UZH magazin Nr. 2/2020 Die Wissenschaftszeitschrift

 
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UZH magazin Nr. 2/2020 Die Wissenschaftszeitschrift
Nr. 2/2020

                                             UZHmagazin
                                             Die Wissenschaftszeitschrift

Welt aus
den Fugen
Was wir aus Krisen lernen — 3 0

ausserdem:
Gewebe aus der Schwerelosigkeit — 10
Asger Jorns Kalbskopfthesen — 16
Hegel: Alles oder nichts — 65
Articles in English: www.magazin.uzh.ch/en
UZH magazin Nr. 2/2020 Die Wissenschaftszeitschrift
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E D ITO R IA L

                                            Resilienz, Solidarität
                                            und Neues lernen

                                                        D
                                                                   as Coronavirus hat die Welt aus den         Matthieu Leimgruber, «doch sie befreien die
                                                                   Fugen gebracht. Vieles, was uns selbst­     Menschen vor der Angst um die Zukunft.»
                                                                   verständlich erschien, wird in Frage               Zusammenarbeit – eine Pandemie lässt sich
                                                         gestellt. Der unscheinbare Keim ist eine existen­     nur erfolgreich bewältigen, wenn alle zusammen­
                                                         zielle Bedrohung für uns geworden – für               spannen, Politik, Forschung und Gesellschaft.
                                                         Gesundheit, Gesellschaft und Wirtschaft. Die          Bisher fällt hier die Bilanz durchzogen aus. For­
                                                         Welt befindet sind im Krisenmodus. Im Dossier         schende aus aller Welt arbeiten momentan in
                                                         dieses UZH Magazin wollen wir die aktuelle            bisher noch nie gekanntem Ausmass zusammen,
                                                         Krise nicht nur als Störung und Bedrohung des         um das Virus zu erforschen, Behandlungsmetho­
                                                         Bewährten und Bekannten betrachten, sondern           den zu verbessern und einen Impfstoff zu entwi­
                                                         auch als Wendepunkt. Wir stehen vor der Frage:        ckeln. Das ist erfreulich. Gesellschaftlich waren
                                                         Wie weiter? Was können wir aus Krisen wie der         wir bisher erstaunlich solidarisch, obwohl das
                                                         aktuellen lernen?                                     nicht selbstverständlich ist. Denn solidarisch zu
                                                                Bei unseren Gesprächen mit Forschenden         sein, ist kognitiv anspruchs­voll, sagt der Psycho­
                                                         der UZH haben sich drei Themen herauskristalli­       loge Johannes Ullrich, und es widerspricht
                                                         siert: Resilienz, Zusammenarbeit und Neues            unserer Neigung zum Eigennutz.
                                                         lernen. Resilienz – die Krise stellt unsere Wider­           Schlechte Noten hingegen bekommt die
                                                         standsfähigkeit auf die Probe, individuell und als    internationale Zusammenarbeit der Politik. Die
                                                         Gemeinschaft. Die Psychologin Ulrike Ehlert und       meisten Staaten setzen bei der Krisenbewälti­
                                                         der Theologe Thomas Schlag wissen, was uns in         gung weitgehend auf nationale Alleingänge.
                                                                                                               Dabei lässt sich eine globale Pandemie nur
                                                                                                               gemeinsam bekämpfen. Das wäre etwa die
                                                                                                               Aufgabe der Weltgesundheitsorganisation
                                                                                                               WHO. Diese bemüht sich redlich, doch sie wird
                                                                                                               zum Teil gezielt geschwächt, etwa wenn die USA
                                                                                                               den Geldhahn zudrehen.
                                                                                                                      Schliesslich verpflichtet uns die Corona-­
                                                                                                               Krise dazu, Neues zu lernen. Das gilt zuerst für
                                                                                                               die Biologie des Virus und seine Wirkung. Das
                                                                                                               wurde bei vergangenen Pandemien wie etwa
                                                                                                               Sars 2003 zu wenig getan, kritisiert der Epidemio­
                                            Optimismus macht widerstandsfähig: Ulrike Ehlert.                  loge Milo Puhan, «diese Informationen fehlen
                                                                                                               uns heute». Puhan leitet eine grosse Studie, die
                                                         solchen Momenten stark macht. Zu den persönli­        die Ausbreitung des Coronavirus in der Schweiz
                                                         chen Energiequellen gehören: Optimismus,              untersucht und wichtige Informationen für den
                                                         Selbstwirksamkeit, Glaube und Spiritualität. Sie      Ausstieg aus dem Lockdown liefern soll.
                                                         helfen uns, Widrigkeiten besser zu bewältigen.               Zu den Lehren der Corona-Pandemie
                                                         Voraussetzung dafür ist die radikale Akzeptanz        gehört, dass wir uns in Zukunft mehr Gedanken
                                                         der Probleme. Wir müssen uns Schwierigkeiten          über die Zukunft machen sollten. Konkret
                                                         stellen und einen Umgang damit finden.                müssen wir Szenarien für künftige Krisen entwi­
                                                               Wie wir gerade sehen, können auch Staaten       ckeln und Massnahmen dagegen. «Vielleicht
                                                         und Gesellschaften mehr oder weniger krisen­          braucht es einen Stab von Science-Fiction-­
Ti telbi ld: Yve s Noyau; Bild ob en: zvg

                                                         resistent sein. Besser durch die Krise kommen        Autoren», sagt der Ökonom Joachim Voth, «die
                                                         Länder, die gut organisiert sind und über            darüber nachdenken, was in Zukunft alles
                                                         leistungs­fähige Sozialwerke verfügen, die die       ­passieren könnte.»
                                                         Menschen unterstützen, wie beispielsweise die
                                                         Schweiz oder Deutschland. «Unsere sozialen           Wir wünschen eine anregende Lektüre,
                                                         Institutionen kosten etwas», sagt der Historiker     Thomas Gull und Roger Nickl

                                                                                                                                                  UZH magazin 2 /2 0   3
UZH magazin Nr. 2/2020 Die Wissenschaftszeitschrift
UZHmagazin — Nr. 2 / Juni 2 0 2 0                           D OS S I ER

                                                                Welt aus
                                                                den Fuge
                                                                Was wir aus Krisen lernen — 3 0

                                                                Resiliente Staaten, Optimisten
     10
                                                                und Zukunftsvisionäre:
                                                                Im Dossier zeigen wir, wie wir
    MED IZ I N
                                                                Krisen bewältigen und was wir
    Knochen aus dem Weltall — 10                                daraus lernen können.
    Oliver Ullrich versucht in der Schwerelosigkeit Gewebe zu
    züchten. Deshalb hat er Proben mit Stammzellen zur
    Raumstation ISS geschickt.                                  Hochgradig ansteckend:
                                                                Yves Noyaus Illustrationen
    L ITER ATU RWISSE NS C H A F T                              kommentieren mit Witz und
    Geräuchte Standpauken — 16                                  Schärfe die Corona-Krise und
                                                                ihre Auswüchse.
    N E U RO Ö KO N OMI E

    Geben macht glücklich — 21
    P HYS IO LO GI E

    Mütterlicher Zaubertrank — 24
    Ignorante Online-Nutzer — 2 8
    Weniger Stress trotz Krise — 2 8
    Krebsmedikamente zu teuer — 2 9
    Mangelnde Nahrung für Bienen — 2 9

    ARTICLES IN ENGLISH:
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4   UZH magazin 2 / 20                                          Bilder: PD, Yves Noyau, Stefan Walter
UZH magazin Nr. 2/2020 Die Wissenschaftszeitschrift
s
en
      54

     I NTERVI EW — Epidemiologe Milo Puhan

     Immune Schweizer — 54
     Milo Puhan untersucht, wie verbreitet die Immunität gegen
     das Coronavirus in der Schweiz ist. Das sind wichtige
     Informationen für den Ausstieg aus dem Lockdown.

