Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte
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Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V. – KZ-Gedenkstätte – Mitteilungen Heft 72 / Juni 2020 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz Sonderausstellung „Nebenan“ Historische Hintergründe Aus der DZOK-Arbeit Mitgliederversammlung des Vereins · Fr., 17. Juli 2020 · 17 Uhr in der vh Ulm
Vorwort Einladung zur Jahres-Hauptversammlung des Vereins Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Liebe Leserinnen und Leser, Berichte und Diskussion wir möchten Sie auch und gerade in Corona-Zeiten mit Freitag, 17. Juli 2020, 17 Uhr diesen Mitteilungen über unsere laufende Arbeit infor- Volkshochschule Ulm, EinsteinHaus am Kornhausplatz, Club Orange mieren, historische Hintergründe vorstellen und zur erin- nerungskulturellen Diskussion einladen. Wir freuen uns, Wir bitten coronabedingt um Anmeldung Sie mit diesem Heft – nach all den Einschränkungen der unter info@dzok-ulm.de oder 0731-21312! vergangenen Monate – wie üblich zu erreichen. Das hat uns bei der Arbeit beflügelt. Im Mittelpunkt dieser Mitteilungen steht die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 75 Jahren. Wir fragen nach den historischen Verbindungslinien zwischen Inhalt Ulm und Auschwitz und schauen auf die heutige Wahr- nehmung eines Orts, der wie kein zweiter zur Chiffre für Vorwort 2 den Holocaust wurde. Ich führe in die Entwicklung des Was in Ulm am Oberen Kuhberg begann … 3 KZ-Systems vom Oberen Kuhberg nach Auschwitz ein. Mein Ulmer Historikerkollege Ingo Bergmann schreibt Ulmer Biografien und Auschwitz 6 zum Thema „Ermordet – Gerettet – Befreit: Ulmer Bio- grafien und Auschwitz“. Annette Lein skizziert die Inhalte Sonderausstellung „Nebenan“ 8 der für Ulm digitalisierten Wanderausstellung „Nebenan. Digitales Begleitprogramm 9 Die Nachbarschaften der Lager Auschwitz I-III“ sowie der ebenfalls digitalisierten Begleitveranstaltungen dazu. 75 Jahre Befreiung in Ulm 10 Dieses Gesamtpaket bietet so unterschiedliche wie span- nende Annäherungen an das Schwerpunktthema. Online-Ausstellung „Erinnern in Ulm“ 11 Auch das Kriegsende in Ulm vor 75 Jahren findet in diesem Gedenkveranstaltung und Publikation Heft Platz: So beschreibt Josef Naßl mit Blick auf die aktu- „17. Dezember 1944. Die Zerstörung Ulms“ 12 elle Diskussion des Befreiungsbegriffs die Situation vor Ort. Karin Jasbar berichtet, wie die Stadt an den Luftkrieg Einweihung des Erinnerungszeichens 13 erinnert und Annette Lein lädt dazu ein, noch einmal die vor Begleitprogramm Erinnerungszeichen 15 fünf Jahren gezeigte und dann online gestellte DZOK-Aus- stellung „Erinnern in Ulm“ zu besuchen. Sie veranschau- Gedenkbuch „… aber ich hoffe, dass ich licht, wie in der lokalen Politik, Justiz und Gesellschaft von nicht verloren bin“ 17 1945 bis in die 2000er Jahre mit Schuld und Verantwortung für den Nationalsozialismus umgegangen wurde. Schulprojekt „LebensWert“ 17 Abschluss bibliothekspädagogisches Projekt 18 Und dann finden Sie im Heft – wie gewohnt – weitere Impressionen aus der Arbeit des DZOK: Zum Erinnerungs- Neues Bundesprojekt „language matters“ 19 zeichen und Gedenkbuch für die Opfer von NS-Zwangsste- rilisation und „Euthanasie“, zur pädagogischen Arbeit im Neue Social-Media-Kanäle des DZOK 20 Umgang mit menschenverachtender Sprache, zu unseren Jahrestag Stiftung Erinnerung Ulm 2020 21 neuen digitalen Angeboten, Berichte vom DZOK-Team und nicht zuletzt ein Interview mit Prof. Morsch sowie einen Erfahrungsbericht eines Guides 22 Nachruf auf Elisabeth Hartnagel von Silvester Lechner. Ich möchte mich an dieser Stelle besonders bei den Praktikumsbericht 24 ehren- und hauptamtlichen Redaktionskolleg*innen, Nachruf auf Elisabeth Hartnagel 25 unserem langjährigen Gestalter Rainer Ungermann und den Autor*innen bedanken. Alle haben trotz widriger Impressum 26 Arbeitsumstände für ein inhaltsreiches Heft gesorgt. Ein besonderer Gruß geht an Nathalie Geyer, bei der lange die Neues in Kürze 27 Fäden der Redaktion zusammenliefen und die sich beruf- Neue Bücher 30 lich verändert hat, sowie an Ángel Ruiz Kontara und Chri- stian Schulz, die neu dazugekommen sind. Veröffentlichungen des DZOK 34 Wenn Sie dieses Heft in den Händen halten, haben wir die DZOK-Programm Sommer/Herbst 35 KZ-Gedenkstätte wieder mit kleinen Angeboten geöffnet Fördernde dieser Nummer 36 und die ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen sind auch in der Büchsengasse wieder aktiv. Noch tasten wir uns vorwärts Beitrittserklärung 36 in eine neue Normalität – lassen Sie uns dies gemeinsam tun, z. B. bei der Mitgliederversammlung am 17. Juli, zu der ich Sie hiermit einlade. Titelbild: Haus und Garten von Emilia Kramarczyk in der Ortschaft Brzezinka Ich grüße Sie herzlich in unmittelbarer Nähe des Vernichtungslagers Birkenau. Brzezinka wurde im 1941 durch die deutschen Besatzer zwangsgeräumt und weitgehend abgetragen, um das Material zur Errichtung des Lagers zu verwenden. Nach Kriegsende kehrten die Bewohner zurück und bauten z.T. mit Material aus dem leerstehenden Lager. Emilias Familie baute auf den Ihre Nicola Wenge erhaltenen Fundamenten ihr Haus neu auf. Foto: die arge lola 2
75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz Was in Ulm am Oberen Kuhberg begann … Im allgemeinen Gedächtnis sind Politologen Ernst Fraenkel zu einer militärisch genutzt werden sollte. heutzutage die Begriffe „Konzen- Art „Verfassungsurkunde des Dritten Nach außen wurden das KZ Kuhberg trationslager“, „Auschwitz“ und Reiches“, die alle möglichen Macht- und die anderen frühen Lager propa- „Holocaust“ miteinander ver- missbräuche rechtfertigte, darunter gandistisch als „Besserungsanstalten schmolzen. Doch Auschwitz ist den Entzug der persönlichen Freiheit für irrgeleitete Volksgenossen“ dar- kein Synonym für die NS-Konzen- ohne richterliche Überprüfung oder gestellt, um ihre Existenz zu legiti- trationslager. Auschwitz war Teil Berufungsmöglichkeit. mieren und die Haftbedingungen zu eines Systems, das u. a. in Ulm am Bereits im März 1933 wurden die verharmlosen, vor allem gegenüber Oberen Kuhberg begann. Dieser ersten Konzentrationslager von SA, Kritik aus dem Ausland. Tatsächlich Artikel gibt Einblick in die Dynamik SS und staatlichen Stellen errichtet, jedoch gehörten Misshandlungen des Terrors und in die Entwicklung in denen die Opfer der außergesetz- und Folter zum Lageralltag. Gerade des zentralen NS-Unterdrückungs- lichen Verhaftungen untergebracht auch am Kuhberg, wo ca. 600 Häft- mechanismus. wurden. An diesen improvisierten linge v. a. aus der württember- Haftstätten außerhalb der Justiz gischen Arbeiterbewegung inhaftiert Nicola Wenge waren die Häftlinge ungehemmter waren. Das Ulmer Lager wurde nach Gewalt ausgeliefert: in leerste- 18-monatigem Bestehen im Juli 1935 Die Konzentrationslager stellten ein wesentliches Herrschaftsinstrument des nationalsozialistischen Regimes dar: Politische Oppositionelle sowie rassistisch und sozial Verfolgte konnten ohne Gerichtsurteil und auf