26 Die Sauerstoff-Explosion - MIT BEILAGE SCHULE - Universität zu Köln
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MIT AG E BEIL E L EMPFINDLICHER SCHU MEERESBODEN Die Fischerei mit Bodenschleppnetzen stört das ökologische Gleichgewicht Die Sauerstoff- Explosion Vor 2,4 Milliarden Jahren wurde die junge Erde IM KÖRPER ENTRÜMPELN bewohnbar Ein besonderes Protein hält unsere Zellen jung UMWANDLUNG VON SAKRALBAUTEN Was passiert, wenn Kirchen nicht mehr Kirchen sind 26 Dezember 2021 UNIMAGAZIN.UNI-KOELN.DE / 6 EURO
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WISSENSCHAFT IM ALLTAG Was machen Bienen im Winter? H onigbienen, die auf der Suche nach angenehm warme Luft entgegen. Schaut Nektar von Blüte zu Blüte fliegen – man bei dieser Gelegenheit genau- ein allgemein vertrautes Bild im er hin, sieht man, dass sich Sommer. Ein großer Teil der einheimischen alle Bienen zu einer Blütenpflanzen wird durch die Blütenbesu- dichten Kugel, ei- che der Bienen bestäubt und kann sich so- ner sogenannten mit fortpflanzen. Wie sieht das Bienenleben Wintertraube, ver- aber im Winter aus, wenn es keine Blüten zu sammeln. In dieser Traube ist es im Inne- ES ANTWORTEN DR. JULIAN bestäuben und keinen Nektar zu sammeln ren am wärmsten, sodass sich die äußeren BÖING UND DR. FABIAN gibt? Bienen mit den weiter innen sitzenden SEREDSZUS VOM INSTITUT Anders als Säugetiere oder Vögel kön- abwechseln, wenn es ihnen irgendwann zu FÜR BIOLOGIEDIDAKTIK. nen Insekten ihre Körpertemperatur in kalt wird und sie deswegen drohen von der aller Regel nicht durch ihren Stoffwechsel Traube abzufallen. beeinflussen. Sie sind wechselwarm. Das Die Königin überwintert dabei immer bedeutet, dass ihre Körpertemperatur der gut gewärmt im Zentrum der Traube, denn Umgebungstemperatur entspricht. Wech- ohne sie kann das Bienenvolk auf Dauer selwarme Tiere sind dadurch während der nicht überleben. Honigbienen überwintern kalten Jahreszeit zu Inaktivität verurteilt, also als ganzes Volk und erzeugen gemein- ihr Lebenszyklus kommt erst bei steigenden sam die für das Überleben nötige Wärme. Temperaturen im Frühjahr wieder in Gang. Durch diese einzigartige Fähigkeit nehmen Bekannter ist dieses Phänomen im Fall sie unter den einheimischen Insekten eine der Eidechsen, die sich erst durch ihre aus- Sonderstellung ein. giebigen Sonnenbäder richtig wohl fühlen Um während der kalten Jahreszeit dau- und im Winter in eine Winterstarre verfal- erhaft heizen zu können, benötigen die len. Aber heißt das, dass Honigbienen im Bienen viel Energie. Als Brennstoff dient Winter starr und regungslos in ihren Beuten, hierbei der Honig, der in erster Linie zum also ihren Behausungen, leben und auf wär- Heizen genutzt wird. Aus ihm gewinnen meres Wetter warten? Ganz im Gegenteil! die Bienen Energie, die für das wärmende Bienen sind zwar wechselwarm, können Vibrieren der Brustmuskeln benötigt wird. aber Wärme erzeugen, indem sie ihre Brust- Der gesammelte Honig wird also weniger muskulatur vibrieren lassen. In der Gemein- als Nahrung im herkömmlichen Sinne ge- schaft ist es den Bienen dadurch möglich, nutzt. Aus diesem Grund muss der Imker auch bei niedrigen Außentemperaturen im auch nach der Honigernte den entnomme- Winter ihren Stock zu wärmen. nen Honig durch geeignetes energiereiches Öffnet man in der kalten Jahreszeit eine Futter ersetzen – andernfalls würden die Beute, um zum Beispiel die Varroamilben- Bienen im Winter erfrieren. Behandlung durchzuführen, strömt einem 26 2021
