Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte

 
WEITER LESEN
Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte
Dokumentationszentrum
                                                      Oberer Kuhberg Ulm e. V.
                                                        – KZ-Gedenkstätte –

                                                      Mitteilungen
                                                      Heft 72 / Juni 2020

    75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz

                                           Sonderausstellung „Nebenan“

                                           Historische Hintergründe

                                           Aus der DZOK-Arbeit

Mitgliederversammlung des Vereins · Fr., 17. Juli 2020 · 17 Uhr in der vh Ulm
Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte
Vorwort                                                               Einladung zur Jahres-Hauptversammlung
                                                                   des Vereins Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg
Liebe Leserinnen und Leser,                                                     Berichte und Diskussion

wir möchten Sie auch und gerade in Corona-Zeiten mit                             Freitag, 17. Juli 2020, 17 Uhr
diesen Mitteilungen über unsere laufende Arbeit infor-             Volkshochschule Ulm, EinsteinHaus am Kornhausplatz, Club Orange
mieren, historische Hintergründe vorstellen und zur erin-
nerungskulturellen Diskussion einladen. Wir freuen uns,                    Wir bitten coronabedingt um Anmeldung
Sie mit diesem Heft – nach all den Einschränkungen der                    unter info@dzok-ulm.de oder 0731-21312!
vergangenen Monate – wie üblich zu erreichen. Das hat
uns bei der Arbeit beflügelt.

Im Mittelpunkt dieser Mitteilungen steht die Befreiung
des Konzentrationslagers Auschwitz vor 75 Jahren. Wir
fragen nach den historischen Verbindungslinien zwischen            Inhalt
Ulm und Auschwitz und schauen auf die heutige Wahr-
nehmung eines Orts, der wie kein zweiter zur Chiffre für           Vorwort                                                           2
den Holocaust wurde. Ich führe in die Entwicklung des              Was in Ulm am Oberen Kuhberg begann …                             3
KZ-Systems vom Oberen Kuhberg nach Auschwitz ein.
Mein Ulmer Historikerkollege Ingo Bergmann schreibt                Ulmer Biografien und Auschwitz                                    6
zum Thema „Ermordet – Gerettet – Befreit: Ulmer Bio-
grafien und Auschwitz“. Annette Lein skizziert die Inhalte         Sonderausstellung „Nebenan“                                       8
der für Ulm digitalisierten Wanderausstellung „Nebenan.            Digitales Begleitprogramm                                         9
Die Nachbarschaften der Lager Auschwitz I-III“ sowie
der ebenfalls digitalisierten Begleitveranstaltungen dazu.         75 Jahre Befreiung in Ulm                                       10
Dieses Gesamtpaket bietet so unterschiedliche wie span-
nende Annäherungen an das Schwerpunktthema.                        Online-Ausstellung „Erinnern in Ulm“                             11
Auch das Kriegsende in Ulm vor 75 Jahren findet in diesem          Gedenkveranstaltung und Publikation
Heft Platz: So beschreibt Josef Naßl mit Blick auf die aktu-       „17. Dezember 1944. Die Zerstörung Ulms“                        12
elle Diskussion des Befreiungsbegriffs die Situation vor
Ort. Karin Jasbar berichtet, wie die Stadt an den Luftkrieg        Einweihung des Erinnerungszeichens                              13
erinnert und Annette Lein lädt dazu ein, noch einmal die vor
                                                                   Begleitprogramm Erinnerungszeichen                              15
fünf Jahren gezeigte und dann online gestellte DZOK-Aus-
stellung „Erinnern in Ulm“ zu besuchen. Sie veranschau-            Gedenkbuch „… aber ich hoffe, dass ich
licht, wie in der lokalen Politik, Justiz und Gesellschaft von     nicht verloren bin“                                             17
1945 bis in die 2000er Jahre mit Schuld und Verantwortung
für den Nationalsozialismus umgegangen wurde.                      Schulprojekt „LebensWert“                                       17
                                                                   Abschluss bibliothekspädagogisches Projekt                      18
Und dann finden Sie im Heft – wie gewohnt – weitere
Impressionen aus der Arbeit des DZOK: Zum Erinnerungs-             Neues Bundesprojekt „language matters“                          19
zeichen und Gedenkbuch für die Opfer von NS-Zwangsste-
rilisation und „Euthanasie“, zur pädagogischen Arbeit im           Neue Social-Media-Kanäle des DZOK                               20
Umgang mit menschenverachtender Sprache, zu unseren                Jahrestag Stiftung Erinnerung Ulm 2020                          21
neuen digitalen Angeboten, Berichte vom DZOK-Team und
nicht zuletzt ein Interview mit Prof. Morsch sowie einen           Erfahrungsbericht eines Guides                                  22
Nachruf auf Elisabeth Hartnagel von Silvester Lechner.
Ich möchte mich an dieser Stelle besonders bei den                 Praktikumsbericht                                               24
ehren- und hauptamtlichen Redaktionskolleg*innen,                  Nachruf auf Elisabeth Hartnagel                                 25
unserem langjährigen Gestalter Rainer Ungermann und
den Autor*innen bedanken. Alle haben trotz widriger                Impressum                                                       26
Arbeitsumstände für ein inhaltsreiches Heft gesorgt. Ein
besonderer Gruß geht an Nathalie Geyer, bei der lange die          Neues in Kürze                                                  27
Fäden der Redaktion zusammenliefen und die sich beruf-             Neue Bücher                                                     30
lich verändert hat, sowie an Ángel Ruiz Kontara und Chri-
stian Schulz, die neu dazugekommen sind.                           Veröffentlichungen des DZOK                                     34

Wenn Sie dieses Heft in den Händen halten, haben wir die           DZOK-Programm Sommer/Herbst                                     35
KZ-Gedenkstätte wieder mit kleinen Angeboten geöffnet              Fördernde dieser Nummer                                         36
und die ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen sind auch in der
Büchsengasse wieder aktiv. Noch tasten wir uns vorwärts            Beitrittserklärung                                              36
in eine neue Normalität – lassen Sie uns dies gemeinsam
tun, z. B. bei der Mitgliederversammlung am 17. Juli, zu der
ich Sie hiermit einlade.
                                                                 Titelbild: Haus und Garten von Emilia Kramarczyk in der Ortschaft Brzezinka
Ich grüße Sie herzlich                                           in unmittelbarer Nähe des Vernichtungslagers Birkenau.
                                                                 Brzezinka wurde im 1941 durch die deutschen Besatzer zwangsgeräumt
                                                                 und weitgehend abgetragen, um das Material zur Errichtung des Lagers zu
                                                                 verwenden. Nach Kriegsende kehrten die Bewohner zurück und bauten z.T.
                                                                 mit Material aus dem leerstehenden Lager. Emilias Familie baute auf den
Ihre Nicola Wenge
                                                                 erhaltenen Fundamenten ihr Haus neu auf. Foto: die arge lola

2
Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte
75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz

Was in Ulm am Oberen Kuhberg begann …
Im allgemeinen Gedächtnis sind           Politologen Ernst Fraenkel zu einer                 militärisch genutzt werden sollte.
heutzutage die Begriffe „Konzen-         Art „Verfassungsurkunde des Dritten                 Nach außen wurden das KZ Kuhberg
trationslager“, „Auschwitz“ und          Reiches“, die alle möglichen Macht-                 und die anderen frühen Lager propa-
„Holocaust“      miteinander     ver-    missbräuche rechtfertigte, darunter                 gandistisch als „Besserungsanstalten
schmolzen. Doch Auschwitz ist            den Entzug der persönlichen Freiheit                für irrgeleitete Volksgenossen“ dar-
kein Synonym für die NS-Konzen-          ohne richterliche Überprüfung oder                  gestellt, um ihre Existenz zu legiti-
trationslager. Auschwitz war Teil        Berufungsmöglichkeit.                               mieren und die Haftbedingungen zu
eines Systems, das u. a. in Ulm am       Bereits im März 1933 wurden die                     verharmlosen, vor allem gegenüber
Oberen Kuhberg begann. Dieser            ersten Konzentrationslager von SA,                  Kritik aus dem Ausland. Tatsächlich
Artikel gibt Einblick in die Dynamik     SS und staatlichen Stellen errichtet,               jedoch gehörten Misshandlungen
des Terrors und in die Entwicklung       in denen die Opfer der außergesetz-                 und Folter zum Lageralltag. Gerade
des zentralen NS-Unterdrückungs-         lichen Verhaftungen untergebracht                   auch am Kuhberg, wo ca. 600 Häft-
mechanismus.                             wurden. An diesen improvisierten                    linge v. a. aus der württember-
                                         Haftstätten außerhalb der Justiz                    gischen Arbeiterbewegung inhaftiert
Nicola Wenge                             waren die Häftlinge ungehemmter                     waren. Das Ulmer Lager wurde nach
                                         Gewalt ausgeliefert: in leerste-                    18-monatigem Bestehen im Juli 1935

Die Konzentrationslager stellten ein
wesentliches Herrschaftsinstrument
des nationalsozialistischen Regimes
dar: Politische Oppositionelle sowie
rassistisch und sozial Verfolgte
konnten ohne Gerichtsurteil und auf
unbestimmte Zeit in ein Konzen-
trationslager eingewiesen werden.
Die Konzentrationslager dienten
unterschiedlichen, sich ständig ver-
ändernden und überlagernden Zwe-
cken. In den Vorkriegsjahren nutzte
die SS die Lager als Abschreckungs-
mittel, „Besserungsanstalten“ und
Folterkammern, nur um im Krieg wei-
tere Funktionen hinzuzufügen: Kon-
zentrationslager wurden nun Orte
der Kriegswirtschaft mit zahlreichen
Außenlagern für KZ-Zwangsarbeiter,
Hinrichtungsstätten und Menschen-
versuchsanstalten. Die Lager wurden
gerade durch ihre Vielgestaltigkeit im
zeitlichen Wandel definiert.