unbestimmte Zeit in ein Konzen- trationslager eingewiesen werden. Die Konzentrationslager dienten unterschiedlichen, sich ständig ver- ändernden und überlagernden Zwe- cken. In den Vorkriegsjahren nutzte die SS die Lager als Abschreckungs- mittel, „Besserungsanstalten“ und Folterkammern, nur um im Krieg wei- tere Funktionen hinzuzufügen: Kon- zentrationslager wurden nun Orte der Kriegswirtschaft mit zahlreichen Außenlagern für KZ-Zwangsarbeiter, Hinrichtungsstätten und Menschen- versuchsanstalten. Die Lager wurden gerade durch ihre Vielgestaltigkeit im zeitlichen Wandel definiert. Die frühen Lager 1933-1935 Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde eine riesige Die durch deutsche Emigranten 1936 erstellte Karte von KZ, Zuchthäusern und Gefängnissen zeigt das Zahl von Oppositionellen verhaftet, flächendeckende Ausmaß der frühen Verfolgung in den Jahren 1933-1935. Quelle: Deutsches Historisches Museum Berlin allein im Jahr 1933 waren dies bis zu 200.000 Menschen. Fast alle waren deutsche Staatsangehörige, henden Kasernen wie am Truppen wieder aufgelöst, weil die Nationalso- die große Mehrheit von ihnen, vor übungsplatz Heuberg, in stillgelegten zialisten ihre Macht gefestigt hatten allem in den ersten Monaten der Fabriken wie in Dachau oder in ver- und die Umstrukturierung des KZ- NS-Herrschaft, Kommunisten. Die alteten Festungsgebäuden wie dem Lagersystems längst im Gange war. ganz überwiegende Zahl der poli- Fort Oberer Kuhberg. Etwa 80 dieser Die verbliebenen Häftlinge wurden tisch Verfolgten wurde in sogenannte frühen Konzentrationslager bildeten nach Dachau gebracht, das bei der „Schutzhaft“ genommen. Ein euphe- auf deutschem Boden ein Netz des Umstrukturierung der Lager eine mistischer Begriff für unbegrenzte Terrors, um Widerstand zu brechen wichtige Rolle spielen sollte. Inhaftierung, die sich lose auf die und die Bevölkerung einzuschüch- Verordnung des Reichspräsidenten tern. Die Konzentrationslager in der Vor- zum Schutz von Volk und Staat vom kriegszeit: Die Jahre 1935-1939 28.2.1933 stützte. Diese Verordnung, Auch das KZ Oberer Kuhberg war Schon im Sommer 1934 setzte eine von Hitlers Kabinett als Antwort ein Teil dieses Netzes. Es wurde im Systematisierung des KZ-Systems auf den Reichstagsbrand erlassen, November 1933 als staatliches Lager unter Reichshoheit ein. Im Kampf setzte elementare bürgerliche des Landes Württemberg einge- um die Herrschaft über die Lager Rechte außer Kraft. Sie wurde in den richtet. In Nachfolge des KZ Heuberg, setzte sich die SS gegenüber SA, Worten des emigrierten deutschen weil der Truppenübungsplatz wieder Landes- und Justizbehörden durch. DZOK-Mitteilungen Heft 72, 2020 3
Reichsführer SS Heinrich Himmler farbigen Stoffwinkeln markiert. Sie ersten acht Monaten des Jahres ernannte Theodor Eicke im Juli 1934 mussten um bessere Überlebensbe- 1943 starben rund 60.000 der rund zum „Inspekteur der Konzentrations- dingungen konkurrieren und wurden 220.000 Häftlinge an Auszehrung lager“, dem fortan alle großen Kon- einer brutalen Lagerhierarchie unter- und durch Seuchen. Im August 1944 zentrationslager unterstanden. Und worfen, die nach „rassischen“ und war die Zahl der registrierten KZ- Eicke, seit März 1933 Lagerleiter von anderen Kriterien der SS definiert Insassen trotzdem auf über 500.000 Dachau, begann mit ihrer systema- war. gestiegen, im Januar 1945 betrug sie tischen Vereinheitlichung nach dem Die steigenden Häftlingszahlen und über 700.000. Rund 90% von ihnen Vorbild Dachaus. Er stellte Bewa- die intensivierten Kriegsvorberei- waren keine Deutschen. Das darf chung und Betrieb unter die Herr- tungen führten ab 1936 auch zu trotz aller regionalen Verankerung der schaft der SS-„Totenkopfverbände“. räumlichen Veränderungen im KZ- Erinnerungskultur nicht vergessen Nach außen schottete er das KZ- System. Die bestehenden Lager werden. System gegenüber Justiz und Ver- wurden mit Ausnahme Dachaus waltung weiter ab. aufgelöst; neue, größere Lager nach Mit dem sprunghaften Anstieg der militärstrategischen und wirtschaft- Sklavenarbeit veränderte sich die Die Konzentrationslager wurden lichen Gesichtspunkten erbaut: Das Gestalt des Lagersystems noch ab Mitte der 1930er Jahre zuneh- KZ-System bildeten nun die sieben einmal dramatisch: Bis 1944 waren mend zu einem Instrument natio- Lager Sachsenhausen (1936) und 22 Konzentrationslager eingerichtet nalsozialistischer Rassenpolitik. Die Buchenwald (1937), die Steinbruch- worden, z. T. auch in den eroberten „Schutzhaftbestimmungen“ wurden lager Flossenbürg und Mauthausen Gebieten. Um sie legte sich ab dem schrittweise ausgedehnt, um neben (1938), das Frauenlager Ravensbrück Winter 1943/44 ein flächendeckendes politischen Gegnern auch soge- (1939), das KZ Neuengamme bei Netz aus über 1.200 Außen- und nannte „Feinde der Volksgemein- Hamburg (1939) und das vergrößerte Nebenlagern im besetzten Europa schaft“, „Sittlichkeits- und Gewohn- Lager Dachau. und im Deutschen Reich, vor allem heitsverbrecher“ und „Asoziale“ an kriegswichtigen Produktions- in die KZ sperren zu können. Einen Die Konzentrationslager im Krieg stätten. In Württemberg entstanden Höhepunkt dieser sozialrassistischen Der Zweite Weltkrieg hatte einmal einige Dutzend Außenlager der Kon- Verfolgung bildete 1938 die Aktion mehr dramatische Auswirkungen zentrationslager Natzweiler-Struthof, „Arbeitsscheu Reich“, bei der weit auf das KZ-System. Unmittelbar Dachau und Buchenwald. KZ-Häft- nach Kriegsbeginn erhöhte sich die linge wurden seit Herbst 1942 in Zahl der Lager und Häftlinge rapide. vielen deutschen Städten als Außen- Eine erste Verhaftungswelle im Sep- kommandos nach Luftangriffen ein- tember 1939 erfasste wieder die gesetzt, auch in Ulm. Dies geschah politischen Gegner, darunter viele unter den Augen einer Bevölkerung, ehemalige Kuhberghäftlinge. Bald die den entkräfteten Häftlingen nur in darauf wurden zehntausende Men- Ausnahmefällen half. schen aus den besetzten Gebieten, in der Regel politische Oppositio- Massentötungen in den KZ und die nelle und Juden aus Osteuropa, in Errichtung der Vernichtungslager ab die Konzentrationslager verschleppt, 1942 wo die Versorgungsbedingungen Parallel zur Ausweitung der Sklaven- schnell katastrophal waren. Unter arbeit wurden die Konzentrations- den Häftlingen bildeten nun die ost- lager noch stärker in den Dienst einer europäischen Lagerinsassen die radikalisierten Rassenpolitik gestellt, größte Gruppe. Sie wurden gemäß die im Vernichtungskrieg gegen die der NS-Rassenideologie als „slawi- Sowjetunion, in gezielten Tötungen an sche Untermenschen“ besonders kranken und behinderten Menschen schlecht behandelt. Insgesamt stieg sowie im systematischen Massen- die Sterblichkeitsrate in den Lagern mord an der jüdischen Bevölkerung stark an. Dabei hingen die Chancen, und den Sinti und Roma kulminierte. das KZ zu überleben, entscheidend von der Herkunft und rassistischen Die Konzentrationslager wurden nun Kennzeichen für verschiedene Häftlingsgruppen in den Konzentrationslagern. Kategorisierung der Inhaftierten ab. zu