I N H A LT 34 Umwandlung von Sakralräumen Forschungsprojekt untersucht, wie Kirchenge- bäude sinnvoll nachgenutzt werden können 6 Universität im Bild Semester Kick-Off im RheinEnergieSTADION 3 Wissenschaft im Alltag Was machen Bienen im Winter? 21 Kurznachrichten Wissenschaft »Hyperauge« aus der Urzeit entdeckt · Bericht zur Versorgung am Lebensende · Studie zur Entfremdung zwischen erwachsenen Kindern und Eltern 22 Fischerei mit Bodenschleppnetzen Expedition in die Ostsee erforscht ökologische Auswirkungen 26 Zellulärer Entrümpelungsmechanismus Ein besonderes Protein hält unsere Zellen jung Professorin Dr. Beatrix 30 Neuartige Alternsuhr Busse, Prorektorin für Lehre und Studium, Methode zur Messung des biologischen Alters bei der Semestereröff- entwickelt nung im RheinEnergie- STADION. 31 Kurznachrichten Universität Neues Gerichtslabor · Kooperation im Rahmen von EUniWell · DFG-Förderranking 32 Forschung mal anders Weggerannt! KÖLNER UNIVERSITÄTSMAGAZIN
NER - KÖL S DAS RSITÄT ENLOS I V E S T UN KO A ZIN MA LLEN: -koeln.de G E i B E ST s t e l l e @ u n s e p re s EDITORIAL Liebe Leser:innen, dass die Erde für uns bewohnbar ist, verdanken wir den Bakterien. Sie entwickelten vor circa 2,4 Milliarden Jahren einen Stoffwechsel, der auf Photosynthese basiert. Dadurch wird Sauerstoff freigesetzt und es bildete sich nach und nach unsere heutige, dritte Erdatmosphäre. 16 Wie die Erde bewohnbar wurde Geologische Spuren vom Anbeginn Doch es liefen noch andere Prozesse auf der Erde ab, die den blauen Planeten zu dem formten, was er heute ist. unseres Planeten liefern Beweise Dass auf der Erde alles zusammenhängt, zeigen auch Forschungen zu den Auswirkungen der Fischerei mit Bodenschleppnetzen in der Ostsee. Denn diese Art von Fischerei produziert nicht nur unerwünschten Beifang. Sie wirbelt auch den Meeresboden auf, was das 38 Asexuelle Tiere Nahrungsnetz für alle Meereslebewesen ordentlich Hornmilbenart pflanzt sich durch Klonen fort durcheinander bringt. Welche Rolle gerade die kleinsten Organismen dabei spielen, erforscht ein Kölner Team. 40 Damals Die Universitäts- und Stadtbibliothek Auch in unserem Körper sind es die kleinen, in der Micky Maus unsichtbaren Helfer, die alles zusammenhalten. Zum Beispiel die Proteine in unseren Zellen. Schon mal was von 42 Homeoffice: Fluch oder Segen? Ubiquitin, Ubiquitinase oder Deubiquitinierung gehört? Studie untersucht die Auswirkungen Falls nicht, können Sie in dieser Ausgabe erfahren, wie der der neuen Arbeitskultur zelluläre Entrümplungsprozess unseren Körper jung und auf Trab hält – und was passieren kann, wenn er 46 KölnAlumni Interview aus dem Lot gerät. Der Mediziner und Unternehmens- gründer Nawid Salimi Doch in dieser Ausgabe kommt das Leben nicht nur in mikroskopisch kleinen Formen vor. Wir freuen uns auch, 48 Ein Vermächtnis für die Wissenschaft dass der Kölner Campus im Wintersemester 21/22 wieder Wie ein Nachlass oder Erbe der Universität ein bisschen belebter wird. Falls Sie es nicht zur großen zugutekommen kann Semestereröffnung ins RheinEnergieSTADION geschafft haben, können Sie in unserer Bilderstrecke einen 50 Universitätsförderung Eindruck davon bekommen, wie die Uni, unter Einhaltung der Infektionsschutzmaßnahmen, gefeiert hat. Willkommen zurück! 52 Personalia Das Redaktionsteam 66 Dinge, die mir wichtig sind Ein Impfausweis aus einer vergangenen Zeit №27 Die nächste Ausgabe 26 des Kölner Universitätsmagazins 2021 erscheint im März 2022.