Die frühen Lager 1933-1935
Nach der nationalsozialistischen
Machtübernahme wurde eine riesige        Die durch deutsche Emigranten 1936 erstellte Karte von KZ, Zuchthäusern und Gefängnissen zeigt das
Zahl von Oppositionellen verhaftet,      flächendeckende Ausmaß der frühen Verfolgung in den Jahren 1933-1935.
                                         Quelle: Deutsches Historisches Museum Berlin
allein im Jahr 1933 waren dies bis
zu 200.000 Menschen. Fast alle
waren deutsche Staatsangehörige,         henden Kasernen wie am Truppen­                     wieder aufgelöst, weil die Nationalso-
die große Mehrheit von ihnen, vor        übungsplatz Heuberg, in stillgelegten               zialisten ihre Macht gefestigt hatten
allem in den ersten Monaten der          Fabriken wie in Dachau oder in ver-                 und die Umstrukturierung des KZ-
NS-Herrschaft, Kommunisten. Die          alteten Festungsgebäuden wie dem                    Lagersystems längst im Gange war.
ganz überwiegende Zahl der poli-         Fort Oberer Kuhberg. Etwa 80 dieser                 Die verbliebenen Häftlinge wurden
tisch Verfolgten wurde in sogenannte     frühen Konzentrationslager bildeten                 nach Dachau gebracht, das bei der
„Schutzhaft“ genommen. Ein euphe-        auf deutschem Boden ein Netz des                    Umstrukturierung der Lager eine
mistischer Begriff für unbegrenzte       Terrors, um Widerstand zu brechen                   wichtige Rolle spielen sollte.
Inhaftierung, die sich lose auf die      und die Bevölkerung einzuschüch-
Verordnung des Reichspräsidenten         tern.                                               Die Konzentrationslager in der Vor-
zum Schutz von Volk und Staat vom                                                            kriegszeit: Die Jahre 1935-1939
28.2.1933 stützte. Diese Verordnung,     Auch das KZ Oberer Kuhberg war                      Schon im Sommer 1934 setzte eine
von Hitlers Kabinett als Antwort         ein Teil dieses Netzes. Es wurde im                 Systematisierung des KZ-Systems
auf den Reichstagsbrand erlassen,        November 1933 als staatliches Lager                 unter Reichshoheit ein. Im Kampf
setzte     elementare      bürgerliche   des Landes Württemberg einge-                       um die Herrschaft über die Lager
Rechte außer Kraft. Sie wurde in den     richtet. In Nachfolge des KZ Heuberg,               setzte sich die SS gegenüber SA,
Worten des emigrierten deutschen         weil der Truppenübungsplatz wieder                  Landes- und Justizbehörden durch.

DZOK-Mitteilungen Heft 72, 2020                                                                                                          3
Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte
Reichsführer SS Heinrich Himmler                farbigen Stoffwinkeln markiert. Sie     ersten acht Monaten des Jahres
ernannte Theodor Eicke im Juli 1934             mussten um bessere Überlebensbe-        1943 starben rund 60.000 der rund
zum „Inspekteur der Konzentrations-             dingungen konkurrieren und wurden       220.000 Häftlinge an Auszehrung
lager“, dem fortan alle großen Kon-             einer brutalen Lagerhierarchie unter-   und durch Seuchen. Im August 1944
zentrationslager unterstanden. Und              worfen, die nach „rassischen“ und       war die Zahl der registrierten KZ-
Eicke, seit März 1933 Lagerleiter von           anderen Kriterien der SS definiert      Insassen trotzdem auf über 500.000
Dachau, begann mit ihrer systema-               war.                                    gestiegen, im Januar 1945 betrug sie
tischen Vereinheitlichung nach dem              Die steigenden Häftlingszahlen und      über 700.000. Rund 90% von ihnen
Vorbild Dachaus. Er stellte Bewa-               die intensivierten Kriegsvorberei-      waren keine Deutschen. Das darf
chung und Betrieb unter die Herr-               tungen führten ab 1936 auch zu          trotz aller regionalen Verankerung der
schaft der SS-„Totenkopfverbände“.              räumlichen Veränderungen im KZ-         Erinnerungskultur nicht vergessen
Nach außen schottete er das KZ-                 System. Die bestehenden Lager           werden.
System gegenüber Justiz und Ver-                wurden mit Ausnahme Dachaus
waltung weiter ab.                              aufgelöst; neue, größere Lager nach     Mit dem sprunghaften Anstieg der
                                                militärstrategischen und wirtschaft-    Sklavenarbeit veränderte sich die
Die Konzentrationslager wurden                  lichen Gesichtspunkten erbaut: Das      Gestalt des Lagersystems noch
ab Mitte der 1930er Jahre zuneh-                KZ-System bildeten nun die sieben       einmal dramatisch: Bis 1944 waren
mend zu einem Instrument natio-                 Lager Sachsenhausen (1936) und          22 Konzentrationslager eingerichtet
nalsozialistischer Rassenpolitik. Die           Buchenwald (1937), die Steinbruch-      worden, z. T. auch in den eroberten
„Schutzhaftbestimmungen“ wurden                 lager Flossenbürg und Mauthausen        Gebieten. Um sie legte sich ab dem
schrittweise ausgedehnt, um neben               (1938), das Frauenlager Ravensbrück     Winter 1943/44 ein flächendeckendes
politischen Gegnern auch soge-                  (1939), das KZ Neuengamme bei           Netz aus über 1.200 Außen- und
nannte „Feinde der Volksgemein-                 Hamburg (1939) und das vergrößerte      Nebenlagern im besetzten Europa
schaft“, „Sittlichkeits- und Gewohn-            Lager Dachau.                           und im Deutschen Reich, vor allem
heitsverbrecher“ und „Asoziale“                                                         an kriegswichtigen Produktions-
in die KZ sperren zu können. Einen              Die Konzentrationslager im Krieg        stätten. In Württemberg entstanden
Höhepunkt dieser sozialrassistischen            Der Zweite Weltkrieg hatte einmal       einige Dutzend Außenlager der Kon-
Verfolgung bildete 1938 die Aktion              mehr dramatische Auswirkungen           zentrationslager Natzweiler-Struthof,
„Arbeitsscheu Reich“, bei der weit              auf das KZ-System. Unmittelbar          Dachau und Buchenwald. KZ-Häft-
                                                nach Kriegsbeginn erhöhte sich die      linge wurden seit Herbst 1942 in
                                                Zahl der Lager und Häftlinge rapide.    vielen deutschen Städten als Außen-
                                                Eine erste Verhaftungswelle im Sep-     kommandos nach Luftangriffen ein-
                                                tember 1939 erfasste wieder die         gesetzt, auch in Ulm. Dies geschah
                                                politischen Gegner, darunter viele      unter den Augen einer Bevölkerung,
                                                ehemalige Kuhberghäftlinge. Bald        die den entkräfteten Häftlingen nur in
                                                darauf wurden zehntausende Men-         Ausnahmefällen half.
                                                schen aus den besetzten Gebieten,
                                                in der Regel politische Oppositio-      Massentötungen in den KZ und die
                                                nelle und Juden aus Osteuropa, in       Errichtung der Vernichtungslager ab
                                                die Konzentrationslager verschleppt,    1942
                                                wo die Versorgungsbedingungen           Parallel zur Ausweitung der Sklaven-
                                                schnell katastrophal waren. Unter       arbeit wurden die Konzentrations-
                                                den Häftlingen bildeten nun die ost-    lager noch stärker in den Dienst einer
                                                europäischen Lagerinsassen die          radikalisierten Rassenpolitik gestellt,
                                                größte Gruppe. Sie wurden gemäß         die im Vernichtungskrieg gegen die
                                                der NS-Rassenideologie als „slawi-      Sowjetunion, in gezielten Tötungen an
                                                sche Untermenschen“ besonders           kranken und behinderten Menschen
                                                schlecht behandelt. Insgesamt stieg     sowie im systematischen Massen-
                                                die Sterblichkeitsrate in den Lagern    mord an der jüdischen Bevölkerung
                                                stark an. Dabei hingen die Chancen,     und den Sinti und Roma kulminierte.
                                                das KZ zu überleben, entscheidend
                                                von der Herkunft und rassistischen      Die Konzentrationslager wurden nun
Kennzeichen für verschiedene Häftlingsgruppen
in den Konzentrationslagern.
                                                Kategorisierung der Inhaftierten ab.    zu Hinrichtungsstätten für minde-
Quelle: Arolsen Archives                        Schon vor der gezielten Ermordung       stens 50.000 sowjetische Kriegsge-
                                                der Jüdinnen und Juden waren diese      fangene, die als „politische Kommis-
über 10.000 Menschen verhaftet                  neben den osteuropäischen Häft-         sare“ aus der Gefangenschaft in die
wurden, unter ihnen viele Roma und              lingen besonders gefährdet.             KZ überstellt worden waren, und sie
Sinti. Immer mehr und neue Opfer-                                                       wurden zu Menschenexperimentier-
gruppen wurden in den Terror einbe-             1942 wurden die Konzentrations-         anstalten. In fast allen Lagern unter-
zogen: dazu gehörten Homosexuelle,              lager dem Wirtschaftsverwaltungs-       zogen SS-Ärzte Gefangene, vor allem
Zeugen Jehovas (Bibelforscher) und              hauptamt der SS unterstellt. Sie        Sinti und Roma, grausamen medizi-
engagierte Mitglieder der christ-               wurden so Teil eines gigantischen       nischen Experimenten, denen eben-
lichen Kirchen. Seit 1938 kamen                 Wirtschaftsunternehmens.           Im   falls tausende zum Opfer fielen.
politische Gegner aus Österreich,               Herbst 1942 fiel nach dem Über-
dem Sudetengebiet und der Tsche-                fall auf die Sowjetunion und dem        Mit der Entscheidung für die Durch-
choslowakei hinzu. Unmittelbar nach             Scheitern der deutschen Blitzkriegs-    führung des industriellen Massen-
dem Novemberpogrom wurden über                  strategie die Entscheidung für die      mords an „Juden“ und „Zigeunern“
25.000 Juden in die KZ verschleppt,             totale Ausbeutung der Häftlinge in      wurde schließlich das letzte Kapitel
um sie zur Emigration zu zwingen.               der Rüstungsindustrie. Hunderttau-      in der Entwicklung der nationalso-
Die verschiedenen Häftlingsgruppen              sende unterlagen dem Prinzip „Ver-      zialistischen Lager aufgeschlagen.
wurden von der SS im Lager mit                  nichtung durch Arbeit“. Allein in den   Zwischen Dezember 1941 und Juli

