Metamorphosen 30. Festival Alte Musik Zürich 22.-31. März 2019 - Forum für Alte Musik Zürich
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Editorial Metamorphosen – Wandlungen, Die Liebe, die Liebe … Vor rund tausend Verwandlungen, Umwandlungen. Jahren entdeckten sie die Troubadours, Ein Vorgang, der vielerorts anzutreffen ist: Trouvères und Minnesänger, wie auch die In der Natur gibt es ihn sozusagen ganz Trobairitz – die ersten Komponistinnen natürlich, in der Musik erscheint er meist Europas. Hirundo Maris folgt den Wegen raffiniert kunstvoll, auf unserem Cover der mittelalterlichen Liebe über 200 Jahre. (von Mauro Lardi) gleichsam natürlich- kunstvoll. Und das Festival präsentiert Erstaunlich: Der norditalienische Ihnen einige ganz unterschiedliche Musik- Komponist Carlo Donato Cossoni Metamorphosen, die zwischen diesen vermachte seinen Nachlass dem Kloster beiden Polen pendeln: Einsiedeln. Darunter finden sich manche Vespergesänge. Das Vokalensemble Wie kommt es, dass wir in Bachs Trauer- Novantiqua Bern und das Kesselberg musik, geschrieben für den verstorbenen Ensemble präsentieren erstmals Cossonis Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen, Musik ganz eigenständige doppelchörige aus der Matthäus-Passion antreffen? Einsiedler Vesper. Alexander Grychtolik macht es mit seiner Deutschen Hofmusik hörbar. Studierende der Zürcher Hochschule der Künste spielen diesmal beim Festival Um 1520 entsteht in Italien ein ganz neues eine «Alte Musik», die gerade etwas mehr als Musikgenre: das Madrigal. Es zieht die 60 Jahre jung ist. Dennoch dürfen sie nicht italienische Musik für ein gutes Jahrhundert fehlen, Benjamin Brittens Six Metamorphoses in seinen Bann. Das Ensemble Domus Artis after Ovid für Oboe solo. Denn mit den folgt den (Ver-)Wandlungen des Madrigals epochalen Metamorphosen des römischen über hundert Jahre. Dichters Ovid begannen sie ja damals, all die Wandlungen in Natur, Dichtung, Musik Ein Liebeslied in einer Messe? Kein Ding und Kunst. Ein Themennachmittag am der Unmöglichkeit für den Renaissance- Musikwissenschaftlichen Institut der Komponisten Josquin Desprez. Das Vokal- Universität Zürich wird einige Aspekte des ensemble Alamire deckt die erstaunlichen Festivalprogramms vertiefen. Beziehungen zwischen Liebesliedern, Messgesängen und Motetten auf. Wir hoffen gern, dass Sie wieder dabei sind, und freuen uns, Sie zu sehen! Aus dem alten Griechenland ist keine einzige Musiknote überliefert. Trotzdem Martina Joos und Roland Wächter führt Conrad Steinmann mit seinem Präsidium Forum Alte Musik Zürich Ensemble Melpomen seit langem Musik der griechischen Antike auf. Erklangen damals so die Dichtungen von Sophokles und Sappho? 3
Metamorphosen 30. Festival Alte Musik Zürich 22.—31. März 2019 Fr 22.03.2019 S. 6 Fr 29.03.2019 S. 26 18.30h Lavatersaal, vis-à-vis St. Peter 19.30h Kirche St. Peter Präludium Griechenland-Metamorphosen Bassano, Cima, Telemann u.a. Chorós / Χορός OCTOPLUS / SchülerInnen der MKZ, Ltg. Martina Joos Melpomen, Ltg. Conrad Steinmann 19.30h Kirche St. Peter Bach-Metamorphosen Sa 30.03.2019 S. 32 19.30h Kulturhaus Helferei, Kirchgasse 13 J. S. Bach: Köthener Trauermusik Deutsche Hofmusik, Ltg. Alexander Grychtolik Liebes-Metamorphosen Troubadour, Trouvère, Trobairitz, Minnesänger Hirundo Maris Sa 23.03.2019 S. 10 13.30h Musikwissenschaftliches Institut der Universität Zürich, Florhofgasse 11 So 31.03.2019 S. 36 Themennachmittag 17.00h Kirche St. Peter Ltg. Dr. Michael Meyer Vesper-Metamorphosen 15.00h Hotel Hirschen, Hirschengasse 6 Carlo Donato Cossoni: Einsiedler Vesper Ovid-Metamorphosen Novantiqua Bern, Kesselberg Ensemble, Ltg. Bernhard Pfammatter B. Britten: Six Metamorphoses after Ovid Linda Alijaj, Hitomi Inoue, Morris Weckherlin Studierende der ZHdK 17.15h und 19.30h Kulturhaus Helferei, Kirchgasse 13 S. 12 Madrigal-Metamorphosen Madrigale von Arcadelt bis StrozZi Domus Artis, Ltg. Breno Quinderé Wir danken herzlich So 24.03.2019 S. 22 16.00h Lavatersaal, vis-à-vis St. Peter Präsidialdepartement Stadt Zürich, Fachstelle Kultur des Kantons Zürich, Ernst Göhner Stiftung, Freunde Ovid-Metamorphosen der Alten Musik, Musikschule Konservatorium Zürich MKZ, RHL Foundation, Schüller-Stiftung, SRF2 Kultur, Stiftung STAB, Zürcher Hochschule der Künste ZHdK. Wir danken weiteren GönnerInnen und Stiftungen, B. Britten: Six Metamorphoses after Ovid die nicht namentlich genannt werden möchten. Linda Alijaj, Hitomi Inoue, Morris Weckherlin Studierende der ZHdK 17.00h Kirche St. Peter Chanson-Metamorphosen Josquin Desprez: Missa D’ung aultre amer Alamire, Ltg. David Skinner 4 5
Fr 22.03. Präludium 18.30h Lavatersaal, vis-à-vis St. Peter Anonymus 14. Jh. Belicha Tobias Andermatt Blockflöte Jacobus de Bononia Di novo è giunto Oliver Graf & Linus Leu Blockflöte Präludium Giovanni Bassano Giovanni Paolo Cima Haec est beatissima Sonata d-Moll OCTOPLUS Oliver Graf Blockflöte Bassano, Cima, Telemann u.a. Nicolaus à Kempis Georg Philipp Telemann Symphonia III Trietto terzo Andrea Vogler Blockflöte Diego Galván & Simon Giesch Blockflöte Sonatina I, e-Moll Tobias Andermatt Blockflöte OCTOPLUS SchülerInnen von Musikschule Konservatorium Zürich MKZ Maya Adler, Tobias Andermatt, Diego Galván, Simon Giesch, Iris Karahusić, Sarah Mettler, Samuel Mink, Viviane Onus, Bach-Metamorphosen Andrea Spiri, Tina Staubli, Andrea Vogler Blockflöten Johann Sebastian Bach Köthener Trauermusik BWV 244a Naoko Matsumoto Korrepetition, Cembalo & Orgel (1685 –1750) Trauermusik zum Gedächtnisgottesdienst für Fürst Leopold von Anhalt-Köthen, 24. März 1729 Martina Joos Leitung Erste Abteilung Mit freundlicher Unterstützung von Musikschule Konservatorium Zürich MKZ 1. Chor: Klagt, Kinder, klagt es 2. Rezitativ (Altus): Oh Land! Bestürztes Land 19.30h Kirche St. Peter 3. Arie (Altus): Weh und Ach 4. Rezitativ (Tenor): Wie, wenn der Blitze Grausamkeit 5. Arie (Tenor): Zage nur, du treues Land Bach-Metamorphosen 6. 7. Rezitativ (Sopran): Ach ja! Wenn Tränen oder Blut Chor: Komm wieder, teurer Fürsten-Geist J. S. Bach: Köthener Trauermusik Zweite Abteilung 8. Chor: Wir haben einen Gott Miriam Feuersinger Sopran 9. Rezitativ (Altus): Betrübter Anblick David Erler Altus 10. Arie (Altus): Erhalte mich, Gott 11. Rezitativ (Sopran): Jedoch der schwache Mensch Hans Jörg Mammel Tenor 12. Arie (Sopran): Mit Freuden sei die Welt verlassen Wolf Matthias Friedrich Bass 13. Rezitativ (Bass): Wohl also dir 14. Repetatur dictum: Wir haben einen Gott Deutsche Hofmusik Dritte Abteilung Jan De Winne, Christine Debaisieux Traversflöte 15. Arie (Bass): Lass, Leopold, dich nicht begraben Marcel Ponseele, Lidewei De Sterck Oboe 16. Rezitativ (Altus): Wie könnt´ es möglich sein Heidi Gröger, Gertrud Ohse Gambe 17. Arie (Altus): Wird auch gleich nach tausend Zähren 18. Rezitativ (Tenor): Und, Herr, das ist die Spezerei Mechthild Karkow Konzertmeisterin, Violine 19. Arie (Tenor und Chor): Geh, Leopold Leopold Nikolaus, Heinrich Kubitschek Violine Anne Kaun Viola Vierte Abteilung Lea Rahel Bader, Gertrud Ohse Violoncello 20. Arie (Bass): Bleibet nur in eurer Ruh 21. Rezitativ (Sopran): Und du, betrübtes Fürstenhaus Niklas Sprenger Violone 22. Arie (Sopran): Hemme dein gequältes Kränken Aleksandra Grychtolik Orgel 23. Rezitativ (Bass): Nun scheiden wir Alexander Grychtolik Cembalo & Leitung 24. Chor (Aria tutti): Die Augen sehn nach deiner Leiche 6 7
