Wunder Wunder im Alten Testament Jesu Wunder als Erzählungen Wunder heute? Esoterik und Wunder Für die Praxis - Bistum Mainz
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Informationen des Dezernates Schulen und Hochschulen im Bischöflichen Ordinariat Mainz 02/2016 Wunder im Alten Testament Jesu Wunder als Erzählungen Wunder heute? Esoterik und Wunder Wunder Für die Praxis RELIGIONSUNTERRICHTheute 02/2016
EDITORIAL 3 Veit Straßner Die wundersame Jungfrauengeburt SCHWERPUNKT im Protevangelium des Jakobus 31 Ralf Rothenbusch "Zahlreich sind die Wunder, die du getan hast ..." 4 Andrea Velthaus-Zimny "Er richtet auf und heilt" 42 Konrad Huber Herausfordernde Zeugnisse Daniel Rothe des Staunes 11 Zwischen Skepsis und Glaube 46 Alexander Loichinger FORUM RELIGIONSPÄDAGOGIK Was halten wir heute von Wundern? 16 Thomas Menges Eckhard Türk Mehr als Standards 50 Wunder erleben – Wunder glauben 21 PERSONALIA 54 BILDSEITEN 33 FORTBILDUNGSPROGRAMM 2016 55 FÜR DIE PRAXIS ARBEITSSTELLEN Jasmin Roßbach Wundergeschichten - Neuanschaffungen 62 Die Heilung des blinden Bartimäus 27 Martin Sondermann Wunder am Beispiel von Whitney Houstons Song „When you believe“ 29 RUheute Religionsunterrichtheute Herausgeber: Anschrift der Redaktion: Die Redaktion ist immer bemüht, sich mit Informationen des Dezernat IV Dezernat IV allen Rechteinhabern in Verbindung zu Dezernates Schulen und – Schulen und Hochschulen – – Schulen und Hochschulen – setzen. Die Veröffentlichung von Copyrights Hochschulen im Bischöfliches Ordinariat Mainz Bischöfliches Ordinariat Mainz ohne Rücksprache geschieht immer aus Bischöflichen Ordinariat Postfach 1560 Postfach 1560 Versehen, bitte setzen Sie sich in diesem Mainz 55005 Mainz 55005 Mainz Fall mit der Redaktion in Verbindung. E-mail: RU.heute@bistum-mainz.de 44. Jahrgang (2016) Schriftleitung: Internet: www.bistum-mainz.de/ru-heute Auflage 4.000 Heft 2 September 2016 Dr. Norbert Witsch Religionsunterrichtheute ist eine kostenlose ISSN: 1611-2318 Offizielle Äußerungen des Dezernates Informationsschrift des Dezernates Schulen Redaktion: Schulen und Hochschulen werden als und Hochschulen im Bischöflichen Hartmut Göppel solche gekennzeichnet. Alle übrigen Bei- Ordinariat Mainz. Georg Radermacher träge drücken die persönliche Meinung Irene Veith des Verfassers aus. Erscheinungsweise: Drei Hefte jährlich Prof. i.K. Dr. Andrea Velthaus-Zimny Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit Gestaltung: Druck: besonderer Genehmigung der Redaktion. Creative Time Dinges & Frick Mainz Wiesbaden Titelbild: Cesare Kaiser, Heilung des Aussätzigen 2
EDITORIAL Liebe Religionslehrer und Religionslehrerinnen, wie selbstverständlich ist in der Umgangssprache von Wunder eröffnen. Ralf Rothenbusch legt dar, wie in den Wundern die Rede, wenn es um etwas Erstaunliches oder Schriften des Alten Testaments die Wundertaten Gottes gar Außergewöhnliches geht. Man spricht von Wundern nicht als Sonderfälle, sondern als integraler Teil des Han- der Natur oder der Technik, von Wunderkindern, vom delns JHWHs an seinem Volk erscheinen, in denen sich Wirtschaftswunder oder gar dem Wunder von Bern. dessen Majestät und Huld erweisen. Mit Blick auf das Auch im religiösen Bereich war die Rede von Wundern Neue Testament zeigt Konrad Huber, dass eine angemes- lange Zeit weithin unproblematisch. Als Wunder galten sene Auseinandersetzung mit dem Wunderwirken Jesu nur Ereignisse oder Phänomene der Erfahrungswelt, die sich über die Form der Erzählung, das Erzählen von Wundern mit den bekannten Gesetzen der Natur nicht einfach und die Wunder als Erzählungen, möglich ist. Alexander erklären ließen und die deshalb unmittelbar auf ein die Loichinger geht auf die Probleme mit dem Wunderge- Naturgesetze durchbrechendes Handeln Gottes selbst danken heute ein, die er in einem naturwissenschaftlich zurückgeführt wurden. Auf solche Wunder konnte man dominierten Weltbild wie auch in der theologisch und selbstbewusst und selbstverständlich als eindrucksvolle existentiell bedeutsamen Frage nach der Punktualität des Beweise für Gottes Wirken in der Welt und die Wahrheit Wunderwirkens Gottes erkennt. In Auseinandersetzung seiner Offenbarung verweisen. Wer sich ‚im Besitz‘ solcher mit dem heute weit verbreiteten Wunderverständnis der übernatürlicher Zeichen wusste, der durfte sich auf Gott Esoterik stellt Eckhard Türk das Spezifische eines an der und dessen Autorität berufen. Bibel orientierten christlichen Verständnisses der Wunder heraus. Abschließend bieten Jasmin Roßbach, Martin Die Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung wie Sondermann, Daniel Rothe, Andrea Velthaus-Zimny und insbesondere auch ein kausal-gesetzlich streng in sich Veit Straßner Anregungen und Hilfen für die Behandlung geschlossenes Verständnis der Wirklichkeit, das in den des Themas im Religionsunterricht. enormen Erfolgen der modernen Naturwissenschaften und Technik seine Triumphe feiert, haben jedoch erhebliche Zusammen mit dem Redaktionsteam wünsche ich Ihnen Zweifel am Realitätsgehalt der überlieferten Wunder auf- viel Freude bei der Lektüre des Heftes sowie manchen kommen lassen. Der Bezug auf Wunder eignet sich damit Nutzen daraus für Ihren Unterricht. Darüber hinaus möchte nicht mehr als selbstverständlicher Ausgangspunkt für ich Sie noch einmal ganz herzlich zu unserem „reli+“ – Tag religiöse Legitimitätserweise, sondern gerät vielmehr selbst am 5. Oktober in Mainz einladen (nähere Informationen in eine tiefe Krise. Wer in dieser Situation nicht lieber ganz dazu sind Ihnen bereits mit gesonderter Post zugegangen). auf die Annahme von Wundern verzichten will, steht vor der großen Herausforderung zu klären, was im spezifisch In der Hoffnung auf eine persönliche Begegnung mit Ihnen religiösen Sinn überhaupt als Wunder gelten kann. Eine an diesem Tag grüße ich Sie herzlich grundsätzliche Neuorientierung im Verständnis der Wunder tut damit not. Sie ist zugleich unverzichtbar, will man der biblisch-christlichen Tradition nicht untreu werden. Die folgenden Beiträge möchten Anregungen und Hilfen zu Ordinariatsdirektorin dieser Neuorientierung leisten, indem sie aus unterschied- Dr. Gertrud Pollak licher Perspektive Verstehenszugänge zum Phänomen der Dezernentin für Schulen und Hochschulen RELIGIONSUNTERRICHTheute 02/2016 3