Hinrichtungsstätten für minde- Quelle: Arolsen Archives Schon vor der gezielten Ermordung stens 50.000 sowjetische Kriegsge- der Jüdinnen und Juden waren diese fangene, die als „politische Kommis- über 10.000 Menschen verhaftet neben den osteuropäischen Häft- sare“ aus der Gefangenschaft in die wurden, unter ihnen viele Roma und lingen besonders gefährdet. KZ überstellt worden waren, und sie Sinti. Immer mehr und neue Opfer- wurden zu Menschenexperimentier- gruppen wurden in den Terror einbe- 1942 wurden die Konzentrations- anstalten. In fast allen Lagern unter- zogen: dazu gehörten Homosexuelle, lager dem Wirtschaftsverwaltungs- zogen SS-Ärzte Gefangene, vor allem Zeugen Jehovas (Bibelforscher) und hauptamt der SS unterstellt. Sie Sinti und Roma, grausamen medizi- engagierte Mitglieder der christ- wurden so Teil eines gigantischen nischen Experimenten, denen eben- lichen Kirchen. Seit 1938 kamen Wirtschaftsunternehmens. Im falls tausende zum Opfer fielen. politische Gegner aus Österreich, Herbst 1942 fiel nach dem Über- dem Sudetengebiet und der Tsche- fall auf die Sowjetunion und dem Mit der Entscheidung für die Durch- choslowakei hinzu. Unmittelbar nach Scheitern der deutschen Blitzkriegs- führung des industriellen Massen- dem Novemberpogrom wurden über strategie die Entscheidung für die mords an „Juden“ und „Zigeunern“ 25.000 Juden in die KZ verschleppt, totale Ausbeutung der Häftlinge in wurde schließlich das letzte Kapitel um sie zur Emigration zu zwingen. der Rüstungsindustrie. Hunderttau- in der Entwicklung der nationalso- Die verschiedenen Häftlingsgruppen sende unterlagen dem Prinzip „Ver- zialistischen Lager aufgeschlagen. wurden von der SS im Lager mit nichtung durch Arbeit“. Allein in den Zwischen Dezember 1941 und Juli 4
1942 wurden in Polen und Weißruss zur Ausgrenzung und „Ausmerzung“ land Vernichtungslager wie Treb- der als „minderwertig“ angesehenen linka, Belzec, Sobibor oder Chelmno Gruppen, schließlich zur Umsetzung Literatur zum KZ-System errichtet. In ihnen wurden die Häft- der völkischen Neuordnung auf der Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hg.): Der linge nicht mehr „umerzogen“ oder Grundlage deutscher Vorherrschaft. Ort des Terrors. Geschichte der natio- wirtschaftlich ausgebeutet, son- Im Zweiten Weltkrieg überzog das nalsozialistischen Konzentrationslager, dern mit ausschließlich rassenbio- Lagersystem das gesamte besetzte 9 Bände, München 2005-2009. logischer Begründung als „Juden“ Europa, es hatte seine Anfänge aber oder „Zigeuner“ getötet. in Deutschland, auch in Ulm, und es Ulrich Herbert, Karin Orth, Christoph Die schon 1939/40 errichteten Kon- kehrte in den letzten Kriegsjahren Dieckmann (Hg.): Die nationalsozialis- zentrationslager Auschwitz und wieder hierher zurück. Nur wenige tischen Konzentrationslager. Entwicklung Lublin (Majdanek) wurden 1942 in Jahre waren vergangen, bevor aus und Struktur, Frankfurt am Main 2002. diesen systematischen Genozid den frühen KZ ein Lagersystem des einbezogen. Hier selektierte die SS Massen- und Völkermords wurde, in Stefan Hördler: Ordnung und Inferno – zwischen Arbeitsfähigen, die durch dem unvorstellbare Menschheitsver- Das KZ-System im letzten Kriegsjahr, Göt- Zwangsarbeit vernichtet werden brechen begangen wurden. tingen 2015. sollten, und den Übrigen, die sofort nach der Ankunft in den Gaskam- Das letzte Wort in diesem Text soll Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System mern ermordet wurden. Die beiden aber nicht dem nationalsozialistischen der deutschen Konzentrationslager, Mün- Lager wurden zu Zentren des millio- Terror gehören. Es soll den Opfern chen 2004. nenfachen Massenmordes. und den Überlebenden gelten. Ich Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten, dt. Übersetzung, München 1990. Geoffrey Megargee (Hg.): The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933-1945. Band 1: Early Camps, Youth Camps, Concentration Camps and Sub- camps under the SS-Business Admini- stration Main Office (WVHA), 2 Bde, Bloo- mington 2009. Karin Orth: Das System der nationalsozi- alistischen Konzentrationslager. Eine poli- tische Organisationsgeschichte, Hamburg 1999. Jörg Osterloh, Kim Wünschmann (Hg.): „… der schrankenlosesten Willkür aus- geliefert“. Häftlinge der frühen Konzen- trationslager 1933-1936/37, Frankfurt am Main 2017. Transportliste des Außenlagers des KZ Dachau bei den 1936 von Klöckner-Humboldt-Deutz übernom- Jan Erik Schulte: Zwangsarbeit und Ver- menen Magirus-Werken vom 15. Januar 1945. Quelle: Arolsen Archives nichtung. Das Wirtschaftsimperium der SS. Oswald Pohl und das SS-Wirtschafts- Verwaltungshauptamt 1933-1945, Pader- Die Nationalsozialisten ermordeten möchte deshalb mit einem Zitat born u. a. 2011. in Auschwitz fast eine Million Juden, des italienischen Auschwitz-Über- mehr als an irgendeinem anderen lebenden Primo Levi schließen. Es Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Ter- einzelnen Ort, und nachdem sowje- stammt aus seinem Buch „Die Unter- rors. Das Konzentrationslager, Frankfurt tische Truppen schließlich im Januar gegangenen und die Geretteten“ am Main 1993. 1945 das Lager befreit hatten, blieb von 1986 und ist auch heute aktuell: ein großer Teil der Infrastruktur des „Gewalt ob ‚sinnvoll‘ oder ‚sinnlos‘, Sibylle Steinbacher: Auschwitz. Mordens erhalten. Dies ist ein Grund, ereignet sich vor unseren Augen. Geschichte und Nachgeschichte, Mün- warum wir so viel mehr über Ausch- Sie ist gegenwärtig in einzelnen und chen 2004. witz als über die anderen Vernich- privaten Begebenheiten oder auch Johannes Tuchel: Konzentrationslager. tungslager wissen. Ein zweiter sind als vom Staat getragene Illegalität. Organisationsgeschichte und Funktion die Zeugnisse der Überlebenden. Zu Die Länder und die Menschen – so der „Inspektion der Konzentrationslager“ ihnen gehört auch Esther Bejerano, scheint es manchmal – warten nur 1934-1938, Boppard am Rhein 1991. die als Jugendliche in Ulm gelebt auf den neuen Hanswurst…, der die hatte, im Mädchenorchester von Gewalttätigkeit organisiert, sie legali- Nikolaus Wachsmann: KL. Die Geschichte Auschwitz spielen musste und die siert, sie als notwendig und geboten der nationalsozialistischen Konzentrati- Befreiung auf einem Todesmarsch erklärt und die Welt vergiftet… Daher onslager, München 2016. des KZ Ravensbrück erlebte. müssen wir unsere Sinne schärfen, den Propheten, den Zauberern und all Nicola Wenge: Das System der natio- „Wir müssen unsere Sinne schärfen“ denen misstrauen, die schöne Worte nalsozialistischen Konzentrationslager, – Primo Levi sprechen und schreiben, die aber https://www.bpb.de/geschichte/nati- Die nationalsozialistischen Konzen- durch keine guten Gründe gestützt onalsozialismus/ravensbrueck/60677/ trationslager waren zuerst ein Instru- sind.“ das-system-der-nationalsozialistischen- ment zur Sicherung der Macht, dann konzentrationslager. DZOK-Mitteilungen Heft 72, 2020 5
