterbildung? Oder habe ich mich sern. Hierzu möchten wir ein eigenes Projekt auf nicht geschickt genug verkauft? Wurde ich diskri- die Beine stellen. miniert? Die meisten wünschen sich in diesen 16 Menschen #2 – 2019
persönlichen Fragen mehr Klarheit. Deshalb ha- ben wir auch ein spezielles Programm für schwer- behinderte Akademiker aufgelegt. Sie können im Rahmen einer einwöchigen Maßnahme ein per- sönliches Coaching nutzen. Insgesamt sind die Weiterbildungsangebote vielfältig. Wichtig ist hier wieder die Barrierefreiheit und die Bereitschaft der Bildungsträger, auf die Belange behinderter Menschen Rücksicht zu nehmen. Was würden Sie sich vonseiten der Arbeitgeber wünschen, um Fachkräfte mit Behinderung zu unterstützen? Viele Arbeitgeber sind heute schon engagiert und schließen beispielsweise Inklusionsvereinba- rungen im eigenen Unternehmen. Trotzdem: Obwohl der Markt nach Fachkräften sucht, ist es für schwerbehinderte Akademiker schwierig, eine Stelle zu finden oder Karriere zu machen. Ich würde mir wünschen, dass mehr Arbeitgeber sie als das ansehen, was sie sind: sehr qualifizierte und motivierte Mitarbeiter und Führungskräfte. Ihre Anstellung kann auch mit Zuschüssen der Bundesagentur für Arbeit und der Integrationsäm- ter unterstützt werden. Wichtig sind auch die Kultur und das Arbeitsklima in den Unternehmen. Ängste und Vorbehalte muss man ernst nehmen. Dementsprechend muss auch in diesen Berei- chen informiert und geschult werden. Integrati- onsämter bieten hier viele Hilfestellungen. Sehr Foto GettyImages/Jorg Greuel; Zentrale Auslands- und Fachvermittlung (Porträt) gut finde ich auch, wenn Unternehmen sich aus- tauschen und gegenseitig unterstützen, wie zum Beispiel im UnternehmensForum, ein Bündnis von Torsten Prenner arbeitet seit knapp 30 Jahren bei Firmen, das die Inklusion behinderter Menschen der Bundesagentur für Arbeit. Seit dem Jahr 2000 auf dem ersten Arbeitsmarkt seit vielen Jahren ist er bei der bundesweit tätigen Zentralen Aus- aktiv unterstützt. lands- und Fachvermittlung (ZAV) in Bonn zustän- dig für die Beratung und Vermittlung schwerbehin- derter Akademiker. Einige Jahre ehr wissen M lang war er außerdem Schwer- Links und Tipps zum Beitrag ab Seite 96. behindertenvertrauensperson in der ZAV. Menschen #2 – 2019 17
Kunstreich 18 Menschen #2 – 2019
Schritt für Schritt Im Alter von drei Jahren hat sie die Leidenschaft fürs Tanzen gepackt. Seitdem mag die inzwischen 28-jäh- rige Neele Buchholz nicht mehr darauf verzichten und lernt immer mehr dazu. Ihre ersten Tanzschritte machte die Bremerin, die das Downsyndrom hat, bei einem integrativen Tanzkurs im Verein impuls. Mit 13 Jahren wurde sie Mitglied der Jugendtanztheater- kompanie „Die Anderen“ am Tanzwerk Bremen. Darauf folgten Theaterkurse und Workshops sowie Rollen im Musical „Jakobs Aufbruch“ der Jugendkirche Bremen und in der Oper „Eugen Onegin“ am Theater Bremen. Als 18-Jährige startete Neele Buchholz ihre Laufbahn beim Verein tanzbar_bremen, der sich dem zeitgenös- sischen Tanz verschrieben hat. Dort beschloss sie auch, die Laufbahn als Tänzerin einzuschlagen. Nach einer individuell auf sie zugeschnittenen Ausbildung ist sie seit 2014 fest angestellt. Sie entwickelte das Projekt KompeTanz mit, arbeitet als Tänzerin sowie als anleitende und künstlerische Mitarbeiterin. Inzwischen hat sie mit „Paradies-Tanz“ ihr erstes eigenes Kursformat entwickelt und ihren Lernhorizont einmal mehr erweitert. Neben den be- kannten Schauspielern Emilia Schüle, David Kross und Axel Stein war sie als Sarah im Kinofilm „Simpel“ zu sehen. Man darf gespannt sein, was sie noch alles ausprobieren wird. Foto Daniela Buchholz Mehr erfahren unter: www.tanzbarbremen.com Menschen #2 – 2019 19