zwischen verschiedenen Werken an. Es wohlüberlegte konfessionelle Referenz der besetzten dritten Chorsatz zumindest in Die Köthener zeigte sich dabei, dass die 1729 in Köthen Lutheraner Bach und Henrici an das refor- Erwägung gezogen haben. aufgeführte Trauermusik in einer Parodie- mierte Fürstenhaus Anhalt-Köthen. Trauermusik Beziehung* zur zwei Jahre älteren Trauerode Wie soll nun das heutige Publikum mit und ihre für die verstorbene Kurfürstin Christiane Der abschliessende Chor (Aria tutti) Die einem derart anlass- und personenbezo- Eberhardine (BWV 198) und vor allem zur Augen sehn nach deiner Leiche (Satz 24) genen Werk wie der Köthener Trauermusik Rekonstruktion Matthäus-Passion (BWV 244) steht. Somit konnte man eine ungefähre Vorstellung korrespondiert musikalisch mit dem Abschlusschor Wir setzen uns in Tränen umgehen? Zunächst erzeugt es sicherlich ein gewisses Befremden, die Musik der über die einstige musikalische Gestalt der nieder der Matthäus-Passion. Ihre Textpas- Matthäus-Passion in einem so andersartigen Alexander Grychtolik 24 Einzelsätze umfassenden Trauermusik sage Der Mund ruft in die Gruft hinein spielt Kontext zu erleben. Lässt man sich aber auf gewinnen. Eine Ausnahme bilden die Psalm- auf das Mausoleum der Fürstenfamilie in einen Bruch mit den eigenen Hörgewohn- Köthen im März 1729: Johann Sebastian vertonung Wir haben einen Gott (Satz 8) und der St. Jakobskirche an, wo man den Music heiten ein, so offenbart sich ein höchst Bach reist mit seiner Frau Anna Magdalena die Rezitative, die verschollen bleiben. so wohl liebenden als kennenden Fürst am eigenständiges Kunstwerk, das auch in und seinem Sohn Wilhelm Friedemann in Vorabend des 24. März 1729 beigesetzt hatte. unserer Zeit nichts von seiner Aussagekraft die anhaltinische Residenzstadt, um in der Die Trauermusik besteht aus vier Abthei- Dies übrigens nicht im standesgemäss übli- über Abschied, Tod und ewiges Leben dortigen Stadtkirche St. Jakob eine gross- lungen, die abschnittsweise im Gottesdienst chen Prunksarkophag, sondern in einem verloren hat. angelegte Kantate aufzuführen. Im Gedächt- musiziert wurden. Sie thematisieren – auch schlichten, leinenumspannten Holzsarg nisgottesdienst für den am 19. November unter Verwendung zahlreicher Bibelzitate – wohl ein Indiz für die heftigen innerfami- des Vorjahres verstorbenen Fürsten Leopold – Landestrauer, Tod und Erlösung, die Wür- liären Konflikte des Fürstenhauses. von Anhalt-Köthen, Bachs einstigen Arbeit- digung des Verstorbenen sowie Trost und geber, erklingt am 24. März die sogenannte Abschied. Es folgen kurze Anmerkungen Das Anliegen der vorliegenden Rekon- Köthener Trauermusik. Der Ablauf der Trau- zu drei Sätzen, die sich sowohl in der Trau- struktion der Trauermusik ist ein ästhetisch- erfeierlichkeiten ist minutiös dokumentiert. ermusik als auch in der Matthäus-Passion stilistisch geschlossener Annäherungsver- Sogar die Aufstellung der Speiseschüsseln finden: such an die Aufführung von 1729. Ansätze für das nach dem Gottesdienst abgehaltene zur Vervollständigung der Gedächtnis- Leichenmahl ist überliefert: Den Trauer- In der Zweiten Abteilung findet sich kantate lieferte der Bach-Forscher Detlef gästen wurde u.a. Barsch in Sauce hollan- die Arie Mit Freuden sei die Welt verlassen Gojowy. Ihm zufolge stehen nicht nur Arien daise, Suppe vom Masthahn mit geriebenem (Satz 12), die das Emporsteigen des Geistes und Chöre, sondern auch Accompagnato- Zitronen-Sellerie und Edelkastanien sowie aus dem irdischen Leib verbildlicht. Ihren Rezitative der Matthäus-Passion in einer Tauben- und Fasanenpastete gereicht. schwerelos-schwebenden Charakter erzielt Parodiebeziehung zur Trauermusik. Zwar Bach, indem er den Basso continuo (das wäre es für Bach leicht gewesen, die Rezi- Bach ist zu diesem Zeitpunkt bereits im «erdende» Fundament barocker Komposi- tative der Trauermusik neu zu vertonen, sechsten Jahr Thomaskantor in Leipzig; tion) schweigen lässt. In der Matthäus-Pas- andererseits sind Rezitativ-Parodien bei *Parodie meint hier die Wiederverwen- er hat aber als Kapellmeister von Hause aus sion lautet der Text zur gleichen Musik ganz Bach vereinzelt auch in Kantaten belegt. In dung einer bereits existierenden Musik in den Köthener Hof bei besonderen Anlässen anders: Aus Liebe will mein Heiland sterben. sechs Fällen folgen die zu hörenden Rezi- einem neuen Werk. Dabei wird der Musik weiterhin mit neuen Werken zu beliefern, so tativ-Fassungen den Vorschlägen Gojowys; ein in Versmass und Reimschema – und auch für diese Gedächtnisfeier. Das Libretto Auffällig ist in der Dritten Abteilung Satz an einigen Stellen konnten für die Köthener natürlich auch in seiner Aussage – ähn- zur Trauermusik stammt aus der Feder von 19, die Aria à 2 Chören Geh, Leopold, zu deiner Trauermusik jedoch keine Rezitative der licher neuer Text unterlegt; die Musik Bachs wichtigstem Leipziger Textdichter Ruhe, in der sich die Sterblichen (Tenor) und Matthäus-Passion verwendet bzw. umge- muss im Detail meist etwas angepasst Christian Friedrich Henrici (Pseudonym: die Auserwählten (Chor) gegenüberstehen; arbeitet werden. Diese Lücken wurden in werden. So basieren etwa die ersten vier Picander), der auch der Textdichter der in der Matthäus-Passion ist dies die Arie Form von Neuvertonungen «rekonstruiert» Kantaten des Weihnachtsoratoriums fast Matthäus-Passion ist. Das Libretto ist in drei mit Chor Ich will bei meinem Jesu wachen. (Sätze Nr. 13, 16, 21 und 23). Für den Sterbe- ganz auf zwei älteren weltlichen Kanta- voneinander leicht abweichenden Fassun- Die explizit doppelchörige Anlage sorgt für psalm Wir haben einen Gott wurde als ten. Die Trauermusik ist allerdings ein gen erhalten, doch ist Bachs Musik zu dieser einen kompositorischen Akzent innerhalb Parodievorlage aus der Trauerode (BWV 198) heikler Fall, da sich in ihr teilweise die Gedächtniskantate leider verschollen. der Gesamtdisposition der Trauermusik – die Chorfuge An dir, du Fürbild grosser Frauen gleiche Musik wie in der Matthäus-Pas- aber nicht nur das: Die Unterscheidung in herangezogen. Immerhin hat Bach aus der sion findet; die ältere Musikwissenschaft Bei der Edition der ersten Bach-Gesamt- Sterbliche und Auserwählte bezieht sich auf Trauerode zwei andere Stücke im ersten Teil vertrat jedoch gern die These, dass Bach ausgabe 1873 stellte deren Mitherausgeber die im Calvinismus bedeutsame Prädesti- der Köthener Trauermusik wiederverwendet nie geistliche Musik für weltliche Werke Wilhelm Rust nun jedoch Textvergleiche nationslehre; das Stück ist damit eine (Sätze 1 und 7), und er wird diesen identisch verwendet habe. 8 Bach-Metamorphosen Bach-Metamorphosen 9