Ermordet – Gerettet – Befreit Ulmer Biografien und Auschwitz Es sind nicht nur die strukturellen verfolgung keine anonyme Aktion war letzter Minute zerschlagen wurden. Hintergründe, sondern gerade auch und hinter jeder Zahl eine Biografie, 1941 wurde die Auswanderung ver- die individuellen Verfolgungsge- ein Mensch steckt. boten und die Vernichtung der euro- schichten, die das Wissen schärfen päischen Juden eingeleitet. Durch und den Blick auf die Komplexität Ermordet Samuel Hirschs Rolle als Spezialist in der Verfolgung richten. Der Titel Mina Hirsch wurde am 29. Mai 1927 dem kriegswichtigen Unternehmen dieses Artikels deutet dies an: in Ulm geboren. Ihre Eltern waren konnte eine Einreihung in eine der „Ermordet – Gerettet – Befreit“. Die Samuel und Ilse Hirsch. „Bobby“, wie drei großen Ulmer Deportationen drei Begriffe stehen für drei Ulmer Mina Hirsch von ihren Freundinnen zunächst verhindert werden. Dies Biografien, die mit dem Konzentra- genannt wurde, durfte nur kurz in änderte sich im Frühjahr 1943, als im tions- und Vernichtungslager Aus- eine reguläre Schule gehen. Die nati- Rahmen der so genannten „Fabrik chwitz verknüpft sind: Mina Hirsch, onalsozialistischen Rassegesetze aktion“ tausende bis zu diesem Zeit- Fritz Hirsch und Esther Bejarano. punkt als unabkömmlich geltende Juden ab dem 1. März 1943 gezielt Ingo Bergmann verhaftet und mit ihren Familien direkt nach Auschwitz-Birkenau ver- schleppt wurden. Zwischen dem 20. Mai 1940 und Zusammen mit 41 weiteren Juden dem 27. Januar 1945 wurden in aus Württemberg wurde die Ulmer den drei Hauptlagern Auschwitz I Familie Hirsch an diesem ersten (Stammlager), Auschwitz-Birkenau Tag der Aktion deportiert. Der Groß- und Auschwitz III (Monowitz) zwi- transport war zusammengesetzt aus schen 1,1 und 1,5 Millionen Men- Einzeltransporten aus Stuttgart, Trier, schen ermordet. Düsseldorf und Dortmund. Insge- samt erreichten etwa 1.500 Personen Für die Überlebenden der Shoah, die am folgenden Tag die Selektions- Angehörigen der Opfer und deren rampe des Vernichtungslagers. Nur Nachkommen steht Auschwitz aber 150 Menschen wurden in das Lager nicht für die entrückte Summe von eingewiesen, die anderen wurden über eine Million getöteter Men- umgehend in den Gaskammern schen, sondern ganz persönlich für des Lagers ermordet. Von Familie den Tod geliebter Menschen. Es ist Hirsch fehlt seit dem 1. März 1943 die persönliche, menschliche Dimen- jedes Lebenszeichen. Sie befinden sion der Erinnerung an Auschwitz. sich unter den mehr als eine Million Briefe, Dokumente und Fotografien Opfern. berichten über die Schicksale. Sie bilden ein kollektives Gedächtnis, Gerettet das in der Gedenkstätte Auschwitz- In Ulm existierte eine zweite Familie Birkenau, in Yad Vashem und den Mina Hirsch, genannt Bobby, im September Hirsch, die nicht mit dem Ehepaar vielen anderen Gedenkstätten am 1940. Foto: A-DZOK Samuel und Ilse Hirsch verwandt war. Leben erhalten wird. Diese zweite Familie Hirsch stammte ursprünglich aus Wankheim bei Reut Große Bedeutung in der Erinnerungs- schlossen Mina und die anderen lingen. 1876 kehrte der 20 Jahre arbeit kommt auch kleinen Initiativen jüdischen Kinder und Jugendlichen zuvor aus Wankheim nach Amerika und bürgerschaftlichen Engagements von den öffentlichen Bildungsein- ausgewanderte Moritz Hirsch in in Deutschland und der ganzen Welt richtungen aus. Sie konnte ab 1936 seine schwäbische Heimat zurück zu. Wo immer Gedenken individu- die jüdische Schule im Rabbinats- und siedelte sich in Ulm an. Der ame- alisiert wird, transformieren sich gebäude am Weinhof besuchen. rikanische Staatsbürger heiratete hier die reinen Statistiken des Mordens Nachdem Mina Hirsch die Schule ver- Anne Moos. Das Ehepaar hatte vier in nachempfindbare Geschichten. lassen hatte, fand sie ca. 1940 in der Kinder: Otto, Martha, Edwin und Leo- Aus Nummern werden Nachbarn, Firma Neubronner & Sellin, wie die Freunde und Verwandte. Die Indivi- arisierten „Nathan Strauss Hütten- dualisierung des Gedenkens weckt werke“ nun hießen, eine Anstellung. Empathie und führt die Erinnerung Dort war ihr Vater leitender Prokurist. an dieses vergangene Kapitel der Samuel Hirsch durfte die Stellung Geschichte in die Lebenswelt der trotz der „Arisierung“ des Unter- Gegenwart. nehmens behalten. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde die Die Biografien von Mina Hirsch, Fritz Firma als kriegswichtig eingestuft Hirsch und Esther Bejarano zeigen und Samuel Hirsch war zunächst vor die unterschiedlichen Verknüpfungs- einer Deportation geschützt. Dass punkte Ulms mit dem Vernichtungs- die Familie sich darauf nicht blind ver- lager Auschwitz. Es wird deutlich, lassen wollte, belegen die Auswande- dass die nationalsozialistische Juden- rungsbemühungen nach Chile, die in Anneliese und Fritz Hirsch. Foto: privat 6
pold. Moritz Hirsch führte zusammen letzten Ulmer Juden in der Stadt. Im mit seinem Bruder Heinrich das Rahmen der „Fabrikaktion“ erhielt er Bekleidungsgeschäft M. H. Hirsch am 1. März 1943 seinen Deportati- in der Bahnhofstraße. Das Geschäft onsbefehl nach Auschwitz-Birkenau. und die Wohnung befanden sich Von Ulm wurde er zusammen mit direkt neben dem Geburtshaus von Samuel, Ilse und Mina Hirsch in das Albert Einstein. Durch die Heirat von zentrale Durchgangslager am Stutt- Leopold Hirsch und Frida Moos, der garter Killesberg gebracht. Tochter von Adolph Moos und Friede- ricke Einstein, wurden beide Familien In letzter Sekunde gelang es verwandt. Fritz Hirsch, die Gestapo davon Nach dem frühen Tod von Moritz zu überzeugen, dass er amerika- Hirsch im Jahre 1897 bauten die nischer Staatsbürger sei. Durch die Brüder Leopold und Otto Hirsch das Geschichte der Auswanderung und väterliche Geschäft weiter aus. Es Wiedereinwanderung seines Großva- wurde in die Hafengasse 18 verlegt. ters, Moritz Hirsch, konnte er offenbar Die wirtschaftlich erfolgreiche Familie insoweit Verwirrung stiften, als dass konnte sich zu Beginn des 20. Jahr- dieser Sachverhalt nicht adhoc geklärt hunderts zunächst eine Wohnung in werden konnte. Fritz Hirsch wurde der beliebten Neutorstraße leisten. wieder freigelassen und durfte nach Später erwarb Leopold Hirsch das Ulm zurückkehren. Für die nächsten Gebäude „Neutorstraße 30“. Am Wochen lebte er im letzten jüdischen 17.3.1908 bekam das Ehepaar sein Haus der Stadt: Schuhhausgasse erstes Kind: Fritz Moritz Hirsch. Im 9. Von dort schrieb er in einem Rot- Esther Bejarano, geb. Loewy, Ulm 1939. Jahr darauf folgte Hans und 1921 die Kreuz-Telegramm an seinen Vater Foto: A-DZOK Tochter Anneliese. und berichtete von seiner glücklichen Rettung. Der Gestapo gelang es auch Nach der Machtübernahme der Nati- in den folgenden Wochen nicht, die jüdischen Landschulheim in Herr- onalsozialisten litten die Familie und Geschichte zu widerlegen. Daraufhin lingen und dann ab 1939 für einige die Firma zunehmend unter Repres- wurde Hirsch als amerikanischer Zeit in der Schule ihres Vaters. 