SCHW ER PUNK T „Zahlreich sind die Wunder, die du getan hast ...“ Wunder im Alten Testament Von Ralf Rothenbusch Bei Wundern denken wir zunächst an die Wunder Jesu schichte genannt wird, setzt seine Wunderkraft fast bei- im Neuen Testament, die sein Wirken so charakteristisch läufig ein – nicht zuletzt zum eigenen Nutzen: Für seine prägen. Blicken wir von da aus auf den ersten Teil der Schüler lässt er ein versunkenes Beil wieder an die Wasser- christlichen Bibel, das Alte Testament, fällt auf, eine wie- oberfläche treten (2 Kön 6,1-7) oder er macht eine giftige viel geringere Rolle darin von einem Menschen bewirkte Speise („der Tod im Topf“) genießbar (2 Kön 4,38-41). Bei Wunder spielen. einem für unser Empfinden anstößigen Strafwunder lässt er 42 junge Männer, die ihn verspotten, von zwei Bären „Gottesmänner“ als Wundertäter töten (2 Kön 2,23-25)! Natürlich kennt auch die Hebräische Bibel menschliche Es wenden sich aber auch andere Menschen in ihrer Not an Wundertäter. In den Sinn kommen der Prophet Elija und Elischa und suchen bei ihm Hilfe (2 Kön 2,19-22). Auf diese noch mehr sein Schüler und Nachfolger Elischa, von Weise lassen die biblischen Erzähler den späteren König denen die Bibel Wundergeschichten erzählt, die sich mit Saul zu einem anderen Gottesmann, zu Samuel, gelangen den neutestamentlichen eng berühren: Wie Jesus seinen (1 Sam 9f). Wie Elija und Elischa zählt ihn die Überliefe- Freund Lazarus (Joh 11,1-44) erwecken beide Propheten rung zu den Propheten und wie Elischa steht er im Ruf, in Tote zum Leben1, Jesus macht Aussätzige gesund (Mk 1,40- allen möglichen Lebenslagen Hilfe leisten zu können. Saul 45 parr). Elischa heilt den Aramäer Naaman von Aussatz sucht Samuel nicht etwa in einer religiösen Angelegenheit (2 Kön 5), und wie von Jesus (Mk 6,32-44 parr.; 8,1-10 auf, sondern will den Seher um Unterstützung bei der bis par.) wird über Elischa ein bemerkenswertes Brotvermeh- dahin erfolglosen Suche nach einigen verlorenen Eseln rungswunder erzählt: seines Vaters bitten (1 Sam 9,1-10). Und dafür soll der Gottesmann auch angemessen entlohnt werden (V. 7f). „42Einmal kam ein Mann von Baal-Schalischa und brach- te dem Gottesmann Brot von Erstlingsfrüchten, zwanzig Man kann das Wirken dieser Gottesmänner nicht tren- Gerstenbrote, und frische Körner in einem Beutel. Elischa nen von Magie und Mantik, der Wahrsagekunst. Beides befahl seinem Diener: Gib es den Leuten zu essen! 43Doch bildet einen integralen Bestandteil antiker Religionen. dieser sagte: Wie soll ich das hundert Männern vorset- Dass bestimmte Menschen über besondere Fähigkeiten zen? Elischa aber sagte: Gib es den Leuten zu essen! verfügen, die sie zu Wohl oder Wehe ihrer Mitmenschen Denn so spricht der Herr (JHWH): Man wird essen und einsetzen können, war dem Alten Israel ebenso vertraut noch übrig lassen. 44 Nun setzte er es ihnen vor; und sie wie vermutlich allen antiken Gesellschaften. Die geradezu aßen und ließen noch übrig, wie der Herr (JHWH) gesagt unpersönlich-magische Kraft Elischas scheint in der kurio- hatte“ (2 Kön 4,42-44 EÜ). sen Erzählung von dem Toten auf, der durch die Berührung mit den Gebeinen des Propheten wieder lebendig wird (2 Dieser „Gottesmann“ ( îš hā ælōhîm), wie er in der Ge- ) ) Kön 13,20f; vgl. Sir 48,13f). Entscheidend für die positive 4
S C HW E R P UNK T Beurteilung ihrer Taten ist aber, dass die genannten Got- Wunder als Zeichen tesmänner durch die Kraft JHWHs handeln. So beruft sich Elischa in der zitierten Brotvermehrungserzählung explizit Helfen die Wundertaten der Gottesmänner und Propheten auf ein JHWH-Wort, das sich im Wunder bewahrheitet (2 häufig in ganz konkreten menschlichen Nöten, dienen von Kön 4,43). Dagegen lehnt die biblische Überlieferung magi- ihnen angekündigte oder herbeigeführte Wunder auch als sche und mantische Praktiken strikt ab – ohne deshalb ihre Zeichen für das künftige Handeln JHWHs. Als der Prophet Wirksamkeit in Frage zu stellen! –, wenn sie unabhängig Jesaja dem erkrankten König Hiskija von Gott her die von JHWH oder gar gegen seinen Willen praktiziert werden Heilung und noch fünfzehn Lebensjahre verspricht, fragt (Ex 22,17 u.ö.). Hiskija nach einem Zeichen dafür, das er auch erhält (2 Kön 20,1-11): Was es also biblisch heißt, ein „Gottesmann“ zu sein, führt eine Erzählung über Elija drastisch vor Augen: Sie handelt „8 Hiskija aber fragte Jesaja: Was ist das Zeichen ( ôt) ) von der Götterkonkurrenz zwischen JHWH und Beelzebul, dafür, dass der Herr (JHWH) mich heilen wird und ich dem Gott der Philisterstadt Ekron (2 Kön 1). In ihr erweist übermorgen zum Haus des Herrn (JHWH) hinaufgehen sich JHWH durch das Handeln seines Propheten als einzig werde? 9 Jesaja antwortete: Das soll für dich das Zeichen wirkmächtiger Gott im Land, ganz analog zu der berühmten ( ôt) des Herrn (JHWH) sein, dass der Herr (JHWH) sein ) Elija-Szene auf dem Berg Karmel in der Auseinanderset- Versprechen halten wird: Soll der Schatten zehn Stufen zung mit dem Gott Baal: weiter abwärts oder zehn Stufen rückwärts gehen? 10 9 König Ahasja „sandte nun den Hauptmann über Fünfzig Hiskija erwiderte: Für den Schatten ist es ein Leichtes, und seine Leute zu ihm. Dieser stieg zu Elija hinauf, der zehn Stufen weiter abwärts zu gehen. Nein, er soll zehn auf dem Gipfel des Berges saß, und rief ihm zu: Mann Stufen rückwärts gehen. 11 Da rief der Prophet Jesaja Gottes, der König befiehlt dir herabzukommen. 10 Doch zum Herrn (JHWH) und dieser ließ den Schatten die Elija antwortete dem Hauptmann der Fünfzig: Wenn zehn Stufen zurückgehen, die er auf den Stufen des ich ein Mann Gottes bin, so falle Feuer vom Himmel Ahas bereits herabgestiegen war“ (2 Kön 20,8-11 EÜ). und verzehre dich und deine Fünfzig. Sogleich fiel Feuer vom Himmel und verzehrte ihn und seine Leute“ (2 Kön Der Wunsch des Königs nach einem Zeichen wird keines- 1,9f EÜ). wegs kritisiert, etwa als mangelndes Vertrauen in Gott und das Wort des Propheten. Hiskija hebt sich mit dieser Elija handelt als Mann seines Gottes JHWH und führt Bitte sogar positiv von seinem Vater Ahas ab, dem JHWH ein wundersames, wenn auch erschreckendes Zeichen durch Jesaja ein Zeichen für seinen Beistand gegen die für dessen Macht herbei. Schon früher in der biblischen militärischen Feinde, die Assyrer, geben wollte. Als Ahas Geschichtserzählung macht ein anderer, nicht namentlich das in vorgeschobener Frömmigkeit ablehnt, kündigt genannter Gottesmann ebenfalls JHWHs Willen und Macht ihm der Prophet von sich aus die Geburt eines Kindes durch ein wunderhaftes Ereignis bekannt: Das Zerbersten als Zeichen an, das den Namen Immanuel tragen soll des Altars in Bet-El (1 Kön 13) kündigt das Ende des als (Jes 7,10-17). Dass die Geburt des Immanuel wie auch illegitim betrachteten Kultes an diesem Heiligtum des andere prophetische Zeichen (vgl. etwa die drei an sich Nordreichs