Rechtspopulismus in Berlin - Rassismus als Bindeglied zwischen der "Mitte" der Gesellschaft und Neonazismus?

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Rechtspopulismus in Berlin - Rassismus als Bindeglied zwischen der "Mitte" der Gesellschaft und Neonazismus?
Eine Broschüre des Bündnisses »Rechtspopulismus stoppen«

Rechtspopulismus
in Berlin
Rassismus als Bindeglied zwischen
der »Mitte« der Gesellschaft und Neonazismus?
Rechtspopulismus in Berlin - Rassismus als Bindeglied zwischen der "Mitte" der Gesellschaft und Neonazismus?
Seite 2 | Rechtspopulismus in Berlin

        Inhalt
 03     Editorial
 05     »Rechtspopulismus« keine Randerscheinung, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem
        Dirk Stegemann
 08     Was ist »Rechtspopulismus«?
        Christoph Butterwegge
 13     Klassen, Rassen & Kriege - kapitalistische Realität
        Sevim Dağdelen
 17     Die »Pro Bewegung« - antimuslimischer Kulturrassismus von rechtrsaußen
        Alexander Häusler
 22     »Pro Deutschland« - eine »Bürgerbewegung« auf dem Weg in die Hauptstadt
        Maik Baumgärtner
 26     Versteckspiel!? - Rechtspopulismus in Gestalt von Bürgerbewegungen
        Daniel Gollasch
 28     Sarrazin schafft sich ab: mit Rassismus
        Clara Luhr und Jan Rauchfuß
 30     Die »Bürgerbewegung Pax Europa« - Ein Verein für »Islamkritik«
        Antifaschistisches Infoblatt
 32     »Die Freiheit« - Eine neue Rechtsaußen-Partei nach europäischem Vorbild?
        Maik Baumgärtner
 37     Thesen zu einer emanzipatorischen Religionskritik
        Chaze
 41     Frauen und Homosexuelle im Clash of Civilizations. Mit Rassismus gegen Sexismus und Homophobie?
        Koray Yılmaz-Günay
 45     Der Topos »Deutschenfeindlichkeit« in rechtspopulistischen Diskursen
        Yasemin Shooman
 48     Was ist Rassismus?
        Dr. Hendrik Cremer
 53     Rechts-populär?
        Empfehlungen zum Umgang mit rechtspopulistischen Parteien und Argumenten
        Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR)

 56     Handlungsoptionen entwickeln - Praxisansatz des Bündnisses »Rechtspopulismus stoppen«
        Bündnis »Rechtspopulismus stoppen«

        Herausgeber:                                            Fotos: Matthias Zickrow (S. 1, 3, 11, 12, 16, 20, 24, 29, 31,
        Bündnis »Rechtspopulismus stoppen«                      40, 43, 48, 52, 57), Lothar Eberhardt (S. 15, 35, 51), Po Ming
        Stendalerstrasse 4, 10559 Berlin                        Cheung (S. 43), Christian Jäger (S. 27), Thomas Rassloff (S. 36),
        www.rechtspopulismusstoppen.blogsport.de                Thomas Voigt »VoThoGrafie« (S. 44), Bündnis »Rechtspopulis-
        Erscheinungsdatum: Juli 2011                            mus stoppen« (S. 59, 60)
        Auflage: 9.000 Stück                                    Die Rechte der jeweiligen Texte liegen bei den Autor_innen.
        Druckerei: Dreigroschendruck Berlin
        Layout: Michael Mallé (www.stadtbild-grafik.de)
ndesparteitag
Proteste gegen den Bu
               chl an d« in Schöneberg
von »Pro Deuts
17. Juli 2010

     Liebe Leser_innen,
     haben Sie schon einmal etwas über Rechtspopulismus ge-       enthält sehr unterschiedlich ausgerichtete Beiträge, um
     hört oder gelesen und fragen sich immer noch, was über-      Diskussionsangebote zu machen. So verschieden die poli-
     haupt dahinter steckt? Sicher schon. Und vermutlich im       tische und inhaltliche Motivation der am Bündnis beteilig-
     Zusammenhang mit Vereinen, Organisationen und Par-           ten Gruppen und Einzelpersonen ist, sich gegen rechtspo-
     teien, die mit dem Label »rechtspopulistisch« belegt wer-    pulistische Aktivitäten zu engagieren, so verschieden sind
     den. Gerade in Berlin treten mit »Pro Deutschland« und       auch die Lösungsansätze. Mit der Broschüre geht es uns
     »Die Freiheit« zu den Wahlen im September Parteien an,       nicht darum, allumfassend die Komplexität der Phänome-
     die als rechtspopulistisch eingestuft werden. Doch welches   ne Rechtspopulismus, Rassismus und Sozialchauvinismus
     Phänomen soll dieser Begriff umschreiben. Welche Poli-       sowie deren Kausalitäten sowohl untereinander wie auch
     tik-, Interaktions- und Kommunikationsform sowie poli-       mit anderen Themen abzubilden. Uns geht es vielmehr in
     tische Ideologie bzw. Programmatik ist kennzeichnend für     einem ersten Schritt um die Einigung über weltanschau-
     so definierte Gruppierungen? Welche Überschneidun-           liche, parteipolitische und religiöse Grenzen hinweg auf
     gen und/ oder Abgrenzungen bestehen zum Rassismus;           einen grunddemokratischen Nenner: den zunehmenden
     schließlich tauchen beide immer wieder als Begriffspaar      Rechtsruck in der Gesellschaft, sei es in den Medien, in
     auf? Was hat es mit dem Bündnis »Rechtspopulismus            der Politik allgemein und in den etablierten Parteien im
     stoppen« auf sich, was will es und gegen bzw. für wen oder   Besonderen zu thematisieren und Rassismus wie auch
     was engagiert es sich seit Mai 2010 mit vielfältigen Akti-   Sozialchauvinismus überall dort entgegenzutreten, wo er
     vitäten?                                                     auftritt. Wir setzen uns dabei kreativ sowohl inhaltlich wie
     Wir, das Bündnis »Rechtspopulismus stoppen«1, gehen          aktionsorientiert mit den aktuellen Entwicklungen, den
     als »breiter Zusammenschluss aus antifaschistischen und      Strukturen und ihren Akteur_innen auseinander.
     antirassistischen Initiativen, translesbischwulen Gruppen,   Für eine angemessene Behandlung der mit dem Thema
     Migrant_innenselbstorganisationen, zivilgesellschaftlich     verbundenen Fragen haben wir versucht, Autor_innen
     und politisches Gruppen, Parteien, Gewerkschaften und        zu gewinnen, die sich über unterschiedliche Zugänge seit
     Einzelpersonen« genau diesen Fragen nach. Die über ein-      Jahren damit beschäftigen, wie und warum sich nazisti-
     jährige Beschäftigung damit sowie die Rechtsverschiebung     sche Kernideologeme wie Rassismus und Sozialchauvinis-
     in öffentlichen Debatten zu diesem Themenkomplex sind        mus nicht nur mitten in der Gesellschaft, sondern auch
     Anlass gewesen, diese erste Broschüre herauszugeben. Sie     immer wieder und beständig aus ihr heraus produzieren.
Seite 4 | Rechtspopulismus in Berlin