Sa 23.03. Die Uraufführung verlief nicht ganz «gezackter» Melodik ist wohl das unkontrol- problemlos: Benjamin Britten (1913–1976) lierte Galoppieren der Pferde, schliesslich 13.30h Musikwissenschaftliches Institut der Universität Zürich, Florhofgasse 11 schrieb seine Six Metamorphoses 1951 für eine Blitz und Sturz zu hören; in einem Nachspiel «open air»-Aufführung während seines Alde- entschwindet der Sonnenwagen wieder in Themennachmittag burgh Festivals. Die Oboistin Joy Boughton unternahm es, das Werk von einem auf dem den Himmel. Ltg. Dr. Michael Meyer Wasser treibenden Stechkahn aus zu spielen. III. Niobe – die den Tod ihrer vierzehn Kinder Im Laufe der Aufführung flatterten jedoch beklagte und in einen Berg verwandelt wurde. nicht nur die Töne der Musik durch die Luft, Niobes unmässiger Stolz auf ihre 14 Kinder 13.30h Michael Meyer sondern schliesslich auch die Blätter der fordert die Götter heraus. Deshalb tötet Parodie, Konkurrenz und Geschichte: Josquin bearbeitet Partitur; situationsbedingt fielen sie ins Was- zuerst Apollo ihre sieben Söhne, dann 14.15h Christoph Riedo ser und mussten herausgefischt und für den Artemis ihre sieben Töchter. Vor Gram Italianità im Benediktinerstift Einsiedeln: die Musikalienschenkung des Rest des Vortrags getrocknet werden … verwandelt sich Niobe in einen Stein, der Mailänder Domkapellmeisters Carlo Donato Cossoni (1623–1700) ins Gebirge versetzt wird. Brittens Musik Brittens Metamorphosen passen offen- gibt zuerst Niobes Klage wieder, eine aufstei- – PAUSE – sichtlich nicht ganz «problemlos» in ein gende Linie symbolisiert dann die anstei- Festival mit Alter Musik; doch ebenso offen- gende Linie eines Bergs. 15.30h Esma Cerkovnik sichtlich müssen sie darin vorkommen, Metamorphose als Pfad der Selbstauflösung? — Metamorphose-Spiegelungen wenn das Festival das Thema Metamorpho- IV. Bacchus – an dessen Festen das Schwatzen im italienischen Madrigal sen hat. Denn mit Ovids umfangreicher von Frauen und das Schreien junger Män- Dichtung Metamorphosen beginnt die lite- ner zu hören ist. 16.15h Abschluss rarische Überlieferung all der Verwandlun- Bacchus ist der Gott, der anfänglich vor gen und Umwandlungen, die sich in den allem von Frauen und jungen Männern mythischen Anfängen der europäischen gefeiert wird. Brittens Stück evoziert – eher 15.00h Hotel Hirschen, Hirschengasse 6 Welt und ihrer Kultur abspielten – Geschich- moderat – deren beschwipstes Herumtor- ten, die bis heute in der einen oder andern keln bei den weinseligen Bacchus-Festen. Form lebendig geblieben sind. Und Brittens Apérokonzert Musik für Oboe solo «spiegelt» sechs dieser Geschichten denn auch ganz direkt: V. Narzissus – der sich in sein eigenes Spiegel- bild verliebte und zu einer Blume wurde. Ovid-Metamorphosen I. Pan – der auf einer Schilfrohr-Flöte spielte, Der schöne Jüngling Narzissus verliebt sich in sein Spiegelbild, das er in einem Brunnen B. Britten: Six Metamorphoses after Ovid die Syrinx, seine Geliebte, war. Der Gott Pan verfolgt lüstern die Nymphe sieht. Brittens Musik zeigt Bild und Gegen- bild: Nach der Melodie des Bildes erklingt Syrinx. Bevor er sie jedoch erreichen kann, jeweils als Variante in einem anderen Regis- Studierende der ZHdK wird sie von ihren Gefährtinnen in ein ter die Musik als Gegenbild – in der Partitur Schilfrohr verwandelt. Pan macht sich mit umgekehrten («gespiegelten») Noten- Linda Alijaj Oboe daraus eine Flöte («Panflöte»), auf der er hälsen notiert. Hitomi Inoue Oboe nun sehnsuchtsvoll spielt. Morris Weckherlin Sprecher VI. Arethusa – die vor dem Flussgott Alpheios II. Phaeton – der einen Tag lang den Sonnen- floh und in eine Quelle verwandelt wurde. wagen lenkte und von einem Blitz in den Das Gegenstück zu Pan: Die Nymphe Are- Benjamin Britten Six Metamorphoses after Ovid op. 49 Fluss Padus geschleudert wurde. thusa steigt zum Bad in den Fluss Alpheios, I. Pan Der Zeussohn Phaeton erbittet sich die worauf der Flussgott ihr lüstern nachstellt. II. Phaeton Gunst, einmal den Sonnenwagen lenken Die Göttin Artemis verwandelt die Nymphe III. Niobe zu dürfen; dabei kommt er der Erde jedoch in eine Quelle, die noch heute bei Syrakus IV. Bacchus viel zu nahe und versengt ganze Landstri- hervorsprudelt. – Nach einem ruhigen V. Narzissus che. Zeus sieht keine andere Möglichkeit, Anfang steigert sich die Musik in eine auf- VI. Arethusa als Phaeton mit einem Blitz vom Wagen geregte Linie; schliesslich symbolisieren herunter zu schleudern. In Brittens nervös Triller das Plätschern der Quelle. 10 Ovid-Metamorphosen 11
Sa 23.03. Nüchterne Zahlen, Titel und Daten: 17.15h und 19.30h Kulturhaus Helferei, Kirchgasse 13 1520 veröffentlicht der Drucker Ottaviano Petrucci einen Band mit Musica […] sopra le Madrigal-Metamorphosen canzone del Petrarcha. Madrigale von Arcadelt bis StrozZi 1530 erscheint in Rom ein Druck mit Madrigali de diversi musici; die meisten Stücke stammen von Philippe Verdelot. Domus Artis 1539 erscheint in Venedig Il primo libro di Lina Marcela López Sopran madrigali des Komponisten Jacques Arcadelt. Florencia Menconi Mezzosopran Victor de Souza Soares Countertenor Nüchterne Zahlen und Fakten – doch sie Tiago Oliveira Tenor stehen für eine veritable musikalische Revolution in der Musik Italiens, und dies Breno Quinderé Bariton und Leitung unter ganz verschiedenen Aspekten: Csongor Szántó Bassbariton In den 1520er Jahren entsteht in Florenz Guilherme Barroso Laute, Theorbe, Barockgitarre ein neues Musikgenre, das Madrigal genannt wird – höchstwahrscheinlich abgeleitet von matricalis (muttersprachlich); im Titel des Drucks von 1530 erscheint erstmals 17.15h Einführung der Begriff Madrigal. Anders als die stets lateinische Motette ist das Madrigal immer 18.00h Madrigale I (Seite 14) italienisch. kürzer oder länger oder für immer sesshaft Verdelot, Festa, Arcadelt, Willaert, de Rore, Luzzaschi … und so zu Mitbegründern einer genuin ita- Die Anfänge des Madrigals stehen in lienischen Musik. 18.45h Kleiner Apéro Zusammenhang mit einem «Revival» der Gedichte von Francesco Petrarca. Der Und das Madrigal hat Erfolg: Von Florenz 19.30h Madrigale II (Seite 16) Dichter lebte von 1304 bis 1374, wird nun gelangt es nach Rom, dann nach Ferrara, Casulana, de Wert, Marenzio, Banchieri, Schütz, Caccini … aber vom Publikum wieder gelesen, von Mantua und Venedig. Der aufblühende Dichtern nachgeahmt und von Kompo- Buchdruck fördert das neue Genre ebenso 20.30h Madrigale III (Seite 19) nisten vertont. Die Madrigalisten wollen wie er umgekehrt von ihm profitiert: Il primo Monteverdi, Gesualdo, d’India, Rossi, Strozzi … nicht zuletzt eine Musik schreiben, die der libro di madrigali von Jacques Arcadelt wird hohen Sprachkunst Petrarcas und dann in den nächsten rund 120 Jahren die sagen- auch anderer Dichter gleichkommt, sowohl hafte Zahl von 58 Neuauflagen erleben. in der formalen Gestaltung als auch in der Die Drucke erscheinen meist in Venedig; Ausdruckskraft. Die Mittel dazu finden die Drucker der «ersten Stunde» ist Ottaviano Komponisten – etwas überraschend – in (dei) Petrucci, ihm folgen die Brüder Scotto der mehrstimmig durchgestalteten Musik- und Antonio Gardano, die Madrigalbücher sprache der Motette. «en masse» auf den Markt werfen und damit offensichtlich einer grossen Nachfrage Unter den ersten Madrigalkomponisten nachkommen. finden sich – wiederum etwas erstaunlich – mehrere franko-flämische «Oltramontani», Komponisten aus dem Gebiet des heutigen Nordfrankreich und Belgien. Sie sind damals in Italien gefragt; manche werden dort 12 Madrigal-Metamorphosen 13