Kommentar Das gute Recht auf Bildung Deutschland hat sich mit der Inkraftsetzung der UN-Behindertenrechtskon- vention (BRK) als deutschem Recht ab dem 26. März 2009 unter anderem dazu verpflichtet, ein Bildungssystem zu verwirklichen, an dem Menschen mit Behinderung vollständig und gleichberechtigt teilhaben können. Da- rin ausdrücklich inbegriffen sind Angebote für Erwachsenenbildung und lebenslanges Lernen. „Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung, Berufsausbildung, Erwachse- nenbildung und lebenslangem Lernen haben. Zu diesem Zweck stellen die Vertragsstaaten sicher, dass für Menschen mit Behinderungen angemesse- Illustration Tania Garcia ne Vorkehrungen getroffen werden.“ Artikel 24 Absatz 5 BRK Text Marianne Hirschberg 20 Menschen #2 – 2019
Deutschland und seine Bun- für Kinder und Jugendliche – der Gesellschaft zu begreifen desländer haben sich also sowohl im Hinblick auf den und zu erleben, ist für alle verpflichtet, zur Verwirklichung Einzelnen als auch auf unsere Gesellschaftsmitglieder rele- dieses Rechts konkrete Maß- Gesellschaft als Ganzes. vant. Letztlich ist es ein Weg, nahmen anzubieten. Ist dies in um das Bewusstsein für Men- den vergangenen zehn Jahren Für Erwachsene mit Behinde- schenrechte, Toleranz und die systematisch und in strukturell rungen ist inklusive Bildung ein positiven Effekte der Vielfalt ausreichendem Maß gesche- wichtiger Schlüssel für ihre per- in unserer heterogenen Gesell- hen? Wohl kaum. sönliche Entwicklung und für schaft zu stärken. Höchste ihre Teilhabe an der Gesell- Zeit, ihn konsequent zu Mit der Behindertenrechts- schaft, zu der alle gehören. Viel verfolgen. konvention ist ein Wechsel im zu lange wurde weitgehend Verständnis von Behinderung ignoriert, dass auch behinderte verbunden, weg von einer in- Erwachsene den Wunsch, den dividualisierten medizinischen Bedarf und das Recht haben, Sichtweise hin zu einem men- sich ein Leben lang weiterzu- schenrechtlichen Ansatz. Dies entwickeln, ihre Begabungen, Marianne Hirschberg ist Profes- bedeutet, die Vielfalt mensch- ihre Kreativität sowie ihre sorin mit den Forschungsschwer- lichen Lebens und den gesell- geistigen und körperlichen punkten Menschenrechte, Dis schaftlichen Beitrag jedes ein- Fähigkeiten voll zur Entfaltung ability Studies und Inklusive zelnen Menschen zu würdigen. zu bringen. Bildung an der Fakultät Gesell- Für das Bildungssystem heißt schaftswissenschaften der Hoch- das: gemeinsames Lernen von Und nicht zuletzt: Die volle schule Bremen. Anfang an und ein Leben lang. und gleichberechtigte Teilhabe Ihr aktuelles Forschungsprojekt Es gilt, Institutionen – auch die an Kursen, in denen Inklusion „Inklusive Bildung in der Alpha- der Erwachsenenbildung – so erfolgreich gelebt wird, kann betisierungspraxis und im Sys- zu gestalten und weiterzuent- Erwachsenen mit und ohne tem des Zweiten Bildungswegs wickeln, dass alle Menschen Behinderungen ein Bewusstsein – Qualifikationen, Kompetenzen qualitativ hochwertige Bildungs- ihrer Würde vermitteln und ihr und Bedarfe des pädagogischen möglichkeiten erhalten, sich Selbstwertgefühl steigern. Ein Personals“ dient dazu, Lehrkräfte wertgeschätzt fühlen, partizipie- wichtiger Effekt für die Persön- der Erwachsenenbildung zu ren und ihr Potenzial entfalten lichkeitsstärkung, besonders für befähigen, inklusive Lerngruppen können. diejenigen, die