4
Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte
1942 wurden in Polen und Weißruss­               zur Ausgrenzung und „Ausmerzung“
land Vernichtungslager wie Treb-                 der als „minderwertig“ angesehenen
linka, Belzec, Sobibor oder Chelmno              Gruppen, schließlich zur Umsetzung              Literatur zum KZ-System
errichtet. In ihnen wurden die Häft-             der völkischen Neuordnung auf der
                                                                                                 Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hg.): Der
linge nicht mehr „umerzogen“ oder                Grundlage deutscher Vorherrschaft.
                                                                                                 Ort des Terrors. Geschichte der natio-
wirtschaftlich ausgebeutet, son-                 Im Zweiten Weltkrieg überzog das
                                                                                                 nalsozialistischen Konzentrationslager,
dern mit ausschließlich rassenbio-               Lagersystem das gesamte besetzte
                                                                                                 9 Bände, München 2005-2009.
logischer Begründung als „Juden“                 Europa, es hatte seine Anfänge aber
oder „Zigeuner“ getötet.                         in Deutschland, auch in Ulm, und es             Ulrich Herbert, Karin Orth, Christoph
Die schon 1939/40 errichteten Kon-               kehrte in den letzten Kriegsjahren              Dieckmann (Hg.): Die nationalsozialis-
zentrationslager    Auschwitz   und              wieder hierher zurück. Nur wenige               tischen Konzentrationslager. Entwicklung
Lublin (Majdanek) wurden 1942 in                 Jahre waren vergangen, bevor aus                und Struktur, Frankfurt am Main 2002.
diesen systematischen Genozid                    den frühen KZ ein Lagersystem des
einbezogen. Hier selektierte die SS              Massen- und Völkermords wurde, in               Stefan Hördler: Ordnung und Inferno –
zwischen Arbeitsfähigen, die durch               dem unvorstellbare Menschheitsver-              Das KZ-System im letzten Kriegsjahr, Göt-
Zwangsarbeit vernichtet werden                   brechen begangen wurden.                        tingen 2015.
sollten, und den Übrigen, die sofort
nach der Ankunft in den Gaskam-                  Das letzte Wort in diesem Text soll             Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System
mern ermordet wurden. Die beiden                 aber nicht dem nationalsozialistischen          der deutschen Konzentrationslager, Mün-
Lager wurden zu Zentren des millio-              Terror gehören. Es soll den Opfern              chen 2004.
nenfachen Massenmordes.                          und den Überlebenden gelten. Ich                Primo Levi: Die Untergegangenen und die
                                                                                                 Geretteten, dt. Übersetzung, München
                                                                                                 1990.
                                                                                                 Geoffrey Megargee (Hg.): The United
                                                                                                 States Holocaust Memorial Museum
                                                                                                 Encyclopedia of Camps and Ghettos,
                                                                                                 1933-1945. Band 1: Early Camps, Youth
                                                                                                 Camps, Concentration Camps and Sub-
                                                                                                 camps under the SS-Business Admini-
                                                                                                 stration Main Office (WVHA), 2 Bde, Bloo-
                                                                                                 mington 2009.
                                                                                                 Karin Orth: Das System der nationalsozi-
                                                                                                 alistischen Konzentrationslager. Eine poli-
                                                                                                 tische Organisationsgeschichte, Hamburg
                                                                                                 1999.
                                                                                                 Jörg Osterloh, Kim Wünschmann (Hg.):
                                                                                                 „… der schrankenlosesten Willkür aus-
                                                                                                 geliefert“. Häftlinge der frühen Konzen-
                                                                                                 trationslager 1933-1936/37, Frankfurt am
                                                                                                 Main 2017.

Transportliste des Außenlagers des KZ Dachau bei den 1936 von Klöckner-Humboldt-Deutz übernom-   Jan Erik Schulte: Zwangsarbeit und Ver-
menen Magirus-Werken vom 15. Januar 1945. Quelle: Arolsen Archives                               nichtung. Das Wirtschaftsimperium der
                                                                                                 SS. Oswald Pohl und das SS-Wirtschafts-
                                                                                                 Verwaltungshauptamt 1933-1945, Pader-
Die Nationalsozialisten ermordeten               möchte deshalb mit einem Zitat                  born u. a. 2011.
in Auschwitz fast eine Million Juden,            des italienischen Auschwitz-Über-
mehr als an irgendeinem anderen                  lebenden Primo Levi schließen. Es               Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Ter-
einzelnen Ort, und nachdem sowje-                stammt aus seinem Buch „Die Unter-              rors. Das Konzentrationslager, Frankfurt
tische Truppen schließlich im Januar             gegangenen und die Geretteten“                  am Main 1993.
1945 das Lager befreit hatten, blieb             von 1986 und ist auch heute aktuell:
ein großer Teil der Infrastruktur des            „Gewalt ob ‚sinnvoll‘ oder ‚sinnlos‘,           Sibylle    Steinbacher:   Auschwitz.
Mordens erhalten. Dies ist ein Grund,            ereignet sich vor unseren Augen.                Geschichte und Nachgeschichte, Mün-
warum wir so viel mehr über Ausch-               Sie ist gegenwärtig in einzelnen und            chen 2004.
witz als über die anderen Vernich-               privaten Begebenheiten oder auch                Johannes Tuchel: Konzentrationslager.
tungslager wissen. Ein zweiter sind              als vom Staat getragene Illegalität.            Organisationsgeschichte und Funktion
die Zeugnisse der Überlebenden. Zu               Die Länder und die Menschen – so                der „Inspektion der Konzentrationslager“
ihnen gehört auch Esther Bejerano,               scheint es manchmal – warten nur                1934-1938, Boppard am Rhein 1991.
die als Jugendliche in Ulm gelebt                auf den neuen Hanswurst…, der die
hatte, im Mädchenorchester von                   Gewalttätigkeit organisiert, sie legali-        Nikolaus Wachsmann: KL. Die Geschichte
Auschwitz spielen musste und die                 siert, sie als notwendig und geboten            der nationalsozialistischen Konzentrati-
Befreiung auf einem Todesmarsch                  erklärt und die Welt vergiftet… Daher           onslager, München 2016.
des KZ Ravensbrück erlebte.                      müssen wir unsere Sinne schärfen,
                                                 den Propheten, den Zauberern und all            Nicola Wenge: Das System der natio-
„Wir müssen unsere Sinne schärfen“               denen misstrauen, die schöne Worte              nalsozialistischen Konzentrationslager,
– Primo Levi                                     sprechen und schreiben, die aber                https://www.bpb.de/geschichte/nati-
Die nationalsozialistischen Konzen-              durch keine guten Gründe gestützt               onalsozialismus/ravensbrueck/60677/
trationslager waren zuerst ein Instru-           sind.“                                          das-system-der-nationalsozialistischen-
ment zur Sicherung der Macht, dann                                                               konzentrationslager.