UNIVERSITÄT IM BILD 12.912 Besucher:innen feiern die Rückkehr zu mehr Präsenz im RheinEnergieSTADION S o was gab es schon lange Moderatorin Anja Backhaus nicht mehr: auf ein Meer leitete durch das Programm, als von Menschen blicken und dessen Höhepunkte die Bands dabei gemeinsam Live-Musik er- Druckluft (Bild) und moop leben. Beim »Semester-Kick-Off mama auftraten. Im Vorfeld 2021 – gemeinsam wieder zusam- konnten Studierende einen men!« hat die Uni am 11. Oktober »Markt der Möglichkeiten« be- im RheinEnergieSTADION das suchen, um sich über Forschung, Wintersemester 2021/22 einge- Lehre und Transfer sowie die läutet. Eingeladen waren nicht Fakultäten und verschiedene nur Erstsemester, sondern alle Einrichtungen an der Uni zu in- Studierenden – insbesondere die- formieren. jenigen, die das studentische Le- Möge uns der Spirit des ben aufgrund der Pandemie noch Semester-Kick-Offs durch die gar nicht kennenlernen konnten. kommenden Monate tragen. mit freundlicher Unterstützung von: KÖLNER UNIVERSITÄTSMAGAZIN 6
UNIVERSITÄT IM BILD Die Band DRUCKLUFT aus Bonn: nicht nur Brass-Power, sondern auch eine Augenweide. 26 2021 7
UNIVERSITÄT IM BILD HIESSEN DIE STUDIERENDEN HERZLICH WILLKOMMEN: der Geschäftsführer der Kölner Sportstätten Lutz Wingerath, Prorektorin für Lehre und Studium Professorin Dr. Beatrix Busse, Bürgermeister Dr. Ralf Heinen, Rektor Professor Dr. Axel Freimuth, AStA-Vorsitzende Eugen Esman und Isabell Loell, Kanzler Dr. Michael Stückradt KÖLNER UNIVERSITÄTSMAGAZIN 8
UNIVERSITÄT IM BILD MODERATORIN ANJA BACKHAUS LEITETE DURCH DIE VERANSTALTUNG. Die beiden AStA-Vorsitzenden Isabell Loell und Eugen Esman ermutigten die Studie- renden, sich im Zweifelsfall an sie zu wenden: Auch wenn sie nicht in allen Fällen helfen könnten, so könnten sie doch jeden an die richtige Stelle verweisen. 26 2021 9
UNIVERSITÄT IM BILD DAS RHEINENERGIESTADION FÜLLT SICH: Fast 13,000 Studierende folgten der Einladung der Uni zum Semester-Kickoff. Die Heimspielstätte des 1. FC Köln bot ein einmaliges Ambiente, um unter Beachtung aller Hygieneregeln zusammenzukommen. KÖLNER UNIVERSITÄTSMAGAZIN 10
UNIVERSITÄT IM BILD »Ein Studium ist mehr, als nur an der Universität rumzusit- zen«, sagte Rektor Professor Dr. Axel Freimuth in seiner Be- grüßungsrede. Dem stimmen die Studierenden sicherlich zu. 26 2021 11
UNIVERSITÄT IM BILD Bevor das Programm losging, konnten sich die Studierenden auf dem ›MARKT DER MÖGLICH- KEITEN‹ über die Uni informieren. Auch Mitarbeiter:innen, die sich seit Monaten nicht mehr begegnet sind, konnten sich hier wiederse- hen – oder zumindest von Stand zu Stand zuwinken. KÖLNER UNIVERSITÄTSMAGAZIN 12
UNIVERSITÄT IM BILD DIVERSITÄT UND GLEICHSTELLUNG werden an der Universität groß geschrieben – über alle Einrichtungen hinweg. Bei Diskriminierung oder Benachteiligung können die Gleichstellungsbeauftragten, der AStA oder die Studierendenberatungen helfen. 26 2021 13
UNIVERSITÄT IM BILD ANJA BACKHAUS SPRACH MIT SPITZENSPORTLERN, die gleich- zeitig studieren. Christopher Rühr (Mitte) holte mit der deutschen Herren-Hockeymannschaft bei den Olympischen Spielen in Tokio den 4. Platz. Lukas Schiwy (rechts) spielt Sitzvolleyball. Sein Team schaffte es bei den Paralympischen Spielen auf Platz 6. DIE SCIENCE-SLAMMERINNEN VERENA DZIALAS UND SHAMBHAVI PRIYAM klärten darüber auf, wie Sport und Bildung neurodegenerative Erkrankungen vorbeugen können und wie man gesundheitsfördernde Praktiken popu- lärer machen kann. Beide warben sogar mit ihrer Kleidung um Vertrauen in die Wissenschaft: »F**k Google! Ask Me.« und »Trust me, I'm a doctor (of economics).« KÖLNER UNIVERSITÄTSMAGAZIN 14