das als Kinder qualitativ hochwertig zu unter- und Jugendliche nicht erleben richten. Auf Basis von Gruppen- Im Bereich der Schulbildung durften. diskussionen und einer bundes- gibt es erkennbare, wenn weiten Fragebogenerhebung mit auch teils eher verpflichtete Für unsere Gesellschaft bietet Lehrkräften an Volkshochschulen Bemühungen und vor allem inklusive Erwachsenenbildung wird ein Fortbildungsmodul ent- heftige Diskussionen über die die Chance, Berührungsängste wickelt und erprobt. Das Projekt Umsetzung von Inklusion. Im und Befangenheiten abzubau- wird vom Bundesministerium für Vergleich dazu blieb die Er- en, die sich durch den Mangel Bildung und Forschung von April wachsenenbildung hierzulande an Begegnung miteinander über 2018 bis März 2021 gefördert. bislang von diesem Thema Jahrzehnte hinweg aufgebaut weitgehend unberührt – mit haben. Verständnis und Respekt einigen Ausnahmen in den Be- für kulturelle und individuelle reichen der kulturellen und der Vielfalt lässt sich auf diese Wei- sportlichen Bildung. Dabei sind se ebenso fördern wie die ge- Foto privat inklusive Bildungsangebote für nerelle Kompetenz im Umgang Erwachsene ebenso wichtig wie hiermit. Behinderung als Teil Menschen #2 – 2019 21
Neue Wege wagen Ausgetretene Pfade verlassen und etwas ganz Neues ausprobieren erfordert Mut. Vier Menschen berichten von ihren Erfahrungen. Protokolle Theresa Boll Fotos Jewgeni Roppel „Ich bin nicht der Typ, der meckert.“ 22 Menschen #2 – 2019
aber nicht ganz auf und nahm erst mal unbezahlten Urlaub – man weiß ja nie, was kommt. Mit der Zeit bildete ich mich in Seminaren fort und lernte, wie man ein eigenes Unternehmen führt. Vieles Sascha Lang brachte ich mir einfach selbst bei und wuchs mit jeder Herausforderung. Sascha Lang betreibt seine eigene Event- und Booking- Weil ich blind bin, stellte ich beim Integ- agentur, Red Lion Entertainment. Der 44-jährige Vater rationsamt in Schleswig-Holstein einen von zwei Kindern ist blind und arbeitete zuvor viele Antrag, um für bestimmte Aufgaben im Jahre lang als Postbeamter in seinem Heimatland Eventbereich eine Unterstützung zu be- Luxemburg. Als er sich entschied, stattdessen lieber kommen. Doch das Amt verweigerte mir seine Leidenschaft für Musik und Events zum Beruf zu die Arbeitsassistenz. Die Begründung: machen, stieß er auf einige Widerstände. Wegen meines gültigen Arbeitsvertrags in Luxemburg hätte ich keinen Anspruch auf Arbeitsassistenz zum Aufbau einer Eigentlich galt meine Leidenschaft selbstständigen beruflichen Existenz. schon immer dem Radio, der Künstler- Eine ungerechte Entscheidung, wie ich betreuung und Events. Aber als Künst- fand, schließlich sollte jeder Mensch die lerbetreuer einmal wirklich Geld verdie- gleichen Chancen haben, sich ein zwei- nen? Daran glaubte ich früher nicht. Also tes Standbein aufzubauen. Also klagte entschied ich mich auf Wunsch meiner ich bis vor das Bundesverwaltungsge- Eltern lieber für das sichere Beamten- richt. Der Prozess hat mich viel Zeit ge- tum und arbeitete 16 Jahre lang als kostet und wurde zur finanziellen Belas- Postbeamter in Luxemburg bei der tung – wir standen kurz vor dem Ruin. staatlichen Telekom in der Buchhaltung. Aber ich bin nicht der Typ, der meckert. Dort betreute ich die Fehlbuchungen Ich wollte diesen Kampf unbedingt aus- von Kunden – nach 16 Jahren eine fechten – für mich und viele andere. extrem unspektakuläre Arbeit. Irgendeiner musste es ja tun. Vier Jahre lang kämpfte ich also für die richtige Eine Leidenschaft nicht auszuleben, das Interpretation