an, was sich der biblischen Darstellung zufolge gewöhnlichen Zeichen für Saul in 1 Sam 10,2-9: ôt; oder ) erst nach Jahrhunderten erfüllen wird (2 Kön 23,15-18). das nackte Umhergehen Jesajas in Jes 20: ôt und môphet) ) Der weite Spannungsbogen und die polemische Note keine wunderhaften Geschehen im strengen Sinn sind, des Wunders – es steht im Dienst der deuteronomisch- unterstreicht den theologischen Verweischarakter solcher deuteronomistischen Theologie, die nur den Jerusalemer Zeichen für das Wirken Gottes. Tempel als Kultort JHWHs anerkennt – zeigen, dass es ganz literarisch-theologischer Natur ist. Umso deutlicher tritt Vielfach sprengen allerdings die Wunder-Zeichen als dadurch aber ein besonderer Aspekt hervor: Das Zerbers- Handeln des Gottes Israels die menschliche Erfahrungs- ten des Altars ist ein „Zeichen“ (môphet; 1 Kön 13,3.5). welt – und darin erblickt die Bibel vorrangig „Wunder“. Dieser Begriff ist für das Verständnis der Wunder im Alten Insbesondere beim Exodus, der biblischen Überlieferung Testament von Bedeutung. vom Auszug aus Ägypten, begegnen uns außergewöhnliche RELIGIONSUNTERRICHTheute 02/2016 5
Wundertaten (Ex 7-11): Die ägyptischen Plagen dienen als durch JHWH gründet. Letztlich verweisen die Zeichen also wundersame Zeichen für die Macht JHWHs ( ôt, Ex 8,19; ) auf Gott selbst und sollen den Glauben an ihn wecken: 10,1f; vgl. auch Num 14,11.22; Dtn 11,3; Jos 24,17). Der Gott der Israeliten befähigt Mose und seinen Bruder Aaron „Als Israel sah, dass der Herr (JHWH) mit mächtiger Hand dazu, sich durch Zeichen ( ôt) vor den Israeliten (Ex 4,1- ) an den Ägyptern gehandelt hatte, fürchtete das Volk den 9.17.28-30) bzw. durch Wahrzeichen (môphet) vor dem Herrn (JHWH). Sie glaubten an den Herrn (JHWH) und an Pharao zu beglaubigen (Ex 4,21; 7,9; 11,9f). Beide Begriffe Mose, seinen Knecht“ (Ex 14,31 EÜ; vgl. auch Ex 10,1f). werden im wesentlichen gleichbedeutend verwendet: JHWH kündigt an, das Herz Pharaos zu verhärten, um In negativer Weise wird dies durch den Vorwurf an die seine Zeichen ( ôt) und Wahrzeichen (môphet) zahlreich ) Wüstengeneration bestätigt, der Wunder JHWHs nicht machen zu können (Ex 7,3). gedacht (Ps 78,11; Neh 9,17) und nicht auf sie vertraut zu haben (Ps 78,32). In der Exodus-Erzählung vollbringen aber nicht nur Mose Das Gedenken an die Zeichen und Wahrzeichen beim und Aaron solche Wunderzeichen, sondern ebenso Ägypter Exodus dient natürlich nicht nur einem antiquarischen im Auftrag Pharaos: „Da rief auch der Pharao Weise und Interesse. Es ist bleibender Grund der Hoffnung Israels Beschwörungspriester und sie, die Wahrsager der Ägypter, auf JHWH und Anlass für dessen Lob. Das Jeremia-Buch taten mit Hilfe ihrer Zauberkunst das Gleiche“ (Ex 7,11). formuliert diesen Bezug zur (jeweiligen) Gegenwart Israels Erneut zeigt sich die Beziehung dieser Wundertaten zu Ma- ausdrücklich: gie und Mantik, wenn die Spezialisten Pharaos mit einem ägyptischen Lehnwort als „Wahrsagepriester (hartummîm) . . „Du hast an Israel und an den Menschen Zeichen und der Ägypter“ bezeichnet werden (dieselben Begriffe wie in Wahrzeichen getan, in Ägypten und bis auf den heutigen der Ex-Stelle finden sich für babylonische Spezialisten in Tag. So hast du dir einen Namen gemacht, wie du ihn Dan 2,2). Dreimal können sie tatsächlich mit den Zeichen noch heute hast“ (Jer 32,20 EÜ). durch Mose und Aaron mithalten – beim vierten Mal nicht mehr. Zunehmend wird dabei die Dramatik gesteigert: Die Rettungswunder JHWHs von der Verwandlung des Stabs Aarons in eine Schlange, über die der Gewässer Ägyptens in Blut, eine Plage, der Das größte Wunder JHWHs beim Exodus ereignet sich am die Ägypter Herr werden, bis zur Froschplage im ganzen Schilfmeer (oder einfach am „Meer“ – erst die griechische Land, die ihre Möglichkeiten schließlich übersteigt. Da die Bibelübersetzung identifiziert es mit dem Roten Meer!), Ägypter bei den weiteren Zeichen nicht mehr mit Mose und als er Israel auf der Flucht vor Pharao und den Ägyptern Aaron gleichzuziehen vermögen, wird vor allen offenbar: mit „starker Hand und hoch erhobenem Arm“ rettet. Das Die Wunder JHWHs und seiner Diener übersteigen die an- Mose-Lied besingt dieses Ereignis: derer bei weitem, selbst die der Ägypter, die in der Antike für ihre Zauberkunst weithin berühmt waren. „10 Da schnaubtest du Sturm. Das Meer deckte sie [das ägyptische Heer] zu. Die wundersamen „Zeichen und Wahrzeichen“ bei der Sie sanken wie Blei ins tosende Wasser. Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten gehören zur Erin- 11 Wer ist wie du unter den Göttern, o Herr (JHWH)? nerung Israels an seine fundamentale Rettungserfahrung. Wer ist wie du gewaltig und heilig, Das Wortpaar wird zu einem festen Ausdruck dafür: ) gepriesen als furchtbar, Wunder (pælæ ) vollbringend?“ (EX 15,10-12EÜ) „Der Herr (JHWH) hat vor unseren Augen gewaltige, unheilvolle Zeichen und Wahrzeichen an Ägypten, am Dieses Rettungswunder ist mit der Vernichtung der Feinde Pharao und an seinem ganzen Haus getan“ (Dtn 6,22 Israels verbunden, die im Meer ertrinken. Auch wenn das EÜ)8. für uns fern und in seiner Gewalt erschreckend ist: Für Israel gehört es zur fundamentalen und gewaltigen Ret- Diese Erinnerung soll die Beziehung Israels zu seinem Gott tungserfahrung aus tiefster Not, in der die Befreiung aus bestimmen, die nicht beliebig ist, sondern in der Rettung der Sklaverei Ägyptens ihren Höhepunkt findet. 6
S C HW E R P UNK T Wie wichtig diese Erinnerung für Israel war, zeigt die tigen Schreckenstaten (môrā ) aus Ägypten herausge- ) vielschichtige literarische Tradition des Schilfmeerwun- führt“ (Jer 32,21 EÜ; vgl. Dtn 4,34; 26,8). ders. Die Bibel ist eine außerordentlich lebendige Über- lieferung und besonders zentrale Stellen wurden im Lauf Mit dem Schilfmeerwunder ist das Wunderhandeln Gottes ihres Entwicklungsprozesses mehrfach fortgeschrieben beim Exodus aber noch nicht zu Ende. Die Führung Israels und aktualisiert. Das gilt auch für den Exodus. Neben durch JHWH in der Wüste ist eine Zeit der Wunder Gottes der poetisch-hymnischen Darstellung der Rettung am für sein Volk: Die wunderbare Gabe des Manna und der Schilfmeer (Ex 15,1-21), aus der das Zitat stammt, steht Wachteln (Ex 16; Num 11) sowie des Wassers (Ex 15,22- eine narrative in Ex 14,15-31, die selbst aus zwei unter- 27; 17,1-7; Num 20,1-13) dienen seiner Rettung, als die schiedlichen Erzählungen entstanden ist. lebensfeindliche Welt der Wüste das Überleben des Volkes bedroht. In der Art der Wunder lassen sich dabei bemer- Die ältere Fassung in Ex 142 beschreibt eine wunderbare