DZOK-Mitteilungen Heft 72, 2020                                                                                                                5
Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte
Ermordet – Gerettet – Befreit

Ulmer Biografien und Auschwitz
Es sind nicht nur die strukturellen      verfolgung keine anonyme Aktion war        letzter Minute zerschlagen wurden.
Hintergründe, sondern gerade auch        und hinter jeder Zahl eine Biografie,      1941 wurde die Auswanderung ver-
die individuellen Verfolgungsge-         ein Mensch steckt.                         boten und die Vernichtung der euro-
schichten, die das Wissen schärfen                                                  päischen Juden eingeleitet. Durch
und den Blick auf die Komplexität        Ermordet                                   Samuel Hirschs Rolle als Spezialist in
der Verfolgung richten. Der Titel        Mina Hirsch wurde am 29. Mai 1927          dem kriegswichtigen Unternehmen
dieses Artikels deutet dies an:          in Ulm geboren. Ihre Eltern waren          konnte eine Einreihung in eine der
„Ermordet – Gerettet – Befreit“. Die     Samuel und Ilse Hirsch. „Bobby“, wie       drei großen Ulmer Deportationen
drei Begriffe stehen für drei Ulmer      Mina Hirsch von ihren Freundinnen          zunächst verhindert werden. Dies
Biografien, die mit dem Konzentra-       genannt wurde, durfte nur kurz in          änderte sich im Frühjahr 1943, als im
tions- und Vernichtungslager Aus-        eine reguläre Schule gehen. Die nati-      Rahmen der so genannten „Fabrik­
chwitz verknüpft sind: Mina Hirsch,      onalsozialistischen    Rassegesetze        aktion“ tausende bis zu diesem Zeit-
Fritz Hirsch und Esther Bejarano.                                                   punkt als unabkömmlich geltende
                                                                                    Juden ab dem 1. März 1943 gezielt
Ingo Bergmann                                                                       verhaftet und mit ihren Familien
                                                                                    direkt nach Auschwitz-Birkenau ver-
                                                                                    schleppt wurden.
Zwischen dem 20. Mai 1940 und                                                       Zusammen mit 41 weiteren Juden
dem 27. Januar 1945 wurden in                                                       aus Württemberg wurde die Ulmer
den drei Hauptlagern Auschwitz I                                                    Familie Hirsch an diesem ersten
(Stammlager), Auschwitz-Birkenau                                                    Tag der Aktion deportiert. Der Groß-
und Auschwitz III (Monowitz) zwi-                                                   transport war zusammengesetzt aus
schen 1,1 und 1,5 Millionen Men-                                                    Einzeltransporten aus Stuttgart, Trier,
schen ermordet.                                                                     Düsseldorf und Dortmund. Insge-
                                                                                    samt erreichten etwa 1.500 Personen
Für die Überlebenden der Shoah, die                                                 am folgenden Tag die Selektions-
Angehörigen der Opfer und deren                                                     rampe des Vernichtungslagers. Nur
Nachkommen steht Auschwitz aber                                                     150 Menschen wurden in das Lager
nicht für die entrückte Summe von                                                   eingewiesen, die anderen wurden
über eine Million getöteter Men-                                                    umgehend in den Gaskammern
schen, sondern ganz persönlich für                                                  des Lagers ermordet. Von Familie
den Tod geliebter Menschen. Es ist                                                  Hirsch fehlt seit dem 1. März 1943
die persönliche, menschliche Dimen-                                                 jedes Lebenszeichen. Sie befinden
sion der Erinnerung an Auschwitz.                                                   sich unter den mehr als eine Million
Briefe, Dokumente und Fotografien                                                   Opfern.
berichten über die Schicksale. Sie
bilden ein kollektives Gedächtnis,                                                  Gerettet
das in der Gedenkstätte Auschwitz-                                                  In Ulm existierte eine zweite Familie
Birkenau, in Yad Vashem und den          Mina Hirsch, genannt Bobby, im September   Hirsch, die nicht mit dem Ehepaar
vielen anderen Gedenkstätten am          1940. Foto: A-DZOK                         Samuel und Ilse Hirsch verwandt war.
Leben erhalten wird.                                                                Diese zweite Familie Hirsch stammte
                                                                                    ursprünglich aus Wankheim bei Reut­
Große Bedeutung in der Erinnerungs-      schlossen Mina und die anderen             lingen. 1876 kehrte der 20 Jahre
arbeit kommt auch kleinen Initiativen    jüdischen Kinder und Jugendlichen          zuvor aus Wankheim nach Amerika
und bürgerschaftlichen Engagements       von den öffentlichen Bildungsein-          ausgewanderte Moritz Hirsch in
in Deutschland und der ganzen Welt       richtungen aus. Sie konnte ab 1936         seine schwäbische Heimat zurück
zu. Wo immer Gedenken individu-          die jüdische Schule im Rabbinats-          und siedelte sich in Ulm an. Der ame-
alisiert wird, transformieren sich       gebäude am Weinhof besuchen.               rikanische Staatsbürger heiratete hier
die reinen Statistiken des Mordens       Nachdem Mina Hirsch die Schule ver-        Anne Moos. Das Ehepaar hatte vier
in nachempfindbare Geschichten.          lassen hatte, fand sie ca. 1940 in der     Kinder: Otto, Martha, Edwin und Leo-
Aus Nummern werden Nachbarn,             Firma Neubronner & Sellin, wie die
Freunde und Verwandte. Die Indivi-       arisierten „Nathan Strauss Hütten-
dualisierung des Gedenkens weckt         werke“ nun hießen, eine Anstellung.
Empathie und führt die Erinnerung        Dort war ihr Vater leitender Prokurist.
an dieses vergangene Kapitel der         Samuel Hirsch durfte die Stellung
Geschichte in die Lebenswelt der         trotz der „Arisierung“ des Unter-
Gegenwart.                               nehmens behalten. Mit Beginn des
                                         Zweiten Weltkrieges wurde die
Die Biografien von Mina Hirsch, Fritz    Firma als kriegswichtig eingestuft
Hirsch und Esther Bejarano zeigen        und Samuel Hirsch war zunächst vor
die unterschiedlichen Verknüpfungs-      einer Deportation geschützt. Dass
punkte Ulms mit dem Vernichtungs-        die Familie sich darauf nicht blind ver-
lager Auschwitz. Es wird deutlich,       lassen wollte, belegen die Auswande-
dass die nationalsozialistische Juden-   rungsbemühungen nach Chile, die in         Anneliese und Fritz Hirsch. Foto: privat