1940 salien. Dennoch gelang es Leopold Zivilgefangener in Laufen in der verließ die Familie Ulm. Während und Otto Hirsch, das Unternehmen Oberpfalz und später in Tittmoning die Eltern nach Breslau gingen, zog durch Exporte zunächst am Leben interniert. Dort konnte er bis Januar Esther nach Berlin und bereitete sich zu erhalten. Doch nach der Pogrom- 1945 unter relativ guten Bedingungen später im „Gut Winkel“ und im „Gut nacht vom 9. November 1938 musste überleben. Ende Januar 1945 wurde Ahrensdorf“ auf eine Auswanderung die Firma aufgegeben werden. Die er mit 1.000 weiteren Amerikanern nach Palästina vor. Dort wurde sie Familie setzte nun alles daran, das in Südfrankreich gegen 1.000 Deut- verhaftet und in das Zwangsarbeits- Land zu verlassen und auszuwan- sche ausgetauscht. Nach der Über- lager Neuendorf überstellt. Das Lager dern. Als erstes gelang es, mit Hilfe gabe stellten die Amerikaner fest, wurde 1943 aufgelöst und die dort von Albert Einstein die Ausreise für dass er kein Staatsbürger der USA befindlichen Juden wurden am 20. Anneliese zu organisieren. Sie konnte war. Fritz Hirsch wurde aber nicht April 1943 nach Auschwitz-Birkenau in die USA reisen und in den ersten nach Deutschland zurückgeschickt, deportiert. Monaten bei ihrem berühmten Ver- sondern über das Mittelmeer in ein wandten in Princeton unterkommen. Displaced Persons Camp in Alge- Nach der Ankunft in Auschwitz Nach dem deutschen Überfall auf rien gebracht. Dort erlebte er das konnte Esther Loewy einen Platz Polen und dem Ausbruch des Krieges Kriegsende und lernte seine spätere im „Mädchenorchester“ des Lagers im September 1939 wurden die Mög- Ehefrau Grete Rosenbaum kennen. erlangen. Sie brachte sich das Akkor- lichkeiten zur Auswanderung immer Gemeinsam konnten sie mit Hilfe deonspielen bei und überlebte so die geringer. Leopold und Frida Hirsch von Albert Einstein in die USA aus- folgenden Monate. Jeden Morgen gelang die Emigration Dank der finan- wandern. In einem Brief nannte der und Abend musste das Orchester für ziellen Unterstützung Einsteins über Physiker das Überleben seines Groß- die aus- und einziehenden Arbeits die Transsibirische Eisenbahn, Korea neffen „eine wundersame Rettung“. kolonnen spielen. Nach einigen und Japan nach San Francisco. In Monaten wurde Loewy Ende 1943 einem mehrseitigen Bericht erinnerte Befreit in das Frauenkonzentrationslager sich Leopold Hirsch an die abenteu- Als die Rote Armee am 27. Januar Ravensbrück überstellt. Gegen erliche Flucht. 1945 das Vernichtungslager Ausch- Kriegsende erfolgte die Räumung des witz-Birkenau erreichte, fand sie ca. Lagers und die inhaftierten Frauen In Ulm verblieb Fritz Hirsch. Er arbei- 7.000 Überlebende vor. Viele starben wurden auf einen Todesmarsch tete in der Kanzlei von Ernst Moos aber in den folgenden Tagen an den gezwungen. In einem unbeobach- und half Juden bei der Emigration. Folgen der Haft. Zu den Überle- teten Moment konnte Esther Loewy Mit Fortschreiten der Judenverfol- benden des Lagers, auch wenn sie fliehen und untertauchen. gung wurde das Büro aber auch zum Zeitpunkt der Befreiung nicht Nach der Befreiung emigrierte sie gezwungen an den Deportationen mehr in Auschwitz war, zählt Esther nach Israel und heiratete Nissim mitzuwirken. Ernst Moos musste Bejarano. Bejarano. Im Jahre 1960 kehrte sie in die zur Deportation bestimmten Sie war am 15. Dezember 1924 in die Bundesrepublik zurück und lebt Ulmer*innen über ihr Schicksal in Saarlouis geboren worden und 1936 seitdem in Hamburg. Esther Bejarano Kenntnis setzen und den Transport mit ihren Eltern Rudolf und Marga- widmete ihr Leben der Erinnerungs- mitorganisieren. rethe Loewy nach Ulm gekommen. und Bildungsarbeit. Als Sängerin und Nach der letzten großen Deportation Ihr Vater hatte hier die Lehrerstelle Zeitzeugin tritt sie bis heute auf der am 22.8.1942 nach Theresienstadt in der jüdischen Schule erhalten. Bühne auf und berichtet in Schul- verblieb Fritz Hirsch als einer der Esther war zunächst Schülerin im klassen von ihrem Schicksal. DZOK-Mitteilungen Heft 72, 2020 7
Sonderausstellung „Nebenan“ Die Nachbarschaften der Lager Auschwitz I-III Die Stuttgarter Fotografen Kai Loges und Andreas Langen (die arge lola) legen mit ihren Ausstel- lungsbildern Zonen an einer beson- deren Bruchlinie von Geschichte und Gegenwart frei. Zu den Bildern einer Ausstellung, die Orte und Menschen im heutigen Oświęcim (Auschwitz) und Brzezinka (Bir- kenau) in unmittelbarer Nähe der ehemaligen Lager zeigt. Annette Lein Auschwitz gilt als ein vielfach „aus- geleuchteter“ Ort, seit Jahrzehnten erforscht, von Millionen Besuchern jedes Jahr besichtigt. Das Grauen, das sich mit diesem Ort verbindet, lässt andere Tatorte des nationalsozi- alistischen Völkermords in den Hinter- Zufahrt zum Besucherzentrum am ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz II/Birkenau. Der Pfosten grund treten. Keine andere Gedenk- steht im Gleisbett der Eisenbahnzufahrt ins Lager. Foto: die arge lola stätte zieht so viele Besucher*innen an wie das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau. Der Andrang hat sich in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt. Loges und Langen sehr wichtig. Ihre gezeichnet ist. Diese Annähe- Trotzdem existiert im unmittelbaren Fotografien sind zudem von einem rung, gebündelt in der Ausstellung Umfeld des ehemaligen Konzentra- sensiblen und zugewandten Blick „Nebenan“, läuft für die Ausstel- tions- und Vernichtungslagers Ausch- auf die Menschen geprägt. Sie ver- lungsmacher auf die Frage zu: Was witz-Birkenau 75 Jahre nach dessen knüpfen die Relikte der Vergangen- ist das, der Geist des Ortes, bzw. gibt Befreiung eine fast unbekannte heit mit ganz pragmatischen, aber es ihn überhaupt? Sphäre: die Lebenswelt von Men- auch emotional schwierigen lebens schen, die aufgrund historischer und alltäglichen Dingen der Porträtierten Die Präsentation der Sonderausstel- biografischer Fügung zu Nachbarn – eben in der unmittelbaren Nach- lung in Ulm ist Teil einer gemeinsamen dieser Schreckensorte geworden barschaft, wie etwa der im Wind flat- Veranstaltungsreihe an Gedenk- sind. Deren Alltag wird von den Foto- ternden Wäsche auf einer Leine, in stätten in Baden-Württemberg unter grafen Loges und Langen dokumen- deren Hintergrund das Auschwitztor dem Titel „1945 damals und heute. tiert, oft überraschend und produktiv zu sehen ist und das als Leitbild der 75 Jahre nach der NS-Diktatur und verstörend. Ihre Erkundungen, die sie Ausstellung vorangestellt ist. dem Ende des Zweiten Weltkriegs“. in den letzten Jahren mehrfach nach Sie entstand in Kooperation zwischen Oświęcim und Brzezinka führten, Für die Wanderausstellung „Nebenan der Landesarbeitsgemeinschaft der konzentrieren sich auf das unmittel- – Die Nachbarschaften der Lager Gedenkstätten und Gedenkstätten bare Umfeld der ehemaligen Haupt- Auschwitz I-III“, die das DZOK am 8. initiativen in Baden-Württemberg lager Auschwitz I-III: das Stammlager, Mai 2020 in digitaler Form eröffnete, und der Landeszentrale für politische das Vernichtungslager Birkenau und haben die Fotografen fünfzig Fotogra- Bildung. das Arbeitslager Monowice/Buna-IG fien ausgewählt. Die Bilder werfen Farben. grundlegende Fragen auf: Wie leben Menschen im Schatten einer ein- Info Typisch für die Arbeit der