und Anwendung des Ge- passte nicht zu mir – ich brauche Action! setzes – am Ende mit Erfolg. Auf das 2008 wollte ich es dann doch wissen Urteil von 2018, das seitdem für viele und gründete meine eigene Event- und vergleichbare Fälle die Entscheidung Bookingagentur – der Liebe wegen in der Behörden beeinflusst, bin ich stolz. Trier. In Luxemburg arbeitete ich nur noch in Teilzeit als Beamter und pendel- Trotz aller Herausforderungen haben te wochenweise. Aber irgendwann meine Frau und ich in diesem Jahr musste ich mich entscheiden: Sicherer sogar noch unser erstes eigenes Res- Beamtenjob oder spannende Selbst- taurant in Bad Segeberg eröffnet – wir ständigkeit? Ich setzte auf das Abenteu- lieben einfach den Sprung ins kalte er: 2013 zog ich mit meiner inzwischen Wasser. Ich habe gelernt, in mich und gegründeten Familie von Trier nach Bad meine Familie zu vertrauen und dass Segeberg bei Hamburg und wollte mich meine Behinderung überhaupt nicht dort auf meine Selbstständigkeit kon- wichtig ist – sondern nur der Wille, zentrieren. Meine Beamtenstelle gab ich den eigenen Weg zu gehen. Menschen #2 – 2019 23
Aufgabe haben, soziale Kontakte halten, sichtbar bleiben und das Leben spüren. Vor einigen Monaten bin ich über mei- Ulrike Pfaff nen jetzigen Job das erste Mal mit der Start-up-Szene in Berührung gekommen und habe das Social Impact Lab in Ulrike Pfaff, 65, ist PR-Referentin und steht Bonn, eine Art Gründerschmiede für kurz vor der Rente. Statt in Zukunft eine ruhige soziale Start-ups, kennengelernt. Die Kugel zu schieben, hat sie sich kurzerhand jungen Gründer haben mich fasziniert, entschieden, ihr erstes Start-up zu gründen. aber auch etwas befremdet. Schließlich Mit exxpertinnen.de möchte sie eine Plattform waren sie in der Regel deutlich jünger schaffen, die sich an Frauen ab 55 richtet, die als ich und ihre Arbeitsweise eine ganz nach der Rente so leben möchten wie vor der andere. Doch dann wurde mir klar: Es Rente – mit Teilhabe in allen Lebensbereichen. wird Zeit, dass da auch mal eine Alte mitmischt. Das habe ich getan und dort seit März 2019 ein Stipendium – und Rente – damit verbinden viele: sich end- lerne von null an, wie man gründet. lich zurücklehnen, reisen, sich ehren- amtlich engagieren. Für mich bedeutet Neben dem Beruf zu lernen und zu sie eine Zäsur. Sie passt nicht zu mir, gründen, ist anstrengend. Es gibt Tage, und ich glaube, so geht es vielen Frauen da kann ich abends kaum abschalten. in meinem Alter. Wir sind vielleicht die Dennoch: Jeder kann es in jedem Alter erste Generation, die auch nach dem schaffen, da bin ich mir sicher. Man Renteneintritt noch voller Tatendrang ist braucht eine gewisse Portion positive und sich im Alter nicht so bescheiden Naivität, um auch in schlechten Zeiten will wie unsere Mütter und Großmütter. an seine Idee zu glauben. Und die Be- Das ist der Grund, weshalb ich etwas reitschaft, seine Idee immer wieder zu anders mache. Ich selbst werde von hinterfragen und wenn nötig anzupas- der Rente allein nicht leben können, sen. Das gelingt nicht immer so einfach, habe mich viel zu lang vor dem Thema und ich habe herbe Rückschläge erlebt, weggeduckt. Aber ich bin fest ent- auch im Privatleben. Zwei Todesfälle in schlossen: Ich möchte meinen Lebens- dieser Zeit haben mich vorübergehend standard weiterführen wie bisher. Diesen aus der Bahn geworfen. Aber diese Zeit Anspruch sollten viel mehr Frauen für ihr hat auch geholfen, sich ganz deutlich Leben haben. Mit 60 steht uns schließ- bewusst zu machen, ob man das hier lich noch