        Mit den in der Broschüre enthaltenen Beiträgen ist uns         fuß macht verständlich, warum sowohl neonazistische
        das hoffentlich gut gelungen. So führt Dirk Stegemann          wie auch »rechtspopulistische« und rassistische Parteien
        als Sprecher des Bündnisses »Rechtspopulismus stoppen«         um eine Person wie Thilo Sarrazin als Mitglied buhlen
        in das Thema »Rechtspopulismus« ein, das im Anschluss          und meinen, mit ihren menschenverachtenden Ideo-
        mit dem Beitrag von Christoph Butterwegge dahinge-             logien schon immer recht gehabt zu haben. Der Aspekt
        hend vertieft wird, dass er ein Deutungsmuster und einen       der Machtasymmetrie zwischen Mehrheitsgesellschaft
        Definitionsversuch von »Rechtspopulismus« unternimmt           und marginalisierten Minderheiten soll aber zunehmend
        sowie auf die Zusammenhänge zwischen sozialen Verwer-          auch durch die Konstruktion einer vermeintlich existen-
        fungen und der Verschleierung ihrer zentralen Ursachen         ten »Deutschenfeindlichkeit« verschleiert werden. Der
        durch Ethnisierung, Biologisierung und Kulturalisierung        Herkunft dieses Konstruktes sowie den möglichen Hin-
        hinweist. Ausgrenzungs- bzw. Abgrenzungsideologien, vor        tergründen und der Frage, wer dieses warum und wofür
        allem Rassismus, Nationalismus und Sozialdarwinismus,          schon seit längerem verwendet, geht Yasemin Shooman
        sind in letzter Konsequenz kapitalistischen Gesellschaften     in ihrem Beitrag nach. Dies ist vor dem Hintergrund der
        wesenseigen, wie Sevim Dağdelen in ihrem Beitrag aus-          Anklageerhebung gegen vier Jugendliche zwischen 14 und
        führt. Was zählt, ist Leistung und das Prinzip der öko-        17 Jahren, die in Berlin-Lichtenberg einen 30-Jährigen zu-
        nomischen Verwertbarkeit. Dies ist der Nährboden auch          sammenschlugen und -traten auch notwendig; denn den
        für Rechtspopulist_innen, die sowohl innen- als auch           Beschuldigten werden neben versuchtem Mord aus Hab-
        außenpolitisch soziale Konflikte, wie sie sich aus der kapi-   gier weitere niedere Beweggründe, darunter auch »Deut-
        talistischen Konkurrenz ergeben, rassistisch umzudeuten        schenfeindlichkeit« als Form von Rassismus, vorgeworfen.
        versuchen.                                                     Den Bogen von Thilo Sarrazin über die anschließende
        In Deutschland zählen eine Reihe von selbsternannten           öffentliche Auseinandersetzung mit dem Rassismusbe-
        Bürgerbewegungen, »Pro«-Gruppen und Parteien, ob in            griff und –vorwurf sowie ihre Folgen schlägt anschließend
        verharmlosender Selbst- oder in Fremdbezeichnung zu            Hendrik Cremer. Er thematisiert u.a. die Kategorisierung
        jenen, die als »rechtspopulistisch« bezeichnet werden.         von Menschen, die rassistische Dimensionen annimmt,
        Mit diesen und ihrer im Gegensatz zu Gruppen, Orga-            wenn sie in Zusammenhang mit Hierarchisierungen und
        nisationen und Parteien des Nazi-Spektrums suggerier-          Abwertungen von Gruppen verbunden wird. Die Strate-
        ten »Saubermannfunktion« beschäftigt sich Alexander            gie, Rassisten zu fragen, ob sie rassistisch sind, bezeichnet
        Häusler. Dabei geht er auf das ideologische Kernstück          er zu Recht als sinnlos.
        »rechtspopulistischer« Politik ein – den Rassismus gegen       Von ihren Ansätzen für eine emanzipatorische Religi-
        Muslim_innen. Anschließend beschäftigt sich Daniel             onskritik ausgehend, nähert sich Chaze, Mitglied der
        Gollasch mit weiteren kleineren und Kleinstgruppierun-         Forschungsgruppe Christlicher Fundamentalismus, dem
        gen und ihrer Entstehungsgeschichte, um aufzuzeigen,           Versuch der »Rechtspopulist_innen«, eine spezifische
        wie weit dieses Phänomen des »Rechtspopulismus« schon          Religion, einen »Islam« einschließlich einer angeblich
        in der »Mitte« der Gesellschaft vorhanden ist und wie we-      homogenen muslimischen Bevölkerungsgruppe, zu kon-
        nig neu solche Einstellungsmuster sind. Ganz speziell auf      struieren und als Feindbild zu manifestieren und auszu-
        die Berliner Situation geht dann Maik Baumgärtner ein          bauen. Dabei werden andere Ausprägungen von Funda-
        und analysiert sowohl den »Pro Deutschland« Landes-            mentalismus, wie z.B. der christliche Fundamentalismus
        verband Berlin als auch »Die Freiheit«, die beide für die      von »Rechtspopulist_innen«, bewusst ignoriert oder so-
        Berliner Wahlen im September 2011 zugelassen wurden,           gar durch eine Zusammenarbeit legitimiert und genutzt.
        sowie den offen rassistisch auftretenden Webblog »politi-      Fundamentalismus müsse aber in allen Ausprägungen
        cally incorrect« der in Berlin ebenfalls eine eigene Grup-     bekämpft werden. Wann, wie und vor allem zu welchem
        pierung unterhält und eng mit der Partei »Die Freiheit«        Zweck dagegen Frauen-, Schwulen- und Lesbenfeindlich-
        zusammenarbeitet. Komplettiert wird die Darstellung der        keit unter dem Deckmantel des Eintretens für Gleich-
        wohl aktivsten »rechtspopulistischen« und rassistischen        berechtigung zum Argument in einem rassistischen Dis-
        Akteur_innen durch den Beitrag des Antifaschistischen          kurs wird, thematisiert Koray Yılmaz-Günay in seinem
        Infoblattes zur selbsternannten Bürgerbewegung »Pax            Beitrag. Er betont, dass man sich dem Prinzip »Teile und
        Europa«, die über Berlin hinaus schon seit geraumer Zeit       Herrsche« nicht unterwerfen und einer Entsolidarisierung
        auch deutschlandweit Panikmache gegen eine angebliche          zwischen oder innerhalb von ohnehin benachteiligten
        »Islamisierung« und eine damit verbundene vermeintliche        Gruppierungen nicht auch noch Vorschub leisten sollte.
        Gefährdung des »Abendlandes« durch die Scharia zu ent-         Nur so könne man sich einer Instrumentalisierung durch
        wickeln sucht;. auch hier gibt es personelle und inhaltliche   rechte und rassistische Zusammenhänge entziehen.
        Überschneidungen mit der Partei »Die Freiheit«.                Abgerundet wird die Broschüre, ohne den Anspruch auf
        Der folgende Artikel von Clara Luhr und Jan Rauch-             Vollständigkeit zu erheben, durch den Beitrag der Mobi-
Rechtspopulismus in Berlin | Seite 5

len Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR).                   litischen Herkunft und des politischen Standpunktesge-
Hier werden Empfehlungen und Handlungsoptionen im                    ben die einzelnen Beiträge immer die Ansichten der Au-
Umgang mit Rechtspopulist_innen und Rassist_innen                    tor_innen wieder und belegen damit zugleich das breite
und ihrer Ungleichwertigkeitsideologie dargestellt. Wir              Spektrum unseres Bündnisses.. So ist zu wünschen, dass
hoffen, mit diesen Empfehlungen zur Handlungssicher-                 neben dem Anstoß zur Debatte untereinander auch der
heit demokratischer Parteien und zivilgesellschaftlicher             Diskussionsprozess zum Thema »Rechtspopulismus« über
Akteur_innen beizutragen.                                            das Bündnis hinaus angeregt wird. Besonders freuen wür-
Dass der Name unseres Bündnisses auch weiterhin nicht                de uns als Bündnis, wenn mit dieser Broschüre weitere
nur eine bloße Bezeichnung sondern eine Aufforderung                 engagierte personelle Verstärkung für die inhaltliche und
zum aktiven Handeln darstellt, haben wir selbst schon                aktionsorientierte Politik gegen Rassismus, Nazismus und
mehrfach bewiesen. Dafür steht auch der abschließende                Rechtspopulismus gewinnen bzw. Anregungen für zivil-
Beitrag des Bündnisses, verbunden mit der ausdrückli-                gesellschaftliches Engagement in anderen Zusammenhän-
chen Einladung zum Mitmachen und Mitgestalten.                       gen geben könnten.
Allen Autor_innen möchten wir herzlich für die von ih-
nen zur Verfügung gestellten Beiträge danken. Bei der                1
                                                                       Warum wir uns zusammengeschlossen haben! in: www.rechtspo-
sehr heterogenen Zusammensetzung bezüglich der po-                   pulismusstoppen.blogsport.de/ueber-uns

Unser besonderer Dank geht an dieser Stelle auch an die Sponsor_innen, darunter: Rosa Luxemburg Stiftung, Ver.di Berlin, Naturfreunde
Berlin, Die Linke. Berlin, IG Metall Jugend Berlin-Brandenburg-Sachsen, DKP Berlin, SPD Tempelhof-Schöneberg, Sevim Dağdelen
(MdB, Die Linke.), Mechthild Rawert (MdB, SPD), Jusos Berlin, GEW Berlin und Die Linke Pankow.