kenswerte Unterschiede beobachten: Ist die Versorgung der Rettung, die sich lebensweltlicher Phänomene bedient. Sie Israeliten mit dem Fleisch der Wachteln ein Naturwunder berichtet von einem gewaltigen Ostwind, der das Wasser – ein von JHWH gesandter Wind treibt die Wachteln vom des Schilfmeers wegbläst, so dass die Israeliten das Meer Meer in die Wüste (Num 11,31) –, folgt das Manna-Wunder trockenen Fußes durchqueren können. Danach strömt das streng theologischen Prinzipien: Das Manna regnet nur Wasser zurück und die nachsetzenden Ägypter ertrinken sechs Tage vom Himmel, am sechsten in doppelter Menge, samt und sonders darin. All das wird dem Wirken JHWHs damit der Sabbat eingehalten wird (Ex 16,5.21-30). Darin zugeschrieben (V. 21.27.30). Mit dieser Erzählung litera- deutet sich eine ausgesprochen theologische Gestaltung risch verwoben ist eine jüngere, ursprünglich selbständige der Wundererzählungen an. Darstellung in der sog. Priesterschrift3. Sie steigert die ältere Wundererzählung zu einem ausgeprägt suprana- Und auch für die Zeit nach der Wüstenwanderung lässt turalistischen Wunder, das unsere Bildwelt bis heute be- sich ein durchdachtes Szenario beschreiben. Wie das stimmt: Auf Geheiß JHWHs streckt Mose seine Hand über Schilfmeerwunder den endgültigen Austritt Israels aus das Meer und spaltet es. Die Israeliten und hinter ihnen der Sklaverei Ägyptens markiert, steht ein sehr ähnliches die verfolgenden Ägypter ziehen durch das Meer, dessen Wunder am Ende des Exodus, beim Eintritt in das Land, das Wasser wie zwei Wände rechts und links von Ihnen stehen. JHWH Israel als künftige Lebensgrundlage gibt. Josua kün- Als die Israeliten das rettende Ufer erreicht haben, streckt digt es an: „Heiligt euch; denn morgen wird der Herr (JHWH) Mose erneut seine Hand aus, die Wasser strömen an ihren mitten unter euch Wunder (niphla¯ ôt) tun“ (Jos 3,5). Sobald ) Ort zurück und ertränken das gesamte ägyptische Heer. die Priester, die die Bundeslade tragen, mit ihren Füßen den Jordan berühren, bleiben dessen Wasser wie ein Wall Neben dem Sieg über die Ägypter demonstriert das oberhalb von ihnen stehen und fließen stromabwärts ab. Schilfmeerwunder zugleich in atemberaubender Weise So können die Israeliten den Jordan durchqueren (Jos 3). die Macht JHWHs über die Natur. Wie Gott im Ersten Das wirft den Blick schon voraus auf die Einnahme des Schöpfungsbericht, der ebenfalls zur Priesterschrift gehört, Landes in der Kraft JHWHs, die fast mehr einem liturgi- den Wassern souverän ihre Grenzen setzt (Gen 1,6-10), schen Akt gleicht als einer kriegerischen Einnahme. Ihre gebietet er als Herr der Geschichte (wie bei der Sintflut) bekannteste Szene ist sicher die wundersame Einnahme auch über die Wasser und rettet sein Volk Israel durch ein Jerichos, bei der die Mauern der Stadt, nachdem sie die machtvolles Naturwunder. Israeliten an sieben Tagen mit der Bundeslade umkreist haben, schließlich beim Hörnerschall der Priester und dem Erschreckend war das in den Augen Israels nicht weniger Kriegsgeschrei Israels einstürzen (Jos 6). Dass wir es dabei als für uns heute. Die schon zitierte Stelle aus dem Jere- mit einer theologischen und literarischen Formation zu miabuch spricht von dem großen, durch die Taten JHWHs tun haben, hat die Biblische Archäologie längst erwiesen: beim Exodus hervorgerufenen Schrecken: Die uralte Stadt Jericho war zur fraglichen Zeit keine große und befestigte Stadt, deren Stadtmauern hätten „Du hast dein Volk Israel unter Zeichen und Wundern, einstürzen können. mit starker Hand, mit hoch erhobenem Arm und gewal- RELIGIONSUNTERRICHTheute 02/2016 7
Es zeigt sich, wie sehr die Wunder der Exodus-, Wüsten- „JHWH, wer ist wie du ... und Landgabeüberlieferung theologisch und literarisch Wunder vollbringend?“ geprägt sind. Welches im Einzelnen die Erfahrungen waren, die in den Wundererzählungen der Hebräischen Bibel aus- Wir sind bislang verschiedenen Begriffen für die wunder- gestaltet wurden und in welchen Fällen es einen histori- baren Taten Gottes im Alten Testament begegnet. Werden schen Überlieferungskern gibt – für die Rettungserfahrung die Zeichen und Wahrzeichen in der Bibel neben Gott auch beim Exodus muss man das nicht bezweifeln –, lässt sich menschlichen Agenten zugeschrieben und können sogar aufgrund der Überlieferungslage nicht mehr erschließen. Menschen selbst als Wahrzeichen dienen – so etwa das Das nimmt den Texten aber nichts von ihrer Bedeutung, Immanuel-Kind ( ôt; Jes 7,10-17) oder Jesaja und seine ) es befreit sie vielmehr für ihre theologische Dimension. Söhne ( ôt und môphet; Jes 8,18) –, ist das bei pælæ und ) ) Alle diese Wunder dienen der Errettung Israels aus der niphlā ôt anders. Diese beiden, sprachlich einander eng ) Sklaverei, seiner Erhaltung in der Not und der Schaffung verwandten Begriffe sind die wichtigsten Bezeichnungen seiner Lebensgrundlage. JHWH erweist sich darin nicht für Wunder in der Hebräischen Bibel und sie werden aus- nur als der mächtige, sondern auch als der rettende und schließlich mit JHWH verbunden. beschützende Gott, der sein Volk nicht ohne Hilfe lässt. Dass diese Wunder eine so wichtige Rolle für Israel spie- Die Bedeutung beider Worte entspricht unserem Begriff len, ist keine volkstümliche Wundergläubigkeit, sondern „Wunder“. Sie bringen zum Ausdruck, dass etwas die üb- formuliert eine existenzielle Erfahrung der Rettung und liche Realitätswahrnehmung übersteigt, Verwunderung Treue JHWHs. Exodus und Landnahme mitsamt der dabei erweckt, die normalen Dimensionen menschlicher Erfah- geschehenen Wunder sind eine der Ursprungsgeschichten rung übersteigt. Mit derselben hebräischen Wortwurzel des Volkes Israel! Diese dominant fiktionale Überlieferung (PL ) überträgt die Tora einen Rechtsfall an das königliche der Bibel besitzt ihre Wahrheit für alle Zeit als Sinnbildung Gericht in Jerusalem, wenn er für die Gerichtsverhand- Israels. Wundererzählungen spielen dabei anscheinend lung im Ort „zu ungewöhnlich ist“ (PL Nif.; Dtn 17,8). Der ) insbesondere in Krisenzeiten eine besondere Rolle – sowohl Psalmbeter bekennt demütig, dass er mit Wunderdingen im Blick auf die erzählte Zeit, als auch die Erzählerzeit. (niphlā ôt) nicht umgeht (Ps 131,1). Dieser menschlichen ) Begrenztheit gegenüber steht in der Hebräischen Bibel die Die Einsicht in die theologisch-literarische Gestaltung der feste Überzeugung, dass für Gott nichts zu wunderbar ist: Wundererzählungen ändert nicht das Mindeste daran: „Ist beim Herrn (JHWH) etwas unmöglich (PL Nif.)?