     PORTR ÄT — Ökonomin Uschi Backes-Gellner

     Oft die Erste — 60
     ES SAY — Philosoph Christoph Halbig

     Hegels Felsenmelodie — 65
     RÜC KS PI EG EL — 6
     B UC H FÜ RS L EB EN — 7
     AUS D ER WER KZEUG K ISTE — 7
     D R EIS PRU NG — 8
     ER FU N D EN AN D ER UZH — 9
     B ÜC H ER — 68
     IM PR ES S UM — 69

                                                UZH magazin 2 /2 0   5
UZH magazin Nr. 2/2020 Die Wissenschaftszeitschrift
und lernt, lag ein Sandhaufen, auf dem      Tricks beschafft. Die Studierenden
                                                                 sich Studierende bei gemeinsamem            liessen diesen auf den Namen eines
                                                                 «Sändele», Trommelspiel und Gesang          Universitätsinstituts liefern; dies unter
                                                                 vergnügten und für eine kindergarten­       dem Vorwand, das Balzverhalten der
                                                                 ähnliche Atmosphäre sorgten. Was            Wanderameisen studieren zu wollen.
                                                                 steckte hinter dieser skurrilen Szenerie?          Die Protestaktion im Lichthof sorg­
                                                                        Die Protestaktion wurde von der      te für Ärger. Privatpersonen, die um die
                                                                 Arbeitsgruppe «Kindergarten» des FFU        korrekte Verwendung der Steuergelder
                                                                 (Aktionskomitee für eine freie Uni) lan­    besorgt waren, machten ihrem Unmut
                                                                 ciert. Sie entstand im Zusammenhang         in Briefen an Rektor Hilty Luft. Auch
                                                                 mit den Jugendunruhen, die in Zürich        von Dozierenden und Studierenden
                                                                 durch den «Opernhauskrawall» keine          wurde die Aktion kritisiert, da durch
                                                                 vier Wochen zuvor ausgelöst worden          das Trommelspiel Lehrveranstaltungen
                                                                 waren. Die Aktion richtete sich insbe­      gestört wurden. Zum Streitpunkt wurde
                                                                 sondere gegen den damaligen Erzie­          auch die Frage, wer die Kosten der Ak­
                    «Sändele» aus Protest im Lichthof der UZH.   hungsdirektor Alfred Gilgen, der die        tion tragen müsse. Da das FFU dem
                                                                 Vorführung eines Opernhauskrawall-          Verband Studierender an der Universi­
                                                                 Videofilms des Ethnologischen Seminars      tät (VSU) nahestand, wurde die Rech­
                   R ÜC KS P I E GE L — 1980                     verboten hatte. Studierende des Semi­       nung für die Zuführung des Sandes an
                                                                 nars begleiteten und filmten als «teil­     den VSU weitergeleitet. Zusätzlich wurde
                   Balzende                                      nehmende Beobachter» die Proteste im
                                                                 Rahmen einer Lehrveranstaltung zum
                                                                                                             dem VSU auch eine Samstagsschicht
                                                                                                             des Reinigungsdienstes in Rechnung
                   Wanderameisen                                 Thema Jugendkultur. Durch das Vor­
                                                                 führungsverbot fühlten sich die Studie­
                                                                                                             gestellt, die notwendig war, um den Sand
                                                                                                             zu entfernen. Der VSU weigerte sich
                                                                 renden vom Erziehungsdirektor wie           zunächst, die Rechnungen zu begleichen,
                   Am 25. Juni 1980 bot der Lichthof im          Kinder behandelt, deshalb wollten sie       musste schlussendlich dann aber doch
                   Hauptgebäude der Universität dem Be­          sich an diesem Tag auch wie solche auf­     für die Kosten der Protestaktion gera­
                   trachter ein wunderliches Bild. Wo man        führen. Nebenbei bemerkt: Die drei          destehen.
                   sich für gewöhnlich begegnet, verpflegt       Kubikmeter Sand wurden mithilfe eines       Text: Sandra Morach, UZH-Archiv

        Die Gegenwart
        besser                                                                                                        Ziel Matura
        verstehen
                                                                                                     Gymnasium | Sekundarschule A
                                                                                                     Mittelschulvorbereitung > www.nsz.ch

                                                                                                                   ...von der 1. Sek bis zur Matura
                                                                                                                               im Hochschulquartier

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                                          Pfäffikon SZ

VKZ_IM_UZHmag_94x126_RZ2.indd 1                                        13.05.20 12:30
UZH magazin Nr. 2/2020 Die Wissenschaftszeitschrift
BUC H FÜ RS LE B E N — Wolfgang Behr                                                            AUS D ER WER KZEUG K ISTE

                                                      Ein Buch: Absurd!
                                                                                               den Titel und 22 Dollar mit dem
                                                                                               Bestellvermerk «second hand, but
                                                                                               unused» an einen obskuren taiwane­
                                                                                               sischen Händler schickte, traf sechs
                                                                                               Wochen später die Raubkopie ein.
                                                                                               Meine ist rot mit goldener Schrift,
                                                                                                                                                      Versteinerte
                                                                                               Buchrücken und Frontcover fielen                       Kopffüssler
                                                                                               bereits vor Jahrzehnten ab. Sie enthält
                                                                                               nicht nur die wichtigsten 7773 chine­                  Thomas Brühwiler, Sie sind Präparator am
                                                                                               sischen Schriftzeichen, sondern auch                   Paläontologischen Institut und Museum der
                                                                                               allerlei nützliche Tabellen und einen                  UZH. Was machen Sie genau?
                                                                                               englischen Index, um klassisch-ge­                     Unsere Arbeitsgruppe präpariert Ammo­
                                                                                               lehrt korrespondieren zu können.                       noideen, ausgestorbene Kopffüssler und
                                                                                                       Eine Liste, die ich noch immer                 Verwandte der Tintenfische, die aus der
                                                                                               nur als experimentelle Poesie ver­                     Trias stammen (vor 250–200 Millionen
                                                                                               stehe, führt zum Beispiel die Korres­                  Jahren). Forscher, die im Feld solche Fossi­
                                                       Mein Grossvater, die längste Zeit       pondenzen der «28 Mondhäuser» auf,                     lien, die in der Regel im Kalkstein sind,
                                                       seines Lebens blind, besass etwa        in denen Jupiter sich auf seiner Jah­                  gefunden haben, schicken sie zu uns ins
                                                       30 000 Bücher und führte mit seiner     reswanderung durchs Firmament                          Labor und wir legen sie frei. Momentan
                                                       Frau einen erbitterten Kampf um         ­niederlässt: «1 ~ Mondhaus: Horn ~                    arbeite ich mit Material aus Oman.
                                                       Ablageplätze in einer eigentlich         Element: Holz ~ Tier: Schuppendra­
                                                       geräumigen Münchner Wohnung.            che ~ Längengrad 201'3'0 ~ Konstella­                  Für Ihre Arbeit ist der Presslufthammer
                                                       Kurz vor dem Tod liess er Stahlträger   tion: Spica ζ, θ, ι Virgo». Im zweiten                 wichtig. Wann kommt er zum Einsatz?
                                                       einziehen, damit die Fussböden unter     Semester hatte der Chinesischdozent                   Andauernd. Die Sedimentgesteine, die im
                                                       den Büchern hielten, die er nicht        uns verschmitzt nahegelegt, bei jeder                 Labor eintreffen, sind entweder zu einem
                                                       mehr lesen konnte. Ein Buch fürs         Suche im «Mathews’» einen Punkt an                    grossen Teil bereits freigelegt und wir
                                                       Leben: absurd!                           den Rand zu setzen. Manche der                        machen dann die Detailarbeit, oder das
                                                             Auf die sprichwörtliche Insel      Zeichen in meinem Raubdruck haben                     Fossil verbirgt sich noch ganz im Stein. Bei
                                                       nähme ich wohl lieber einen kurbelbe­    über 50 Punkte und ich muss sie                       gröberen Arbeiten kommen Hammer oder
                                                       triebenen Weltempfänger mit. Als Stu­    immer noch nachschlagen.                              Steinsäge zum Einsatz, aber ich arbeite
                                                       dent in Nordostchina hatte ich einen            Das zehnte Buch aus dem Trans­                 vorwiegend mit dem Presslufthammer.
                                                       von Sony, mit dem man im Frühling        sib-Rucksack trage ich stets bei mir.
                                                       1989 eine Stunde am Tag knackend-        Es ist das «Junior Woodchucks’ Guide­                 Wie lange dauert eine paläontologische
                                                      krächzend BBC und Voice of America        book», das Tick, Trick und Track                      Präparation?
                                                      empfangen konnte, umgeben von             schon seit 1954 benutzen, als es Emil                 Das ist ganz unterschiedlich. Ich arbeite bis
                                                      Freunden, die im volksrepublikani­        Erpel in Entenhausen wiederent­                       zu einer Woche an einem Präparat. Hat der
                                                      schen Informations­vakuum begierig        deckte. Darin finden sich Antworten                   Panzer eines Fossils noch Stacheln, kann es
                                                      lauschten, wie es mit dem Hunger­         auf alle Fragen, die man in Krisensi­                 noch länger dauern, da ist Feinarbeit gefragt.
                                                      streik auf dem Platz des Himmlischen      tuationen stellt, aber nichts, was ein
                                                      Friedens weiterging. Am 2. Juni ver­      pfiffiger Schüler sowieso wissen                      Welche Fähigkeiten braucht ein Präparator?
                                                      schiffte ich einen Kubikmeter Bücher      müsste. Jedenfalls viel mehr, als man                 Geduld und Präzision. Zudem ist drei­
                                                      nach Hamburg, in der Nacht, als die       irgendwie ergoogeln kann: eine kurz­                  dimensionale Vorstellungskraft von Vorteil:
                                                      Panzer auf Peking zurollten, bestieg      gefasste Morphosyntax der Sprache                     Man sollte voraussehen, wie das Fossil
                                                      ich die Trans­sibirische Eisenbahn. Im    von Atlantis, zum Beispiel, die Funk­                 ­aufgebaut ist und wie es das Gestein
                                                      Gepäck waren zehn Bücher für die          tionstastenbelegung aller Betriebssys­                durchläuft.
                                                      ­siebentägige Zugreise nach Moskau,       teme seit Konrad Zuses Z3, der exakte
Bilder: Oli via Heussl er, 19 80 (S eite 6); privat