»Rechtspopulismus«
Keine Randerscheinung -
sondern ein gesamt-
gesellschaftliches Problem
Dirk Stegemann
Der Autor ist Mitglied der Berliner VVN-BdA und hat den »Zug der Erinnerung« in Berlin
mitorganisiert. Er ist Mitglied des Arbeitskreises »Marginalisierte-gestern und heute«
und Sprecher des Bündnis »Rechtspopulismus stoppen«.

Nicht nur in Zeiten der Krisen, aber insbesondere in die-            soll an den Personen gelegen haben. Die Ursachen sozi-
sen, ist eines der beliebtesten Gesellschaftsspiele - die Su-        aler Probleme werden individualisiert bzw. subjektiviert.
che nach Schuldigen bzw. Sündenböcken. Denn wenn                     Unterstellte Unwilligkeit, Unfähigkeit oder sogar gezielte
wieder einmal etwas gesellschaftspolitisch in größerem               Böswilligkeit bestimmter Subjekte lassen eine Behebung
Maßstab »danebengegangen« ist, sollen meistens nicht                 des »Problems« nicht nur einfacher erscheinen, sondern
die Zielsetzung, destruktive soziale Beziehungen und                 auch von den tatsächlichen Ursachen und Zusammen-
Strukturen selbst in Zweifel gezogen werden, sondern es              hängen ablenken und diese verschleiern. Köpfe rollen zu
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        lassen scheint für alle Seiten nicht nur die leichtere Lö-      bezeichnet. Das für sich genommen ist wenig skandali-
        sung, sondern auch bequemer zu sein als gesellschaftliche       sierbar. Denn nicht der Versuch einer Art sprachlicher
        Verhältnisse zu verändern. Sozialdarwinismus und Rassis-        »Volkstümlichkeit« bzw. Einfachheit per se ist das Prob-
        mus sind sowohl innen- als auch außenpolitisch entspre-         lem, sondern vielmehr die Zielgruppe, die im Sinne von
        chende Ausgrenzungs- und Legitimationskonstrukte und            »ethnos« oder »demos« verstanden werden kann, wodurch
        lassen sich nicht nur bei »rechtspopulistischen« Parteien       dann entweder das »eigene« oder das »gemeine« Volk den
        und ihren Anhänger_innen finden. Es ist ein gesamtge-           Fixpunkt bildet.1 Auch macht es einen Unterschied, Poli-
        sellschaftliches Problem, das viel zu lang an die Ränder der    tik im Namen des Volkes und/oder für das Volk machen
        Gesellschaft verschoben wurde. Nicht nur um die »Mitte«         zu wollen. Allerdings bieten auch sowohl das »eigene«
        zu entlasten, sondern auch um von eigenen Verantwort-           wie das »gemeine« Volk hinreichend Gelegenheit, diese
        lichkeiten abzulenken sowie Ursachen und Verursacher_           »völkisch-nationalistisch« aufzuladen. Die Definition von
        innen gesellschaftlicher Probleme zu verschleiern.              Schubert/Klein, wonach »Populismus« eine Politik ist,
                                                                        »die sich volksnah gibt, die Emotionen, Vorurteile und
        Hier kommt dann der »Populismus« ins Spiel. Denn                Ängste der Bevölkerung für eigene Zwecke nutzt und
        zwischen den oft abstrakten Kategorien der Politik und          vermeintlich einfache und klare Lösungen für politische
        den konkreten Gegebenheiten, auf die sie sich beziehen,         Probleme anbietet«2, scheint jedenfalls recht allgemein.
        ist die Sprache das vermittelnde Element. Sprache ist im-       Klarer wird der Begriff auch nicht durch den Verweis auf
        mer Produkt sowie Spiegel der Gesellschaft. In einer ras-       die »Demagogen«.
        sistisch, sexistisch, antisemitisch geprägten Gesellschaft      Allerdings ist zu bezweifeln, dass eine Präzisierung des
        ist entsprechend die Sprache von Rassismus, Sexismus,           Begriffs »Populismus« tatsächlich gewünscht wäre, ist
        Antisemitismus geprägt, die wiederum Gesellschaft als           er doch durch seine Schwammigkeit auch vielseitig und
        solche prägt. Neben bewusst diskriminierenden Äußerun-          politisch instrumentell einsetzbar. Deutlich wird dies an
        gen gibt es die eher unbewusst verwendeten, die selbstver-      dem immer wieder aufgelegten Links-Rechts-Schema.
        ständlicher Bestandteil der Alltagssprache sind und deren       Die Gegenüberstellung eines vermeintlichen Rechts- und
        diskriminierender Gehalt deshalb unreflektiert bleibt, da       Linkspopulismus suggeriert analog zur »Totalitarismus«-
        ihre ursprüngliche Bedeutung und die Begriffsgeschichte         und der daraus hergleiteten »Extremismus«-Debatte eine
        unbekannt sind. Doch beim so genannten »Populismus«             Gleichsetzung von Rechts und Links dahingehend, dass
        wird gezielt versucht, über Sprache Stereotype und Kli-         beide von einer sich selbst als demokratisch definierenden
        schees auf eine oder mehrere Gruppen von Personen zu            »Mitte« abgegrenzt werden sollen. Suggeriert wird damit
        projizieren, die als Sündenböcke für gesellschaftliche Kri-     aber auch, dass dieser so genannten »Mitte« keinerlei »Po-
        sen und Probleme schlechthin fungieren müssen. Letzt-           pulismus« zu unterstellen sei. Doch ist es diese »demo-
        lich geht es darum, ein »falsches Bewusstsein« (Marx) bzw.      kratische Mitte«, die nach »Sündenböcken« sucht und der
        ein Zerrbild der Wirklichkeit zu vermitteln. Bei der Suche      diese auch erfolgreich präsentiert werden, wie die Studie
        nach und Präsentation von Sündenböcken geht es relativ          »Die Mitte in der Krise« der Friedrich-Ebert-Stiftung ge-
        pragmatisch zu. So können es die »Leistungsverweigerung         rade erst belegt hat.3
        oder Faulheit der Armen«, die »Integrationsunfähigkeit
        und –unwilligkeit« der Migrant_innen, eine Religion oder        Prinzipiell wäre der »Populismus«-Begriff auf all jene in
        die »ethnisch-kulturelle Herkunft« sein, die entsprechen-       Politik, Medien etc. anwendbar, die sich in ihrer Suche
        de gesellschaftliche Probleme verursachen.                      nach den Ursachen gesellschaftlicher Probleme von der
                                                                        sozialen Frage wegbewegen und stattdessen allein nach
        Populismus – ein »populistisch« verschleiernder                 den individualisierten bzw. subjektivierten Schuldigen
        Kampfbegriff                                                    fahnden, wobei Fragen nach dem gesellschaftlichen Sys-
        Insbesondere in den letzten Jahren prägten zunehmend            tem und seinen Strukturen ausgeblendet werden. Da ge-
        der »»Populismus«-Begriff und in diesem Zusammenhang            meinhin die linke Bewegung die Systemfrage stellt, kann
        der »Populismus«-Vorwurf die öffentliche Diskussion             sie in diesem Punkt kaum als »populistische« bezeichnet
        und Auseinandersetzung. Die Deutung des Begriffs ist            werden. Wenn sich linke Politik tatsächlich der Ehrlich-
        dabei - gleich denen des »Extremismus« oder »Terroris-          keit und Wahrhaftigkeit gegenüber den Bürger_innen ver-
        mus« - der Individualität, sprich geistigen »Willkür« des       pflichtet fühlt, kann es »Linkspopulismus« als systemische
        Einzelnen bzw. des Mainstreams und der gezielten poli-          Erscheinung, als Wesen linker Politik nicht geben. Das
        tischen Instrumentalisierung überlassen. Allgemein an-          schließt selbstredend nicht automatisch aus, dass auch
        erkannte und wissenschaftlich begründete Definitionen           vermeintlich linke Politiker_innen beispielsweise bei der
        gibt es nicht. Klar ist, dass der lateinische »populus«, also   Jagd nach Stimmen lügen und täuschen, sich also »popu-
        »das Volk«, den Kern des Begriffs Populismus bildet und         listischer« Argumentationsmuster und Argumentations-
        »Populismus« eine um »Nähe zum Volk« bemühte Politik            techniken bedienen könnten.
Rechtspopulismus in Berlin | Seite 7