“ (Gen ) Israel war zutiefst überzeugt davon, dass JHWH für sein 18,14 EÜ) Volk Wunder tut. Sie lehrt aber, dass ein historisierendes Verständnis der biblischen Wunder zu kurz greift. Welche Wenn die rationalistische Kritik der Neuzeit Wunder auf Folgen eine solche hermeneutische Verkürzung haben eine Durchbrechung der Naturgesetze eingeengt und sie konnte, zeigt die ungewöhnliche Wirkungsgeschichte eines deshalb abgelehnt hat (etwa Baruch de Spinoza, 1632- Naturwunders bei der Eroberung des Landes: Am Tag von 1677), geht das am skizzierten Befund im Alten Testament Gibeon standen Sonne und Mond einen Tag lang still beim vorbei. Dennoch gelten auch in Israel als besonders große Kampf der Israeliten gegen die Amoriter, die vor ihnen im und Furcht erweckende Taten die Wunder, bei denen Gott, Land waren (Jos 10,12f). Diese biblische Aussage, die im der als Schöpfer allem seine Ordnung gegeben und seine Zusammenhang der Wunder bei der Landgabe theologisch Grenzen gesetzt hat (Gen 1,1-2,4a; Ps 104), diesen Rahmen zu interpretieren ist, spielte – zusammen mit dem schon selbst in souveräner und spektakulärer Weise überschreitet. besprochenen Zeichen des zurückgehenden Schattens für Hiskija (2 Kön 20,1-11), das sog. Horologium (die Sonnen- Mit dem ganzen Alten Orient teilt Israel die Überzeugung, uhr) des Ahas – eine fragwürdige Rolle als Schriftbeweis dass hinter allem Geschehen – gutem wie schlechtem gegen das heliozentrische kopernikanische Weltbild, ins- Ergehen – das Wirken der Götter steht. Diese Vorstellung besondere auch im Prozess gegen Galileo Galilei. ist für uns nur noch schwer zugänglich, für Israel war es eine Realität: JHWH handelt als Schöpfer und Herr der Geschichte an seinem Volk, großartig und erschreckend zugleich. Beides gehört als Wirkung des heiligen und numi- 8
S C HW E R P UNK T nosen Gottes zusammen und findet in den Bezeichnungen deine Gerechtigkeit im Land des Vergessens?“ für die Wunder JHWHs in der Bibel einen Ausdruck: Sie (Ps 88,13 EÜ) werden als „Großtaten“ (gedōlôt) oder „Machttaten“, (ge- „Die Himmel preisen, Herr, deine Wunder (pælæ ) ) būrôt) aber auch als „Schreckenstaten“ JHWHs (nôrā ôt)) und die Gemeinde der Heiligen deine Treue“ bezeichnet. Häufig sind mehrere Ausdrücke miteinander (Ps 89,6 EÜ). verbunden: „Gepriesen sei der Herr, der wunderbar an mir gehan- ) delt (PL Hif.) „4 Ein Geschlecht verkünde dem andern den Ruhm deiner und mir seine Güte erwiesen hat zur Zeit der Werke Bedrängnis“ (Ps 31,22 EÜ) u.ö. und erzähle von deinen gewaltigen Taten (g ebūrôt). 5 Sie sollen vom herrlichen Glanz deiner Hoheit reden; Die Wunder des Alten Testaments, die beileibe nicht alle ) ich will deine Wunder (niphlā ôt) besingen. ) mit den dargestellten Begriffen erfasst werden, sind also 6 Sie sollen sprechen von der Gewalt deiner erschrecken- nicht bloß mirakulöse, mehr oder weniger beliebige Son- ) den Taten (nôrā ôt); derfälle, sondern ein integraler Teil des Handelns JHWHs ich will von deinen großen Taten (g edûlla¯) berichten“ für sein Volk. Wie sehr diese Wunder auch heilsgeschicht- ) (Ps 145,4-6 EÜ). lich zu verstehen sind, lehrt das Jesaja-Buch, in dem der (Heils)-Plan JHWHs für sein Volk eine bedeutende Rolle In den Wundern von Israels Gott manifestiert sich, jenseits spielt. Einer der Thronnamen des königlichen Kindes, des- aller menschlichen Begrenztheit, seine unverfügbare Größe sen Geburt und Inthronisation in Jes 9,1-6 berichtet und und Majestät. Und wie die Herrlichkeit JHWHs die ganze mit dem eine Schicksalswende für Israel erwartet wird, be- Erde erfüllt (Jes 6,3), hat auch sein Wunderwirken an Israel schreibt das Wirken JHWHs als „Planer von Wundern“ (Jes universale Dimension: 9,5). Und Jes 25,1 bekennt von JHWH, dass er „Wunder- Pläne“ verwirklicht hat. Die Wunder gehören zum Heilsplan „Da sprach der Herr (JHWH): Hiermit schließe ich JHWHs für sein Volk (vgl. auch Jes 28,29; Ps 40,6). einen Bund: Vor deinem ganzen Volk werde ich ) Wunder (niphlā ôt) wirken, wie sie auf der ganzen Erde Aber nicht nur an Israel als Volk handelt JHWH, sondern und unter allen Völkern nie geschehen sind“ (Ex 34,10; ebenso für den Einzelnen. Der erfährt Gott gerade als vgl. auch Ps 86,8-10; 98,2). Schöpfer in wunderbarer Weise. Im Psalm 139 vertraut JHWH macht seine Wunder auf der ganzen Erde bekannt sich der Beter nach einer Klage über die ihn belastende und sie sollen allen Völkern verkündet werden, damit auch Allwissenheit Gottes (V. 1-12) der Obhut JHWHs an, der sie JHWH als König anerkennen (Ps 96; 98; 105,1-3). ihn selbst und alles so wunderbar geschaffen hat. Der biblischen Überlieferung gilt das Wunderwirken JHWHs „13 Denn du hast mein Inneres geschaffen, niemals als Willkür. Seine Wunder sind nicht beliebig, ent- mich gewoben im Schoß meiner Mutter. springen keiner Laune der Gottheit, sondern entsprechen 14 Ich danke dir, dass du mich so wunderbar gestaltet hast (PL Nif.). ) seinem Wesen. Das zeigen vor allem Aussagen in den Ich weiß: Staunenswert (PL Nif.) sind deine Werke. ) Psalmen, die das Wunderhandeln Gottes unmittelbar mit Begriffen wie Gerechtigkeit (Ps 65,6; 71,16; 88,13), Treue 15 Als ich geformt wurde im Dunkeln, (Ps 89,6), Huld (Ps 31,22; 106,7; 107,8.15.21.31; 136,4), kunstvoll gewirkt in den Tiefen der Erde, Gnade und Barmherzigkeit (Ps 111,4), Hoheit (Ps 145,5) und waren meine Glieder dir nicht verborgen“ (Ps 139,13- Herrlichkeit (1 Chr 16,24) verbinden. Die Wunder sind nicht 15 EÜ). weniger von Gottes Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, von seiner Treue und Hoheit geprägt wie irgendein anderer Teil Wie für das ganze Volk sind die Wunder JHWHs auch seines Handelns. für den Einzelnen Grund zu Hoffnung und Dank. Des- halb gedenkt der individuelle Beter in den Psalmen der „Werden deine Wunder (pælæ ) in der Finsternis ) Wunder Gottes4. Gerade der einzelne Mensch erfährt das bekannt, Wunderwirken JHWHs aber nicht nur in den spektakulären RELIGIONSUNTERRICHTheute 02/2016 9