                                                       aber das Radio obendrauf!                Wortlaut der jemals in Zürich ange­                   Was fasziniert Sie an Ihrer Arbeit?
                                                             Acht davon waren Romane, das       legten Fieselschweifling-Fichen. Und                  Die Fossilien selber finde ich faszinierend.
                                                       neunte steht auch heute in Armlänge     natürlich: sagenhaft detaillierte Pan­                 Es sind sehr schöne Objekte. Die Arbeit ist
                                                       bereit: die 13. Auflage von «Mathews’   demie-Statistiken aller Länder aus                     für mich wie ein langsames Auspacken
                                                       Chinese-English Dictionary» (Shang­     den Jahren 2021–25!                                    eines Geschenks: Man weiss nicht recht,
                                                      hai: China Inland Mission, 1931).        Wolfgan Behr ist Professor für Sinologie an der UZH.   was zum Vorschein kommt. Text: Raphael Borer
                                                      Wenn man Mitte der 1980er-Jahre

                                                                                                                                                                                 UZH magazin 2 /2 0    7
UZH magazin Nr. 2/2020 Die Wissenschaftszeitschrift
DR E IS P R U N G — Eine Frage, drei Antworten

        Was macht uns
        glücklich?
                                                                                                                   3
    1
                                                                                                                          Guter Charakter
                                                                                                                          hilft
                                                                                                                       Wie glücklich wir sind, hängt von äus-
        Sich für andere                                     2                                                          seren Umständen ab. Aber auch unter
                                                                                                                       den gleichen äusseren Bedingungen
        engagieren                                                                                                     unterscheiden sich Menschen stark

        Glücklich macht uns, Glück zu haben:
                                                                Flucht aus der Zeit                                    darin, wie glücklich sie sind. Woran liegt
                                                                                                                       das? Menschen unterscheiden sich in
        unverhoffte Dinge, die uns zustossen,                   Die Suche danach, was uns glücklich                    ihren Gefühlen, Gedanken und in ihrem
        ohne dass wir etwas dafür können. Wie                   macht, verweist gerade jetzt auf die Frage:            Verhalten – in ihrer Persönlichkeit.
        ein Lottogewinn. Was aber ist dann                      «Wo und wann sind wir glücklich?»                             Lange hat sich die Psychologie als
        mit Dingen, die selbst erarbeitet sind?                 Dinge, Erfahrungen und Augenblicke                     Wissenschaft bemüht, Persönlichkeits­
        Etwa die geglückte Karriere als Pianist?                erfahren eine grundlegende Umdeutung                   eigenschaften als nichtbewertete, neu­
        Aber auch die wurde früh gefördert.                     durch veränderte Bedingungen von                       trale Eigenschaften zu betrachten. Erst
        Überhaupt: Was kann ich für mein Ta­                    Raum und Zeit im Alltag. Städte, einst                 seit etwa 20 Jahren beschäftigt sich die
        lent, meinen disziplinierten Charakter,                 Bühnen geteilten Glücks an Events, sind                Forschung wieder mit dem «guten Cha­
        meine Freude an Musik? Und was für                      im Lockdown leergefegt. Glückliche                     rakter», also mit Eigenschaften, die zu
        ein Riesenzufall, dass ich gleich die                   Auszeiten bei Treffen im Freundeskreis                 einem guten Leben beitragen. Das geht
        Chance hatte, bei einem Top-Orchester                   oder an Familienfesten verboten, Sport                 natürlich weit über das individuelle
        vorzuspielen! Ist Glück so gesehen nicht                und Spiele mit Publikum untersagt.                     Glücklichsein hinaus, hängt aber damit
        immer Glückssache?                                      Steigerungsformen des eventisierten                    durchaus zusammen: Empirisch zeigen
              Glücklich macht uns, Glück zu                     Glücks, wie sie unseren Alltag beherrsch­              alle Charakterstärken positive Zusam­
        empfinden: das grosse, an sich erstre­                  ten, entfallen. Viele sprechen vom Rück­               menhänge damit, wie glücklich eine
        benswerte Gefühl. Aber weshalb ist das                  zug als Chance, von der Freude an «klei­               Person ist – einige starke (etwa Dank­
        so erstrebenswert? Vielleicht weil sich                 nen Dingen» wie gärtnern, kochen oder                  barkeit) und andere eher schwache (etwa
        Glück besonders anfühlt? Aber ist das                   dem Betrachten der Zeit, die langsamer                 Bescheidenheit). Bei genauerer Betrach­
        Glücksgefühl beim Schmecken eines                       zu vergehen scheint.                                   tung zeigt sich aber auch, dass unter­
        leckeren Gerichts nicht ganz verschieden                      Aus kulturwissenschaftlicher Per­                schiedliche Charakterstärken mit un­
        vom Glücksgefühl beim Anblick der                       spektive bedeutet Flucht aus der Zeit                  terschiedlichen Wegen zum Glücklich­
        Angebeteten? Was haben diese Glücks­                    immer den Versuch, der Gesellschaft                    sein zusammenhängen: beispielsweise
        gefühle gemeinsam? Eigentlich nicht                     zu entfliehen. Gerade heute zeigt sich,                Humor mit dem Erleben von positiven
        mehr, als dass sie sich auf Dinge bezie­                dass Raum und Zeit als Faktoren der                    Emotionen, Neugier mit Engagement,
        hen, die wir uns gewünscht haben? Was                   glücklichen Lebensführung ungleich                     Bindungsfähigkeit mit positiven Bezie­
        aber wünschen wir uns? Nun, Dinge,                      zur Verfügung stehen. Einschneidend                    hungen, Spiritualität mit Sinnerleben
        die sich für uns gut anfühlen, wenn wir                 sind die ungleichen Voraussetzungen,                   oder Ausdauer mit Erfolg.
        an sie denken! Man dreht sich im Kreis.                 etwa in engen räumlichen Verhältnissen                        Jeder Mensch hat Charakterstär­
              Glücklich macht uns, Glück zu                     leben zu müssen, Zeit als Lebens- und                  ken, und es geht darum, diese bestmög­
        finden. Dabei gilt: Andere und anderes                  Berufsperspektive als prekär zu erfah­                 lich einzusetzen. Guter Charakter wird
        machen unser Leben erst sinnvoll. Glück                 ren oder im Fall von älteren Menschen,                 dabei als veränderbar verstanden – und
        liegt nicht zuletzt im Engagement für                   das Glück einer übervoll zur Verfügung                 damit zu einem gewissen Grad auch
        Dinge jenseits von uns selbst.                          stehenden Zeit mit sich alleine zu teilen.             unser Glücklichsein.
        Sebastian Muders ist Studien- und Geschäftsleiter       Gabriela Muri ist Titularprofessorin am Institut       Lisa Wagner ist Postdoktorandin am
        der Advanced Studies in Applied Ethics.                 für Sozialanthropologie und Empirische                 Psychologischen Institut
                                                                Kulturwissenschaft.