Das Bündnis »Rechtspopulismus stoppen« und                         militante Züge aufzuweisen und Gewalt zur Durchsetzung
»Rechtspopulismus«                                                 politischer Ziele anzuwenden oder anzudrohen«, ist fraglich.
Die begriffliche Unklarheit und die inflationäre Verwendung        Und zwar nicht nur hinsichtlich des Gewaltbegriffs. Denn
zwingt das Bündnis »Rechtspopulismus stoppen« geradezu             im Zuge der von diesen Organisationen angezettelten ras-
dazu, eine eigene Position darzustellen, ohne allerdings den       sistischen Debatten um eine »schleichende Islamisierung«
Anspruch erfüllen zu wollen, das für alle und jeden Verbind-       gab es bereits mehrfach Übergriffe und Angriffe auf Mo-
liche zu formulieren. Insofern gibt es bisher im Bündnis auf       scheen und vermeintliche Muslim_innen. Oder sind geisti-
Grund seiner Heterogenität keine einheitliche Meinung und          ge Brandstifter_innen nicht verantwortlich dafür? Oder ist
Position zum Inhalt des Begriffs »Populismus« allgemein und        die Umsetzung der von diesen Gruppierungen geforderten
»Rechtspopulismus« konkret sowie zu dessen Verwendung.             repressiven staatlichen Politik gegenüber Flüchtlingen sowie
Als gemeinsamer Grundkonsens gilt, dass »Organisationen            Migrant_innen keine Gewalt? Aber auch aus einer anderen
wie z.B. die Parteien ‚Pro Deutschland’ oder ‚Die Freiheit’,       Sicht ist dies fragwürdig. Insbesondere Gruppierungen wie
selbsternannte Bürgerbewegungen wie ‚Pax Europa’, einige           die »Pro«- Bewegungen, »Pax Europa«, »politically incorrect«
Freie Wählervereinigungen oder rassistische Webblogs wie           oder »Die Freiheit« weisen außer inhaltlichen Kontinuitäten
‚politically incorrect’ versuchen, unter dem Deckmantel von        trotz der nach außen propagierten Abgrenzung auch direkte
Islamkritik, Integrations- und Meinungsfreiheitsdebatten,          Querverbindungen zu rassistischen Parteien bzw. Organisati-
Frauen- und Bürger_innenrechten rassistische Ressentiments         onen, Zusammenhängen oder Einzelpersonen auf. Besonders
auch in Berlin gesellschaftsfähig zu machen. Sie versuchen         bei den »Pro«-Bewegungen ist dies auffällig. Hier stammt ein
damit, an Wahlerfolge von rechtspopulistischen, rassisti-          Teil der Funktionär_innen, Mitglieder und Unterstützer_in-
schen oder offen faschistischen Parteien wie z.B. Vlaams Be-       nen aus rassistischen Parteien wie der NPD, DVU und den
lang, Lega Nord, FPÖ, Front National, SVP, Alsace d‘Abord          REP oder anderen rassistischen Gruppierungen.
u.v.a. anzuknüpfen. Über die Konstruktion eines exklusiven
‚christlich-jüdischen Abendlandes’ sollen ganze Bevölke-           Das Bündnis hat sich zur Verwendung des Begriffs »Rechtspo-
rungsteile ausgegrenzt werden. Der Islam wird als eine Art         pulismus« zwar entschieden, die inhaltliche Auseinanderset-
Vehikel benutzt, um soziale Ausgrenzung, Diskriminierung           zung und Begriffsklärung ist damit aber nicht abgeschlossen.
und Sicherheitswahn mit dem Grundrechteabbau zu legiti-            Den Bündnismitgliedern war es wichtig, den in aller Munde
mieren.«4 Dabei werden Methoden angewandt, wie sie von             befindlichen und über die Medien kolportierten Begriff auf-
der »Neuen Rechten« benutzt werden: Hetze, Lüge, Einsatz           zugreifen und den mit diesem bezeichneten Parteien, Grup-
von Halbwahrheiten, scheinbare Wissenschaftlichkeit, Ver-          pen und Einzelpersonen inhaltlich entgegenzutreten. Dafür
leumdung, Diskriminierung, Ausgrenzung, Dämonisierung,             steht auch diese Broschüre. Die Verwendung des Begriffs ist
Demütigung, Einschüchterung, Erniedrigung und Krimi-               insbesondere der beabsichtigten Breite des Bündnisses ge-
nalisierung. Tatsächlich muss dem Versuch, »Rechtspopulis-         schuldet, die über klassische antirassistische Bündnisse hin-
mus« als demokratisch geläutertes, zumindest sehr viel mo-         ausgehende Spektren einbinden soll. Ich verfechte eher die
derateres Pendant zum »Rechtsextremismus« erscheinen zu            Position, den Begriff »Rechtspopulismus« nicht zu verwen-
lassen, entschieden begegnet werden. Vielmehr ist er – wie         den, da er tatsächlich mehr verschleiert als aufklärt und auf-
Christoph Butterwegge darstellt – wenn überhaupt davon             hellt. Die Politik dieser so bezeichneten Organisationen und
zu unterscheiden, dann nur eine Spezialform des Letzteren.5        von deren Vertreter_innen ist eben gerade nicht demokrati-
Ob und inwieweit allerdings als »rechtspopulistisch (…) nur        scher, nur weil sie keine vordergründig physische Militanz an
jene (Partei-) Organisationen, Strömungen und Bestrebun-           den Tag legen. Sie sind und bleiben schlichtweg rassistisch
gen bezeichnet werden [sollten], die den Dualismus von             und sozialdarwinistisch. Für ein besseres Verständnis habe ich
‚Volk’, ‚Bevölkerung’ bzw. ‚mündigen Bürgern’ und ‚Elite’,         deshalb hier zwar den Begriff »Rechtspopulismus« verwendet,
‚Staatsbürokratie’ bzw. ‚politischer Klasse’ zum Dreh- und         setze ihn aber in Anführungszeichen, um deutlich zu machen,
Angelpunkt ihrer Agitation und Propaganda machen, ohne             dass ich selbst ihn für weniger sinnvoll halte.