Madrigale I Das Genre des Madrigals wird in seinen gale auf Gedichte Petrarcas und zur Hälfte Anfängen vor allem von drei Komponisten Motetten enthält. Entsprechend Petrarcas geprägt: Philippe Verdelot, Costanzo Thema – die Liebe zur fernen Laura und die Philippe Verdelot Con l’angelico riso Festa und Jacques Arcadelt. Der Franzose «Trauerarbeit» nach ihrem Tod – ist auch (1480/85 –1527/30) Il primo libro de madrigali, Venedig 1533 Verdelot und der Flame Arcadelt leben und die Tonlage der Musik durchwegs ernst und arbeiten beide längere Zeit in Florenz; dort würdevoll, und wie Petrarcas Sprache auch Costanzo Festa Madonna, io mi consumo mag Verdelot auch gestorben sein. Arcadelt ebenso klangvoll. (1480/90 –1545) Delli madrigali a tre voci, Venedig 1537 trifft bei einem Aufenthalt in Rom Costanzo Festa und geht später nach Frankreich. Hier knüpft auch Willaerts Schüler mit Jacques Arcadelt Il bianco e dolce cigno Das Madrigal entwickelt sich also auch dem italianisierten Namen Cipriano de (1507 –1568) Madrigali a 4 voci, Primo libro, Venedig 1539 aufgrund persönlicher Kontakte der drei Rore an. Auch er ist Niederländer, haupt- Komponisten. Vielleicht auch deshalb sind sächlich in Ferrara tätig und kurz Willaerts Adrian Willaert L’aura mia sacra sich ihre Vertonungen relativ ähnlich: Meist Nachfolger an San Marco. In seinen späteren (ca. 1490 –1562) F. Petrarca: Canzoniere Nr. 356 vierstimmig, eher einfach und schlicht Madrigalen entwickelt de Rore dann eine Musica nova, Venedig 1559 haben sie weder die polyphone Textur ausdrucksstark-rhetorische Musiksprache, noch die expressive Sprache des späteren die im Dienst der Textausdeutung steht und *** Madrigals. Aber mit Il bianco e dolce cigno ihn zum Vorbild der folgenden Generation gelingt Arcadelt ein Werk, das für das Publi- macht. Monteverdi wird Willaerts Komposi- Giovanni Paladino Ancor che col partire kum die erwünschte dolcezza (Süsse) und tionsweise prima prattica, diejenige de Rores (†1565) sopra Cipriano de Rore suavità (Sanftheit) aufweist und für spätere seconda prattica nennen. So setzt de Rore in Livre de tablature de luth, Lyon 1560 Komponisten manches vorformuliert: Das seinem vierstimmige Madrigal Mia benigna Gedicht handelt einerseits vom Schwan, der fortuna Mittel ein, die eigentlich verboten Alessandro Striggio Quasi improvisa, desiat’e chiara traurigerweise erst singt, wenn er stirbt – waren: bei odiar vita unaufgelöste Dissonan- (1536/37 –1592) Il primo libro delli Madrigali a sei voci, Venedig 1566 ein Topos vieler späterer Madrigale –, und zen, bei crudele acerba den Intervallsprung andererseits vom Liebhaber, der an der einer grossen Sexte – beides verpönte Mittel, Luzzasco Luzzaschi Occhi che sia di voi Brust seiner Geliebten glücklich tausendmal die aber im Dienst einer plastischen Aus- (ca. 1545 –1607) Secondo Libro de Madrigali a cinque voci, Venedig 1576 (im Orgasmus) «stirbt». Die Doppelbedeu- sage mit musikalischen Mitteln stehen. Und tung von morire wird für das Madrigal ein wie vor ihm Arcadelt schafft de Rore einen *** charakteristischer Topos werden. «Evergreen»: Sein Madrigal Ancor che col partire wird Vorlage für zahlreiche instru- Cipriano de Rore Mia benigna fortuna Zwei weitere Madrigal-Komponisten sind mentale Bearbeitungen. (1515/16 –1565) F. Petrarca: Canzoniere Nr. 332 ebenfalls «Oltramontani» von jenseits der Secondo Libro de Madregali, Venedig 1544 Alpen: Adrian Willaert stammt aus Brügge In Rom, wo der Geist der Gegenreforma- und kommt zuerst an den Hof von Ferrara. tion herrscht, sind die Madrigale mit ihren Girolamo dalla Casa Ancor che col partire Dann wird er für mehr als drei Jahrzehnte amourösen Texten natürlich nicht beson- (†1601) sopra Cipriano de Rore Kapellmeister an San Marco in Venedig. ders erwünscht. Zumindest nicht von Kom- Il vero modo di diminuir, Libro secondo, Venedig 1584 Unter seiner Leitung erlangt die dortige ponisten, die am päpstlichen Hof arbeiten Kirchenmusik, vor allem der Vespergot- wollen, wie etwa Giovanni Pierluigi da Giovanni Pierluigi Vergine bella tesdienst, europaweiten Ruhm. Willaert Palestrina. Doch Palestrina, der sich auch da Palestrina F. Petrarca: Canzoniere Nr. 366 führt das Madrigal weg von der liedhaften in dieser – oft lukrativen – Kunst betätigen (1525 –1594) Il primo libro de madrigali spirituali a cinque voci, Rom 1581 Einfachheit und hin zum anspruchsvollen will, findet einen Ausweg: das Madrigale Kunstwerk: Er vertont mit Vorliebe die spirituale, ein Madrigal mit religiösem Inhalt. kunstvollen Gedichte, meist Sonette, aus Auch dazu bieten sich manche Texte von Petrarcas Canzoniere in einer ebenso kunst- Petrarca an. So beginnt Palestrinas erstes vollen, kontrapunktischen und meist fünf- Madrigalbuch mit dem Zyklus Vergine bella stimmig-dichten Musiksprache, die sich an auf Gedichte Petrarcas zum Lob der jung- der durchkomponierten Motette orientiert. fräulichen Gottesmutter Maria. Gewidmet So ist es kein Zufall, dass Willaerts Publika- wurde das Madrigalbuch allerdings einem tion Musica nova von 1559 zur Hälfte Madri- leiblichen Sohn von Papst Gregor XIII. 14 Madrigale I 15
Madrigale II Maddalena Casulana ist die erste 1580er und 90er Jahren eine wahre Flut von europäische Komponistin, die ihre Werke amourösen Madrigalen: neun Bücher mit drucken und veröffentlichen lässt. Geboren fünfstimmigen, sechs Bücher mit sechsstim- Maddalena Casulana Cinta di fior’ un giorno vermutlich in Casole d’Elsa bei Siena (daher migen Madrigalen u.a.m. – und dies mit der (ca. 1544 – ca. 1590) Secondo libro de Madrigali à 4, Venedig 1570 der Name Casulana), erhält sie ihre musika- gleichen Selbstverständlichkeit, wie Franz lische Ausbildung in Florenz, wo 1568 auch Schubert seine zahlreichen Lieder hervor- Orlando di Lasso Per pianto la mia carne ihr erstes Madrigalbuch, Il primo libro di bringt. Marenzio wird denn auch manchmal (1532 – 1594) Il primo libro, Antwerpen 1583 madrigali, erscheint. Im gleichen Jahr lässt als «Schubert des Madrigals» bezeichnet: Orlando di Lasso eines ihrer Werke am Natürlichkeit und Eleganz von Melodie und Giaches de Wert Di morte già sentía bayerischen Hof in München aufführen – Rhythmus verbinden sich mit einer sorgfäl- (1535 – 1596) Il Nono Libro de Madrigali à 5 et 6, Venedig 1588 sicher ein Zeichen der Wertschätzung. Im tigen musikalischen Ausdeutung des Textes. Laufe der Jahre veröffentlicht sie weitere Wie dann auch eine ganze Reihe seiner *** Madrigalbücher (alle in Venedig), heiratet Kollegen vertont Marenzio gern Madrigale einen (nicht weiter bekannten) Mann und Textpassagen aus einem neuen und Luca Marenzio Dura legge d’Amor namens Mezari und unternimmt – berühmt neuartigen Hirtendrama, Il pastor fido von (1553/54 – 1599) Madrigali a cinque voci, Libro IX, Venedig 1599 als Sängerin, Lautenvirtuosin und Kompo- Giovanni Battista Guarini. So hören wir, nistin – Reisen nach Verona, Mailand, nicht überraschend, immer wieder, wie gern Adriano Banchieri Madrigale a un dolce usignolo Florenz, vermutlich auch nach Venedig Tirsi morir volea (sterben wollte) … In den (1568 – 1634) Festino nella sera del giovedì grasso, Venedig 1608 und an den französischen Hof. Eine engere späteren Madrigalbüchern verdunkelt sich Beziehung muss sie zu Isabella de’ Medici Marenzios Musik allerdings und spricht, *** gehabt haben. In einer Widmung an diese ganz ähnlich