S C HW E R P UNK T Wundertaten der Geschichte seines Volkes, sondern in sei- Ende kommen kann, sie alle aufzuzählen: nem ganz persönlichen Ergehen und in der Schönheit der Schöpfung, die sein Leben umgibt – solange er darin das „Zahlreich sind die Wunder (niphlā ôt), die du getan ) Wirken Gottes für ihn zu erkennen vermag. Die gesamte hast, Schöpfung, in allen ihren Facetten, kann als Wunder Gottes und deine Pläne mit uns; gelten5. Wenn die Freunde Ijob auffordern, dem der Blick Herr (JHWH), mein Gott, nichts kommt dir gleich. dafür ganz verdunkelt ist, die durchaus alltäglichen Wun- Wollte ich von ihnen künden und reden, der JHWHs wahrzunehmen, die ihm begegnen, formulieren es wären mehr, als man zählen kann“ (Ps 40,6 EÜ). sie sicher eine tiefe Überzeugung vieler Israeliten: Anmerkungen „ Ich aber, ich würde Gott befragen 8 und Gott meine Sache vorlegen, 1 Elija: 1 Kön 17,17-24; Elischa: 2 Kön 4,18-37. 2 V. 19b-20*.21*(hier: das Meer wird durch einen Ostwind fortgetrieben 9 der Großes (g edōlôt) und Unergründliches tut, und trocknet aus).24.25b.27*(hier: das Meer flutet zurück).28b.30. Wunder (niphlā ôt), die niemand zählen kann. ) 3 V. 15-18*.21*(hier: Mose streckt die Hand aus und das Wasser spaltet 10 Er spendet Regen über die Erde hin sich).22-23*.26.27*(hier: Mose streckt die Hand aus).28a.29. und sendet Wasser auf die weiten Fluren, 4 Ps 9,2; 26,7; 40,6; 71,17; 86,10. 5 Vgl. Ps 136,4-9; 139,14; Ijob 37,5.14.16. 11 um Niedere hoch zu erheben, 6 Vgl. etwa Ps 17,7; 31,22; 107,21. damit Trauernde glücklich werden“ (Ijob 5,8-11 EÜ). ) 7 Vgl. auch (mit niphlā ôt) Ps 26,7; 40,6; 71,17; 72,17; 75,2; 78,4. (11.32); 86,10; 96,3; 98,1; 105,2.5; 107,8.15.21.24.31; 111,4; 118,23; 119,27; 136,4; 145,5; 1 Chr 16,9.12.24; ) (mit PL Hif.) Ps Als wunderbar (PL Hif.) empfindet auch der Beter in den ) ) 17,7; 31,22; (mit g būrôt) Ps 71,16; 106,2; 145,4.12; 150,2; (mit e Klageliedern der Psalmen die Rettung durch JHWH aus pælæ ) Ps77,12.15; 78,12; 89,6). seiner persönlichen Not6. 8 Vgl. für das Wortpaar mit Bezug auf den Exodus auch Ex 7,3; Dtn 4,34; 7,19; 26,8; 34,11; Jer 32,20f; Ps 78,43; 105,27; 135,9; Neh 9,10. Dem Wunderwirken JHWHs für das Volk Israel und seine Angehörigen entspricht auf der Seite des Menschen als einzig angemessene Reaktion das Lob Gottes. Für seine Wunder wird JHWH in der Hebräischen Bibel vielfach Prof. Dr. Ralf Rothenbusch gepriesen, insbesondere die Psalmen rühmen die Wunder ist Studienleiter am Erbacher Hof, JHWHs ohne Unterlass: Akademie und Tagungszentrum des Bistums Mainz; „Ich will dir danken, Herr (JHWH), aus ganzem Herzen, zugleich lehrt er verkünden will ich all deine Wunder (niphlā ôt).“7 ) Alttestamentliche Exegese am Interdiözesanen Die Wunder Gottes sind so zahlreich und vielfältig, dass Priesterseminar St. Lambert. sie eigentlich unsagbar sind und der Beter nicht an ein ) 10
S C HW ERPUNK T Herausfordernde Zeugnisse des Staunens Jesu Wunder als Erzählungen wahrnehmen Von Konrad Huber Wie die Gleichnisse Jesu für seine Verkündigung zentral stellt seit jeher eine besondere Herausforderung für die sind, so sind für das Handeln Jesu die Wunder ein beson- neutestamentliche Exegese und die Theologie als Ganze deres Charakteristikum seines Auftretens und Wirkens. Auf dar. Dass parallele Überlieferungen in den Evangelien im vielfältige Weise gibt die neutestamentliche Überlieferung Detail durchaus unterschiedliche Ausgestaltung erfahren ein beredtes Zeugnis von der Wundertätigkeit Jesu. Neben und dabei auch Wachstumsprozesse widerspiegeln, dass den zahlreichen und breit gestreuten Wundererzählungen die neutestamentlichen Erzählungen in Form und Inhalt selbst wird des Öfteren in zusammenfassender Form, sog. Entsprechungen zu anderen antiken Wunderberichten Summarien, davon berichtet (z. B. Mk 1,32-34), und nicht aufweisen und von diesen erkennbar beeinflusst sind, zuletzt nimmt Jesus auch in einigen seiner Aussprüche dass schließlich das nachösterlich gefasste Bekenntnis zu direkt auf sie Bezug (z. B. Lk 7,22; 11,20). Dabei fällt von Jesus als dem Messias und Sohn Gottes einen deutlichen vornherein auf, dass Heilungen und Exorzismen zahlenmä- Niederschlag in den Texten gefunden hat, lässt mit Blick ßig bei weitem überwiegen1 und anders als alle anderen auf die Frage der Historizität der geschilderten Wunder Typen, Totenerweckungen etwa oder Naturwunder, explizit in jedem Fall aber Vorsicht angebracht sein. auch außerhalb genuiner Wundererzählungen zur Sprache kommen. Mit Jesus von Nazaret ist untrennbar die Vorstel- Letztlich können wir das historische Faktum hinter den lung eines wirkmächtigen Wundertäters, jedenfalls aber Erzählungen bestenfalls erahnen und ansatzweise zu die eines herausragenden Heilers und Exorzisten verbun- erhellen versuchen. Was für Jesu Heilungen und Exorzis- den. Keiner anderen Person der damaligen Zeit werden so men vordergründig noch leichter möglich scheint, sehr viele Wundertaten zugeschrieben. Wollte man diesen Zug häufig aber auch dort auf eine Präzisierung von Realien, des erinnerten Jesusbildes zur Gänze ausblenden, wären die Näherbestimmung des Krankheitsbildes etwa oder erhebliche Teile der Evangelien davon betroffen. die Erklärung der von Jesus angewandten Techniken aus den zumeist eher spärlichen Angaben, beschränkt bleibt, Wundertaten in Erzählungen führt für eine Brotvermehrung, eine Sturmstillung oder einen Seewandel, ja schon für eine Fernheilung und eine Das Faktum selbst, Wundertaten als ein Teil der Wirk- Totenerweckung unweigerlich auf das weite Feld mehr samkeit Jesu, ist auch aus der kritischen Perspektive der oder weniger phantasievoller Spekulation. So brennend die historischen Jesusforschung weitgehend unbestritten. Wie Frage nach den historischen Fakten ist, es bleibt dabei: Den aber mit diesem Faktum und wie mit seiner literarischen tatsächlichen Wundern Jesu begegnen wir nie unmittelbar, und inhaltlichen Konkretisierung durch die frühchristliche wir begegnen immer nur den literarischen Zeugnissen, den Tradition hermeneutisch verantwortet umzugehen ist, Erzählungen über sie. RELIGIONSUNTERRICHTheute 02/2016 11
Erzählanspruch und Deutung Phänomene etwa, für die in der Antike noch mythische Kräfte bemüht werden, sich aus heutiger Sicht rational Eine Auseinandersetzung mit dem Wunderwirken Jesu – erklären lassen; dass eingesetzte Darstellungsformen und zumal aus der Perspektive der Exegese – ist grundlegend Erzählmotive stets auch Kinder ihrer Zeit und beeinflusst also auf die Form der Erzählung und deren konkrete von ihrem Umfeld sind; dass einzelne Erzählzüge etwa oder Realisierung in den frühchristlichen Zeugnissen der Evan- eine bestimmte kontextuelle Einbettung als Verweis auf gelien verwiesen. Zu Recht trägt die aktuelle exegetische ein intendiertes übertragenes Verständnis diverser Texte Wunderforschung eben diesem Aspekt verstärkt Rechnung fruchtbar gemacht werden können. Es wäre verfehlt, sol- und rückt das Erzählen von Wundern und die Wunder als che Einsichten vorschnell einfachhin wieder zu ignorieren. Erzählungen, deren spezifische Funktion, deren Wirkung Der Vorwurf freilich an die skizzierten Interpretationsan- und Potenzial in den Fokus der Aufmerksamkeit2. sätze, die neutestamentlichen Wundergeschichten