ein Drittel unseres Lebens wirklich will. Und ich habe festgestellt: bevor. Ich will das, ganz sicher! Wann meine Arbeit getan ist? Dann, wenn ich Lust Bislang ist Altersarmut hauptsächlich dazu habe. Wenn ich mein Leben finan- weiblich. Und dem möchte ich mit mei- ziell weiterführen kann, ohne Sorgen. nem Start-up entgegenwirken. Damit Und wenn ich dazu beitragen konnte, Frauen wie ich ihre Potenziale und dass sich die Sichtweise auf Frauen in Fähigkeiten entfalten und einsetzen meinem Alter verändert. Aber bis dahin können, weiter Geld verdienen, eine ist es noch ein weiter Weg. 24 Menschen #2 – 2019
„Wir sind vielleicht die erste Generation, die sich im Alter nicht so bescheiden will wie unsere Mütter und Großmütter.“ Menschen #2 – 2019 25
„Die Erfahrung, dass mir die geistige Herausforderung guttut, ist toll und hat mich sehr viel selbstbewusster gemacht.“ 26 26 Menschen #2 – 2019
sie der Auslöser, dass ich mich ent- schied, meinen Realschulabschluss an der Volkshochschule nachzuholen. Markus Weih Das war nicht leicht, denn insbesondere in Mathe und Englisch hatte ich schon immer Schwierigkeiten. Ich lernte nach Markus Weih, Jahrgang 1990, entschied sich der Arbeit und musste mir vieles neu zwölf Jahre nach seinem Hauptschulabschluss, aneignen. Was mich aber besonders seinen Realschulabschluss nachzuholen. motivierte, war, dass es sich mit jedem Der Grund? Seine Tochter, der er ein Vorbild neu Gelernten besser anfühlte. Und ich sein möchte. Die Erfahrungen des Lernens im wusste plötzlich viel deutlicher als frü- Erwachsenenalter veränderten noch sehr viel her, wofür ich den Stoff lernte, denn ich mehr für ihn als nur seinen Schulabschluss. konnte ihn direkt im Alltag anwenden und meine neu entdeckten Stärken einsetzen: E-Mails besser formulieren Es klingt so banal, aber: Wo ein Wille ist, und kompetenter auftreten, gekonnt ist auch ein Weg, das habe ich selbst argumentieren und anderen Menschen erlebt. Ich habe schon öfter mit dem Fachthemen präzise erklären. Meine Gedanken gespielt, meinen Realschul- Frau sagte mir in dieser Zeit sogar, abschluss nachzuholen. Irgendwie habe dass ich trotz des sehr anstrengenden ich schon lange gespürt, dass da mehr Lernpensums – oder vielleicht deswe- in mir schlummert als das, was ich in gen – viel ausgeglichener sei als zuvor. meiner Schulzeit gezeigt habe. Damals besuchte ich die Gesamtschule und Das merkte ich auch und beschloss, driftete dort ab der sechsten Klasse mich parallel zur Abendschule sogar irgendwie in die Punkszene ab. In dieser noch zum Baumkontrolleur weiterzubil- Zeit hatte ich überhaupt keine Motivati- den. Denn ich habe realisiert, dass ich on mehr zum Lernen und mogelte mich auch beruflich viel größere Herausforde- nur noch durch, bis ich die Schule mit rungen annehmen kann, als ich dachte. einem Hauptschulabschluss verlassen Ich könnte mir heute sogar vorstellen, konnte. Damit einen guten Job zu finden, den Meister oder gar den Technikerab- war schwer. Ich nahm, was ich bekom- schluss mit Staatsexamen zu machen, men konnte, und startete eine Ausbil- um dann vielleicht im Bereich Arboristik, dung als Garten- und Landschaftsbauer. also Baumpflege, zu studieren. Die Er- Das war nicht gerade mein Traumberuf. fahrung, dass mir die geistige Heraus- Die Arbeit wurde mir schnell zu einfach, forderung guttut, ist toll und hat mich weil ich nicht viel nachdenken musste. sehr viel selbstbewusster gemacht. Es ist also nicht nur der Realschulab- Als meine kleine Tochter 2018 kurz vor schluss, für den ich gelernt habe. Ich dem Schuleintritt stand, ärgerte ich mich kann mich heute viel besser ausdrü- plötzlich sehr, dass ich ihr später nicht cken, habe gelernt, mehr an mich zu mehr würde vorweisen können als einen glauben, und weiß, wofür ich lerne – Hauptschulabschluss. Tatsächlich war für mein Leben. 27 Menschen #2 – 2019 27