Der Text ist eine gekürzte Fassung von »Cui bono Populismus«, Dirk Stegemann,
Rundbrief 01/2011 der AG Rechtsextremismus/Antifaschismus beim Bundesvorstand Die Linke., S. 29

1
  www.netz-gegen-nazis.de/artikel/niederlage-fuer-den-rechtspopulismus-oder-was-ist-eigentlich-populismus
2
  Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon. 4., aktual. Aufl. Bonn: Dietz 2006
3
  Friedrich-Ebert-Stiftung (2010): Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010.
4
  Warum wir uns zusammengeschlossen haben! in: www.rechtspopulismusstoppen.blogsport.de/ueber-uns
5
  www.netz-gegen-nazis.de/artikel/niederlage-fuer-den-rechtspopulismus-oder-was-ist-eigentlich-populismus
Seite 8 | Rechtspopulismus in Berlin

        Was ist Rechts-
        populismus?
        Prof. Dr. Christoph Butterwegge
        Der Autor lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Seine letzten Buchveröf-
        fentlichungen zum Thema sind: »Massenmedien, Migration und Integration. Heraus-
        forderungen für den Journalismus und die politische Bildung« sowie »Rechtspopulismus,
        Arbeitswelt und Armut. Befunde aus Deutschland, Österreich und der Schweiz«.

        Durch die öffentliche Debatte über Thilo Sarrazin und          auch inhaltliche Mehrdeutigkeit, Verschwommenheit
        den von ihm veröffentlichten Bestseller »Deutschland           und Konturlosigkeit bedingt. Andererseits wird häufig
        schafft sich ab« hat die Frage an Bedeutung gewonnen,          so getan, als sei »Rechtspopulismus« das demokratisch
        was Rechtspoulismus ist und ob er – möglicherweise sogar       geläuterte, zumindest sehr viel moderatere Pendant zum
        in parteipolitisch organisierter Form – nach Wahlerfol-        Rechtsextremismus, nicht etwa nur eine Spezialform des-
        gen in mehreren Nachbarländern auch hierzulande eine           selben. Dies bringt jedoch weitere Abgrenzungsprobleme
        Chance hätte. Vermutlich rührt Sarrazins publizistischer       mit sich, ohne gleichzeitig mehr terminologische Klarheit
        Erfolg daher, dass er wichtige Diskurse der letzten Jah-       zu schaffen. Missverständlich ist der Populismusbegriff
        re (z.B. den Demografiediskurs: »Die Deutschen sterben         insofern, als dafür zwei unterschiedliche Deutungsmuster
        aus«; den Migrationsdiskurs: »Zuwanderer – seit dem 11.        existieren.
        September 2001 hauptsächlich Muslime – überschwem-
        men bzw. überfremden uns«; den Sozialstaatsdiskurs:            Das in der Forschungslandschaft wie in der Fachliteratur
        »Hartz-IV-Bezieher/innen sind gar nicht wirklich arm,          klar dominante Deutungsmuster begreift Populismus als
        sondern plündern uns aus, weil der Sozialstaat zu großzü-      Politik(vermittlungs)form und Regierungsstil, welcher
        gig ist«) bündelt und teilweise noch zuspitzt. Offenbar traf   von Personen, Parteien oder Koalitionen ganz unter-
        der damalige Bundesbank-Vorstand und frühere Berliner          schiedlicher Couleur praktiziert werden kann, was man
        Finanzsenator mit seinen polemischen Vorwürfen gegen-          ggf. mittels der Differenzierung zwischen Links- und
        über sozial benachteiligten Minderheiten thematisch wie        Rechtspopulismus zum Ausdruck bringt. Nach herrschen-
        politisch-inhaltlich den neoliberal geprägten, aber auch       der Lehre charakterisiert der Populismus gar nicht die Po-
        von Deutschtümelei nicht freien Zeitgeist. Zu erörtern ist     litik einer Partei, sondern nur die Art, wie sie gemacht
        auch, ob es sich bei Sarrazins Thesen um einen mutigen         und/oder »an den Mann gebracht« wird.
        Tabubruch oder um einen typischen Fall von Rassismus,          Ein gewisses rhetorisches Talent und die argumentative
        Sozialdarwinismus und Rechtspopulismus handelt.                Demagogie seiner führenden Repräsentanten sind auffälli-
                                                                       ge Merkmale des Populismus, aber nicht für ihn konstitu-
        Rechtspopulismus –                                             tiv. Nach größerer Popularität zu streben, »dem Volk aufs
        Deutungsmuster und Definitionsversuche                         Maul zu schauen« und komplexe Zusammenhänge leicht
        Der inflationär verwendete Populismusbegriff ist aus zwei      verständlich darzustellen, ist höchstens dann populistisch,
        Gründen schillernd und unscharf. Einerseits fallen dar-        wenn damit die Manipulation von Menschen zugunsten
        unter häufig link(sradikal)e genauso wie recht(sextrem)e       einer privilegierten Minderheit verbunden ist. Unbefriedi-
        und basis- bzw. radikaldemokratische genauso wie anti-         gend bleibt eine bloße Formaldefinition für Populismus,
        demokratische Strömungen, was seine Offenheit für un-          wenn sie keinerlei inhaltliche Festlegung enthält. Die Be-
        terschiedliche Strategien und Taktiken signalisiert, aber      zeichnung eines Parteiprogramms als »populistisch« ist so-
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                                                                                        Proteste gegen Sarrazin
                                                                                                                -Lesung
                                                                                        im Estrel-Hotel
                                                                                        18. Mai 2011

wenig aussagekräftig wie der Begriff »Protestpartei«, weil   Der zeitgenössische Rechtsextremismus hat sich spürbar
in beiden Fällen keine Aussage über die dahinter stecken-    modernisiert, programmatisch erneuert und vom Natio-
de Ideologie getroffen wird.                                 nalsozialismus mehr oder weniger überzeugend distanziert
Das andere Deutungsmuster versteht unter Populismus          sowie aufgrund der Vielfalt von ihm mittlerweile besetzter
eine stärker inhaltlich bestimmte Konzeption, die auf-       Handlungsfelder, Aktionsformen und Organisationszu-
grund ihrer Konstruktion eines (ethnisch) homogenen          sammenhänge erheblich ausdifferenziert. Als rechtspo-
Volkes, das sie den »korrupten Eliten« gegenüberstellt,      pulistisch sollten nur jene (Partei-)Organisationen, Strö-
mit einer linken Weltanschauung bzw. deren Haupt-            mungen und Bestrebungen bezeichnet werden, die den
strömungen – Sozialismus, Reformismus und Kommu-             Dualismus von »Volk«, »Bevölkerung« bzw. »mündigen
nismus –, die Klassen und Schichten zu Basiskategorien       Bürgern« und »Elite«, »Staatsbürokratie« bzw. »politischer
ihrer Topografie der Gesellschaft machen, unvereinbar ist,   Klasse« zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Agitation und
aber mit den bürgerlichen Grundrichtungen – Liberalis-       Propaganda machen, ohne militante Züge aufzuweisen
mus und Konservatismus –, die zwischen den genannten         und Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele anzuwen-
Großgruppen keine Interessengegensätze zu erkennen           den oder anzudrohen. Innerhalb des Rechtspopulismus
vermögen, durchaus harmoniert. Rechtspopulismus wäre         kann man idealtypisch vier Grundvarianten unterscheiden:
für diese Orientierung zwar der treffendere Begriff, was
allerdings nicht ausschließt, dass sich auch Strömungen
der »Mitte« oder der Linken zumindest vorübergehend          1.     Wenn die Kritik an einem vermeintlich überbor-
                                                                    denden, die Volkswirtschaft lähmenden und den
solcher Argumentationsmuster und entsprechender Agi-         eigenen Wirtschaftsstandort gefährdenden Wohlfahrts-
tationstechniken bedienen.                                   staat im Mittelpunkt der Propaganda einer Rechtspartei
Populismus ist mehr als eine Stilfrage und eine Agitati-     steht, wäre von »Sozialpopulismus« zu sprechen. Man
onstechnik, worauf schon die Etymologie des Terminus         nutzt den unterschwellig vorhandenen, oft in der politi-
verweist, denn die ursprüngliche Wortbedeutung lässt         schen und medialen Öffentlichkeit geschürten Sozialneid
den Anspruch damit Bezeichneter erkennen, Politik im         gegenüber noch Ärmeren – in diesem Fall: den angeb-
Namen des Volkes und/oder für das Volk zu machen. Je         lich »faulen« bzw. »arbeitsscheuen« Erwerbslosen und
nachdem, ob man diese Zielgruppe im Sinne von »eth-          Sozialhilfeempfänger(inne)n –, um von den eigentlichen
nos« oder »demos« versteht, bildet das »eigene« oder das     Verursachern der sich vertiefenden Kluft im Land abzu-
»gemeine Volk« den Fixpunkt. Zwar haben Rechtspopu-          lenken.
listen nur wenig Hemmungen, ihrerseits – etwa als Par-
lamentsabgeordnete oder Minister – die Privilegien der
Mächtigen und Regierenden in Anspruch zu nehmen,             2.      Konzentriert sich eine rechte Gruppierung auf die
                                                                     Stigmatisierung und Diskriminierung von Straffäl-
verlangen von diesen jedoch, sich nicht persönlich zu        ligen, plädiert sie energisch für »mehr Härte« der Gesell-
bereichern, sondern selbstlos »der Sache des Volkes« zu      schaft im Umgang mit ihnen und nimmt sie besonders
dienen. Rechtspopulisten stellen zwar die soziale Frage,     Drogenabhängige, Bettler/innen und Sexualstraftäter ins
ohne sie jedoch überzeugend zu beantworten. Meistens         Visier, um die Wähler/innen mit einem Szenario der per-
verknüpfen solche Gruppierungen die soziale mit der na-      manenten Bedrohung zu erschrecken, handelt es sich um
tionalen Frage, obwohl eine Verbindung von sozialer und      Kriminalpopulismus, der die »anständigen Bürger« gegen
demokratischer Frage nötig wäre, um sie zu lösen.            den »gesellschaftlichen Abschaum« mobilisiert und seine
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        Kampagnen auf dem Rücken von sozial benachteiligten          der Konkurrenz, dem Gewinnstreben und betriebswirt-
        Minderheiten inszeniert. Häufig genug spielt die Boule-      schaftlicher Effizienz bestimmt.
        vardpresse dabei eine unrühmliche Rolle als Sprachrohr
        einer intoleranten und illiberalen Mehrheitsgesellschaft.
                                                                     2.      findet eine Kulturalisierung des Sozialen statt. Seit
                                                                             geraumer Zeit stehen nicht mehr materielle Inter-