8   UZH magazin 2 / 20
UZH magazin Nr. 2/2020 Die Wissenschaftszeitschrift
ERFUNDEN AN DER UZH

Kleines
Elektronenhirn
Unser Hirn ist ein Wunderwerk der ­
Evo­lution und schlägt punkto Energie-
effizienz jeden Computer. Giacomo
Indiveri vom Institut für Neuro­infor­
matik von UZH und ETHZ nutzt die
Eigen­­schaften des menschli­chen Hirns.
Sein Spin-off aiCTX, das er mit zwei
Partnern gegründet hat, entwickelt
neuro­­morphe Chips, die die Funktions­
weise von biologi­schen Neuronen und
Synap­sen nach­ahmen. Aus 1024 künstli­
chen Neuronen besteht DynapSE2 (im
Bild), der neuste Prozessor der Firma.
Er ist ein Grund­baustein für die Ent­
wicklung von intel­ligenten Sensoren und
smarten Haushaltsgeräten.
Text: Roger Nickl; Bild: zvg
www.aictx.ai

                                           UZH magazin 2 /2 0   9
UZH magazin Nr. 2/2020 Die Wissenschaftszeitschrift
ME D IZ I N

              Knochen aus
              dem All
               Die Schwerelosigkeit im All könnte das Züchten von
               menschlichem Gewebe erleichtern. Forschende am UZH Space
               Hub schickten Stammzellen zur internationalen Raumstation
               ISS, um dies zu testen. Jetzt sind die Proben zurück.

10   UZH magazin 2 / 20
Am 6. März 2020 um 23.50 Uhr startet die Trägerrakete mit
  dem Raumschiff Dragon von Cape Canaveral – an Bord
             250 Teströhrchen mit Stammzellen der UZH.

                                        UZH magazin 2 /2 0   11
Oliver Ullrich untersuchte 2004 erstmals das
                      Verhalten von Zellen in der Schwerelosigkeit – die
                             Veränderungen waren fundamental.

                                                                                                      Ohne Schwerkraft: In einem mobilen Mini­

                  Text: Michael T. Ganz                                  leiterin am Institut für Anatomie der UZH. Vom
                                                                         Projekt im All versprechen sich die beiden Wis­

                  A
                           m Dienstag vor Ostern schwebt 800 Kilo­       senschaftler und ihr Team neue Erkenntnisse da­
                           meter vor der kalifornischen Küste eine       rüber, wie Schwerkraft die Entwicklung und Funk­
                           Raumkapsel an drei bunten Fallschirmen        tion von Zellen beeinflusst.
                  dem Pazifik zu. Dragon, so lautet der Name des
                                                                         Ohne Schwerkraft wachsen
                  unbemannten Transporters, bringt wertvolle Fracht
                  zur Erde zurück: 250 Teströhrchen mit Geweben          Mit dieser Frage beschäftigt sich Oliver Ullrich,
                  von menschlichen Stammzellen, die einen Monat          der nebenbei auch in Jena, Magdeburg und Bejing
                  an Bord der Raumstation ISS in 400 Kilometern          lehrt, schon seit sechzehn Jahren. In Magdeburg
                  Höhe die Erde umkreist haben. Ein Schiff bringt        untersuchte er 2004 erstmals, wie Zellen sich ver­
                  die Röhrchen nach Los Angeles, ein Flugzeug von        halten, wenn die Schwerkraft entfällt – und erschrak.
                  dort nach Florida. Am Karfreitag treffen die Proben    «Ich hatte nicht erwartet, dass sie so stark darauf
                  im Kennedy Space Center ein, und am Karsamstag         reagieren. Das waren keine kleinen Veränderungen,
                  schrauben zwei Wissenschaftlerinnen die Deckel         das waren fundamentale Prozesse.» Schon damals
                  auf. Es ist der Augenblick der Wahrheit.               erkannte Ullrich das Potenzial seiner Entdeckung
                         In Zürich hält Oliver Ullrich den Atem an. Er   für die Herstellung von Gewebe.
                  ist Professor für Anatomie an der Universität Zürich         In herkömmlichen Labors wird menschliches
                  und leitet den UZH Space Hub (siehe Kasten). Das       Gewebe stets mithilfe einer sogenannten Matrix
                  Experiment mit der ISS geht auf seine und auf die      gezüchtet. Dieses winzige Gerüst stützt die wach­
                  Initiative seiner Kollegin Cora Thiel zurück. Thiel    senden Zellen und schützt sie vor der erdrückenden
                  ist Molekularbiologin und forscht als Abteilungs­      Schwerkraft. «Das ist freilich alles andere als na­

12   UZH magazin 2 / 20
labor wachsen die Stammzellen der UZH auf der ISS-Raumstation zu Gewebestücken heran.

                             turgemäss», sagt Oliver Ullrich. In der Schwerelo­          einfach», sagt Ullrich. Die Universität Zürich begann
                             sigkeit, so war er nach ersten Experimenten über­           eine Partnerschaft mit Airbus Defence and Space.
                             zeugt, sollte sich menschliches Gewebe ohne                 «Wir lieferten die Biotechnologie, Airbus die Hard­
                             künstliche Matrix dreidimensional züchten lassen.           ware, und die Projektkosten wurden geteilt.» Air­
                             Also auf weitaus einfachere und womöglich auch              bus hatte ein Förderprogramm für Innovationen
                             kostengünstigere Art.                                       im Weltraum ausgeschrieben, es gab rund 500
                                   2019 begannen Ullrich und Thiel in Zürich             Eingaben; das Zürcher Projekt landete auf einem
                             mit einer Bodensimulationsstudie. Schwerelosigkeit          der vordersten Plätze und wurde berücksichtigt.
                             lässt sich auf der Erde zwar nicht wirklich nach­           Die zweite Jahreshälfte 2019 verbrachte das For­
                             ahmen, doch in einer rotierenden Flüssigkeit blei­          scherteam der UZH mit den Vorbereitungen auf
                             ben die zu testenden Objekte – in diesem Fall               den Raumflug. «Wir haben jeden einzelnen Schritt
                             menschliche Stammzellen – immerhin in der                   wieder und wieder getestet», sagt Oliver Ullrich.
                             Schwebe. Die Studie war erfolgreich: Es gelang,                   Die 250 Röhrchen waren auf Versorgungsflug
                             kleine Gewebestücke ohne Matrix herzustellen.               SpaceX CRS-20 vom 6. März gebucht. Einen Monat
                             Parabelflüge, bei denen ein Spezialflugzeug Schwe­          vorher begannen die Zürcher Forschenden damit,
                             relosigkeit erzeugt, kamen als zweite Teststufe nicht       die Zellen vorzubereiten – pluripotente Stammzel­
                             in Frage: Die schwerelose Phase dauert hier nur             len aus menschlichem Knochenmark, die zu Kno­
                             gerade zwanzig Sekunden – zu kurz, um beobach­              chen-, Knorpel-, Fett- und Leberzellengewebe
                             ten zu können, wie aus Stammzellen Körpergewe­              heranwachsen sollten, je nach dem «Wachstums­
                             be wächst.                                                  cocktail», den man ihnen mitgab. «Wachstums­
                                   So ging es denn vom Boden gleich hinaus ins           cocktail» nennt Oliver Ullrich eine Mischung von
                             All. «Das klingt kompliziert, war aber alles recht          künstlich erzeugten Botenstoffen und anderen
Bilder: zvg

                                                                                                                                         UZH magazin 2 /2 0   13
UZH Space Hub

     Das Erbe der Aviatikpioniere
                                                 nale Innovationspark Zürich. Er            Klein­geisterei erlischt. In dem Mit­
                                                 beherbergt unter anderem den Space         einander von Innovationspark und
                                                 Hub der Universität – Luft- und            Flugplatz Dübendorf liegt eine
                                                 Raumfahrt ist eines von vier Schwer­       enorme Kraft, die sich durch Neu­
                                                 punkt­themen des Innovation Hub der        gierde, Wissen, Leistung und Bereit­
                                                 UZH (www.innovation.uzh.ch).               schaft zum Risiko voll entfalten
                                                       Wo einst tollkühne Menschen in       kann», schreibt Oliver Ullrich, UZH-
                                                 ihre fl
                                                      ­ iegenden Kisten stiegen, treffen    Pro­fessor und Direktor des Space
                                                 sich heute nicht minder pionierhafte       Hub, im Vorwort zur B  ­ roschüre
                                                 Wissen­schaftlerinnen und Wissen­         «Flügel der Forschung». Ullrich hat
                                                 schaftler aus den Bereichen Aviatik,      rund zwanzig Projekte mit Parabel­
                                                 Raumfahrt, Medizin, Robotik und           flügen und ein Dutzend Missionen im
                                                 Astrophysik. Die Bandbreite ihrer         Orbit geleitet. Auf dem Gebiet der
                                                 interdisziplinären Arbeit reicht von      Luft- und Raumfahrt ist er interna­
                                                 der Grundlagenforschung bis hin zur       tional vernetzt; seine Forschung wird
     Schwerelosigkeit erzeugen: Parabelflug.     Produktentwicklung gemeinsam mit          unter anderem von der NASA und
                                                 Start-ups und der Industrie; auch die     der European Space Agency
     Auf einem grünen Feld bei Düben­            ETH und die Materialprüfungsanstalt       ­unterstützt.
     dorf nahm vor gut hundert Jahren die        Empa sind Partner des Space Hub.                 Die Schweiz war Gründungs­
     Schweizer Luftfahrt ihren Anfang.                 «Das Neue braucht die richtige       mitglied der ESA und gilt als euro­­
     Seit 2018 entsteht am Rande des             Umgebung, damit nicht der erste            päische Raumfahrtnation der ersten
     ­heutigen Militärflugplatzes der Natio­     Ideen­funke in Mutlosigkeit und            Stunde.