damit letztlich gefügig und für moderne Rezipienten verdaulich So sehr die alltägliche Erfahrung von Wirklichkeit – auch machen zu wollen, und die Feststellung, dass damit bereits in der Antike und noch viel mehr für uns heute – in wesentliche Aspekte ausgeblendet und die Texte ihrer dem, was in den Wunderberichten der Evangelien geschil- ureigenen Sprengkraft beraubt werden, sind über weite dert ist, durchbrochen wird oder zumindest in Spannung Strecken nicht von der Hand zu weisen5. dazu steht, die Texte selbst vermitteln doch wie selbst- verständlich den Anspruch, von realen Begebenheiten Die Wunder Jesu im Neuen Testament primär als Erzählun- und tatsächlich Ereignetem zu sprechen. Das Unfassbare, gen wahrzunehmen, nötigt neu ein offenes und intensives das gemeinhin für unmöglich Gehaltene präsentieren sie Hinsehen auf die konkrete Gestalt der einzelnen Texte und im Gewand realistischer Erzählweise und „auf dem Boden ihre je spezifischen Details ab. Ohne dabei auf die Erfas- einer plausiblen Vergangenheitserzählung“3. Von daher sung und Differenzierung eines umfassenden Motivin- werden Wundergeschichten neuerdings vermehrt als ventars von Wundergeschichten im Sinne herkömmlicher „phantastische Tatsachenberichte“ zu begreifen versucht4, Gattungskritik abzuheben6, sind es eben diese Motive bzw. und das dergestalt provozierende Zusammenspiel von die im Text je individuell realisierten Einzelelemente der Erzählinhalt und Erzählweise wird zum Angelpunkt her- narrativen Inszenierung, die auf diese Weise markant in meneutischen Fragens und analytischer Texterschließung. den Vordergrund treten und entsprechend Aufmerksam- keit einfordern. Das gilt insbesondere für das Moment Im Grunde treibt auf die eine oder andere Weise dieses den des Außergewöhnlichen, für jene Erzählzüge, die das Er- Wundergeschichten eingeschriebene Spannungsmoment staunliche, Irritierende, ja schier Unfassbare zum Ausdruck aber auch bereits breite Strömungen der neuzeitlichen bringen und zuspitzen – und gerade darin vielleicht dem Wunderkritik bisher um. So suchen rationalistische Deu- Wahrheitskern der Wunder Jesu besonders nahekommen. tungsansätze, den Realitätsanspruch der Erzählungen nach Kräften mit dem modernen Wirklichkeitsverständnis Situationen der Not und unbedingtes in Einklang zu bringen. Was einer Plausibilisierung ent- Vertrauen gegensteht, wird als der christologischen Aussageabsicht geschuldete Gemeindebildung abgetan. Form- und re- Unter narrativer Perspektive lohnenswert ist allein schon ligionsgeschichtliche Zugänge erklären die neutesta- der Blick auf die Figurenkonstellation der je konkreten mentlichen Wundergeschichten aus der Anpassung an Wundererzählung. Zu erheben, wie hilfesuchende bzw. zeitgeschichtlich bedingte Ausdrucksformen und Erwar- des Eingreifens Jesu bedürftige oder davon betroffene tungen im Rahmen eines als entsprechend wundergläu- Personen im Text eingeführt und auf welche Weise und big vorgestellten antiken Weltbildes. Und symbolische wie eingehend sie näherhin charakterisiert werden, schärft Deutungsmuster interpretieren die Wunder Jesu als von von Anfang an die Wahrnehmung für das in der Folge vornherein bildhafte Erzählungen, die eigentlich eine ganz geschilderte Handeln Jesu. andere, tiefergehende Aussage zum Ausdruck bringen möchten. Jeder dieser Deutungsansätze hat mit Sicherheit Für Heilungserzählungen fällt dabei auf, dass es zumeist zutreffende Einsichten hervorgebracht: dass bestimmte einzelne und mit Ausnahme des blinden Bartimäus (Mk 12
S C HW E R P UNK T 10,46-52) durchweg namenlose Gestalten sind, an denen zu demonstrieren. Je anschaulicher die Schilderung, umso sich schließlich das Wunder vollzieht. Wo von zwei oder unmittelbarer und intensiver gelingt es zugleich, die Adres- mehreren Geheilten die Rede ist, lassen sich demgegenüber satinnen und Adressaten der Erzählung mitzureißen, sie in literarische Intensivierung (z. B. Mt 20,29-34: zwei Blinde) das erzählte Geschehen hineinzuziehen und so einerseits oder absichtsvolle Kontrastierung (z. B. Lk 17,11-19: zehn Mitgefühl für die Betroffenen zu wecken und andererseits Aussätzige) veranschlagen. In der Regel ist der einzelne spannungsvolle Erwartung auf den Ausgang aufzubauen. Mensch in den Brennpunkt genommen und erfährt das Je drastischer die Ausweglosigkeit auf Rettung vor Augen Individuum in zutiefst persönlicher Begegnung die hei- gestellt ist, umso deutlicher und staunenswerter fällt lende Zuwendung Jesu. Männer und Frauen, Erwachsene schließlich auch das unbedingte Vertrauen ins Gewicht, das und Kinder, gesellschaftliche Außenseiter, wie Aussätzige die Hilfesuchenden – sei es aus eigener Initiative oder als und blinde Bettler, und Personen von sozialem Rang, wie Reaktion auf die Begegnung – Jesus dennoch oder gerade der Hauptmann von Kafarnaum, Juden zumeist, aber auch deswegen entgegenbringen und unter Beweis stellen. Menschen heidnischer Herkunft treten erzählerisch in Erscheinung; die einen gänzlich passiv, angewiesen auf Immer wieder ist dabei von Glaube die Rede. „Dein Glaube Helfer und Fürsprecher, andere äußerst zurückhaltend und hat dich gerettet“, sagt Jesus im Markusevangelium der furchtsam, wieder andere durchaus selbstbewusst und blutflüssigen Frau nach ihrer Heilung zu (Mk 5,34), eben- hartnäckig. Im Detail unterschiedlich entfaltet, ist ihnen so wie dem blinden Bartimäus, nachdem dieser sehend allen die Charakterisierung über eine stets schwerwiegende geworden ist (Mk 10,52). Die Einsicht in die Notwen- und folgenschwere Krankheit gemeinsam. digkeit bedingungslosen Glaubens führt den Vater eines besessenen Knaben zur entscheidenden Aussage: „Ich Die Beschreibung der konkreten Not – das gilt nicht nur glaube; hilf meinem Unglauben!