6
Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte
pold. Moritz Hirsch führte zusammen       letzten Ulmer Juden in der Stadt. Im
mit seinem Bruder Heinrich das            Rahmen der „Fabrikaktion“ erhielt er
Bekleidungsgeschäft        M. H. Hirsch   am 1. März 1943 seinen Deportati-
in der Bahnhofstraße. Das Geschäft        onsbefehl nach Auschwitz-Birkenau.
und die Wohnung befanden sich             Von Ulm wurde er zusammen mit
direkt neben dem Geburtshaus von          Samuel, Ilse und Mina Hirsch in das
Albert Einstein. Durch die Heirat von     zentrale Durchgangslager am Stutt-
Leopold Hirsch und Frida Moos, der        garter Killesberg gebracht.
Tochter von Adolph Moos und Friede-
ricke Einstein, wurden beide Familien     In letzter Sekunde gelang es
verwandt.                                 Fritz Hirsch, die Gestapo davon
Nach dem frühen Tod von Moritz            zu überzeugen, dass er amerika-
Hirsch im Jahre 1897 bauten die           nischer Staatsbürger sei. Durch die
Brüder Leopold und Otto Hirsch das        Geschichte der Auswanderung und
väterliche Geschäft weiter aus. Es        Wiedereinwanderung seines Großva-
wurde in die Hafengasse 18 verlegt.       ters, Moritz Hirsch, konnte er offenbar
Die wirtschaftlich erfolgreiche Familie   insoweit Verwirrung stiften, als dass
konnte sich zu Beginn des 20. Jahr-       dieser Sachverhalt nicht adhoc geklärt
hunderts zunächst eine Wohnung in         werden konnte. Fritz Hirsch wurde
der beliebten Neutorstraße leisten.       wieder freigelassen und durfte nach
Später erwarb Leopold Hirsch das          Ulm zurückkehren. Für die nächsten
Gebäude „Neutorstraße 30“. Am             Wochen lebte er im letzten jüdischen
17.3.1908 bekam das Ehepaar sein          Haus der Stadt: Schuhhausgasse
erstes Kind: Fritz Moritz Hirsch. Im      9. Von dort schrieb er in einem Rot-      Esther Bejarano, geb. Loewy, Ulm 1939.
Jahr darauf folgte Hans und 1921 die      Kreuz-Telegramm an seinen Vater           Foto: A-DZOK
Tochter Anneliese.                        und berichtete von seiner glücklichen
                                          Rettung. Der Gestapo gelang es auch
Nach der Machtübernahme der Nati-         in den folgenden Wochen nicht, die        jüdischen Landschulheim in Herr-
onalsozialisten litten die Familie und    Geschichte zu widerlegen. Daraufhin       lingen und dann ab 1939 für einige
die Firma zunehmend unter Repres-         wurde Hirsch als amerikanischer           Zeit in der Schule ihres Vaters. 1940
salien. Dennoch gelang es Leopold         Zivilgefangener in Laufen in der          verließ die Familie Ulm. Während
und Otto Hirsch, das Unternehmen          Oberpfalz und später in Tittmoning        die Eltern nach Breslau gingen, zog
durch Exporte zunächst am Leben           interniert. Dort konnte er bis Januar     Esther nach Berlin und bereitete sich
zu erhalten. Doch nach der Pogrom-        1945 unter relativ guten Bedingungen      später im „Gut Winkel“ und im „Gut
nacht vom 9. November 1938 musste         überleben. Ende Januar 1945 wurde         Ahrensdorf“ auf eine Auswanderung
die Firma aufgegeben werden. Die          er mit 1.000 weiteren Amerikanern         nach Palästina vor. Dort wurde sie
Familie setzte nun alles daran, das       in Südfrankreich gegen 1.000 Deut-        verhaftet und in das Zwangsarbeits-
Land zu verlassen und auszuwan-           sche ausgetauscht. Nach der Über-         lager Neuendorf überstellt. Das Lager
dern. Als erstes gelang es, mit Hilfe     gabe stellten die Amerikaner fest,        wurde 1943 aufgelöst und die dort
von Albert Einstein die Ausreise für      dass er kein Staatsbürger der USA         befindlichen Juden wurden am 20.
Anneliese zu organisieren. Sie konnte     war. Fritz Hirsch wurde aber nicht        April 1943 nach Auschwitz-Birkenau
in die USA reisen und in den ersten       nach Deutschland zurückgeschickt,         deportiert.
Monaten bei ihrem berühmten Ver-          sondern über das Mittelmeer in ein
wandten in Princeton unterkommen.         Displaced Persons Camp in Alge-           Nach der Ankunft in Auschwitz
Nach dem deutschen Überfall auf           rien gebracht. Dort erlebte er das        konnte Esther Loewy einen Platz
Polen und dem Ausbruch des Krieges        Kriegsende und lernte seine spätere       im „Mädchenorchester“ des Lagers
im September 1939 wurden die Mög-         Ehefrau Grete Rosenbaum kennen.           erlangen. Sie brachte sich das Akkor-
lichkeiten zur Auswanderung immer         Gemeinsam konnten sie mit Hilfe           deonspielen bei und überlebte so die
geringer. Leopold und Frida Hirsch        von Albert Einstein in die USA aus-       folgenden Monate. Jeden Morgen
gelang die Emigration Dank der finan-     wandern. In einem Brief nannte der        und Abend musste das Orchester für
ziellen Unterstützung Einsteins über      Physiker das Überleben seines Groß-       die aus- und einziehenden Arbeits­
die Transsibirische Eisenbahn, Korea      neffen „eine wundersame Rettung“.         kolonnen spielen. Nach einigen
und Japan nach San Francisco. In                                                    Monaten wurde Loewy Ende 1943
einem mehrseitigen Bericht erinnerte      Befreit                                   in das Frauenkonzentrationslager
sich Leopold Hirsch an die abenteu-       Als die Rote Armee am 27. Januar          Ravensbrück       überstellt.   Gegen
erliche Flucht.                           1945 das Vernichtungslager Ausch-         Kriegsende erfolgte die Räumung des
                                          witz-Birkenau erreichte, fand sie ca.     Lagers und die inhaftierten Frauen
In Ulm verblieb Fritz Hirsch. Er arbei-   7.000 Überlebende vor. Viele starben      wurden auf einen Todesmarsch
tete in der Kanzlei von Ernst Moos        aber in den folgenden Tagen an den        gezwungen. In einem unbeobach-
und half Juden bei der Emigration.        Folgen der Haft. Zu den Überle-           teten Moment konnte Esther Loewy
Mit Fortschreiten der Judenverfol-        benden des Lagers, auch wenn sie          fliehen und untertauchen.
gung wurde das Büro aber auch             zum Zeitpunkt der Befreiung nicht         Nach der Befreiung emigrierte sie
gezwungen an den Deportationen            mehr in Auschwitz war, zählt Esther       nach Israel und heiratete Nissim
mitzuwirken. Ernst Moos musste            Bejarano.                                 Bejarano. Im Jahre 1960 kehrte sie in
die zur Deportation bestimmten            Sie war am 15. Dezember 1924 in           die Bundesrepublik zurück und lebt
Ulmer*innen über ihr Schicksal in         Saarlouis geboren worden und 1936         seitdem in Hamburg. Esther Bejarano
Kenntnis setzen und den Transport         mit ihren Eltern Rudolf und Marga-        widmete ihr Leben der Erinnerungs-
mitorganisieren.                          rethe Loewy nach Ulm gekommen.            und Bildungsarbeit. Als Sängerin und
Nach der letzten großen Deportation       Ihr Vater hatte hier die Lehrerstelle     Zeitzeugin tritt sie bis heute auf der
am 22.8.1942 nach Theresienstadt          in der jüdischen Schule erhalten.         Bühne auf und berichtet in Schul-
verblieb Fritz Hirsch als einer der       Esther war zunächst Schülerin im          klassen von ihrem Schicksal.

DZOK-Mitteilungen Heft 72, 2020                                                                                              7
Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte
Sonderausstellung „Nebenan“

Die Nachbarschaften der Lager Auschwitz I-III
Die Stuttgarter Fotografen Kai
Loges und Andreas Langen (die
arge lola) legen mit ihren Ausstel-
lungsbildern Zonen an einer beson-
deren Bruchlinie von Geschichte
und Gegenwart frei. Zu den Bildern
einer Ausstellung, die Orte und
Menschen im heutigen Oświęcim
(Auschwitz) und Brzezinka (Bir-
kenau) in unmittelbarer Nähe der
ehemaligen Lager zeigt.

Annette Lein

Auschwitz gilt als ein vielfach „aus-
geleuchteter“ Ort, seit Jahrzehnten
erforscht, von Millionen Besuchern
jedes Jahr besichtigt. Das Grauen,
das sich mit diesem Ort verbindet,
lässt andere Tatorte des nationalsozi-
alistischen Völkermords in den Hinter-    Zufahrt zum Besucherzentrum am ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz II/Birkenau. Der Pfosten
grund treten. Keine andere Gedenk-        steht im Gleisbett der Eisenbahnzufahrt ins Lager. Foto: die arge lola
stätte zieht so viele Besucher*innen
an wie das Staatliche Museum
Ausch­witz-Birkenau. Der Andrang hat
sich in den vergangenen zehn Jahren
fast verdoppelt.                          Loges und Langen sehr wichtig. Ihre              gezeichnet ist. Diese Annähe-
Trotzdem existiert im unmittelbaren       Fotografien sind zudem von einem                 rung, gebündelt in der Ausstellung
Umfeld des ehemaligen Konzentra-          sensiblen und zugewandten Blick                  „Nebenan“, läuft für die Ausstel-
tions- und Vernichtungslagers Ausch-      auf die Menschen geprägt. Sie ver-               lungsmacher auf die Frage zu: Was
witz-Birkenau 75 Jahre nach dessen        knüpfen die Relikte der Vergangen-               ist das, der Geist des Ortes, bzw. gibt
Befreiung eine fast unbekannte            heit mit ganz pragmatischen, aber                es ihn überhaupt?
Sphäre: die Lebenswelt von Men-           auch emotional schwierigen lebens­
schen, die aufgrund historischer und      alltäglichen Dingen der Porträtierten            Die Präsentation der Sonderausstel-
biografischer Fügung zu Nachbarn          – eben in der unmittelbaren Nach-                lung in Ulm ist Teil einer gemeinsamen
dieser Schreckensorte geworden            barschaft, wie etwa der im Wind flat-            Veranstaltungsreihe an Gedenk-
sind. Deren Alltag wird von den Foto-     ternden Wäsche auf einer Leine, in               stätten in Baden-Württemberg unter
grafen Loges und Langen dokumen-          deren Hintergrund das Auschwitztor               dem Titel „1945 damals und heute.
tiert, oft überraschend und produktiv     zu sehen ist und das als Leitbild der            75 Jahre nach der NS-Diktatur und
verstörend. Ihre Erkundungen, die sie     Ausstellung vorangestellt ist.                   dem Ende des Zweiten Weltkriegs“.
in den letzten Jahren mehrfach nach                                                        Sie entstand in Kooperation zwischen
Oświęcim und Brzezinka führten,           Für die Wanderausstellung „Nebenan               der Landesarbeitsgemeinschaft der
konzentrieren sich auf das unmittel-      – Die Nachbarschaften der Lager                  Gedenkstätten und Gedenkstätten­
bare Umfeld der ehemaligen Haupt-         Auschwitz I-III“, die das DZOK am 8.             initiativen in Baden-Württemberg
lager Auschwitz I-III: das Stammlager,    Mai 2020 in digitaler Form eröffnete,            und der Landeszentrale für politische
das Vernichtungslager Birkenau und        haben die Fotografen fünfzig Fotogra-            Bildung.
das Arbeitslager Monowice/Buna-IG         fien ausgewählt. Die Bilder werfen
Farben.                                   grundlegende Fragen auf: Wie leben
                                          Menschen im Schatten einer ein-                     Info
Typisch für die Arbeit der beiden         stigen Mordstätte? Wie gestaltet                    Kai Loges und Andreas Langen arbeiten
Stuttgarter ist ein streng dokumen-       sich das Zusammenleben angesichts                   seit 1989 zusammen. Zunächst für ein-
tarischer Ansatz. Sie verzichten auf      historischer Traumata? Wie verhalten                zelne Projekte, seit 1994 fest als „die
Requisiten, technische Raffinessen        sich individuelles und kollektives                  arge lola“ – ein Spiel mit dem Kürzel für
und Hilfsmittel der Fotografie.           Gedächtnis zueinander?                              Arbeitsgemeinschaft und den Anfangs-
Schönen und Verfälschen kommt für         Zur Reflexion dieser Fragen kombi-                  silben ihrer Nachnamen. Loges und
sie nicht in Frage. Auch ihre Eindrücke   nieren die Fotografen die Bilder mit                Langen haben an der FH Bielefeld Foto-/
von Auschwitz sind ohne Scheinwer-        Texten, die räumliche und historische               Filmdesign studiert und treten heute
ferlicht wiedergegeben. „Künstliches      Verortungen ermöglichen sowie                       gemeinsam als Bild- und Konzeptautoren
Licht hätte die Szenen theatralisch       Zeitzeug*innen und Anwohner*innen                   auf, Andreas Langen zusätzlich auch als
wirken lassen. Das wäre unange-           zu Wort kommen lassen. Die Texte                    Textautor. Daneben unterrichten beide
bracht“. Diese Grundüberzeugung,          beschreiben Menschen und Bio-                       an diversen Hochschulen.
auf einen Effekt eher zu verzichten       grafien in einer Umgebung, die                          http://www.dieargelola.de
als ihm unreflektiert zu erliegen, ist    von extremer Gewaltgeschichte