wie Schuberts Liedkunst, schreibt Maddalena Casulana: Ich möchte der häufig in «schaurigen» Tönen. Vielleicht ist Heinrich Schütz Vasto mar [Dialogo] à otto Welt, so gut ich es im Beruf der Musik vermag, es kein Zufall, dass sich diese Entwicklung (1585 – 1672) Il primo libro de madrigali, Venedig 1611 den eitlen Irrtum der Männer aufzeigen, dass nach jenem einzelnen Buch mit Madrigali sie allein die Gaben des Intellekts und der spirituali anbahnt … Guglielmo Barroso Toccata d-Moll Kunstfertigkeit besitzen und diese den Frauen (*1986) nie zuteil werden. Neue Entwicklungen hin zu neuen Tönen und Formen erfährt das Madrigal an den Francesca Caccini La Lucrezia: Io mi distruggo Orlando di Lasso (Roland de Lassus, beiden politisch zwar bedeutungslosen, (1587 – ca. 1641) Il primo libro delle musiche, Florenz 1618 geboren im heutigen Belgien) hatte seine musikalisch aber führenden Fürstenhöfen Kenntnisse der aktuellen italienischen von Mantua und Ferrara. Am Hof der Gon- Musik aus erster Hand: In jungen Jahren zagas in Mantua ist Giaches de Wert Kapell- kommt er im Gefolge des Condottiere meister – nochmals ein Niederländer mit Ferrante Gonzaga nach Italien, wo seine dem ursprünglichen Vornamen Jacques –, ersten Madrigale entstehen. In Rom wird er und unter ihm spielt ein junger Musiker und 1553 mit gerade mal 21 Jahren Kapellmeister Komponist namens Claudio Monteverdi. an der Lateran-Kirche, gibt die Stelle aber Am Hof der d’Este in Ferrara war schon schon nach zwei Jahren wieder auf und lässt Cipriano de Rore tätig gewesen und hatte sich schliesslich dauerhaft am bayerischen dort Luzzasco Luzzaschi ausgebildet, der Hof anstellen. sein ganzes Leben – als Sänger, Organist und Komponist – am Hof der d’Este verbringen Wie Palestrina veröffentlicht auch ein sollte. Ferrara macht nun mit einer musika- anderer römischer Komponist, Luca lischen Sensation von sich reden: Der Fürst Marenzio, einen Band mit Madrigali spiri- unterhält ein Concerto delle Donne, ein Trio tuali. Doch ist dieses Genre für den Kompo- (und zeitweise Quartett) von hochvirtuosen nisten – lebenslang fast ausschliesslich in Sängerinnen. Ausdrücklich für sie kompo- Rom und dort im Haus eines Kardinals aus niert Luzzaschi sein Madrigalbuch von 1601, der Familie der d’Este tätig – nur ein Neben- Concerto delle Donne. Madrigali per cantare geleise. Aus seiner Feder strömt in den et sonare a 1, 2, 3 soprani. 16 Madrigale II 17
War das Madrigal soeben noch durchwegs Auch andernorts stand das klassische Madrigale III mehrstimmig und wohl meist rein vokal Madrigal in voller Blüte: So schrieb und gewesen, so gibt es nun also Madrigale für veröffentlichte Giaches de Wert im Laufe eine, zwei oder drei Stimmen mit Instru- von rund 50 Jahren – 30 davon am Hof von Claudio Monteverdi Vattene pur, crudel mentalbegleitung (per sonare). Mantua – ein gutes Dutzend Bücher mit (1567 – 1643) T. Tasso: Gerusalemme liberata meist fünfstimmigen Madrigalen. In ihnen Libro Terzo de Madrigali, Venedig 1592 Und andere Musikgattungen wollen wird die emotionale Sprache und die Bild- ebenfalls als «seriöse» Kunst gelten und haftigkeit des Madrigals zugespitzt und *** nicht mehr nur Gebrauchsmusik sein: 1602 sein Duktus dramatisiert: Mehrstimmige erscheint in Florenz eine Sammlung mit Passagen wechseln sich mit homophonem Angelo Bartolotti Ciaccona C-Dur dem emphatischen Titel Nuove musiche, Parlando ab; das fünfköpfige Ensemble wird (ca. 1615 – 1681/82) komponiert vom Sänger-Komponisten aufgespalten und hohe Stimmen werden Giulio Caccini, der zusammen mit Jacopo den tiefen gegenübergestellt; überraschende Carlo Gesualdo S’io non miro non moro Peri 1600 die erste erhaltene Oper Euridice harmonische Wendungen und virtuose (1566 – 1613) Madrigali a cinque voci, Libro V, Venedig 1614 geschrieben hatte. In den Nuove musiche Koloraturen beleuchten wichtige Textpassa- finden sich ebenfalls hochliterarische Texte, gen – eine Musik ganz im Dienst der Wort- Sigismondo d’India Voi ch’ascoltate etwa von Francesco Petrarca, doch Caccini ausdeutung. Auch greift de Wert neue Dich- (ca. 1582 – ca. 1629) F. Petrarca: Canzoniere Nr. 1 vertont sie nicht mehr-, sondern durchwegs tungen auf: Mehrmals vertont er Texte von Musiche – Libro terzo a una e due voci, Mailand 1618 einstimmig. Und man sollte diese einstim- Torquato Tasso, Dichter am Hof von Ferrara mige Musik (Monodie) auch nicht singen, und Autor des Epos Gerusalemme liberata. *** sondern recitar cantando, und zwar mit einer Portion von sprezzatura (Nonchalance). Und manchmal gestaltete sich auch Michelangelo Rossi Hor che la notte ogni color In diese Fussstapfen des Vaters tritt seine das Leben so extrem wie ein Madrigal: (1601/02 – 1656) Il Primo Libro de Madrigali a cinque voci, Rom ca. 1625/30 Tochter Francesca Caccini, bewunderte Bei einem längeren Aufenthalt in Ferrara und hochbezahlte Sängerin und Instru- verliebt sich de Wert, dessen Frau ihn mit Barbara Strozzi Consiglio amoroso: O soffrire, o fuggire mentalistin, aber auch Komponistin von La einem anderen Komponisten hinterging, in (1619 – 1677) L’Amante modesto liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina, der eine der Donne. Da die Liaison nicht standes- Il Primo Libro de Madrigali, Venedig 1644 ersten erhaltenen Oper einer Komponis- gemäss ist (die Dame stammt aus dem nie- tin. Leider gingen zahlreiche andere ihrer deren Adel), muss sie verheimlicht werden, Werke, auch mehrere Bühnenwerke, verlo- kommt aber dank Spionen und abgefange- ren. Erhalten blieb Il primo libro delle musiche nen Liebesbriefen dennoch ans Licht. Die a una e due voci – keine Madrigale im klassi- Sängerin wird vom Hof verbannt, und de schen Sinn, aber mit einer ähnlichen Aus- Wert fällt in Ungnade. Und obendrein lässt druckskraft. sich seine Frau in eine Konspiration verwi- ckeln und endet im Gefängnis …. In diese neue Entwicklung der Monodie hätte auch ein anderes Genre gut gepasst: Mittlerweile war das Madrigal nicht mehr die Madrigalkomödie. Sie erzählt – wie die nur eine italienische Angelegenheit: Wie Oper, aber ohne Inszenierung – eine zusam- andere Komponisten von jenseits der Alpen menhängende Geschichte. Doch obwohl studierte auch Heinrich Schütz in Venedig ihr Meister, Adriano Banchieri, ein halbes und veröffentlichte 1611 dort als sein Opus 1 Dutzend Bücher mit leichtgewichtigen drei- einen Band mit fünfstimmigen italienischen stimmigen Canzonetten veröffentlicht, will er Madrigalen. Die meisten Texte stammen mit der Monodie von Giulio Caccini nichts von zwei berühmten Dichtern der Zeit, zu tun haben. Er verteidigt ausdrücklich das G. B. Guarini und G. B. Marino. Den Text des mehrstimmige Madrigal und schreibt sein letzten, achtstimmigen Madrigals Vasto mar, halbes Dutzend Madrigalkomödien – dar- ein Lob auf seinen Gönner, den Landgrafen unter Festino nella sera del giovedì grasso – Moritz von Hessen-Kassel, scheint aber durchwegs für fünfstimmiges Ensemble. Schütz selbst gedichtet zu haben. 18 Madrigale II 19