Ursula Thiemens Die 74-jährige Ursula Thiemens, Physiotherapeutin aus 24 Einsätze mitgemacht, und es werden dem Münsterland, war in den letzten Jahren viel im sicher noch mehr. Jedes Mal bevor ich Ausland unterwegs. Aber nicht etwa, um zu reisen: Die anreise, verkündet ein Pastor in der Kir- Wahlbonnerin hilft seit 2008 Menschen in sozial schwä- che: „Ursula kommt!“ und fragt, wer mei- cheren Regionen, Ambulanzen für Physiotherapie aufzu- ne Hilfe benötigt. Und es kommen viele. bauen und Volontäre auszubilden, die ihre Angehörigen Die Menschen in den Orten, in denen ich mit Behinderung und andere Patienten physiotherapeu- tätig bin, haben wenig Mittel für eine tisch unterstützen möchten. gute medizinische Versorgung. Wer ge- sundheitlich eingeschränkt ist oder eine Behinderung hat, fristet häufig ein Da- Ich war noch nicht ganz in den Ruhe- sein im Bett. Undenkbar für mich. Men- stand eingetreten, da hörte ich vom Se- schen wieder fit machen für den Alltag, nior Expert Service (SES) in Bonn und ihnen möglichst viel Aktivität und Selbst- vom Engagement ehemaliger Fachleute, ständigkeit zurückgeben: Dafür gebe ich die vermittelt vom SES ihr Wissen nach mein Wissen an die Volontäre weiter. dem Berufsleben in sozialen Projekten – vorrangig im Ausland – zum Einsatz Anfangs konnte ich mich nur schwer bringen. Und ich wusste sofort: Das ma- verständigen. Heute lerne ich täglich che ich! Denn reiselustig war ich schon Spanisch in einem Onlinekurs und kann immer. Warum also nicht mal in fernere mich recht gut unterhalten. Mit meinen Länder reisen und Menschen mit meiner Auslandseinsätzen begann auch meine langjährigen Berufserfahrung helfen? Reise in die Onlinewelt. Einen Laptop bedienen, Präsentationen erstellen, Was mich dann erwartete, war ein eher überall online erreichbar sein. Alles Din - abenteuerlicher Start in China: Mein ers- ge, die heute ganz selbstverständlich ter Einsatz führte mich in ein Land, in für mich sind. dem ich mich nicht ohne Dolmetscher verständigen konnte. Meine Physiothera- Das Schönste an diesem neuen Le - pieschüler wirkten zwar wissbegierig und bensweg ist aber, dass ich vor Ort wirk- aufmerksam, hatten das Gelernte jedoch lich etwas bewirken kann: Ob jung oder bis zu meinem nächsten Besuch ein Jahr alt – die Patienten erleben teilweise später schon wieder vergessen. Das frus- zum ersten Mal, was eigentlich noch trierte mich und ließ mich an meinem möglich ist. Mit gezielten Bewegungs - Einsatz zweifeln. Doch statt aufzugeben, übungen und viel gutem Zureden ge - probierte ich es mit einem anderen Land. lingt häufig das Unglaubliche: Men - Seit 2011 werde ich in Mexiko einge- schen, die zuvor hoffnungslos waren, setzt, in den Orten San Juan de los La- können plötzlich wieder gehen, ihren gos, Atotonilco und Tepatitlán. Die Erfah- Arm bewegen oder mit den Händen rungen hier waren ganz andere und ich greifen. „Ursula macht Wunder“ heißt es habe das Land lieben gelernt – die auf- in solchen Fällen häufig – das gibt mir geschlossenen Menschen und ihre Herz- viel, und ich habe gelernt, was man lichkeit. Mittlerweile habe ich bereits alles im Leben erreichen kann. 28 Menschen #2 – 2019 Menschen #2 – 2019
„Das Schönste ist, dass ich vor Ort wirklich etwas bewirken kann.“ Menschen #2 – 2019 29