        3.     Sofern eine Rechtspartei die »Systemfrage« in den
               Mittelpunkt rückt und sich vor allem die verbrei-
                                                                     essen bzw. Interessengegensätze im Blickfeld, wenn man
                                                                     über die Entwicklung von Staat, Wirtschaft und Gesell-
        tete Enttäuschung über ihre etablierten Konkurrentinnen      schaft spricht, sondern die kulturelle Identität. Die Kul-
        auf dem »Wählermarkt« und die Entfremdung vieler Bür-        turalisierung des Sozialen bedeutet, dass die Zugehörig-
        ger/innen gegenüber dem bestehenden Regierungs- bzw.         keit zur Gesellschaft nicht mehr über die Zugehörigkeit
        Parteiensystem (»Politikverdrossenheit«) zunutze macht,      ihrer Mitglieder zu einer bestimmten Klasse, Schicht oder
        das sie mit Korruption gleichsetzt und aus prinzipiellen     Gruppe definiert wird, die gemeinsame Interessen haben
        Erwägungen ablehnt, erreicht die populistische Zuspit-       (und daher ein hohes Maß an Solidarität realisieren kön-
        zung eine andere Qualität, was die Bezeichnung »Radi-        nen, falls sie sich dessen bewusst werden), sondern dass
        kalpopulismus« rechtfertigt. Bei dieser Variante legt eine   stärker nach kulturellen Übereinstimmungen, also gemein-
        populistische Bewegung den Maßstab für ihr eigenes Ver-      samer Sprache, Religion und Tradition, gefragt wird. Das
        halten sehr hoch. Umso leichter kann sie daran gemessen      ist der Grund, weshalb sich Widerstand gegen diese Ent-
        und – wie schon oft geschehen – selbst der politischen       wicklung nur schwer artikulieren und organisieren kann.
        Unfähigkeit, Inkompetenz und Korruptionsanfälligkeit
        überführt werden.
                                                                     3.      ist eine Ethnisierung des Sozialen festzustellen. Je
                                                                             mehr die ökonomische Konkurrenz im Rahmen

        4.      Steht der staatliche Innen-außen-Gegensatz bzw.
                die angebliche Privilegierung von Zuwande-
                                                                     der »Standortsicherung« verschärft wird, umso leichter
                                                                     lässt sich die kulturelle Differenz zwischen Menschen
        rern gegenüber den Einheimischen oder die »kulturel-         unterschiedlicher Herkunft aufladen und als Ab- bzw.
        le Überfremdung« im Vordergrund, handelt es sich um          Ausgrenzungskriterium gegenüber Mitbewerber(innen)
        Nationalpopulismus. Charakteristisch ist für ihn, dass       um soziale Transferleistungen instrumentalisieren. Ein
        die zunehmende Pauperisierung breiter Bevölkerungs-          »nationaler Wettbewerbsstaat« (Joachim Hirsch), der
        schichten, übrigens vor allem ethnischer Minderheiten,       kein herkömmlicher Wohlfahrtsstaat mehr sein möchte,
        nicht etwa als Konsequenz ihrer Diskriminierung (z.B. im     bereitet Ethnisierungsprozessen den Boden. Diese haben
        Bildungsbereich sowie auf dem Arbeitsmarkt) und einer        zwei Seiten: Neben einer Stigmatisierung »der Anderen«
        ungerechten Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen,    bewirken sie eine stärkere Konturierung »des Eigenen«
        vielmehr als Resultat der zu großen Durchlässigkeit bzw.     bzw. die Konstituierung einer nationalen bzw. »Volksge-
        Aufhebung der Grenzen für Migrant(inn)en thematisiert        meinschaft«, mit der viel weiter reichende Ziele verfolgt
        und die Angst vor einer »Überflutung« bzw. »-fremdung«       werden. »Deutsche(s) zuerst!« lautet ein Slogan, der solche
        vornehmlich durch Muslime kultiviert wird.                   Vorstellungen genauso wie »Ausländer raus!«-Parolen im
                                                                     Massenbewusstsein verankert.
        Die Sinnkrise des Sozialen als geistiger Nährboden
        des Rechtspopulismus
        Staat und Gesellschaft leiden gegenwärtig vor allem unter    4.      zeichnet sich eine Biologisierung des Sozialen ab.
                                                                             Gesellschaftlich bedingte Verhaltensweisen wer-
        der massiven Entwertung bzw. einer tiefen Sinnkrise des      den heute immer häufiger an den Genen festgemacht.
        Sozialen, die den geistigen Nährboden des Rechtspopulis-     Dabei spielt der Demografie-Diskurs, d.h. die Art und
        mus bildet und aus folgenden Teilprozessen besteht:          Weise, wie über die (Alters-)Struktur der Gesellschaft ge-
                                                                     sprochen und geschrieben wird, eine Schlüsselrolle. Mit

        1.    fällt die Tendenz zur Ökonomisierung des Sozialen
              ins Auge. Fast alle Lebensbereiche, etwa Kultur,
                                                                     dem demografischen Wandel rückt die Humanbiologie
                                                                     ins Zentrum der Gesellschaftspolitik und entscheidet
        (Hoch-)Schule, Freizeit und auch die soziale Infrastruk-     quasi naturwüchsig, wie ein naturgesetzlicher Sachzwang,
        tur, werden nach dem Muster des Marktes restrukturiert.      über Rentenhöhen und darüber, wie Sozialleistungen zu
        Sozial zu sein bedeutet fortan nicht mehr, sich gemäß        bemessen sind. Wer die meist Katastrophenszenarien glei-
        humanistischer Grundüberzeugungen oder christlicher          chenden Bevölkerungsprognosen betrachtet, deren Häu-
        Nächstenliebe um arme, benachteiligte oder Menschen          fung in den Medien auffällt, stellt fest, dass die Urangst
        mit Behinderungen und ihre Probleme zu kümmern bzw.          von Neonazis und Rechtsextremisten, »das deutsche Volk«
        moralischen Verpflichtungen und ethischen Normen             könne »aussterben« (und zuwandernden Muslimen somit
        nachzukommen. Vielmehr wird auch das Soziale zuneh-          widerstandslos »das Feld räumen«), in die Mitte der Ge-
        mend vom neoliberalen Zeitgeist durchdrungen und von         sellschaft wandert.
s, »Republika-
Rainhard Haese (recht
                            «)
ner Berlin« & »Pro Berlin
   nd geb un g am Bre its scheidplatz
Ku
3. Oktober 2010
röffnung
Proteste gegen die Büroe
            rlin « in de r All ee der Kos-
von »Pro Be
                             ell ersdorf)
monauten 28 (Marzahn-H
18. August 2010
Rechtspopulismus in Berlin | Seite 13