Auch der junge Claudio Monteverdi, seine musikalische Sprache hin zu einem Zu Rossis Zeit hatte das Madrigal seine len Karrierebeginn: Er verfasst selbst die Schüler und Nachfolger Giaches de Werts extremen Personalstil, der im Willen zur Hochblüte schon hinter sich; immer mehr Gedichte, die sie für ihre erste Publikation am Hof von Mantua greift zu Torquato Wortausdeutung erst knapp vor der totalen wandten sich die um 1600 geborenen Kom- vertonen soll; und der Band erscheint 1644 Tassos Gedichten: Aus einem Monolog Auflösung der Form und an der Grenze ponisten dem neuen barocken Stil, dem beim renommierten Drucker Alessandro der Armida, die sich von Rinaldo schnöde zur Atonalität Halt macht. Dies wohl unter Sologesang mit Basso continuo-Begleitung Vincenti, der auch die letzten Werke Monte- verlassen sieht, gestaltet er seinen drama- dem Einfluss von Luzzasco Luzzaschi; ihm zu – auch der schon betagte Maestro Mon- verdis herausgibt. tischen dreiteiligen Madrigalzyklus Vat- begegnet Gesualdo am Hof von Ferrara, wo teverdi sollte davon nicht ganz unberührt tene pur, crudel. Schon der ungewöhnliche er seine zweite Frau Eleonora d’Este findet. bleiben. Ein Komponist, der kein Problem Im Primo (libro) de Madrigali di Barbara Intervallsprung gleich zu Beginn auf dem Allerdings fällt es schwer, diesen extremen darin sah, mit je einem Fuss in einem dieser Strozzi sollen exemplarisch die verschiede- Wort crudel zeigt an, dass Monteverdi ein Stil mit seinen «gequälten» Windungen und beiden «Lager» zu stehen, war Sigismondo nen Ausdrucks- und Besetzungsmöglich- talentierter Schüler de Werts ist und dessen Wendungen nicht auch vor dem Hintergrund d’India. Der vermutlich in Sizilien geborene keiten des Madrigals erscheinen: moderne Mittel effektvoll einzusetzen weiss (siehe von Gesualdos eigenhändiger Ermordung (in Komponist wurde in Neapel ausgebildet und Sologesänge, Duette und die klassische unter Madrigale II). Allerdings zeigt sich den Augen der Zeit: ein Ehrenmord …) seiner war dort vielleicht «Mitschüler» von Gesu- Fünfstimmigkeit, bald heiter, amourös und auch ein Unterschied: Monteverdis Musik ersten Frau und ihres Liebhabers zu sehen. aldo. Danach war er hauptsächlich an den spielerisch, bald ernst, tragisch und philoso- gewinnt zunehmend eine eigene musika- Höfen von Turin und Modena, zwischen- phisch. In der Folge erscheinen acht weitere lische Gestalt und Plastizität über die reine Michelangelo Rossi, in Rom tätig, war durch auch in Rom tätig. Dieser etwas ruhe- Drucke mit solistischen Vokalwerken; diese Wort-Illustration hinaus. zu seiner Zeit ein hochgeschätzter Violin- lose Wechsel der Stellungen begann damit, gehen stilistisch den neuen Weg der Barock- virtuose und wurde Michelangelo del Violino dass der jahrelang am Hof des Herzogs von musik. Bemerkenswert wie die Entwicklung Etwas «im Abseits» komponieren zwei genannt. In einer eigenen Oper – mit einer Savoyen tätige d’India es anscheinend für ihrer Musik ist auch Barbara Strozzis wei- weitere Madrigalkomponisten: Carlo Gesu- Szenerie von Bernini – trat er denn auch nötig hielt, bei Nacht und Nebel aus Turin zu terer Lebensweg: Mit den besten Häusern aldo und Michelangelo Rossi. als Violine spielender Apollo auf. Heute ist fliehen, um einer drohenden gerichtlichen Venedigs in Kontakt, etabliert sie sich als Rossi jedoch vor allem wegen der kühnen Verfolgung zu entgehen … Kurtisane, bleibt unverheiratet, hat vier Der Aristokrat Carlo Gesualdo (Fürst Harmonik seiner Cembalomusik bekannt Kinder und verwaltet schliesslich ein statt- von Venosa bei Neapel) betreibt das Kom- – ein Stil, der sich bezeichnenderweise Ein ähnliches «Hin und Her» zeigt auch liches Vermögen. ponieren natürlich nicht beruflich, sondern über Rossis Lehrer Girolamo Frescobaldi d’Indias Werk: Während rund 20 Jahren als «Dilettante». Er ist jedoch ein professio- zu dessen Lehrer Luzzaschi zurückführen entstehen in regelmässigem Wechsel einer- nell ausgebildeter Komponist und widmet lässt. So gut wie unbekannt blieben jedoch seits Bücher mit durchwegs fünfstimmigen sich in seinen sechs Madrigalbüchern stets seine beiden unveröffentlichten Bücher mit Madrigalen und andererseits Bücher mit dem klassisch fünfstimmigen Madrigal. Madrigalen, deren Musiksprache genauso Musiche zu ein oder zwei Stimmen sowie mit Nach moderaten Anfängen entwickelt er expressiv ist wie die der Cembalowerke. Villanellen zu drei oder vier Stimmen. Und nicht nur sind die Musiche da cantar solo nel clavicordo, chitarrone, arpa doppia, auch das eine und andere Madrigalbuch ist con il suo basso continuato aufzuführen. Anders als d’India geht die Komponistin Barbara Strozzi in ihrem Werk sozusagen konsequent den Weg vom alten Madrigal der Renaissance zur neuen Gattung der Arie und Kantate des Barocks. Adoptiert vom Dichter und Literaten Giulio Strozzi (vermutlich ihr leiblicher Vater), geniesst sie eine hervorra- gende musikalische Ausbildung als Sänge- rin, Instrumentalistin und Komponistin. Im Haus des Vaters leitet sie die Treffen der Accademia degli Unisoni, eines Debattier- clubs, in dem die neusten kulturellen The- men und Strömungen diskutiert werden. Der Vater verhilft ihr auch zu einem optima- 20 Madrigale III Madrigale III 21
So 24.03. Chanson-Metamorphosen 16.00h Lavatersaal, vis-à-vis St. Peter Johannes Ockeghem D’ung aultre amer Präludium (ca. 1410 – 1497) Clare Wilkinson & Harfe Ovid-Metamorphosen Josquin Desprez (ca. 1440 oder Missa D’ung aultre amer: Kyrie Missa D’ung aultre amer: Gloria B. Britten: Six Metamorphoses after Ovid 1450/55 – 1521) De tous biens plaine Harfe Mille regretz Studierende der ZHdK Helen Charleston & Harfe Linda Alijaj Oboe Hitomi Inoue Oboe Missa D’ung aultre amer: Credo Morris Weckherlin Sprecher Ave Maria Missus est Gabriel archangelus Programm siehe Seite 10 Dulces exuviae Fortuna d’un gran tempo 17.00h Kirche St. Peter Harfe Absalon fili mi Chanson-Metamorphosen Victimae paschali laudes super D’ung aultre amer Josquin Desprez: — PAUSE — Missa D’ung aultre amer, Sanctus D’ung aultre amer Tu lumen, tu splendor patris Motetten & Chansons Ile fantazies de Joskin Harfe La Bernardina Alamire Adieu mes amours Helen Charlston, Martha McLorinan, Clare Wilkinson Superius Martha McLorinan & Harfe Ben Alden, Jeremy Budd, Ben Durrant, Nick Todd Contratenor Planxit autem David James Birchall, William Gaunt Bassus Cela sans plus Claire Piganiol Renaissance-Harfe Harfe David Skinner Leitung Missa D’ung aultre amer: Sanctus Missa D’ung aultre amer: Agnus Dei Tu solus qui facis mirabilia super D’ung aultre amer 22 23