beiden stigen Mordstätte? Wie gestaltet Kai Loges und Andreas Langen arbeiten Stuttgarter ist ein streng dokumen- sich das Zusammenleben angesichts seit 1989 zusammen. Zunächst für ein- tarischer Ansatz. Sie verzichten auf historischer Traumata? Wie verhalten zelne Projekte, seit 1994 fest als „die Requisiten, technische Raffinessen sich individuelles und kollektives arge lola“ – ein Spiel mit dem Kürzel für und Hilfsmittel der Fotografie. Gedächtnis zueinander? Arbeitsgemeinschaft und den Anfangs- Schönen und Verfälschen kommt für Zur Reflexion dieser Fragen kombi- silben ihrer Nachnamen. Loges und sie nicht in Frage. Auch ihre Eindrücke nieren die Fotografen die Bilder mit Langen haben an der FH Bielefeld Foto-/ von Auschwitz sind ohne Scheinwer- Texten, die räumliche und historische Filmdesign studiert und treten heute ferlicht wiedergegeben. „Künstliches Verortungen ermöglichen sowie gemeinsam als Bild- und Konzeptautoren Licht hätte die Szenen theatralisch Zeitzeug*innen und Anwohner*innen auf, Andreas Langen zusätzlich auch als wirken lassen. Das wäre unange- zu Wort kommen lassen. Die Texte Textautor. Daneben unterrichten beide bracht“. Diese Grundüberzeugung, beschreiben Menschen und Bio- an diversen Hochschulen. auf einen Effekt eher zu verzichten grafien in einer Umgebung, die http://www.dieargelola.de als ihm unreflektiert zu erliegen, ist von extremer Gewaltgeschichte 8
Online-Sonderausstellung und digitales Begleitprogramm Ein Gemeinschaftsprojekt in bewegten Zeiten Nachdem die geplante Sonder- ausstellung mit Begleitprogramm in der KZ-Gedenkstätte coronabe- dingt abgesagt werden musste, hat das DZOK-Team mit den beteiligten Künstlern und Referent*innen innerhalb von sechs Wochen eine Online-Ausstellung erarbeitet. Hier eine Vorstellung der neuen digi- talen Inhalte. Annette Lein, Nicola Wenge Zum 75. Jahrestag der Befreiung hatte das Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg wie viele andere Gedenkstätten im Land ein umfang- reiches Programm geplant, von langer Hand und im Verbund mit vielen anderen Erinnerungsorten Annette Lein im Gespräch mit Andreas Langen in der KZ-Gedenkstätte. Foto: bateau blanc, Malte im Land. Doch in Ulm wie überall Kirchner mussten die Gedenkfeiern, Begeg- nungsprogramme, Ausstellungen und Veranstaltungen in Erinnerung sie darin die 50 ausgewählten Bilder mige Jurist vertrat Nebenkläger im an Befreiung und Ende des Zweiten mit prägnanten Kurztexten, die wert- Lüneburger Auschwitzprozess, im Weltkriegs abgesagt werden. Und volle Kontextualisierungen geben. NSU-Prozess und aktuell im Ulmer so hat sich das DZOK-Team auf die Ein 30-minütiger Autorenfilm bietet Prozess wegen eines Brandan- Suche nach angemessenen, alterna- zudem individuelle Erklärungen und schlags auf eine Romafamilie im Mai tiven Formen der Erinnerungs- und weiterführende Reflexionen. Im 2019. Die Prozesse bilden auch den Informationsvermittlung begeben. Gespräch mit DZOK-Gedenkstätten- roten Faden des Gesprächs. Konkret ging es darum, die wich- pädagogin Annette Lein ebnet Foto- In einem Kurzfilm präsentiert die tigen Inhalte der Sonderausstel- graf Andreas Langen so anschaulich Ulmer Lehrerin Anne Käßbohrer lung „Nebenan“ zu zeigen und die den Zugang zu einem ebenso kom- eine lokale Ausstellungsergänzung Begleitveranstaltungen durchführen plexen wie wichtigen Thema. vor dem Eingangsbereich der KZ- zu können. Das DZOK hat hierzu Gedenkstätte Oberer Kuhberg. – mit Unterstützung der LpB und So perspektivenreich die Ausstel- Sie stellt Kunstobjekte vor, die im gemeinsam mit den Ausstellungs- lung ist, so vielgestaltig ist auch das Rahmen des Projekts „Nach der machern und Referent*innen – in digitale Begleitprogramm, das den Sprachlosigkeit Worte finden“ ent- sechs Wochen ein vielfältiges Online- Schwerpunkt auf den Umgang der standen sind. Schüler*innen und Angebot für seine Website und aus- Deutschen mit Auschwitz von der Senior*innen hatten die Werke in gewählte soziale Netzwerke entwi- Nachkriegszeit bis zur Gegenwart Auseinandersetzung mit ihrer Ausch- ckelt, das seit dem 8. Mai verfügbar legt. Es besteht aus einer Lesung, witzexkursion 2019 unter Leitung von ist. Hilfreich war dabei, dass wir einem Audiogespräch und einem Georg Kocheise, Anne Käßbohrer schon auf Erfahrungen zurückgreifen Kurzfilm: Den Auftakt macht Autor (Hans und Sophie Scholl-Gymnasium konnten, die wir bei der Erarbeitung Harald Jähner mit einer digitalen Ulm) und Karl Giebeler (Männeraka- der DZOK-Online-Ausstellung „Erin- Lesung aus seinem Buch „Wolfs- demie der vh Ulm) erarbeitet. nern in Ulm“ gesammelt hatten zeit. Deutschland und die Deutschen (siehe hierzu auch S. 11). Es wurden 1945-55“. Der Autor gibt kommentie- Ohne die unkomplizierte, engagierte aber auch ganz neue digitale Formate rend Einblicke in seine viel beachtete und kreative Bereitschaft aller Betei- realisiert. Mentalitätsgeschichte der Nach- ligten zur Erarbeitung dieser Formate Und so ist in wenigen Wochen aus kriegszeit, die 2019 den Preis der wäre es nicht möglich gewesen, Aus- der geplanten Sonderausstellung Leipziger Buchmesse gewann. stellung und Begleitprogramm derart „Nebenan“ eine Online-Ausstellung Welche Lehren zog die Justiz aus facettenreich zu präsentieren. Unser mit 50 ausgewählten Fotografien den Menschheitsverbrechen von besonderer Dank geht an die arge geworden. Besucher*innen können Auschwitz? Und wie bewähren sich lola, Mehmet Daimagüler, die Firma diese Bilder auf unserer Website in Staat und Gesellschaft im Umgang intermetrics, Harald Jähner, Anne einer Fotogalerie betrachten, um die mit aktuellem Rechtsterrorismus? Käßbohrer und Malte Kirchner von Arbeiten im Detail anzuschauen und Diesen und anderen Fragen von Bateau Blanc für die gute Koopera- auf sich wirken zu lassen. Kai Loges DZOK-Leiterin Dr. Nicola Wenge tion, die DZOK-Mitarbeitenden Josef und Andreas Langen haben darüber stellt sich Dr. Mehmet Daimagüler, Naßl und Katja Hamm sowie Sibylle hinaus eine auf Ulm zugeschnittene einer der führenden Opferanwälte Thelen und Christina Schneider von Ausstellungspublikation verfasst. Deutschlands in einem 30-minütigen der Landeszentrale für politische Bil- Nach einer Einführung kombinieren Audio-Interview. Der türkischstäm- dung für ihre Unterstützung. DZOK-Mitteilungen Heft 72, 2020 9