Weiter wachsen Im Job lernt man nie aus. Fort- und Weiterbildungen tragen dazu bei, dass Erwerbstätige sich kontinuierlich weiterentwickeln können, statt irgendwann den Anschluss zu verlieren. Berufstätige, die eine Behinderung haben, können dafür zusätzliche Fördermittel beantragen. Text Susanne Theisen Illustration Lara Paulussen Fachliches Know-how für den Job lässt sich über zwei Wege dazugewinnen: Fort- oder Weiterbil- dungen. Im Rahmen einer Fortbildung eignet man sich neue Fähigkeiten an, die man für die Aus- übung seines aktuellen Jobs braucht. Eine Weiter- bildung muss im Gegensatz dazu nichts mit dem aktuellen Job zu tun haben. Mit ihr kann man in Inhalte eintauchen, die unabhängig vom eigenen Beruf sind. Wichtig zu wissen: Angestellte haben keinen all- gemeinen gesetzlichen Anspruch auf berufliche Bildungsmaßnahmen. Das Unternehmen muss sie nicht bewilligen und ist auch nicht verpflichtet, dafür zu bezahlen. Gleichzeitig besteht auch kei- ne Pflicht zur Fort- und Weiterbildung. Aber: Bei- des gilt nicht, wenn Anspruch oder Verpflichtung im individuellen Arbeitsvertrag, im Tarifvertrag, in einer Betriebsvereinbarung oder im Rahmen eines Sozialplans explizit geregelt sind. 30
Im Gegensatz dazu besteht ein gesetzlicher Ansprechpartner für die Kostenübernahme sind Anspruch auf Bildungsurlaub. Firmen sind ver- die Rehabilitationsträger, unter anderem die pflichtet, ihre in Vollzeit arbeitenden Beschäftigten Deutsche Rentenversicherung (DRV). Sie erbringt dafür an fünf Tagen pro Jahr – oder an zehn Tagen neben Leistungen zur Prävention und zur medi- alle zwei Jahre – bezahlt freizustellen. Bei Teilzeit zinischen Rehabilitation auch solche zur Teilhabe verringert sich der Anspruch anteilig. Jüngere am Arbeitsleben sowie unterhaltssichernde und Arbeitnehmer haben je nach Bundesland – andere ergänzende Leistungen. Die Bundesagen- denn Bildungsurlaub ist Ländersache – sogar tur für Arbeit (BA) fördert als Rehabilitationsträ- noch mehr Tage zur Verfügung. Eine Ausnahme gerin die berufliche Eingliederung von Menschen bilden Bayern und Sachsen, dort existieren keine mit Behinderung. Dafür erbringt sie Leistungen Regelungen zum Bildungsurlaub. Kursgebühr, zur Teilhabe am Arbeitsleben, beispielsweise zur Anreise und Unterbringung müssen Bildungsur- Aus- und Weiterbildung, sofern diese nicht in der lauber selbst bezahlen – die Beträge können sie Zuständigkeit eines anderen Rehabilitationsträ- aber bei der Steuererklärung als Werbungskosten gers liegen. absetzen. Eine wichtige Anlaufstelle sind darüber hinaus die Integrationsämter. Sie gehören nicht zu den Teilhabe am lebenslangen Lernen Rehabilitationsträgern, sondern erbringen Leis- tungen zur begleitenden Hilfe im Arbeitsleben Menschen mit Behinderung können häufig nicht an schwerbehinderte Menschen und an deren ohne Weiteres an einer regulären Fort- oder Arbeitgeber. Dazu gehören etwa Leistungen zur Weiterbildung teilnehmen. Es kann zum Beispiel Übernahme der Kosten einer notwendigen Ar- sein, dass ein Gebärdensprach- oder Schriftdol- beitsassistenz oder zur behinderungsgerechten metscher notwendig ist. Oder es fallen behin- Einrichtung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen derungsbedingte Zusatzkosten bei Anfahrt oder für schwerbehinderte Menschen. Unterbringung an. Möglich ist auch, dass der Besuch der Bildungsmaßnahme nicht ohne eine An diese Träger können sich Angestellte mit Be- Assistenz erfolgen kann. Im Rahmen der Leistun- hinderung auch wenden, wenn sie