Martin Luther: Josquin ist der noten In Kyrie, Sanctus und Agnus Dei der Josquin verwendete sowohl die Melodie verlassene Dido beklagt darin ihr trauriges meister. Die andern haben’s machen müssen, Missa verwendet Josquin die Melodie von als auch den Tenor von Ockeghems D’ung Schicksal. Planxit autem David ist eines von wie die noten wollten. Bei ihm mussten die D’ung aultre amer als Kopfmotiv in der aultre amer in zwei weiteren Werken. Das Josquins monumentalsten Werken im Stil noten, wie er wollte. Superius-Stimme, und in jedem Satz erklingt alleinstehende Sanctus D’ung aultre amer einer dramatischen Deklamation. Der Text einmal auch der Tenor aus Ockeghems wurde wiederum von Petrucci veröffentlicht stammt aus dem zweiten Buch Samuel Josquin Desprez (geb. um 1440 oder Chanson. Im Sanctus der Messe ersetzt (Fragmenta Missarum 1505). Dieses Datum (1:17–27) und besteht aus König Davids Klage 1450/55; gest. am 27. Aug. 1521) gilt heute Josquin das Benedictus durch den ersten und der verfeinerte Stil des Werks legen eine um Saul und Jonathan. weitherum als der grösste unter den Meis- Teil seiner Motette Tu solus qui facis mirabilia spätere Enstehung als die der Messe nahe. terkomponisten der Renaissance. Und wie – das Verfahren ist damals ein Merkmal der Besonders schön ist das Benedictus mit Josquins weltliche Musik steht in grossem die Aussage von Martin Luther zeigt, wurde Liturgie in Mailand, weshalb die Entstehung seiner nachhallenden statischen Harmonik Kontrast zu seiner geistlichen. Überliefert er schon von seinen Zeitgenossen hochge- der Messe manchmal mit Josquins Mai- bei qui venit in nomine Domini. In Petruccis sind 36 solcher weltlicher Werke, darunter schätzt. Er setzte den Standard im Umgang länder Aufenthalt in Verbindung gebracht Publikation folgt auf das Benedictus die fünf untextierte. Wir führen sie mit der mit den verschiedenen Techniken, die wird. Der Text endet so mit den Worten Rex Motette Tu lumen, tu splendor patris. Diese dafür sehr geeigneten Renaissance-Harfe von den meisten Komponisten seiner Zeit benigne – Gnädiger König; dadurch wird das hat keine Beziehung zu D’ung aultre amer; auf. Die rein instrumentalen Stücke Ile fan- verwendet wurden. Und er wurde zu einer Emporheben der Hostie an dieser Stelle die sehr bewegende und rein homophone tazies de Joskin und La Bernardina enthalten Legende, zu einer Ikone der Musik, dessen der Liturgie (Elevatio) auch musikalisch als Vertonung einer Strophe aus der Hymne keinen Bezug zu älterer Musik; sie gehören Kunst sowohl Musiker wie Wissenschaftler Höhepunkt der Messliturgie gekennzeich- Jesu salvator saeculi war höchstwahrschein- also zu den ersten Beispielen von frei kom- auch in späteren Jahrhunderten faszinierte. net. lich ebenfalls als Elevationsmotette anstelle ponierten Instrumental-Werken – was ja erst Nicht ganz zufällig ist er der einzige Renais- des Benedictus gedacht. in späteren Generationen Standard wurde. sance-Komponist, der durchwegs mit dem Die zweiteilige Motette Tu solus qui facis Von den textierten Werken sind zwei Stücke Vornamen und nicht mit dem Nachnamen mirabilia erschien erstmals in einem Druck Ein weiteres Werk in Josquins D’ung zu hören, die Josquins unterschiedliche genannt wird. von Ottaviano Petrucci (Motetti, Venedig aultre amer-”Zyklus” ist Victimae paschali stilistische Ansätze im Genre der Chanson 1503). Josquin war denn auch einer der laudes, von Petrucci in Motetti A (1502) ver- repräsentieren: Mille regretz, eine seiner Das heutige Konzertprogramm kreist um ersten Komponisten, die vom Musikdruck öffentlicht. Dieses gilt als eine von Josquins schönsten Vertonungen, ist ein spätes Werk einige von Josquins frühesten Werke und vor profitieren konnten: Petruccis Band Missae frühesten Motetten, obwohl sie innerhalb und frei komponiert – eine in ihrer Zeit allem um die Faszination, die das Chanson- Josquin (1502) enthält als erster Druck der dieser Gruppe die stilistisch ausgereifteste “romantische” Chanson. Adieu mes amours Rondeau D’ung aultre amer seines Lehrers Musikgeschichte nur Werke eines einzelnen ist. Ockeghems Tenor findet sich nirgends, ist dagegen ein sehr spätes Rondeau mit Johannes Ockegem (ca. 1410–1497) auf ihn Komponisten. obwohl die Melodie in der Superius-Stimme sowohl erotischen wie satirisch-bitteren ausübte. Eingeschlossen sind auch einige vollständig zitiert wird. Im zweiten Teil Untertönen. seiner populärsten Motetten und Chansons. Der zweite Teil der Motette unterschei- zitiert Josquin dann noch eine weitere det sich vom ersten stark, und es könnte damals berühmte Chanson, De tous biens David Skinner Im Zentrum steht Josquins kürzeste und durchaus sein, dass Josquin diesen Teil plaine von Hayne van Ghizeghem (ca. 1445– Sidney Sussex College, Cambridge möglicherweise früheste Messkomposition, überhaupt erst für die Veröffentlichung im ca. 1495). die Missa D’ung aultre amer, die auf Ockeg- Druck komponierte. Im zweiten Teil erklingt hems gleichnamigem Chanson-Rondeau für in der Superius-Stimme zweimal nicht nur Von den anderen Motetten in diesem drei Stimmen basiert. die Melodie, sondern fragmentarisch auch Konzert verdienen drei speziell Erwähnung: der Textanfang von Ockeghems Chanson Ave Maria gilt ebenfalls als frühes Werk im Der unprätentiöse Stil der Missa ist D’ung aultre amer. Dessen Titelzeile ist ein Mailänder Stil. Es datiert wahrscheinlich aus typisch für die kürzeren Messkompositi- Wortspiel mit aimer / amour (Liebe/n) und den mittleren 1470er Jahren, erscheint aber onen der Zeit, und der simultane Vortrag amer (bitter): D’ung aultre amer mon coeur manchem zeitgenössischen Werk älterer von Textabschnitten im Gloria und Credo s’abesseroit – Mit einer anderen (bitteren) und etablierterer Komponisten überlegen. erinnert an ältere Verfahren. Diese beiden Liebe würde mein Herz sich entehren. In So schrieb der Schweizer Musiktheoreti- Sätze bilden ausserdem auch ein Paar: Sie Josquins Motette Tu solus qui facis mirabi- ker Heinrich Glarean (1488–1563) sehr viel * Tenor meint in der Musik dieser Zeit die beginnen auf die gleiche Weise und mit lia erklingt der Anfang des französischen später darüber, dass die Motette höher zu Hauptstimme einer Komposition; in ihr homophoner Deklamation des Textes. Im Textes – recht überraschend – inmitten des schätzen sei als zahlreiche der neuen Lieder, findet sich der cantus firmus, das vorge- Credo erklingt dann aber an zwei Stellen sonst durchwegs lateinischen Textes: D’ung die heute täglich erscheinen. – Im Gegensatz gebene “Gerüst”, um das herum sich das der Tenor* aus Ockeghems Chanson, was aultre amer nobis esset fallacia – Eine andere dazu sind Dulces exuviae und Planxit autem polyphone Geflecht der anderen Stim- dem langen Text eine zweiteilige Struktur Liebe (als die zu Gott) wäre eine Täuschung. David reife Werke. Dulces exuviae ist eine der men windet. Über dem Tenor liegt der verleiht. ersten Vergil-Vertonungen: Die von Aeneas Superius, die höchste Stimme (Sopran). 24 Chanson-Metamorphosen Chanson-Metamorphosen 25
Fr 29.03. Griechenland-Metamorphosen 19.30h Kirche St. Peter CHORÓS / ΧΟΡÓΣ Griechenland-Metamorphosen unbekannter Dichter akoúsate Laios, das Orakel von Delphi CHORÓS / ΧΟΡÓΣ unbekannter Dichter aínigma, das Rätsel der Sphinx oder Sophokles (ca. 497 – 406 v. Chr.) Oidípous Týrannos (ca. 425 v. Chr.) — Parodos / Einzug (Verse 151-215) Oidípous Týrannos / Οιδίπους Τύραννος Der Chor ruft verschiedene Gottheiten an. — Stasimon α (Verse 463-511) von Sophokles Der Chor zeigt sich sehr bewegt und durch die Prophezeiungen von Teiresias äusserst verwirrt. Man traut Ödipus, der doch einst Theben vor der Sphinx gerettet hat und selbst als Weiser gilt, eine verbrecherische Tat einfach nicht zu. Er soll erst gerichtet werden, Melpomen wenn es unumstössliche Beweise gegen ihn gibt. Arianna Savall Gesang, Barbitos und Lyra aínigma, das Rätsel der Sphinx (Wiederholung) Giovanni Cantarini Gesang, Kithara, Rhombos — Stasimon β (Verse 863-910) Martin Lorenz Seistron, Tympanon, Kymbala, Krotala, Rhombos Der Chor formuliert einige religiöse und moralische Grundwahrheiten. Conrad Steinmann Aulos, Kymbala, Rhombos, Musik und Leitung Dann kündigt er an, sich nie mehr auf irgendein Götterwort verlassen zu wollen, wenn sich Apollos Orakel nicht auch jetzt als richtig erweise. Mädchenchor / Frauenchor — Exodos / Schlusschor (Verse 1186-1222) Der Chor räsoniert über die Unbeständigkeit des Glücks und dass Alice Borciani, Lina Lopez, Hanna Marti, Tessa Roos alle mit Rhomboi man den Tag nicht vor dem Abend loben soll. Er wendet sich voll Grausen von Ödipus ab. Männerchor *** Giovanni Cantarini, Raitis Grigalis, Daniel Issa, Andreas Schmidt alle mit Rhomboi naí (instr.) Alkman (7. Jh. v. Chr.) Sparta — PAUSE — Archilochos ékleipsis (7. Jh. v. Chr.) Sappho Sappho β (ca. 630 – 580 v. Chr.) Sappho Eléna makróteros (instr.) aléxis β (textloses Chorstück) diálogos (instr.) Sappho máter α Sappho máter β (Version mit Mädchenchor) kýmbala (instr.) Sappho móna β (Version mit Mädchenchor) móna α Anakreon gaía (ca. 570–495 v. Chr.) 26 27