75 Jahre Kriegsende. Zusammenbruch, „Stunde null“ oder Befreiung in Ulm? „Endlich. Endlich ist es soweit. Wir sind frei!“ Am 24. April 1945 rückten ameri- Ausbeutung und den zunehmenden wenigen Mitglieder der Ulmer kanische Einheiten aus Richtung unmenschlichen Arbeits- und Lebens- jüdischen Gemeinde, die die Depor- Blautal kommend in Ulm ein, bedingungen in Ulm gelitten und der tation und den Holocaust überlebt gleichzeitig besetzten französische Ankunft der Alliierten entgegengefie- hatten. Von den vormals über 500 Truppen zunächst den Vorort bert. So ist auch das im Titel verwen- Ulmer Jüdinnen und Juden kehrte nur Wiblingen. Auf Widerstand trafen dete Zitat aus einem Tagebuchein- eine Handvoll Überlebender in ihre die alliierten Truppen nicht, einzig trag der polnischen Zwangsarbeiterin Heimatstadt zurück. Etwa Resi Weg- die Donaubrücken waren noch in bei der Firma Telefunken, Gabriela lein, die nach der Rückkehr Zeugnis einem Akt letzten Kadavergehor- Knapska, entnommen. Die 17-Jäh- ablegte über das unbeschreibliche sams von Wehrmachtssoldaten rige war mit ihrer Zwillingsschwe- Leid, das sie in Theresienstadt miter- gesprengt worden. Für die Men- ster aus ihrer Heimatstadt Łódź nach leben musste. Zurück kehrten auch schen, die in der zerstörten Dop- Ulm verschleppt und zur Arbeit in einige Angehörige der jungen Gene- pelstadt Ulm und Neu-Ulm lebten, der als kriegswichtig geltenden Röh- ration der Ulmer Juden als alliierte war der Krieg vorbei. renproduktion in der Wilhelmsburg Soldaten, die für diese Befreiung gezwungen worden. gekämpft hatten. Der 25-jährige Josef Naßl Peter Ury, der im Sommer 1945 in bri- tischer Armeeuniform nach Ulm kam und nach seiner Mutter Hedwig Ury Die individuellen Erfahrungen der in suchte, erfuhr hier von Resi Weglein, Ulm verbliebenen Menschen waren dass sie über Theresienstadt nach geprägt durch die Zerstörung der Auschwitz deportiert worden war. Stadt in den letzten Kriegsmonaten, Für die Opfer des Holocaust kam die Radikalisierung der Terrormaß- jede Befreiung zu spät. nahmen im „Totalen Krieg“ und der Keine Befreiung gab es auch für menschenverachtenden Behandlung diejenigen, die in psychiatrischen derjenigen, die als Arbeitskräfte für Heilanstalten untergebracht waren, den Kriegseinsatz aus dem besetzten die weiterhin unter katastrophalen Europa zwangsrekrutiert waren. Der Zuständen lebten und im Rahmen Vertrauensverlust breiter Teile der der „dezentralen Euthanasie“ an Bevölkerung in das NS-Regime stand Hunger, Vernachlässigung und feh- im Kontrast zu den Durchhalteparolen lender Behandlung starben oder der örtlichen Machthaber, die durch gezielt getötet wurden. So starb der die schnellen militärischen Erfolge nicht einmal vierjährige Ulmer Nor- der Alliierten ad absurdum geführt bert Groß noch am 23. Mai 1945 in wurden. In seiner letzten Ausgabe der Heilanstalt Kaufbeuren, wo das vom 21. April 1945 titelte das Ulmer Anstaltspersonal das nationalsozia- Tagblatt dann nur noch lapidar „Lage Amerikanischer Panzer vor den Ruinen in der listische Mordprogramm der „Kin- hat sich östlich von Berlin und Lausitz Hirschstraße am 24. April 1945. Foto: A-DZOK dereuthanasie“ nach der Besetzung verschärft“. Am 23. April verließen der Stadt durch alliierte Truppen ein- die führenden Ulmer Nationalsozia- fach fortführte. listen, Oberbürgermeister Friedrich Eine Befreiung war der Einmarsch Keine Befreiung stellte das Foerster, Polizeidirektor Erich Hage- auch für die Gegner*innen des Nati- Kriegsende auch für die inhaftierten meyer und Kreisleiter Wilhelm Maier, onalsozialismus, sei es für widerstän- Ulmerinnen und Ulmer dar, die als die Stadt und tauchten getrennt von- dige Jugendliche wie den Ulmer Heinz soziale Außenseiter oder Homose- einander unter. Brenner, der im Oktober 1944 deser- xuelle verfolgt worden waren, die tiert war und sich bis Kriegsende bei als Verbrecher galten und deren Die Ankunft der Besatzungstruppen einem Netzwerk aus Helfer*innen auf Verfolgung nicht als nationalsozialis- weckte bei den Menschen in der der Alb versteckte. Oder auch für all tisches Unrecht anerkannt war und Donaustadt ganz unterschiedliche jene, die nach frühen Erfahrungen der für die sich die Gefängnistore nicht Gefühle. Für die nach wie vor über- NS-Repression in der „inneren Emi- öffneten. zeugten Nationalsozialist*innen gration“ weiterlebten, wie der Ulmer Zunächst wurde das Kriegsende stellte sie einen Zusammenbruch, Sozialdemokrat und spätere Mitbe- von der Mehrheit der Deutschen ja ein apokalyptisches Ende ihrer gründer der Schwäbischen Donauzei- als Zusammenbruch und „Stunde Lebenswelt dar. Die Masse der tung Johann Weißer. Befreit wurden Null“ begriffen, also als Zäsur, die Mitläufer*innen schwankte zwi- im April auch die politisch widerstän- eine in der Realität nicht konsequent schen Resignation und Erleichterung digen Ulmer wie Josef Schuhbauer, vollzogene Abkehr vom Nationalso- darüber, dass der Krieg nun endlich Emil Benz oder Alois Lohr, die die zialismus markieren sollte. Dieser zu Ende war. Konzentrationslager, darunter das Mythos diente dazu, die Opfernarra- Eine Befreiung hingegen war KZ Buchenwald bei Weimar, überlebt tive der Nachkriegszeit zu verstärken, sie vor allem für die tausenden hatten und die Ende April in ihre Hei- mit denen sich die Mehrheitsgesell- Zwangsarbeiter*innen, die ca. matstadt zurückkehren konnten. schaft von individuellem Schuldemp- die Hälfte der 25.000 in der Stadt finden befreite. zurückgebliebenen Menschen aus- Eine Befreiung war der Sieg der Befreit fühlten sich zunächst nur die machten. Sie hatten stark unter der Alliierten schließlich auch für die Verfolgten, für die meisten Deut- 10
schen lebte das Gefühl der Nieder- und widerlegte damals noch vorhan- Nazis verführtes Volk als Befreite lage weiter. Dies änderte sich mit denen Geschichtslegenden und Rela- begreift. der Rede des Bundespräsidenten tivierungen. Der Journalist Alexander Neuba- Richard von Weizsäcker am 8. Mai cher fasste dieses Selbstbild der 1985, 40 Jahre nach Kriegsende. Er Heute, 35 Jahre nach der Rede Weiz- Berliner Republik im Jahr 2020 in stellte fest: „Und dennoch wurde säckers, haben sich die Definitionen, einem jüngst erschienenen Artikel im von Tag zu Tag klarer, was es heute wer denn besiegt und wer befreit „Spiegel“ mit dem treffenden Satz für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: worden ist, verändert. Laut einer zusammen: „Befreiung ist jetzt der Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Umfrage der Wochenzeitung „Die Begriff eines Deutschlands, das sich Er hat uns alle befreit von dem men- Zeit“ vom 28.4.2020 beziehen zuneh- selbst begnadigt.“ (Spiegel-Online, schenverachtenden System der mend mehr Deutsche den Begriff der 1.5.2020). Dieser Entwicklung kann nationalsozialistischen Gewaltherr- Befreiung auf die damalige Mehrheit der Schlusssatz der Weizäcker-Rede schaft.“ Von Weizäcker ging in seiner der Deutschen und konstruieren so entgegengesetzt werden: „Schauen Rede intensiv auf den Holocaust ein relativierendes Geschichtsbild, wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es und die deutschen Verbrechen ein das ein von einer kleinen Gruppe können, der Wahrheit ins Auge.