8
Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte
Online-Sonderausstellung und digitales Begleitprogramm

Ein Gemeinschaftsprojekt in bewegten Zeiten
Nachdem die geplante Sonder-
ausstellung mit Begleitprogramm
in der KZ-Gedenkstätte coronabe-
dingt abgesagt werden musste, hat
das DZOK-Team mit den beteilig­ten
Künstlern und Referent*innen
innerhalb von sechs Wochen eine
Online-Ausstellung erarbeitet. Hier
eine Vorstellung der neuen digi-
talen Inhalte.

Annette Lein, Nicola Wenge

Zum 75. Jahrestag der Befreiung
hatte das Dokumentationszentrum
Oberer Kuhberg wie viele andere
Gedenkstätten im Land ein umfang-
reiches Programm geplant, von
langer Hand und im Verbund mit
vielen anderen Erinnerungsorten          Annette Lein im Gespräch mit Andreas Langen in der KZ-Gedenkstätte. Foto: bateau blanc, Malte
im Land. Doch in Ulm wie überall         Kirchner
mussten die Gedenkfeiern, Begeg-
nungsprogramme,        Ausstellungen
und Veranstaltungen in Erinnerung        sie darin die 50 ausgewählten Bilder             mige Jurist vertrat Nebenkläger im
an Befreiung und Ende des Zweiten        mit prägnanten Kurztexten, die wert-             Lüneburger Auschwitzprozess, im
Weltkriegs abgesagt werden. Und          volle Kontextualisierungen geben.                NSU-Prozess und aktuell im Ulmer
so hat sich das DZOK-Team auf die        Ein 30-minütiger Autorenfilm bietet              Prozess wegen eines Brandan-
Suche nach angemessenen, alterna-        zudem individuelle Erklärungen und               schlags auf eine Romafamilie im Mai
tiven Formen der Erinnerungs- und        weiterführende Reflexionen. Im                   2019. Die Prozesse bilden auch den
Informationsvermittlung begeben.         Gespräch mit DZOK-Gedenkstätten-                 roten Faden des Gesprächs.
Konkret ging es darum, die wich-         pädagogin Annette Lein ebnet Foto-               In einem Kurzfilm präsentiert die
tigen Inhalte der Sonderausstel-         graf Andreas Langen so anschaulich               Ulmer Lehrerin Anne Käßbohrer
lung „Nebenan“ zu zeigen und die         den Zugang zu einem ebenso kom-                  eine lokale Ausstellungsergänzung
Begleitveranstaltungen durchführen       plexen wie wichtigen Thema.                      vor dem Eingangsbereich der KZ-
zu können. Das DZOK hat hierzu                                                            Gedenkstätte     Oberer    Kuhberg.
– mit Unterstützung der LpB und          So perspektivenreich die Ausstel-                Sie stellt Kunstobjekte vor, die im
gemeinsam mit den Ausstellungs-          lung ist, so vielgestaltig ist auch das          Rahmen des Projekts „Nach der
machern und Referent*innen – in          digitale Begleitprogramm, das den                Sprachlosigkeit Worte finden“ ent-
sechs Wochen ein vielfältiges Online-    Schwerpunkt auf den Umgang der                   standen sind. Schüler*innen und
Angebot für seine Website und aus-       Deutschen mit Auschwitz von der                  Senior*innen hatten die Werke in
gewählte soziale Netzwerke entwi-        Nachkriegszeit bis zur Gegenwart                 Auseinandersetzung mit ihrer Ausch-
ckelt, das seit dem 8. Mai verfügbar     legt. Es besteht aus einer Lesung,               witzexkursion 2019 unter Leitung von
ist. Hilfreich war dabei, dass wir       einem Audiogespräch und einem                    Georg Kocheise, Anne Käßbohrer
schon auf Erfahrungen zurückgreifen      Kurzfilm: Den Auftakt macht Autor                (Hans und Sophie Scholl-Gymnasium
konnten, die wir bei der Erarbeitung     Harald Jähner mit einer digitalen                Ulm) und Karl Giebeler (Männeraka-
der DZOK-Online-Ausstellung „Erin-       Lesung aus seinem Buch „Wolfs-                   demie der vh Ulm) erarbeitet.
nern in Ulm“ gesammelt hatten            zeit. Deutschland und die Deutschen
(siehe hierzu auch S. 11). Es wurden     1945-55“. Der Autor gibt kommentie-              Ohne die unkomplizierte, engagierte
aber auch ganz neue digitale Formate     rend Einblicke in seine viel beachtete           und kreative Bereitschaft aller Betei-
realisiert.                              Mentalitätsgeschichte der Nach-                  ligten zur Erarbeitung dieser Formate
Und so ist in wenigen Wochen aus         kriegszeit, die 2019 den Preis der               wäre es nicht möglich gewesen, Aus-
der geplanten Sonderausstellung          Leipziger Buchmesse gewann.                      stellung und Begleitprogramm derart
„Nebenan“ eine Online-Ausstellung        Welche Lehren zog die Justiz aus                 facettenreich zu präsentieren. Unser
mit 50 ausgewählten Fotografien          den Menschheitsverbrechen von                    besonderer Dank geht an die arge
geworden. Besucher*innen können          Auschwitz? Und wie bewähren sich                 lola, Mehmet Daimagüler, die Firma
diese Bilder auf unserer Website in      Staat und Gesellschaft im Umgang                 intermetrics, Harald Jähner, Anne
einer Fotogalerie betrachten, um die     mit aktuellem Rechtsterrorismus?                 Käßbohrer und Malte Kirchner von
Arbeiten im Detail anzuschauen und       Diesen und anderen Fragen von                    Bateau Blanc für die gute Koopera-
auf sich wirken zu lassen. Kai Loges     DZOK-Leiterin Dr. Nicola Wenge                   tion, die DZOK-Mitarbeitenden Josef
und Andreas Langen haben darüber         stellt sich Dr. Mehmet Daimagüler,               Naßl und Katja Hamm sowie Sibylle
hinaus eine auf Ulm zugeschnittene       einer der führenden Opferanwälte                 Thelen und Christina Schneider von
Ausstellungspublikation      verfasst.   Deutschlands in einem 30-minütigen               der Landeszentrale für politische Bil-
Nach einer Einführung kombinieren        Audio-Interview. Der türkischstäm-               dung für ihre Unterstützung.

DZOK-Mitteilungen Heft 72, 2020                                                                                                     9
Mitteilungen Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e. V - KZ-Gedenkstätte
75 Jahre Kriegsende. Zusammenbruch, „Stunde null“ oder Befreiung in Ulm?