Allenfalls gewähren einige zu unbekann- idiomatischen Spielweise führten. Über- Altgriechische tem Zweck notierte Fragmente aus der prüfen liessen sich die Resultate schliess- CHORÓS / ΧΟΡÓΣ Spätantike – ab dem 3. Jh. v. Chr. bis ins 5. lich am Instrumentarium von heute noch Musik nachchristliche Jahrhundert – Einblick in lebendigen, weit zurückreichenden Musik- eine vergleichsweise konkrete Musikwelt, traditionen mit ihren nur wenig veränder- Zwiegespräche und von der aber nicht bekannt ist, ob sie in ten Instrumenten. Genannt seien nur der Gedanken zu einem irgendeiner Weise die klassische oder gar doppelt geblasene Arghoul aus Ägypten, das Wechselgesänge mit Musik zu Oidípous die frühere archaische Epoche widerspie- sardische Blasinstrument Launeddas oder neuen Ansatz alt- gelt. Ganz im Gegensatz zu den fehlenden auch die der Begleitung dienenden Saiten- griechischer Musik Zeugnissen erklingender Musik ist aber eine umfangreiche antike Literatur zur Musik- instrumente wie der äthiopische Khrar und die ägyptische Tambura, die uns in ihrer Týrannos von Conrad Steinmann theorie überliefert, die bis weit ins Mittelal- ter ihre Wirkung entfalten konnte. Bis heute Verwurzelung in Jahrtausende alter Spiel- praxis vielerlei Anregungen instrumentaler Sophokles und zu Manche werden sich, nicht zu Unrecht, glaubt man, dass von ihr auch Erkenntnisse zur Musikpraxis abzuleiten seien. Weil Spieltechnik boten. Chor-Lyrik von zunächst die Augen reiben, wenn sie von einem Konzert mit Musik aus der vor- aber weitere Hilfsmittel fehlten, blieb ein unüberbrückbarer und frustrierender Gra- Eine weitere wichtige Quelle der Erkenntnis, wie denn Musik der griechi- Archilochos, Alkman klassischen und klassischen griechischen Antike lesen. Ist diese Musik nicht für alle ben zum Klang, zu den Tönen, ja zur gesam- ten Musik des griechischen Altertums. schen Antike geklungen haben mag, sind die Eigenheiten der griechischen Sprache, und Sappho Ewigkeiten verschwunden, im Gegensatz die Rückschlüsse auf die Ausformung der zu bildender Kunst und Architektur, im Die für CHORÓS / ΧΟΡÓΣ entstandene Musik zulassen. Das Altgriechische ist Das Projekt CHORÓS / ΧΟΡÓΣ geht Gegensatz auch zu den grossartigen litera- Musik zu Texten vom 7. bis 5. Jh. v. Chr. hat zum einen einer rhythmischen Ordnung hauptsächlich der Wiederbelebung von dra- rischen Zeugnissen griechischen Denkens? aus den genannten Gründen einen ande- unterworfen, die Länge und Kürze der matischen Chören der griechischen Klassik Möglicherweise ist es den einen oder ren Zugang zur antiken Klangwelt: Ganz Silben regelt. Zum andern vermitteln die nach, insbesondere des Ödipus-Dramas von andern bewusst, dass heutzutage die grie- wesentlich bilden die hier verwendeten griechischen Akzente – Akutus, Gravis und Sophokles. Die neu erarbeitete Version in chischen Dramen mit der Beschränkung – von Paul J. Reichlin rekonstruierten – Circumflex – weniger Betonungen als viel- altgriechischer Sprache schliesst in gewis- auf eine Wiedergabe des Textes nur unvoll- Instrumente die Grundlage der gespielten mehr Hinweise auf Führung und Färbung ser Weise an die Aufführung vom 3. März ständig zur Aufführung gelangen; mög- Musik. Diese sind die Frucht einer über der Melodie. Diese Elemente mussten also 1585 an, als zur Eröffnung des Teatro Olim- licherweise ist es uns auch bewusst, dass 20-jährigen intensiven Zusammenarbeit bei unserem Vorgehen in Einklang gebracht pico von Andrea Palladio in Vicenza die- die «Lyrik» ihre Bezeichnung von der lyra eines Instrumentenbauers mit einem werden mit der Tonordnung der jeweils selben Chöre von Andrea Gabrieli vertont bekam, einem Zupfinstrument zur Beglei- musikarchäologisch geschulten Musiker. verwendeten Instrumente. Auf diese Weise und aufgeführt wurden. Während Gabrieli tung von gesungenen Gedichten. Mit Leich- Sie entstand aus dem unvoreingenomme- konnte – so ist zu hoffen – ein Maximum an aber die Chorpartien auf Italienisch kom- tigkeit liessen sich zahlreiche andere antike nen Studium aller möglichen Primärquel- Zufälligkeiten und Beliebigkeiten beim Neu- ponierte, folgt die nun erstmals erklingende Situationen ausdenken, wo «Musik» – die len. Dazu zählen das minutiöse Ausmessen finden der Musik ausgeschlossen werden. Musik anderen Voraussetzungen: Sie ist, Kunst der Musen insgesamt – ein wichtiger vorhandener Instrumententeile in unter- Um keine Missverständnisse aufkommen zu wie eingangs geschildert, auf der Grundlage Bestandteil menschlicher Manifestation schiedlichen Museen, das Sichten, intensive lassen: Die schliesslich erklingende Musik der Rhythmik des originalen Altgriechisch, war, sei es bei Kulthandlungen oder auch Diskutieren und Interpretieren unzähliger ist neu imaginiert, doch sind ihre Elemente dessen Abfolge von Sprachakzenten und bei sportlichen und anderen gesellschaftli- Vasenbilder und Reliefs aus der Zeit von so nahe wie nur irgend möglich an den auf der Basis der minutiös nachgebauten chen Anlässen. Eine Vielzahl von Vasen- 700 bis 500 v. Chr., sowie das Auswerten der historischen Gegebenheiten orientiert. Instrumente von Conrad Steinmann neu abbildungen zeugt davon. verfügbaren literarischen Dokumente. Die imaginiert. Sie folgt auch bereits mehrfach Herstellung der Instrumente erfolgte mit gemachten Erfahrungen früherer Projekte Indes ist man so sehr an die Abwesenheit dem Einsatz grösster handwerklicher Sorg- des Ensembles Melpomen wie Olympio- jeglichen Klanges der griechischen Antike falt, Akribie, Ausdauer und auch mit frucht- nikais (Pindars Olympische Oden) zur gewöhnt, dass nur schon die Vorstellung baren Zweifeln. Die Instrumente mussten, Schlussfeier der Olympischen Spiele in davon eine gewisse Verunsicherung her- wie alle heute gebräuchlichen auch, einer Athen oder Sappho und Melpomen, Musik vorrufen mag. Das sang- und klanglose inneren Logik folgen, die ihre Bauart und zu einem Athener Symposion, die beide auf kulturelle Panorama ist entstanden, weil Einrichtung zwingend ergab. Das bedeutet, CD erschienen sind. aus jener Zeit der klassischen griechischen dass im besten Fall alle Einzelheiten eines Antike keine notierte Musik überliefert ist. Instrumentes beinahe von selbst zu einer 28 Griechenland-Metamorphosen Griechenland-Metamorphosen 29
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