von ihrem gen zur Teilhabe am Arbeitsleben, die im SGB IX Arbeitgeber grünes Licht für einen Bildungsurlaub verankert sind, kann der Staat diese Zusatzkosten bekommen haben. Wie bei Fort- und Weiterbil- übernehmen. dungen gilt hier: Ob und in welchem Umfang eine Förderung möglich ist, muss im Einzelfall Ob eine Förderung bewilligt wird, unterliegt immer geprüft werden. Dafür ist der Bezug zum ausge- einer Einzelfallprüfung, bei der im Wesentlichen übten Beruf zentral. Bei dem häufig jedoch nicht zwei Fragen im Mittelpunkt stehen: Ist die Förde- berufsbezogenen Bildungsurlaub kommt eventuell rung behinderungsbedingt erforderlich? Ist die eine Förderung nach Bundesteilhabegesetz Bildungsmaßnahme für den Erhalt des Jobs oder Paragraf 4 Abschnitt 4 infrage. Dort stehen einen Aufstieg förderlich? Menschen #2 – 2019 31
Leistungen zur Teilhabe im Mittelpunkt, die die Für Ratsuchende kann es hilfreich sein, das persönliche Entwicklung ganzheitlich fördern und Netzwerk der Ergänzenden Unabhängigen Teil- die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermög- habeberatung (EUTB) zu kontaktieren. Die EUTB lichen sollen. Ein entscheidender Faktor bei der unterstützt Menschen mit Behinderung und deren Entscheidung über eine Förderung ist in der Re- Angehörige unentgeltlich bundesweit zu allen Fra- gel das vorhandene Einkommen. gen der Teilhabe. Alle Infos und Kontakte bietet die EUTB auch in der App „Teilhabeberatung“. Zuständigkeiten prüfen Finanzspritzen für die Bildung Welcher Träger die richtige Anlaufstelle ist, wird individuell geprüft. Abhängig ist das unter ande- Die selbstbestimmte Finanzierung von Bildungs- rem davon, welche Behinderung vorliegt, wie alt maßnahmen ist für Menschen mit Behinderung der Antragsteller oder die Antragstellerin ist oder auch über das sogenannte Persönliche Budget in welcher beruflichen Situation er oder sie sich möglich. Bei dieser Leistungsform erhalten sie befindet. Wer sich im ersten Schritt an die DRV, von den Leistungsträgern, beispielsweise der BA, die BA oder das Integrationsamt wendet, macht eine Geldleistung oder einen Gutschein anstelle aber zumindest keinen Fehler. Sollte sich heraus- von Dienst- oder Sachleistungen. Die Mittel aus stellen, dass dieser Träger nicht für die Förderung diesem Finanztopf können in alle Bereiche der der gewünschten Bildungsmaßnahme zuständig Teilhabe fließen, von der medizinischen Rehabili- ist, erhält man dennoch Auskunft über das weite- tation über die Teilhabe am Arbeits- oder sozialen re Vorgehen. Leben bis hin zur Teilhabe an Bildung. Es kostet also unter Umständen etwas Geduld, Alle Bürger haben die Möglichkeit, die Teilnahme herauszufinden, welche Behörde im jeweiligen an einer berufsbezogenen Weiterbildung mithilfe Fall zuständig ist und welche Kosten übernom- des Bundesprogramms „Bildungsprämie“ zu fi- men werden. Das gilt auch für die Suche nach nanzieren. Beantragen können sie Erwerbstätige, einem Schulungsanbieter, der auf die jeweils vor- die mindestens 15 Stunden pro Woche arbeiten liegende Behinderung eingestellt ist. Es gibt dafür und deren zu versteuerndes Jahreseinkommen keine Datenbank, die die Recherche erleichtert. 20.000 Euro bei Alleinstehenden (beziehungs- weise 40.000 Euro bei gemeinsam Veranlagten) nicht überschreitet. Mit dem Prämiengutschein können Teilnehmer von Weiterbildungskursen 50 Prozent der Kursgebühren abdecken, maximal aber 500 Euro. ehr wissen M Links und Tipps zum Beitrag ab Seite 96. 32 Menschen #2 – 2019
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