Klassen,
Rassen
& Kriege
kapitalistische
Normalität
Sevim Dağdelen
ist Mitglied der Partei Die Linke. und seit 2005 Bundestagsabgeordnete. Sie ist Mitbegrün-
derin des Bundesverbandes der MigrantInnen in Deutschland und arbeitet für verschiedene
Publikationen als Journalistin und Übersetzerin.

Es ist kein Zufall, dass eine neue Welle des Fremdenhas-     formation nicht als eine direkte Konsequenz der politisch
ses und Rassismus just dann über Europa schlägt, wenn        gewollten neoliberalen Wirtschaftsordnung oder auf kon-
jene die bislang von dem uneingelösten Demokratie-           krete Entscheidungen europäischer Politik zurückgeführt
versprechen der bürgerlichen Welt ausgeschlossen wur-        werden. Vielmehr sollen sie als alternativlose Zwänge der
den, aufbrechen, um dessen Universalität einzufordern.       Globalisierung und notwendige Notopfer eines Abwehr-
Der erneute Ausbruch des Ressentiments wäre nichts           kampfes gegen eine konstruierte äußere Gefahr verschlei-
neues, gehört doch der Rassismus zum ständigen Begleit-      ert werden.
charakteristikum der kapitalistischen Gesellschaftsforma-    Neu ist aber, dass angesichts des Aufbruchs in der arabi-
tion. Auch und gerade in Krisenzeiten. Es war deshalb        schen Welt, der Widerspruch zwischen rassistischer Aus-
nicht überraschend, dass seit zwei Jahren führende Politi-   grenzung, Verweigerung und Integrationsdebatten der
kerInnen offen Rassismus gegenüber Griechenland schü-        westlichen Metropolen beim Zusammenprall mit der un-
ren, welcher von den sogenannten Leitmedien bereitwil-       missverständlichen Forderung nach Gleichberechtigung,
lig aufgegriffen wird. Schließlich sollen der Sozialabbau    demokratischer Teilhabe und sozialer Gerechtigkeit in
und die Verwerfungen der kapitalistischen Gesellschafts-     der kapitalistischen Peripherie unüberhörbar wird.
Seite 14 | Rechtspopulismus in Berlin

          In den letzten 30 Jahren, seit dem Entstehen der Mas-         Dabei geht es in dem kapitalistischen Produktionspro-
          senarbeitslosigkeit und ihrer Verfestigung, erlebt die Bun-   zess nicht nur darum eine »organische Produktionsstruk-
          desrepublik eine Kampagne dieser Art nach der anderen.        tur« herauszubilden, in welcher bestimmte als fremd
          Nicht erst der Aufstand der griechischen Bevölkerung          definierte Bevölkerungsgruppen ausgeschlossen werden.
          gegen die rechts-liberale Regierung unter Ministerpräsi-      Vielmehr sollen zugleich jene Ausgeschlossenen unter
          dent Kostas Karamanlis und seine unsoziale, neoliberale       das vermeintliche Integrationsversprechen zu einer ver-
          Wirtschaftspolitik vor zwei Jahren hat in regelmäßigen        stärkten Leistungsanstrengung motiviert werden. Dieser
          Abständen in Deutschland RechtspopulistInnen auf den          Mechanismus dient keineswegs nur um gegen auslän-
          Plan gerufen. Aber gerade die in Griechenland bestehen-       dische Bevölkerungsgruppen in Anschlag gebracht zu
          den sozialen Konflikte, eine Folge auf die EU-Politik zur     werden, sondern genauso gegen Arbeitslose und Arme
          Disziplinierung der Mitgliedstaaten durch die Finanz-         überhaupt. In beiden Fällen wird die strukturelle Verant-
          märkte, sind ein gutes Beispiel dafür, wie diese hier zu      wortung der neoliberalen Ordnung für die sozialen Ver-
          einem nationalen »Schmarotzertum« umdefiniert wurden          werfungen auf die Ebene der Individuen abgeschoben.
          und von den eigentlichen Ursachen sowie VerursacherIn-        Für diese Menschen soll der Eindruck entstehen, ihre
          nen abgelenkt werden soll: »Die Griechen wollen, dass         individuellen Bemühungen und Leistungsanstrengungen
          wir ihre Luxusrenten bezahlen.« Eine Strategie, die fes-      wären der beste Garant dafür, dass sie zu einem völkisch
          ter Bestandteil einer alten »deutschen Tradition« ist, die    definierten »organischen Ganzen« dazugehören dürfen.
          sich bis zum Kaiserreich zurückverfolgen lässt und ihren      Gleichzeitig soll eine klassenspezifische Solidarität über
          einmaligen Tiefpunkt während der Verbrechen des deut-         ethnische und rassisch definierte Grenzen hinweg ausge-
          schen Faschismus auch ganz speziell gegen die Ärmsten         schlossen werden.
          der Armen erreicht hatte. Als schon vorher wegbereitend
          für diese Verbrechen kann hier z.B. angeführt werden, wie     Besonders massiv wurde diese Hetze, als mit Hilfe neo-
          schon im 19. Jahrhundert die Kolonisierung Osteuropas         nazistischer Attacken 1993 das Asylrecht in der Bundes-
          mit dem Vorhandensein einer angeblichen »polnischen           republik faktisch abgeschafft wurde. Sie wurde dann neu
          Wirtschaft« gerechtfertigt wurde. Damals wie heute geht       entfacht, als die Menschen wegen Hartz IV, vor allem in
          es darum, diejenigen, die als »minderwertig«, »unwert«,       Ostdeutschland im Jahre 2004, auf die Straße gingen. In
          »unnütz« oder unter dem Stigma »asozial« subsumiert           einem Papier des damaligen Bundeswirtschaftsministeri-
          und kategorisiert werden, aus der Gesellschaft auszusor-      ums unter Wolfgang Clement (SPD) war die Rede von
          tieren und Diskriminierungen, Zwangsmaßnahmen und             »Parasiten«. Und genau das meinte Guido Westerwelle,
          Sanktionen zu legitimieren. Die Hetzorgane der Herr-          als er letztes Jahr behauptete, Erwerbslose und Hartz-
          schenden haben dafür in der Bundesrepublik u.a. das           IV-Betroffene erhielten ein »anstrengungsloses Einkom-
          Stigma »Sozialschmarotzer« konstruiert, um diese ganz         men«. Genau dies meinte auch Thilo Sarrazin (SPD) als
          im Sinne eines »Nützlichkeitsrassismus« von »Leistungs-       er als Berliner Finanzsenator und später als Bundesbank-
          trägerInnen« abzugrenzen.                                     vorstand gegen die Armen und MigrantInnen hetzte.