                  Substanzen, die denen im menschlichen Körper            Zwei Tage dauerte die Reise, bis Dragon an der ISS
                  entsprechen und die Art des zu züchtenden Ge­           andockte. Die Crew der Raumstation versorgte die
                  webes bestimmen.                                        Schweizer Fracht zusammen mit Forschungsob­
                                                                          jekten aus anderen Ländern im Bordlabor. Zu tun
                  Mobiles Minilabor
                                                                          gab es nichts, das Gewebe würde von selbst wach­
                  Kurz vor dem Starttermin füllte das Team um Ull­        sen – oder auch nicht. Aber es wuchs tatsächlich:
                  rich und Thiel die Proben ab, versorgte sie in dem      Als Ullrichs Mitarbeitende am Karsamstag die
                  von Airbus entwickelten CubeLab-Modul, einem            Deckel der 250 Röhrchen aufschrauben, erkennen
                  mobilen Minilabor, und übergab das ganze Paket          sie das Gewebe mit blossem Auge. In der Nähr­
                  den Weltraumspediteuren. Dann folgte banges             flüssigkeit schwimmen kleine Klumpen, nicht bloss
                  Warten. Denn Frachtflüge zur Raumstation ISS            Zellfasern. Richtige Gewebestücke also, und grösser
                  können sich verzögern, «und lebende Zellen», so         als jene aus der Bodensimulationsstudie.
                  Ullrich, «kann man nicht eine Woche im Lagerhaus
                                                                          Corona und kosmische Strahlung
                  rumgammeln lassen». Das Team hatte deshalb
                  vorsichtshalber im Abstand von jeweils drei Tagen       Beinahe hätte das Coronavirus den Zürcher For­
                  Ersatzkulturen angelegt.                                schenden einen Strich durch die Rechnung gemacht.
                        Doch diesmal lief auf Cape Canaveral alles        Die USA erlaubten vor Ostern keine Einreisen mehr,
                  rund: Am 6. März um 23.50 Uhr Lokalzeit hob die         der Transport der Proben von Kalifornien nach
                  zweistufige Trägerrakete mit der Dragon-Raum­           Florida war nicht gesichert, die Labors im Kenne­
                  kapsel planmässig ab. Oliver Ullrich hatte in Zürich    dy Space Center blieben geschlossen. Doch die
                  zu tun und konnte nicht dabei sein. Hat er den          US-Behörden reagierten rasch und unbürokratisch.
                  Start wenigstens auf NASA Television verfolgt?          Gerade noch rechtzeitig konnten Ullrichs Mitar­
                  Ullrich lacht: «Ich kann mir kaum vorstellen, dass      beitende mit allerlei Sondergenehmigungen in der
                  irgendjemand aus unserem Team da nicht zuge­            Tasche von Zürich nach Miami fliegen und die
                  schaut hat.»                                            Proben aus dem All in Empfang nehmen. Vor der

14   UZH magazin 2 / 20
«Wir sollten den unteren Orbit als
                  natürlichen Raum für die industrielle
                          Produktion nutzen.»
                                                         Oliver Ullrich, Direktor UZH Space Hub

Abreise hatten sie über zwei Wochen zuhause in           noch die Löhne eines zweiköpfigen Teams hinzu,
selbstauferlegter Quarantäne verbracht.                  das die Proben für den Flug bereitstellt und danach
      Ostersonntag. Nach der ersten Sichtung wer­        wieder in Empfang nimmt. «Das alles ergibt Be­
den die 250 Proben in flüssigem Stickstoff einge­        träge, die für medizinische Interventionen durch­
froren. Irgendwann sollen sie in die Schweiz ge­         aus im Rahmen sind.» Und vielleicht sogar nied­
langen. Doch wegen Corona sind die Zürcher               riger als bei der umständlichen Gewebezucht in
Forschenden erst einmal vorsichtig. «Wir möchten         irdischen Labors.
nicht, dass die Zellen auf irgendeinem Flughafen               Oliver Ullrich ist vom Träumer zum Visionär
stranden, auftauen und kaputtgehen», sagt Oliver         geworden. Als Junge faszinierten ihn glitzernde
Ullrich. Einmal in Zürich angelangt, wird man das        Raumschiffe und ferne Galaxien; er interessierte
gewachsene Gewebe histologisch und molekular­            sich für alles, was ausserhalb unseres Planeten lag.
biologisch untersuchen. Und auch sein Genom              Heute rechnet er jene Flughöhe, auf welcher sich
sequenzieren. Denn im All waren die Zellen einen         Raumstationen wie die ISS bewegen, nicht mehr
Monat lang kosmischer Strahlung ausgesetzt, «und»,       zum All. «Der untere Orbit gehört für mich zur
sagt Ullrich, «wir wollen ja niemandem Zellen mit        Erde», sagt Ullrich, «da sind wir ja nicht bei den
beschädigter DNA implantieren».                          Sternen im Outer Space.» Wir sollten, sagt er, den
                                                         unteren Orbit nicht nur als Forschungsstätte be­
Vom Träumer zum Visonär
                                                         trachten, sondern auch als natürlichen Raum für
Vom Implantieren ist man freilich noch ein ganzes        die industrielle Produktion nutzen. Schwerelosig­
Stück entfernt. Vorerst gilt es, den Schritt vom For­    keit sei für viele Herstellungsprozesse hilfreich,
schungsprojekt zum Businessmodell zu wagen.              bei der Legierung von Metallen etwa oder bei der
Also ein Spin-off zu gründen, Investoren zu finden       Entwicklung von Medikamenten. «Es geht darum,
und die Gewebezucht im All auf Produktionsstu­           Denkbarrieren abzubauen», sagt Ullrich. «Das erd­
fe zu erheben. Oliver Ullrich ist zuversichtlich, dass   nahe Weltall ist von Zürich kaum weiter entfernt
dies gelingt. «Es müssen vorerst gar keine Trans­        als Genf.»
plantate sein. Gewebeproben dienen auch dazu,            Michael T. Ganz ist freier Journalist.
Medikamente zu testen, und da ist der Markt heute
                                                         KONTAKT:
gross.» Kein Wunder, denn auf diese Art lassen           Prof. Oliver Ullrich, oliver.ullrich@uzh.ch
sich Tausende von Tierversuchen vermeiden.
      Und die Kosten? Ullrich schmunzelt: «Die
Raumfahrt ist kein Wettlauf zwischen den Staaten
mehr, der Milliarden verschlingt.» Und er rechnet
vor: Lässt sich das CubeLab-Modul durch regel­
mässige Gewebezucht amortisieren und das ganze
Prozedere vereinfachen, bleiben fast nur noch die
Flugkosten. Das Retourticket Florida-ISS kostet
pro Kilogramm rund 5000 US-Dollar, und in einem
Kilogramm finden viele Proben Platz. Kommen

                                                                                                         UZH magazin 2 /2 0   15
L ITER ATU RWISSE NS C H A F T

     Geräuchte
     Standpauken
     Berühmt wurde Asger Jorn (1914–1973) mit wilden
     expressionistischen Gemälden voll wunderlicher
     Wesen. Der dänische Künstler hat aber auch Bücher
     zu Kunstwerken gemacht und subversive
     Sprachtheorien inszeniert. Der Nordist Klaus
     Müller-Wille untersucht sie.