“ (Mk 9,24). Der Glaube für Heilungswunder – und die erzählerische Inszenierung der Jünger, ihr offensichtlich noch fehlender, zumindest der Hilfsbedürftigkeit erfahren zum Teil recht breiten aber unzureichender Glaube steht zur Debatte, wenn Raum und veranschaulichen drastisch Situationen von Jesus auf deren angsterfüllte Bitte hin den Sturm auf Ohnmacht, Ausweglosigkeit und existenzieller Bedrohung. dem See zum Schweigen bringt (Mk 4,40 / Mt 8,26). Und Jene blutflüssige Frau, von der es heißt, dass sie zwölf dort, wo kein Glaube vorhanden ist, kann Jesu Wunder- Jahre lang erfolglos alle medizinischen Möglichkeiten macht augenscheinlich auch nicht wirksam werden (Mk ausgeschöpft und dabei auch noch ihr gesamtes Hab und 6,5). Es gehört zu den Wesenszügen neutestamentlicher Gut verloren hat (Mk 5,25-34), ist dafür ebenso beredtes Wundererzählungen, das Moment des Glaubens, des ver- Beispiel wie der Gelähmte, der seit 38 Jahren daniederliegt trauensvollen Sich-Einlassens, explizit zu betonen und und keinerlei Möglichkeit hat, rechtzeitig in das vermeint- mit als einen maßgeblichen Ermöglichungsgrund für die lich heilende Wasser des Jerusalemer Betesda-Teiches außerordentlichen Geschehnisse zu benennen – jenen also, einzutauchen (Joh 5,1-8), oder der von einer ganzen Legion die unmittelbar von diesen Geschehnissen betroffen sind, unreiner Geister Besessene, der in selbstzerstörerischer einen eigenen Anteil daran zuzuschreiben. Raserei durch nichts und niemanden zu bändigen ist (Mk 5,1-20). Aber auch die Situation der Jünger, die im Boot Wirkmächtiges Wort und heilsame Berührung einem bedrohlichen Wirbelsturm, heftigen Windböen und überbordenden Wellen ausgesetzt sind, liest sich nicht Im Zentrum des Erzählens steht freilich Jesus selbst. Wie minder dramatisch. Nicht selten ist zudem die unmittelbare Jesus agiert und was er konkret tut, zieht unweigerlich die Kontaktnahme mit Jesus durch äußere Umstände, durch Aufmerksamkeit auf sich. Und ähnlich wie für die äußeren natürliche Hindernisse oder aber durch Zurückweisung Umstände gilt es auch hier, die Vielfalt des in den Texten anderer ausdrücklich erschwert. Berichteten wahrzunehmen. Die Anschaulichkeit, mitunter gar massive Zuspitzung der Längst nicht allein das machtvoll gebietende Wort Jesu Darstellung dient primär dem Ziel, die Größe der Not und ist es jedenfalls, durch das sich das Wunder ereignet. damit letztlich die Größe des am Ende erfolgenden Wun- Jesu Wort kommt zwar stets eine entscheidende Rolle ders und die außerordentliche Macht des Wundertäters zu, so sehr, dass es sogar aus der Ferne Heilung bewirkt RELIGIONSUNTERRICHTheute 02/2016 13
(z. B. Mk 7,24-30: Tochter der heidnischen Frau). Die des Unglaublichen“8, das erzählerisch Schritt für Schritt Erzählungen der Evangelien beschränken sich aber nicht, inszeniert wird, findet darin seine angemessene Resonanz. wie vielfach gerne behauptet, auf das reine Wort. Ein- drücklich geben sie Zeugnis auch von Gesten Jesu, von der Die Wundergeschichten selbst lassen keinen Zweifel daran, Anwendung bestimmter Praktiken, ja sogar vom Einsatz dass von unglaublichen, außergewöhnlichen, die allgemei- von Speichel als einer heilungsunterstützenden Substanz ne Erfahrung übersteigenden Ereignissen die Rede ist und (vgl. Mk 7,33; 8,23; Joh 9,6). Die materielle Dimension ist dass auch schon die Menschen damals in der Begegnung zwar nicht in dieser Breite und Varianz gegeben wie bei mit Jesus das so empfunden haben. Als erinnernde Zeug- antiken Wundergeschichten sonst, ein narrativer Zugang nisse des Staunens über dieserart irritierende Ereignisse im lässt sie jedenfalls aber unvoreingenommen und zudem Wirken Jesu liegt ihre ureigentliche Absicht zugleich darin, weit deutlicher als bisher als sinntragenden Erzählzug ins ihrerseits wieder Staunen zu provozieren und gewohnte Blickfeld treten. Einsichten grundlegend und bleibend herauszufordern und in Frage zu stellen. Das Moment der Berührung spielt dabei eine besondere Rolle7. Wenn Jesus Menschen heilt, dann zuallermeist Angelpunkt dafür ist das Besondere in Jesu rettendem nicht, ohne dass es nicht auch zu einem körperlichen Kon- Handeln an den Menschen, die Wahrnehmung des Au- takt kommt. Jesus fasst die fieberkranke Schwiegermutter ßergewöhnlichen, das letztlich sein gesamtes Auftreten des Petrus an der Hand und richtet sie auf (Mk 1,31), spürbar durchzieht. Konkret mögen dabei vielleicht Jesu ähnlich wie die soeben verstorbene Tochter des Jaïrus (Mk vollmächtig gesprochenes Wort, die auf Wesentliches 5,14). Er berührt Blinde (Mt 9,29), Taubstumme (Mk 7,33) reduzierten Gesten oder auch die Unmittelbarkeit der und Aussätzige (Mk 1,41) und legt einer verkrümmten bewirkten Veränderung Anhalt für die Überzeugung des Frau die Hände auf (Lk 13,13). Beim Blinden in Betsaida Wunderhaften bieten. Im Kern steht dahinter aber der fokussiert sich die Hoffnung auf Heilung ganz auf die Anspruch faktischer Realisierung der Botschaft vom Bitte, dass Jesus ihn berühren möge (Mk 8,22). Für die nahegekommenen Reich Gottes. In seinen Wundertaten blutflüssige Frau im Gedränge der Masse dreht sich alles erweist sich für Jesus nichts anderes als das Anbrechen darum, wenn schon nicht ihn selbst, so wenigstens das der Gottesherrschaft, das er den Menschen zusagt. Das Gewand Jesu zu berühren (Mk 5,27-31). Mag sein wirk- Heilshandeln Gottes selbst wird in ihnen tatsächlich mächtiges Wort auch souveräne Distanz mit anzeigen, in erfahrbar: „Wenn ich aber mit dem Finger Gottes die Dä- seinen Gesten des Berührens signalisiert Jesus eine Form monen austreibe, dann ist doch das Reich Gottes schon menschlich-heilsamer Nähe und Zuwendung, die vor zu euch gekommen“ (Lk 11,20). Als Zeichen und Ereignis niemandem Halt macht. der in die Gegenwart einbrechenden Gottesherrschaft konkretisiert sich in Jesu Machttaten die Wirksamkeit Staunen über das Unfassbare Gottes und zeigt sich umgekehrt Jesu einzigartige Nähe zu Gott. Darin liegt im Verständnis der neutestamentlichen Am Ende der Wundererzählungen begegnet markant das Zeugnisse das eigentlich unerhört Neue und zugleich auch Moment des Staunens: die spontane Verwunderung über das unglaublich Herausfordernde. das Unerwartete, die irritierte Feststellung des Außer- gewöhnlichen, das Außer-sich-Geraten und Entsetzen Das Staunen angesichts der Wundertaten Jesu, von dem angesichts des Unfassbaren. Zahlreiche Heilungen lösen die Erzählungen der Evangelien vielfältig berichten, Staunen aus (Mk 7,37; Mt 15,31), und auch nach der benennt einen entscheidenden Anfangspunkt auf dem Sturmstillung ist davon die Rede, dass die Menschen in Weg zu einem vertieften Verständnis dieser spezifischen Verwunderung geraten (Mt 8,27). „Heute haben wir Un- Seite der Wirksamkeit Jesu. Nicht allein die erzählten glaubliches gesehen“, konstatieren völlig außer sich die Inhalte sind und bleiben von diesem Staunen berührt, Augenzeugen angesichts der Heilung eines Gelähmten staunenswert ist wohl auch die kunstfertige, facetten- (Lk 5,26), und ähnlich sprechen sie bei der Heilung eines reiche Ausgestaltung ihrer literarischen Umsetzung. Das Besessenen davon, dass etwas Vergleichbares in Israel spannungsvolle Zueinander dieser beiden Aspekte ruft noch nie geschehen sei (Mt 9,33). Das „Hereinbrechen Irritation hervor, es eröffnet den Leserinnen und Lesern, 14
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