„Endlich. Endlich ist es soweit. Wir sind frei!“
Am 24. April 1945 rückten ameri-          Ausbeutung und den zunehmenden                 wenigen Mitglieder der Ulmer
kanische Einheiten aus Richtung           unmenschlichen Arbeits- und Lebens-            jüdischen Gemeinde, die die Depor-
Blautal kommend in Ulm ein,               bedingungen in Ulm gelitten und der            tation und den Holocaust überlebt
gleichzeitig besetzten französische       Ankunft der Alliierten entgegengefie-          hatten. Von den vormals über 500
Truppen zunächst den Vorort               bert. So ist auch das im Titel verwen-         Ulmer Jüdinnen und Juden kehrte nur
Wiblingen. Auf Widerstand trafen          dete Zitat aus einem Tagebuchein-              eine Handvoll Überlebender in ihre
die alliierten Truppen nicht, einzig      trag der polnischen Zwangsarbeiterin           Heimatstadt zurück. Etwa Resi Weg-
die Donaubrücken waren noch in            bei der Firma Telefunken, Gabriela             lein, die nach der Rückkehr Zeugnis
einem Akt letzten Kadavergehor-           Knapska, entnommen. Die 17-Jäh-                ablegte über das unbeschreibliche
sams von Wehrmachtssoldaten               rige war mit ihrer Zwillingsschwe-             Leid, das sie in Theresienstadt miter-
gesprengt worden. Für die Men-            ster aus ihrer Heimatstadt Łódź nach           leben musste. Zurück kehrten auch
schen, die in der zerstörten Dop-         Ulm verschleppt und zur Arbeit in              einige Angehörige der jungen Gene-
pelstadt Ulm und Neu-Ulm lebten,          der als kriegswichtig geltenden Röh-           ration der Ulmer Juden als alliierte
war der Krieg vorbei.                     renproduktion in der Wilhelmsburg              Soldaten, die für diese Befreiung
                                          gezwungen worden.                              gekämpft hatten. Der 25-jährige
Josef Naßl                                                                               Peter Ury, der im Sommer 1945 in bri-
                                                                                         tischer Armeeuniform nach Ulm kam
                                                                                         und nach seiner Mutter Hedwig Ury
Die individuellen Erfahrungen der in                                                     suchte, erfuhr hier von Resi Weglein,
Ulm verbliebenen Menschen waren                                                          dass sie über Theresienstadt nach
geprägt durch die Zerstörung der                                                         Auschwitz deportiert worden war.
Stadt in den letzten Kriegsmonaten,                                                      Für die Opfer des Holocaust kam
die Radikalisierung der Terrormaß-                                                       jede Befreiung zu spät.
nahmen im „Totalen Krieg“ und der                                                        Keine Befreiung gab es auch für
menschenverachtenden Behandlung                                                          diejenigen, die in psychiatrischen
derjenigen, die als Arbeitskräfte für                                                    Heilanstalten untergebracht waren,
den Kriegseinsatz aus dem besetzten                                                      die weiterhin unter katastrophalen
Europa zwangsrekrutiert waren. Der                                                       Zuständen lebten und im Rahmen
Vertrauensverlust breiter Teile der                                                      der „dezentralen Euthanasie“ an
Bevölkerung in das NS-Regime stand                                                       Hunger, Vernachlässigung und feh-
im Kontrast zu den Durchhalteparolen                                                     lender Behandlung starben oder
der örtlichen Machthaber, die durch                                                      gezielt getötet wurden. So starb der
die schnellen militärischen Erfolge                                                      nicht einmal vierjährige Ulmer Nor-
der Alliierten ad absurdum geführt                                                       bert Groß noch am 23. Mai 1945 in
wurden. In seiner letzten Ausgabe                                                        der Heilanstalt Kaufbeuren, wo das
vom 21. April 1945 titelte das Ulmer                                                     Anstaltspersonal das nationalsozia-
Tagblatt dann nur noch lapidar „Lage      Amerikanischer Panzer vor den Ruinen in der    listische Mordprogramm der „Kin-
hat sich östlich von Berlin und Lausitz   Hirschstraße am 24. April 1945. Foto: A-DZOK   dereuthanasie“ nach der Besetzung
verschärft“. Am 23. April verließen                                                      der Stadt durch alliierte Truppen ein-
die führenden Ulmer Nationalsozia-                                                       fach fortführte.
listen, Oberbürgermeister Friedrich       Eine Befreiung war der Einmarsch               Keine     Befreiung      stellte   das
Foerster, Polizeidirektor Erich Hage-     auch für die Gegner*innen des Nati-            Kriegsende auch für die inhaftierten
meyer und Kreisleiter Wilhelm Maier,      onalsozialismus, sei es für widerstän-         Ulmerinnen und Ulmer dar, die als
die Stadt und tauchten getrennt von-      dige Jugendliche wie den Ulmer Heinz           soziale Außenseiter oder Homose-
einander unter.                           Brenner, der im Oktober 1944 deser-            xuelle verfolgt worden waren, die
                                          tiert war und sich bis Kriegsende bei          als Verbrecher galten und deren
Die Ankunft der Besatzungstruppen         einem Netzwerk aus Helfer*innen auf            Verfolgung nicht als nationalsozialis-
weckte bei den Menschen in der            der Alb versteckte. Oder auch für all          tisches Unrecht anerkannt war und
Donaustadt ganz unterschiedliche          jene, die nach frühen Erfahrungen der          für die sich die Gefängnistore nicht
Gefühle. Für die nach wie vor über-       NS-Repression in der „inneren Emi-             öffneten.
zeugten       Nationalsozialist*innen     gration“ weiterlebten, wie der Ulmer           Zunächst wurde das Kriegsende
stellte sie einen Zusammenbruch,          Sozialdemokrat und spätere Mitbe-              von der Mehrheit der Deutschen
ja ein apokalyptisches Ende ihrer         gründer der Schwäbischen Donauzei-             als Zusammenbruch und „Stunde
Lebenswelt dar. Die Masse der             tung Johann Weißer. Befreit wurden             Null“ begriffen, also als Zäsur, die
Mitläufer*innen schwankte zwi-            im April auch die politisch widerstän-         eine in der Realität nicht konsequent
schen Resignation und Erleichterung       digen Ulmer wie Josef Schuhbauer,              vollzogene Abkehr vom Nationalso-
darüber, dass der Krieg nun endlich       Emil Benz oder Alois Lohr, die die             zialismus markieren sollte. Dieser
zu Ende war.                              Konzentrationslager, darunter das              Mythos diente dazu, die Opfernarra-
Eine Befreiung hingegen war               KZ Buchenwald bei Weimar, überlebt             tive der Nachkriegszeit zu verstärken,
sie vor allem für die tausenden           hatten und die Ende April in ihre Hei-         mit denen sich die Mehrheitsgesell-
Zwangsarbeiter*innen,      die     ca.    matstadt zurückkehren konnten.                 schaft von individuellem Schuldemp-
die Hälfte der 25.000 in der Stadt                                                       finden befreite.
zurückgebliebenen Menschen aus-           Eine Befreiung war der Sieg der                Befreit fühlten sich zunächst nur die
machten. Sie hatten stark unter der       Alliierten schließlich auch für die            Verfolgten, für die meisten Deut-

10
schen lebte das Gefühl der Nieder-        und widerlegte damals noch vorhan-          Nazis verführtes Volk als Befreite
lage weiter. Dies änderte sich mit        denen Geschichtslegenden und Rela-          begreift.
der Rede des Bundespräsidenten            tivierungen.                                Der Journalist Alexander Neuba-
Richard von Weizsäcker am 8. Mai                                                      cher fasste dieses Selbstbild der
1985, 40 Jahre nach Kriegsende. Er        Heute, 35 Jahre nach der Rede Weiz-         Berliner Republik im Jahr 2020 in
stellte fest: „Und dennoch wurde          säckers, haben sich die Definitionen,       einem jüngst erschienenen Artikel im
von Tag zu Tag klarer, was es heute       wer denn besiegt und wer befreit            „Spiegel“ mit dem treffenden Satz
für uns alle gemeinsam zu sagen gilt:     worden ist, verändert. Laut einer           zusammen: „Befreiung ist jetzt der
Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.     Umfrage der Wochenzeitung „Die              Begriff eines Deutschlands, das sich
Er hat uns alle befreit von dem men-      Zeit“ vom 28.4.2020 beziehen zuneh-         selbst begnadigt.“ (Spiegel-Online,
schenverachtenden System der              mend mehr Deutsche den Begriff der          1.5.2020). Dieser Entwicklung kann
nationalsozialistischen Gewaltherr-       Befreiung auf die damalige Mehrheit         der Schlusssatz der Weizäcker-Rede
schaft.“ Von Weizäcker ging in seiner     der Deutschen und konstruieren so           entgegengesetzt werden: „Schauen
Rede intensiv auf den Holocaust           ein relativierendes Geschichtsbild,         wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es
und die deutschen Verbrechen ein          das ein von einer kleinen Gruppe            können, der Wahrheit ins Auge.“

Online-Ausstellung

„Erinnern in Ulm“ auf DZOK-Webseite
Auf der Webseite des DZOK gibt es
seit 2016 die Online-Ausstellung
„Erinnern in Ulm. Auseinander-
setzungen um den Nationalsozia-
lismus“. Sie enthält wertvolle Infor-
mationen zum Schwerpunkt dieser
Mitteilungen.