                  Text: Simona Ryser

                  M
                              al sind es fantastische Tiere, wilde Wesen,
                              dunkle Monster, mal grosse, leuchtende
                              Gemälde, wütende Pinselstriche, dann
                  sind es riesige Keramikplastiken, dynamische
                  Tuschzeichnungen, kleine Radierungen, Illustra­
                  tionen, Holzschnitte, Grafiken. Er muss ein Ber­
                  serker gewesen sein, der dänische Künstler Asger
                  Jorn (1914–1973). Sein Œuvre umfasst eine schier
                  unermessliche Vielfalt an künstlerischen Formen.
                  Neben den umfangreichen bildnerischen Arbeiten
                  hat er auch ein immenses schriftstellerisches Werk
                  mit Essays, Manifesten, Artikeln und Büchern ge­
                  schaffen.                                                  Subversive Buchkunst: Doppelseite aus dem Buch «Mémoires» von Asger Jorn
                         Bisher wurde Asger Jorn vor allem als Maler
                  von expressionistischen Gemälden voller wunder­              bekannt machen. Noch immer sei er überwältigt
                  licher Figuren wahrgenommen, die oft an die nor­             von der schieren Materialfülle, wenn er wieder in
                  dische Mythologie erinnern. Die ganze Bandbrei­              Dänemarks Museen und Archiven in den Jorn’schen
                  te seiner Kunst samt seinen kunstästhetischen                Kosmos eintaucht, sagt Müller-Wille.
                  Reflexionen aber ist längst nicht entdeckt. Klaus
                                                                               Aktionistische Störungen
                  Müller-Wille will Abhilfe schaffen. Es ist ein Her­
                  zensprojekt des Professors für Nordische Philolo­            Angetan ist Klaus Müller-Wille vor allem von Jorns
                  gie. In einer breit angelegten Studie will der Forscher,     ausgeklügelter Buchkunst, wo sich die kunstästhe­
                  der im Nebenfach Kunstgeschichte studiert hat,               tischen und sprachtheoretischen Reflexionen des
                  den schillernden Künstler Jorn in seiner Vielfalt            Künstlers zeigen. Tatsächlich lösen Bilder seiner

16   UZH magazin 2 / 20
und Guy Debord, 1959.

                                                                          Bücher ein Kitzeln in den Fingern aus. Wie gern        Vermarktung des touristischen Kopenhagen. Die
                                                                          würde man sie anfassen! Es muss ein haptisches         Produktion des Buches war ein Kunstexperiment.
                                                                          Erlebnis sein. Der Umschlag von «Fin de Copen­         Jorn und Debord, die später die Künstlergruppe
Bild: akg-im age s, Mondadori Por tfolio, Car lo Cantini

                                                                          hague» – Asger Jorn hat das Buch 1957 gemeinsam        «Situationistische Internationale» gründeten, haben
                                                                          mit dem Kollegen Guy Debord innerhalb von 24           einen grossen Stapel Zeitungen und Magazine zu­
                                                                          Stunden hergestellt – besteht aus einem tiefen         sammengetragen und daraus 32 Collagen hergestellt,
                                                                          Schriftrelief. In den mit Filz unterlegten Coverkar­   die aus dänischen, englischen, französischen und
                                                                          ton sind Anzeigen des Warenhauses Illums einge­        deutschen Inseraten, Werbeemblemen, Comic-Aus­
                                                                          stanzt, die in einer dänischen Tageszeitung erschie­   schnitten und Reklamebildern bestehen und sie
                                                                          nen sind. Das Buch entlarvt und inszeniert die         mit Farb­spuren, -spritzern und -klecksen versehen.

                                                                                                                                                                                UZH magazin 2 /2 0   17
«Bildkunst und Schrift sind das gleiche. Ein Bild
                                ist geschrieben und Schrift ist Bild.»
                                                                                   Asger Jorn «Prophetische Harfen» (1944)

                  Dabei bedienten sie sich bereits verwendeter Wör­         einflusst die Bedeutung. Die Materialität des Buches
                  ter, sie recycelten diese gewissermassen, fügten          hat eine Eigendynamik, genauso ist es beim Malen,
                  gebrauchte Textversatzstücke, Buchstaben, vorge­          wo die Farben nicht immer das tun, was der Künst­
                  fundendes Material zusammen und machten so                ler geplant hat, sagt Müller-Wille.
                  neue Bezüge sichtbar. Das sogenannte Détourne­                  Einflussreich war Asger Jorn auch bei der
                  ment, was etwa mit Zweckentfremdung, Verdre­              Gestaltung der Bulletins der Cobra-Gruppe. Klaus
                  hung, auch Entwendung oder Umkodierung über­              Müller-Wille hatte Jorn entdeckt, als er den Auftrag
                  setzt werden kann, war ein beliebtes Verfahren der        erhielt, an der Université de Strasbourg einen
                  Situationistischen Internationale. Diese Gruppierung      Vortrag über die Künstlerbewegung zu halten –
                  linker, avantgardistischer Künstlerrebellen – und         Cobra ist ein Akronym der Städte Copenhagen,
                  Vorläufer der 68er-Bewegung – richtete sich mit           Brüssel und Amsterdam. Die Gruppe um Asger
                  überraschenden öffentlichen Interventionen,               Jorn und den Schriftsteller Christian Dotremont
                  Strassenaktionen, politischen Flyern, Graffitis und       versuchte, kleinere Hauptstädte als Avantgarde­
                  anderen aktionistischen Störungen gegen das Bür­          zentren zu inszenieren, und machte sich stark für
                  gertum und den Kapitalismus.                              eine natürliche, spontane, primitive Kunst.
                                                                                  Da sei ihm Asger Jorn aufgefallen, sagt Mül­
                  Dinghafte Schrift
                                                                            ler-Wille. Er sei überrascht gewesen vom intellek­
                  Asger Jorn war ein Mensch, der viele Fäden zog.           tuellen Impact, der in diesem reichen Werk des
                  Heute würde man es Networking nennen, sagt                Künstlers zum Vorschein kam, den er bis dahin
                  Klaus Müller-Wille. Der Künstler war engagiert            wie die meisten nur als Maler gekannt hatte. Be­
                  und sozial aktiv, brachte Kulturschaffende ver­           sonders fasziniert haben ihn Jorns ästhetische
                  schiedener Länder zusammen. Müller-Wille hat              Schriften. In «Heil und Zufall» etwa wendet der
                  in den Archiven wunderbare Korrespondenzen                Künstler das Collageverfahren auf seine eigenen
                  gefunden. In allen möglichen Sprachen schrieb             Texte an, indem er diese zerschneidet und neu zu­
                  Jorn Briefe – neben Dänisch und Englisch auch in          sammenklebt und so seine Reflexionen und Argu­
                  einem abenteuerlichen Italienisch und einem ar­           mentationen inszeniert und dekonstruiert.
                  chaischen Deutsch.
                                                                            Kalbskopfthesen
                         Jorns Faible für die Buchkunst war schon früh
                  sichtbar. Klaus Müller-Wille zeigt wunderschöne           Der Philologe verweist schmunzelnd auf ein wei­
                  Illustrationen, die der Künstler zu Gedichten von         teres Buch mit dem vieldeutigen Titel: «La langue
                  Genja Katz Rajchmann angefertigt hatte, schwe­            verte et la cuite», das Jorn mit Noël Arnaud 1968
                  bende Farbkreise und -flächen über, neben und im          herausgebracht hat. La Langue meint sowohl «die
                  Text, erschienen 1939 unter dem Titel «Pigen i Ilden»     Sprache» wie auch «die Zunge». Tatsächlich wim­
                  (Das Mädchen im Feuer). «Bildkunst und Schrift            melt es in Jorns Buch von eingefärbten, herausge­
                  sind das gleiche. Ein Bild ist geschrieben, und Schrift   streckten Zungen, darunter etwa das berühmte
                  ist Bild», schreibt Asger Jorn im Essay «Prophetische     Bild von Albert Einstein, aber auch anonyme Zun­
                  Harfen» von 1944. Für Jorn sei Schrift dinghaft,          genfotos, Zungengemälde und zahlreiche Abbil­
                  erklärt Müller-Wille, darin besteht der Kern seiner       dungen von Zungenmonstern, die in die Aussen­
                  sprachtheoretischen Reflexion, die so spannend            fassaden gotischer Kirchen gemeisselt sind. Das
                  ist. Schrift besteht aus Wortdingen. Die Sinnlichkeit     Buch ist eine Persiflage auf den Strukturalismus.
                  des Textes, also auch die Typografie, das Papier,         Der Titel verrät eine Anspielung auf die «Mytho­
                  das Layout, all das macht das Lesen aus und be­           logica I: Le cru et le cuit», («Das Rohe und das Ge­