                         Menü-Früh-
»Super-Sarrazin-Spar-
                        Sa rrazin-Ver-
stücks-Buffet« gegen
anstaltung bei de r IH K
12. April 2011
Rechtspopulismus in Berlin | Seite 15

Seit seinen Anfängen begleitet den Kapitalismus der ver-      ab der Wiege ausgesorgt haben, und jenen, die sich ein
tikale Rassismus, wie es der italienische Philosoph Dome-     ganzes Leben lang plagen werden ohne eine wirkliche
nico Losurdo genannt hat. Rassistische Erklärungsmuster       Chance auf Integration in dieser Gesellschaft. Die Kon-
werden so objektiviert und als eine naturgegebene Tatsa-      fliktlinie verläuft zwischen denen, die ohne Arbeit leben
che, einer unterschiedlichen Verteilung von Leistungsfä-      und bleiben, und jenen, die ihren Beschäftigten Über-
higkeit, ausgegeben. Die soziale Spaltung der Gesellschaft    stunden und Mehrarbeit abverlangen.
wird damit biologistisch untermauert. Diese »Wissen-
schaft« findet angesichts dessen und nicht zuletzt dank       In der Vermittlung dieser Konflikte und der Offenle-
der Prämisse der Selektion im Bildungswesen, auch den         gung ihrer Widersprüche liegt die Möglichkeit für den
Eingang in Schulen und Medien. An deren Ende steht            Widerstand im Kampf für eine wirklich solidarische
die Feststellung, dass ArbeiterInnen, MigrantInnen, Er-       Gesellschaft für alle Menschen. Es geht in ihnen da-
werbslose, Arme oder Kranke »minderwertig« sind.              rum die Ausgrenzung von Menschengruppen, wel-
                                                              che man als minderwertig stigmatisiert, zu durchbre-
Angesichts der Krise des Kapitalismus und des Ansehens-       chen. Auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens.
verlust des Kapitalismus werden die Verteilungskämpfe in      Die soziale Wirklichkeit lehrt uns, dass der Ausschluss als
der Zukunft an Intensität gewinnen. Es ist absehbar, dass     fremd stigmatisierter Gruppen vom Zugang zu materiel-
um von der Verteilungsfrage abzulenken wieder tief in die     ler, sozialer und kultureller Teilhabe nicht die Ausnahme,
Trickkiste gegriffen wird, um die menschliche Solidarität     sondern die Grundbedingung moderner Staatlichkeit ist.
zu spalten. Der Norden gegen den globalen Süden, Ost-         Karl Marx hat diese Gesellschaft bekanntlich mit dem
gegen Westdeutschland, Junge gegen Alte, vor allem aber       Satz umschrieben, dass »An die Stelle der alten bürger-
betrifft es Menschen mit Migrationshintergrund, die gegen     lichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegen-
sogenannte Einheimische oder ChristInnen gegen Musli-         sätzen eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines
mInnen oder auch untereinander ausgespielt werden.            jeden die freie Entwicklung aller ist« treten muss. In einer
                                                              bürgerlichen, libertären Gesellschaft kann es eine Ge-
Unter Zuhilfenahme von Rassismus- und Orientalisie-           rechtigkeit für »Deutsche« und »Nicht-Deutsche« nicht
rungs-Strategien, welche die Menschen aufgrund ihrer          geben. Erst durch die Abschaffung ethnischer und rassi-
Herkunft und Kultur essentialisieren, versuchen die           scher Kategorien durch eine diese überwindende Klassen-
Herrschenden von den eigentlichen gesellschaftlichen          Solidarität kann es echte Freiheit geben.
Problemen, wie der wachsenden Armut für die Mehrheit
und dem steigenden Reichtum für Wenige abzulenken.            Die Krise des Kapitalismus und das wacklige Vertrauen in
Und sie nähren damit den Boden für die menschenver-           kapitalistische Institutionen nehmen die Herrschenden
achtende Ideologie der Nazis.                                 zum Anlass, die Ideologie des Rassismus in Gestalt einer
                                                              als natürlich ausgegebenen Beschreibung des Zustandes
Im Kern richten sich diese Kampagnen und Erklärungs-          von fehlender Leistungsbereitschaft, hoffähig zu machen.
versuche nicht nur gegen MigrantInnen. Sie sind eher          Angesichts der Überakkumulation und der Probleme
ein Angriff gegen eine solidarische, gegen eine gerechte      der Finanzwirtschaft der westlichen Wirtschaftsordnung
Gesellschaft als solche. Denn die wahren Konfliktlinien       bietet der Rassismus eine Möglichkeit dazu, um wieder
in unserer Gesellschaft verlaufen nicht zwischen »Deut-       geistig für den nächsten Krieg zu rüsten.
schen« und MigrantInnen. Der Konflikt verläuft nicht          Dieser Imperialismus ist wie schon zu Zeiten Rosa Lu-
zwischen denen, die Arbeit besitzen, und denen, die keine     xemburgs nur der politische Ausdruck des Prozesses der
Arbeit haben. Sie verläuft nicht zwischen den Kulturen.       Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die
Sie verläuft auch nicht zwischen den Religionen und sie       Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapita-
hat auch nichts mit der Staatsbürgerschaft der Menschen       listischen Weltmilieus. Die Einteilung der Peripherie in
zu tun.                                                       Gute und Böse, in Nord und Süd geht längst auch in
                                                              den europäischen Metropolen mit einer Einteilung in
Die wirklichen Konfliktlinien verlaufen zwischen denen,       ein Kern- und Randeuropa, in Ost und West, in »Min-
die für ihre Arbeitsleistung gerade einmal einen mäßigen      derwertige« und »Höherwertige« einher. Gerade deshalb
Lohn bekommen, und denen, die sich an der Arbeit ihrer        müssen die Kämpfe der Menschen in der arabischen Welt
Mitmenschen hemmungslos bereichern. Die Konfliktli-           um soziale Gerechtigkeit und Würde, durch die Linke in
nie verläuft zwischen denen, die nur ihre Arbeitskraft am     Europa wieder als Teil ihrer eigenen Kämpfe verstanden
Markt anbieten können, und jenen, die diesen Markt mit        werden. Als Kämpfe, die auf unterschiedlichen sozialen
reichlich Kapital steuern. Die echte Konfliktlinie verläuft   Fronten, auf allen Kontinenten gegen die gleichen Ursa-
zwischen solchen jungen Menschen von heute, die schon         chen der sozialen Verwerfungen stattfinden.
ro Deutsch-
Lars Seidensticker (»P
          nd geb un g in Neukölln
land«) Ku
23. Oktober 2010
Rechtspopulismus in Berlin | Seite 17

Die »Pro-
Bewegung« –
antimuslimi-
scher Kultur-
rassismus von
Rechtsaußen
Alexander Häusler
Der Autor ist Sozialwissenschaftler, Rechtsextremismusforscher und Mitarbeiter mit
Forschungsschwerpunkt »Rechtsextremismus/Neonazismus« an der Fachhochschule
Düsseldorf. Er ist Herausgeber einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der »Pro-
Bewegung«. (Rechtspopulismus als Bürgerbewegung, VS-Verlag für Sozialwissenschaften,
Wiesbaden 2008)

Kulturrassismus als Modernisierungsticket                    muslimischen Rassismus zeigte Ende des Jahres 2009 die
der extremen Rechten                                         Volksabstimmung gegen Minarettbau in der Schweiz, die
Mit einer Fokussierung auf einen kulturreligiös umman-       Vorbildcharakter für die rechtspopulistisch modernisier-
telten Rassismus versuchen sich Teile der extremen Rech-     te extreme Rechte in Europa hatte. Auch in Deutschland
ten an einer »Modernisierung« ihrer Propaganda. Die Sar-     sind propagandistische Verschiebungen innerhalb der
razin-Debatte hierzulande zeigt die politische Brisanz von   extremen Rechten zu konstatieren, die einhergehen mit
muslimfeindlichem Populismus. Dabei droht das politisch      einer Neuaufstellung der extrem rechten Parteienland-
inszenierte Schlagwort der »schleichenden Islamisierung«     schaft. Während die NPD die DVU nahezu geschluckt
zum Einfallstor von Rechtsaußen in die politische Mitte      hat und damit das traditionsorientierte neofaschistische
zu werden. Die politische Sprengkraft eines solchen anti-    Lager erneut parteiförmig zu einen bestrebt ist, versucht
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