Annette Lein

Die DZOK-Ausstellung „Erinnern
in Ulm“ wurde vor fünf Jahren
gemeinsam mit dem Stadtarchiv
zum 70. Jahrestag des Kriegsendes
und der Befreiung erarbeitet. Sie
zeigte erstmalig, wie in der lokalen
Politik, Justiz und Gesellschaft nach
1945 mit Schuld und Verantwortung                                     Kundgebung im Fort Oberer Kuhberg, 9.5.1971. Foto: SWP-Archiv
für den Nationalsozialismus umge-
gangen wurde. Die anschließend
produzierte Online-Ausstellung bietet     Lesenden und Entdeckenden span-             rationellen Veranstaltung zu Themen
mehr als einen Überblick über die         nend und gut nutzbar. So enthält            wie „Ikonografie und Erinnerung“
Ausstellungsinhalte: Sie enthält viel-    beispielsweise das Thema „Lokalge-          wird eine Fotodokumentation des
fältige vertiefende Materialien. Unter    schichte von unten – der lange Weg          Arbeitsprozesses und der Diskussi-
anderem ermöglichen Audiodoku-            zur KZ-Gedenkstätte Oberer Kuh-             onsergebnisse gezeigt.
mente die Entdeckung einer per-           berg“ lokalhistorische Dokumente,
spektivischen Vielfalt von Menschen       die von vielen Schüler*innen für die
aus fünf Generationen, die erzählen,      Erarbeitung ihrer Rundgänge genutzt
was die Erinnerung an den National-       werden. Den Nutzer*innen steht ein
sozialismus für sie bedeutet. Zudem                                                      Info
                                          breites Spektrum an Materialien und
werden in sechs thematischen Rund-                                                       Die Ausstellung kann online angesehen
                                          Zugängen zum Thema zur Verfügung.
gängen Akteur*innen, Ereignisse                                                          werden unter:
                                          Einen ganz speziellen Einblick in das
und Kontroversen um die Entwick-          umfängliche Begleitprogramm zur                    https://dzok-ulm.de/sonderausstel-
lung einer Ulmer Erinnerungskultur        Sonderausstellung ermöglicht die                   lung.html
von 1968 bis in die Gegenwart darge-      Online-Dokumentation der Ergeb-
stellt. Die Präsentation historischer     nisse eines Workshops zum Thema                Der Katalog zur Ausstellung ist über das
Quellen in den jeweiligen Kontexten       „Ulmer Bilder der Erinnerung“:                 DZOK für 14,80 € zu beziehen.
ist dabei in vielerlei Hinsicht für die   Neben den Vorträgen der intergene-

DZOK-Mitteilungen Heft 72, 2020                                                                                                     11
Gedenkveranstaltung und Publikation

17. Dezember 1944. Die Zerstörung Ulms
Am 15. Dezember 2019 fand im              Im zweiten Teil seines Vortrags           text, Augenzeugenberichten und
Ulmer Stadthaus eine Matinee              erläuterte Professor Süß das sich         schriftlichen Quellen ist gelungen.
zum 75. Jahrestag der Bombardie-          wandelnde Gedenken an die Bom-            Man merkt, dass sich Kübler über
rung Ulms statt. Neben einem Vor-         benopfer in der Nachkriegszeit in         viele Jahre fundiert und kenntnis-
trag des Historikers Dietmar Süß          Deutschland und einzelnen euro-           reich mit der Ulmer Geschichte des
stellte der Journalist Rudi Kübler        päischen Ländern, v. a. in England.       Nationalsozialismus befasst hat.
sein Buch „17. Dezember 1944. Die         In beiden Ländern war die aus dem         Und die Publikation verdient eine
Zerstörung Ulms“ vor, das in der          Krieg bekannte Beschwörung des            Erweiterung, denn liest man sie mit
„Kleinen Reihe des Stadtarchivs           Gemeinschaftsgeistes zu Beginn            dem historischen Rüstzeug von Pro-
Ulm“ erschien.                            des Wiederaufbaus ähnlich. Doch           fessor Süß, wünscht man sich eine
                                          von Anfang an gab es auch Appelle         Fortsetzung des schmalen Bandes:
Karin Jasbar                              zur Versöhnung sowie Kritik an der        mit einer historischen Einordnung
                                          unvorstellbaren Gewalt in der Kriegs-     der Vorgeschichte des Bomben-
                                          führung auf beiden Seiten. Im Kalten      kriegs, einer quellenkritischen Kom-
„Wie eine Stadt an den Luftkrieg          Krieg und mit wachsender deutscher        mentierung      nationalsozialistischer
erinnert ist nicht selbstverständlich.“   Integration in das Westbündnis war        Propagandatexte, mit Zeitzeugen-
Denn die Erinnerung an den Luftkrieg      die öffentliche Aufrechterhaltung des     berichten, die die Perspektiven der
war von Anfang an umstritten. Unter       Feindbildes zwischen den früheren         „Volksgenossen“ erweitern und
dieser Prämisse referierte der Augs-      Gegnern nicht mehr opportun. In der       kontrastieren, und mit Reflexionen
burger Historiker Professor Dietmar       deutschen Erinnerungskultur kam           der Ulmer Erlebnisgeneration zu den
Süß bei der Gedenkveranstaltung im        es seit den 1980er Jahren zu Dis-         Ursachen und eigentlichen Verant-
Ulmer Stadthaus zum Thema „Der            kursverschiebungen mit sich wan-          wortlichen dieses Schreckens im zeit-
Luftkrieg im deutschen und europä-        delnden Opfer-/Täternarrativen. Mit       lichen Rückblick. Mit einem Kapitel
ischen Gedächtnis“.                       der zunehmenden Offenlegung deut-         zur örtlichen „Nachgeschichte“ des
                                          scher Gewaltverbrechen im Zweiten         Luftkriegtraumas, so wie sie von
Neben den Etappen des Luftkriegs-         Weltkrieg und dem wachsenden              Dietmar Süß auf Länderebene ver-
geschehens erst von deutscher und         Gedenken an die Opfer des Holo-           sucht wurde, könnte dieses noch
dann von alliierter Seite behandelte      causts fühlten sich in Deutschland        nicht geschriebene Buch enden.
er auch Fragen nach dem „Warum“           diejenigen, die vor allem das eigene
der zunehmend verheerenden Bom-           Volk als Opfer des Krieges und des        Und so haben Gedenkveranstaltung
bardierungen. Die Spirale der Gewalt,     Bombenkriegs sahen, von der Erin-         und Publikation nicht nur einen wich-
die von den Deutschen bereits 1939        nerungspolitik ausgegrenzt. In Ableh-     tigen und erkenntnisreichen Blick
mit Luftangriffen auf zivile Ziele in     nung der Täterrolle wurde verstärkt       zurück ermöglicht, sondern auch
Gang gesetzt worden war, wurde            ab den 2000er Jahren wieder öffent-       neue Fragestellungen und Perspek-
infolge der Durchhaltebefehle der         lich die Opferrolle reklamiert.           tiven eröffnet.
deutschen Führung von den West-
alliierten mit der Verschärfung der       Nach diesem umfassenden, transnati-
Mittel im Luftkrieg weiter gedreht.       onalen Blick von Professor Süß auf das
Sie wollten durch eine weitgehende        historische Geschehen sowie auf die
Zerstörung der deutschen Rüstungs-        Erinnerungspolitik war der zweite Teil
produktion und Infrastruktur aus der      der Veranstaltung den lokalen Ereig-
Luft das Kriegsgeschehen abkürzen.        nissen gewidmet. Der Journalist Rudi
Die Angst vor großen eigenen Ver-         Kübler stellte im Gespräch mit Stadt-
lusten nach den bitteren Erfahrungen      archivleiter Michael Wettengel einige
des Ersten Weltkrieges mit dem jah-       Berichte aus dem Inferno der großen
relangen Grabenkrieg waren nach           Ulmer Bombennacht vor, an deren
Süß ihr Hauptmotiv. Bei den weit-         Ende 707 Tote und 20.000 Obdach-
läufigen      Flächenbombardements        lose zu beklagen waren. Der Autor
wurden auch keine Rücksichten             hat solche Schilderungen jahrelang
mehr auf die deutschen Innenstädte        gesammelt sowie auch Zeitzeugen
und die Zivilbevölkerung genommen.        oder ihre Nachfahren interviewt und
Vielmehr sollte diese zermürbt und        nun darüber ein Buch veröffentlicht,
ihr Rückhalt für das NS-Regime            das vom Stadtarchiv unter dem Titel
gebrochen werden. Die deutsche            „17. Dezember 1944“ herausge-
Rüstungsproduktion ging tatsächlich       geben wurde. Diese Buchvorstellung
bis zum Januar 1945 um ca. 30-40 %        fand beim zahlreich erschienenen
zurück, doch die deutsche Propa-          Publikum großen Anklang.
ganda schwor die Soldaten und die
Bevölkerung trotz der aussichtslosen      Die neue lokale Studie weist viele Vor-
Lage weiterhin auf ein Durchhalten        züge auf: Sie ist sorgfältig gestaltet,
ein und das Regime konnte sich bis        die Kapitel sind klug aufgebaut und
zur totalen Niederlage im Zweiten         die vielen Details werden spannend
Weltkrieg halten.                         erzählt. Die Kombination aus Sach-

12
Sie können auch lesen