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Asger Jorn

             Widerstandskämpfer und
             vergleichender Vandalist
                                                                    deutschen Besatzungszeit lebte Asger Jorn in
                                                                    Dänemark als Widerstandskämpfer.
                                                                          Nach dem Zweiten Weltkrieg tat sich der
                                                                    engagierte Künstler mit Kollegen zur Cobra-
                                                                    Gruppe zusammen, die sich für eine natürliche,
                                                                    primitive, spontane Kunst stark machte. Die
                                                                    Bewegung nahm ein jähes Ende, als Asger Jorn
                                                                    1951 schwer an Tuberkulose erkrankte und sich
                                                                    nach einem 18-monatigen Aufenthalt im Sana­
                                                                    torium in Silkeborg in Chesières (Kanton Waadt)
                                                                    erholte. Nach seiner Genesung zog er nach Albi­
                                                                    sola an die ligurische Küste, von wo aus er sein
                                                                    künstlerisches und intellektuelles Beziehungs­­
                                                                    netz in alle Welt weiterspann. Für die Situatio­
                                                                    nistische Internationale, die er mit Guy Debord
                                                                    1957 initiierte und die als Vorreiter der Pariser
                                                                    68er-Bewegung gilt, engagierte er sich mit
             Asger Jorns Leben war ein wilder Ritt durch die        diversen aktionistischen Interventionen, 1961
             künstlerischen Avantgarden Europas. Zuerst             gründete er dann das Skandinavische Institut
             schien der 1914 geborene Jorn noch in die Fuss­-       für vergleichenden Vandalismus.
             s­tapfen der Eltern zu treten – beide waren Lehrer –         Jorns Werk umfasst eine grosse Bandbreite
             und absolvierte einige Semester am Lehrer­             künstlerischer Formen – von einer sehr expres­
             seminar im dänischen Silkeborg. Doch mit               siven, emotionalen Malerei bis hin zu Formen
             24 Jahren, so will es die Legende, schwang sich        von Konzeptkunst. Zudem verfasste er zahl­reiche
             der angehende Künstler auf sein Motorrad und           Manifeste und Essays zu ästhetischen Theorien
             preschte nach Paris – mitten ins Herz der ange­        und war ein wichtiger Mittler in der inter­­
             sagten Avantgarde. Dort studierte er in der            nationalen Kunstszene. Dem Museum in seiner
             Meister­klasse von Fernand Léger an der                Heimatstadt Silkeborg schenkte Jorn immer
             Académie Moderne, traf die Crème der Szene –           wieder Gemälde seiner berühmten Pariser
             Miro, Picasso und andere – und kopierte für            Kollegen, sodass es heute eine über­ra­schen­de
             Le Corbusier grossformatige Kinderzeichnungen,         Sammlung der gesamten Nachkriegsavantgarde
             mit denen dieser die Wände seines Pavillons an         präsentieren kann. Asger Jorn starb 1973 an den
             der Weltausstellung in Paris zierte. Während der       Folgen einer Krebserkrankung.

                     kochte»), mittlerweile ein wissenschaftlicher Klas­      zum Beispiel eine Sermon fumé – eine geräuchte
                     siker des französischen Strukturalisten und An­          Standpauke – aufgetragen oder eine Pathétique
                     thropologen Claude Lévi-Strauss. Asger Jorns Buch        surgelée – tiefgefrorenes Pathos. Danach wird etwa
                     versammelt eine Reihe von sprachspielerischen            eine Thèse de veau à la vinaigrette, eine Kalbs­
                     und sprachtheoretischen Reflexionen, serviert in         kopf­these serviert und zum Nachtisch eine Tarte
                     Form von kulinarischen Gängen – deshalb auch             de rigolade, ein Ohrfeigenspasskuchen. Da bekommt
                     der Untertitel: Etude gastrophonique sur la marmy­       man Appetit auf mehr. Zum Glück wird Klaus
                     thologie musiculinaire.                                  Müller-Willes Forschungsprojekt, das in einer Mo­
                           Jorn kritisiert darin den Strukturalismus, der     nografie zusammengefasst erscheinen soll, bald
                     die Sprache als abstraktes, geschlossenes Zeichen­       mehr Jorn’sche Seh- und Lesenahrung auftischen.
                     system begreife und dabei die Körperlichkeit und         Wohl bekomms!
                     Sinnlichkeit der Schrift verdränge. Seine Textsamm­      Simona Ryser ist Journalistin und freie Autorin.
                     lung ist gespickt mit Wortspielereien und -verdre­
                                                                              KONTAKT:
                     hungen. Schon die Lektüre des Inhaltsverzeich­           Prof. Klaus Müller-Wille, klaus.mueller-wille@ds.uzh.ch
                     nisses ist ein Genuss. Da wird zum Hors d’œuvre
Bilder: PD

                                                                                                                                        UZH magazin 2 /2 0   19
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N E U RO Ö KO NOM I E

Geben macht glücklich
Grosszügigkeit ist mit Kosten verbunden. Was sie uns nützt, ist
ungewiss. Warum sind wir trotzdem spendabel anderen gegenüber?
Der Neuroökonom Philippe Tobler hat in die Gehirne grosszügiger
Menschen geschaut und eine Antwort gefunden.

Text: Ümit Yoker                                     Geld an diejenigen, die das Schicksal härter trifft
Illustration: Christoph Fischer                      als uns selbst. «Die Corona-Krise hat uns verstärkt
                                                     vor Augen geführt, dass wir alle miteinander ver­

D
         er direkte Weg zum Glück, dies legen die    bunden sind und unser Verhalten nicht ohne
         vergangenen Monate nahe, ist mit vielen     Wirkung für andere bleibt», sagt Philippe Tobler.
         Lagen Toilettenpapier ausgelegt, eng ge­    «Wir sind auf die Menschen um uns herum an­
pflastert mit Hefewürfeln und üppig von Küchen­      gewiesen und sie auf uns.» Tobler ist Neuroökonom
kräutern gesäumt. Die Hamsterkäufe in der Coro­      an der UZH, das bedeutet: Er beschäftigt sich mit
na-Krise werfen nicht gerade das beste Licht auf     der Frage, was im Gehirn vorgeht, wenn wir wirt­
unsere Fähigkeit zu teilen: Der Mensch sucht sein    schaftliche Entscheidungen treffen.
Wohl in der Regel darin, das Beste für sich selbst
                                                     Wohliges Gefühl
herauszuholen. Da stehen die anderen schon ein­
mal vor leergeräumten Regalen.                       Die Neuroökonomie ist eine junge Disziplin an der
      Grosszügigkeit scheint vor allem mit Kosten    Schnittstelle von Ökonomie, Neurowissenschaften
verbunden; welcher Nutzen für uns herausspringt,     und Psychologie. In der Forschung von Tobler geht
bleibt erst einmal ungewiss. Gerade Krisenzeiten     es oft um jene Fälle, in denen neuronale Abläufe
jedoch bringen auch unsere solidarische Seite        aus dem Ruder laufen: wenn Menschen drogen­
zum Vorschein: Wir kaufen für die betagte Nach­      süchtig sind, zum Beispiel, an Schizophrenie leiden
barin ein, obwohl wir sie kaum kennen. Wir in­       oder an Parkinson erkrankt sind. Der Wissenschaft­
szenieren Theateraufführungen für Kinder, die        ler untersucht aber auch die Gehirne von gesunden
den ganzen Tag zu Hause hocken. Wir spenden          Menschen – und hat sich dabei unter anderem damit