“ Online-Ausstellung „Erinnern in Ulm“ auf DZOK-Webseite Auf der Webseite des DZOK gibt es seit 2016 die Online-Ausstellung „Erinnern in Ulm. Auseinander- setzungen um den Nationalsozia- lismus“. Sie enthält wertvolle Infor- mationen zum Schwerpunkt dieser Mitteilungen. Annette Lein Die DZOK-Ausstellung „Erinnern in Ulm“ wurde vor fünf Jahren gemeinsam mit dem Stadtarchiv zum 70. Jahrestag des Kriegsendes und der Befreiung erarbeitet. Sie zeigte erstmalig, wie in der lokalen Politik, Justiz und Gesellschaft nach 1945 mit Schuld und Verantwortung Kundgebung im Fort Oberer Kuhberg, 9.5.1971. Foto: SWP-Archiv für den Nationalsozialismus umge- gangen wurde. Die anschließend produzierte Online-Ausstellung bietet Lesenden und Entdeckenden span- rationellen Veranstaltung zu Themen mehr als einen Überblick über die nend und gut nutzbar. So enthält wie „Ikonografie und Erinnerung“ Ausstellungsinhalte: Sie enthält viel- beispielsweise das Thema „Lokalge- wird eine Fotodokumentation des fältige vertiefende Materialien. Unter schichte von unten – der lange Weg Arbeitsprozesses und der Diskussi- anderem ermöglichen Audiodoku- zur KZ-Gedenkstätte Oberer Kuh- onsergebnisse gezeigt. mente die Entdeckung einer per- berg“ lokalhistorische Dokumente, spektivischen Vielfalt von Menschen die von vielen Schüler*innen für die aus fünf Generationen, die erzählen, Erarbeitung ihrer Rundgänge genutzt was die Erinnerung an den National- werden. Den Nutzer*innen steht ein sozialismus für sie bedeutet. Zudem Info breites Spektrum an Materialien und werden in sechs thematischen Rund- Die Ausstellung kann online angesehen Zugängen zum Thema zur Verfügung. gängen Akteur*innen, Ereignisse werden unter: Einen ganz speziellen Einblick in das und Kontroversen um die Entwick- umfängliche Begleitprogramm zur https://dzok-ulm.de/sonderausstel- lung einer Ulmer Erinnerungskultur Sonderausstellung ermöglicht die lung.html von 1968 bis in die Gegenwart darge- Online-Dokumentation der Ergeb- stellt. Die Präsentation historischer nisse eines Workshops zum Thema Der Katalog zur Ausstellung ist über das Quellen in den jeweiligen Kontexten „Ulmer Bilder der Erinnerung“: DZOK für 14,80 € zu beziehen. ist dabei in vielerlei Hinsicht für die Neben den Vorträgen der intergene- DZOK-Mitteilungen Heft 72, 2020 11
Gedenkveranstaltung und Publikation 17. Dezember 1944. Die Zerstörung Ulms Am 15. Dezember 2019 fand im Im zweiten Teil seines Vortrags text, Augenzeugenberichten und Ulmer Stadthaus eine Matinee erläuterte Professor Süß das sich schriftlichen Quellen ist gelungen. zum 75. Jahrestag der Bombardie- wandelnde Gedenken an die Bom- Man merkt, dass sich Kübler über rung Ulms statt. Neben einem Vor- benopfer in der Nachkriegszeit in viele Jahre fundiert und kenntnis- trag des Historikers Dietmar Süß Deutschland und einzelnen euro- reich mit der Ulmer Geschichte des stellte der Journalist Rudi Kübler päischen Ländern, v. a. in England. Nationalsozialismus befasst hat. sein Buch „17. Dezember 1944. Die In beiden Ländern war die aus dem Und die Publikation verdient eine Zerstörung Ulms“ vor, das in der Krieg bekannte Beschwörung des Erweiterung, denn liest man sie mit „Kleinen Reihe des Stadtarchivs Gemeinschaftsgeistes zu Beginn dem historischen Rüstzeug von Pro- Ulm“ erschien. des Wiederaufbaus ähnlich. Doch fessor Süß, wünscht man sich eine von Anfang an gab es auch Appelle Fortsetzung des schmalen Bandes: Karin Jasbar zur Versöhnung sowie Kritik an der mit einer historischen Einordnung unvorstellbaren Gewalt in der Kriegs- der Vorgeschichte des Bomben- führung auf beiden Seiten. Im Kalten kriegs, einer quellenkritischen Kom- „Wie eine Stadt an den Luftkrieg Krieg und mit wachsender deutscher mentierung nationalsozialistischer erinnert ist nicht selbstverständlich.“ Integration in das Westbündnis war Propagandatexte, mit Zeitzeugen- Denn die Erinnerung an den Luftkrieg die öffentliche Aufrechterhaltung des berichten, die die Perspektiven der war von Anfang an umstritten. Unter Feindbildes zwischen den früheren „Volksgenossen“ erweitern und dieser Prämisse referierte der Augs- Gegnern nicht mehr opportun. In der kontrastieren, und mit Reflexionen burger Historiker Professor Dietmar deutschen Erinnerungskultur kam der Ulmer Erlebnisgeneration zu den Süß bei der Gedenkveranstaltung im es seit den 1980er Jahren zu Dis- Ursachen und eigentlichen Verant- Ulmer Stadthaus zum Thema „Der kursverschiebungen mit sich wan- wortlichen dieses Schreckens im zeit- Luftkrieg im deutschen und europä- delnden Opfer-/Täternarrativen. Mit lichen Rückblick. Mit einem Kapitel ischen Gedächtnis“. der zunehmenden Offenlegung deut- zur örtlichen „Nachgeschichte“ des scher Gewaltverbrechen im Zweiten Luftkriegtraumas, so wie sie von Neben den Etappen des Luftkriegs- Weltkrieg und dem wachsenden Dietmar Süß auf Länderebene ver- geschehens erst von deutscher und Gedenken an die Opfer des Holo- sucht wurde, könnte dieses noch dann von alliierter Seite behandelte causts fühlten sich in Deutschland nicht geschriebene Buch enden. er auch Fragen nach dem „Warum“ diejenigen, die vor allem das eigene der zunehmend verheerenden Bom- Volk als Opfer des Krieges und des Und so haben Gedenkveranstaltung bardierungen. Die Spirale der Gewalt, Bombenkriegs sahen, von der Erin- und Publikation nicht nur einen wich- die von den Deutschen bereits 1939 nerungspolitik ausgegrenzt. In Ableh- tigen und erkenntnisreichen Blick mit Luftangriffen auf zivile Ziele in nung der Täterrolle wurde verstärkt zurück ermöglicht, sondern auch Gang gesetzt worden war, wurde ab den 2000er Jahren wieder öffent- neue Fragestellungen und Perspek- infolge der Durchhaltebefehle der lich die Opferrolle reklamiert. tiven eröffnet. deutschen Führung von den West- alliierten mit der Verschärfung der Nach diesem umfassenden, transnati- Mittel im Luftkrieg weiter gedreht. onalen Blick von Professor Süß auf das Sie wollten durch eine weitgehende historische Geschehen sowie auf die Zerstörung der deutschen Rüstungs- Erinnerungspolitik war der zweite Teil produktion und Infrastruktur aus der der Veranstaltung den lokalen Ereig- Luft das Kriegsgeschehen abkürzen. nissen gewidmet. Der Journalist Rudi Die Angst vor großen eigenen Ver- Kübler stellte im Gespräch mit Stadt- lusten nach den bitteren Erfahrungen archivleiter Michael Wettengel einige des Ersten Weltkrieges mit dem jah- Berichte aus dem Inferno der großen relangen Grabenkrieg waren nach Ulmer Bombennacht vor, an deren Süß ihr Hauptmotiv. Bei den weit- Ende 707 Tote und 20.000 Obdach- läufigen Flächenbombardements lose zu beklagen waren. Der Autor wurden auch keine Rücksichten hat solche Schilderungen jahrelang mehr auf die deutschen Innenstädte gesammelt sowie auch Zeitzeugen und die Zivilbevölkerung genommen. oder ihre Nachfahren interviewt und Vielmehr sollte diese zermürbt und nun darüber ein Buch veröffentlicht, ihr Rückhalt für das NS-Regime das vom Stadtarchiv unter dem Titel gebrochen werden. Die deutsche „17. Dezember 1944“ herausge- Rüstungsproduktion ging tatsächlich geben wurde. Diese Buchvorstellung bis zum Januar 1945 um ca. 30-40 % fand beim zahlreich erschienenen zurück, doch die deutsche Propa- Publikum großen Anklang. ganda schwor die Soldaten und die Bevölkerung trotz der aussichtslosen Die neue lokale Studie weist viele Vor- Lage weiterhin auf ein Durchhalten züge auf: Sie ist sorgfältig gestaltet, ein und das Regime konnte sich bis die Kapitel sind klug aufgebaut und zur totalen Niederlage im Zweiten die vielen Details werden spannend Weltkrieg halten. erzählt. Die Kombination aus Sach- 12
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