                                                                                                    UZH magazin 2 /2 0   21
beschäftigt, welche Prozesse dort ablaufen, wenn        den vier Wochen insgesamt je hundert Schweizer
                  wir uns spendabel verhalten.                            Franken erhalten würden. Dann teilten sie die
                        Die Wissenschaft hält unterschiedliche Ant­       Versuchspersonen zufällig in zwei Gruppen auf:
                  worten darauf bereit, was uns zu grosszügigem           Die erste verpflichtete sich dazu, den Betrag jeweils
                  Handeln bewegt: So wirken sicher Verwandtschafts­       für eine andere Person auszugeben und diese zum
                  bande mit, oder wir erhoffen uns, das Gegebene          Beispiel zum Essen einzuladen oder ihr ein Ge­
                  in irgendeiner Form eines Tages zurückzubekom­          schenk zu machen. Die zweite Gruppe wurde auf­
                  men. Vielleicht sind wir auch um unseren Ruf be­        gefordert, das Geld für sich selbst zu nutzen. Alle
                  sorgt. Tobler hält noch eine weitere Erklärung parat:   Versuchspersonen mussten danach in einer davon
                  Grosszügigkeit macht glücklich. «Wir unterschät­        unabhängigen Aufgabe entscheiden, welchen Be­
                  zen, dass eine Gabe an andere uns oft zufriedener       trag sie für eine andere Person aufzuwenden bereit
                  macht, als sich eigennützig zu verhalten», sagt der     wären; dabei wurde mittels funktioneller Magnet­
                  Professor für Neuroökonomie und Soziale Neuro­          resonanztomografie die Gehirnaktivität der Pro­
                  wissenschaften am Volkswirtschaftlichen Institut.       bandinnen und Probanden gemessen (siehe Kasten).
                        Gemeinsam mit der Psychologin Soyoung
                                                                          Wohliges Gefühl
                  Park und weiteren Forschenden untersuchte Tob­
                  ler in einem Experiment, wie Grosszügigkeit und         Was Tobler und sein Team überraschte: Allein der
                  Glück auf neuronaler Ebene zusammenhängen.              verbindlich gefasste Vorsatz, den Betrag für jemand
                  Die Wissenschaftler informierten fünfzig Proban­        anders auszugeben, reichte bereits aus, dass sich
                  dinnen und Probanden, dass sie in den kommen­           die entsprechenden Probanden in der unabhängi­
                                                                          gen Aufgabe grosszügiger verhielten. Zudem schätz­
                                                                          ten sie sich als glücklicher ein als die Kontrollgrup­
                                                                          pe. Das wohlige Gefühl, das Ökonomen «warm
        Neuronale Belohnung                                               glow» nennen, scheint zudem nicht viel mit dem
                                                                          objektiven Wert der Gabe zu tun zu haben. In an­
        Was Grosszügigkeit                                                deren Worten: Ob wir der Bürokollegin ein Schog­
                                                                          gistängeli zum Kaffee mitbringen oder eine ganze
        im Gehirn auslöst                                                 Schachtel Pralinen, hat keinen wesentlichen Einfluss
                                                                          darauf, wie zufrieden wir danach mit uns selbst
                                                                          sind. Nicht zuletzt zeigen die Ergebnisse: Gross­
        Wenn wir uns grosszügig verhalten, ist im                         zügigkeit ist eine veränderbare und manipulierba­
        Gehirn insbesondere der Schläfen-Scheitel­                        re Grösse. Sie kann, Schoggistängeli um Schoggi­
        lappen-Übergang aktiv. Diese Region ist unter                     stängeli, erlernt und geübt werden.
        anderem zuständig dafür, dass es uns gelingt,                           Vor Weihnachten erhält Tobler jeweils beson­
        die Perspektive anderer zu übernehmen und                         ders viele Anfragen zu seiner Forschung. Spenden­
        vom eigenen Standpunkt zu abstrahieren.                           vereine erhoffen sich gerade dann Antworten auf
        Der Schläfen-Scheitellappen-Übergang                              die Frage, was Menschen grosszügig macht. Ein
        kommuniziert bei grosszügigeren Menschen                          paar Tipps hat er für sie durchaus bereit: «Es ist
        zudem intensiver mit dem Striatum als bei eher                    zum Beispiel wichtig, dass potenzielle Spender
        geizigen Menschen. Das Striatum, auch                             möglichst viel über die Empfänger wissen.» So
        Streifenkörper genannt, ist Teil des neuronalen                   nimmt Grosszügigkeit normalerweise mit zuneh­
        Belohnungssystems und spielt eine entschei­                       mender sozialer Distanz ab. Zudem sollten die
        den­de Rolle in unserem Glücks­empfinden. Je                      Erwartungen der Spender nicht zu hoch geschraubt
        intensiver die beiden Gehirnstrukturen                            werden, etwa durch das Versprechen, dass Kinder
        miteinander in Verbindung stehen, desto                           durch eine Patenschaft geradewegs aus der Armut
        grosszügiger – und zufriedener – sind wir mit                     befreit werden könnten. Besser sei es, regelmässig
        entsprechenden Entscheidungen.                                    darüber zu informieren, welche Fortschritte dank
              Wenn grosszügige Menschen anderen                           der Spende erreicht werden konnten.
        etwas geben, bearbeiten bestimmte Teile ihres                           Wie grosszügig wir sind, hängt von ganz ver­
        Belohnungssystems diese Handlung ganz                             schiedenen Faktoren ab. Gerade im Zusammenhang
        ähnlich wie eine Belohnung für sie selbst. Das                    mit Spenden und Philanthropie gibt es dazu zahl­
        Belohnungssystem weniger spendabler Zeit­                         reiche Untersuchungen, und nicht alle Forscher
        genossen hingegen reagiert deutlich stärker auf                   kommen zum selben Schluss: So legen manche
        eine Belohnung für sie selbst als für andere                      Studien nahe, dass Arme im Verhältnis grosszü­
        Menschen.                                                         giger sind als Reiche, weil sie sich besser in die

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«Wir unterschätzen, dass eine Gabe an
                andere oft zufriedener macht, als sich
                     eigennützig zu verhalten.»
                                                                     Philippe Tobler, Neuroökonom

Notlage anderer Menschen hineinversetzen können.        ten. Ebenso seien Männer nicht schlicht Egoisten.
Andere Arbeiten gelangen hingegen zur Feststel­         Es gebe ganz unterschiedliche Arten prosozialen
lung, dass Menschen an beiden Enden des Ein­            Verhaltens, sagt Tobler. «Männer begeben sich zum
kommensspektrums mehr spenden als die grosse            Beispiel eher für andere in Gefahr als Frauen.»
Mehrheit dazwischen. Ältere sind in der Regel
                                                        Egoismus ist nicht grundsätzlich schlecht
grosszügiger als junge; dies mag aber auch damit
zusammenhängen, dass sie mit grösserer Wahr­            Wenn sich Grosszügigkeit so mühelos pharmako­
scheinlichkeit über mehr Geld verfügen.                 logisch manipulieren lässt: Könnte man der Mensch­
                                                        heit dann nicht einfach ein Mittel verabreichen,
Frauen sind grosszügiger
                                                        damit wir alle spendabler werden? Tobler lächelt:
Eine Rolle spielt auch das Geschlecht: So gelten        «Eigennutz ist ja nicht ausschliesslich schlecht.» Er
Frauen in der Regel als grosszügiger als Männer.        zitiert aus der Fachliteratur den Fall eines Mannes,
Tobler ist mit dem Neuroökonomen Alexander              dessen Grosszügigkeit nach einem Hirnschlag keine
Soutschek und weiteren Forschenden auch hier            Grenzen mehr kannte: «Zum Leidwesen seiner
der Frage auf den Grund gegangen, ob und wie            Frau verschenkte er in kürzester Zeit ihr ganzes
sich dieser Unterschied im Gehirn manifestiert.         Hab und Gut.»
Die Annahme der Wissenschaftler: Das neurona­           Ümit Yoker ist freie Journalistin.
le Belohnungssystem von Frauen reagiert sensibler
                                                        KONTAKT:
auf prosoziales Verhalten wie etwa Spenden als          Prof. Philippe Tobler, phil.tobler@econ.uzh.ch
dasjenige von Männern, der Botenstoff Dopamin
wird in solchen Situationen verstärkt ausgeschüt­
tet. Grosszügigkeit wirkt in weiblichen Gehirnen
also in der Regel stärker belohnend als in männ­
lichen. Die Verabreichung eines Dopaminhemmers
führt entsprechend dazu, dass die Grosszügigkeit
bei den Frauen abnimmt, nicht aber bei den Män­
nern. Ähnlich führt in einem anderen Experiment
die Vergabe von Testosteron dazu, dass sich M­ änner
eigennütziger verhalten – allerdings hauptsächlich
gegenüber Menschen, die ihnen nicht nahestehen.
       Der Schluss, dass Grosszügigkeit einfach in
der Natur von Frauen liegt, greift laut Tobler jedoch
eindeutig zu kurz. Mädchen erhalten oftmals von
klein auf deutlich mehr positive Rückmeldung als
Jungen dafür, dass sie sich altruistisch verhalten
und auf andere Rücksicht nehmen. Grosszügigkeit
ist ein Verhalten, für das sie belohnt werden – und
Dopamin spielt eine entscheidende Rolle darin,
bestimmte Handlungen zu stärken und zu bewer­

                                                                                                         UZH magazin 2 /2 0   23
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