DIE BRASSBAND MOOP MAMA aus München rockte zum Abschluss das Stadion: ganz in rot und mit viel Blech. INE: Weitere Bilder und der Film im Online-Rückblick auf G E ONL RÄ n.de www.semesterstart.uni-koeln.de/rueckblick/ BEIT -koel ALLE gazin.uni a unim 26 2021 15
Wie die Erde bewohnbar wurde Welche Kräfte und Prozesse formten die junge Erde zu ihrer heutigen Gestalt und machten sie zu einem Planeten, auf dem sich Leben entwickeln konnte? Vieles davon ist noch ein Rätsel. Vier Kölner Geowissenschaftler liefern nun neue Er- kenntnisse und Modelle zu dessen Entschlüsselung. DIETER DÜRAND KÖLNER UNIVERSITÄTSMAGAZIN 16
EVOLUTION DES LEBENS Professor Dr. Carsten Münker untersucht eine frisch zertrümmerte Ge- steinsprobe im Pilbara Kraton, einer kargen Landschaft im Nordwes- ten Australiens. D r. Jonas Tusch und Professor Dr. Carsten Münker klopfen gerne Steine. Aber nicht irgendwelche, sondern solche, die sich vor drei »Steine sind ein zuverlässiges bis vier Milliarden Jahren zur Urzeit unseres Planeten bildeten Archiv der Erdgeschichte.« – während des sogenannten Ar- chaikums. Denn die steinernen Zeitzeugen sind die einzigen, die den Kölner Wissenschaftlern Jahren Hunderte Grad Celsius heißer war eine weite Reise in den Nordwesten Australi- vom Institut für Geologie und Mineralogie als heute, mischten sich, so Münker, Mine- ens und suchten dort über mehrere Wochen verraten können, was bisher noch vielfach ralien und Gestein im 3.000 Kilometer tief nach geeigneten Gesteinsproben. Auf dem im Dunkel liegt: Welche einzigartige Kombi- reichenden Erdmantel über 100 Millionen fünften Kontinent befindet sich eine der sel- nation von Prozessen formte die frühe Erde Jahre hinweg »erstaunlich langsam«. Des- tenen Gegenden, in der die Plattentektonik zum – soweit bekannt – einzigen bewohn- sen Zusammensetzung blieb daher lange in ihrem ursprünglichen Zustand gut erhal- ten Planeten im unendlichen Universum? ziemlich heterogen. tene Vulkangesteine, Basalte und sogenann- Oben und unten, vom inneren Erdkern Zu erwarten war der gegenläufige Prozess. te Komatiite an die Erdoberfläche geschoben bis zur Atmosphäre – alles beeinflusst ei- Denn die enorme Hitze im Erdinneren drängt hat. »Sie sind quasi unsere Asservatenkam- nander. Nur durch das komplexe Zusam- nach den Gesetzen der Physik zur kühleren mer und ein äußerst zuverlässiges Archiv der menspiel wurde unsere Erde zu dem, was Oberfläche und hätte bei ihrem Aufstieg den Erdgeschichte«, sagt Tusch. sie ist. Wie die junge Erde aussah und wie Mischer eigentlich viel schneller in Gang sie sich entwickelte, ist eine Frage, der sich setzen müssen. Doch richtig Fahrt nahm der Die Plattentektonik änderte Wissenschaftler:innen weltweit mit großem Mantelkonvektion genannte Vorgang erst die Zusammensetzung des Gesteins Elan annehmen. Der 55-jährige Münker ist vor rund drei Milliarden Jahren auf. Sprecher des DFG-Schwerpunktprogramms Münker und Tusch haben eine Erklärung Ein besonders unbestechlicher Zeitzeu- »Building a Habitable Earth«, über das die für den Spätstart gefunden. Lange war die ge, den die Steine bergen, ist das Element Deutsche Forschungsgemeinschaft Projekte Erde von einer weitgehend geschlossenen Wolfram. Auf dieses hatten es Münker und zur Entschlüsselung des Rätsels finanziert. und starren Erdkruste umhüllt. Sie hielt die Tusch damals abgesehen. Denn wie alle Er initiiert, fördert und koordiniert in die- Hitze gewissermaßen unter dem Deckel. Erst chemischen Elemente enthalten auch die ser Rolle nicht bloß den Erkenntnisdrang. als auf dem blauen Planeten die Plattentek- Atomkerne des Wolframs zwar immer gleich Münker und Tusch liefern selbst wesentliche tonik Schwung aufnahm, sich also immer viele Protonen. Die Zahl der Neutronen kann Beiträge für die aufwendige Spurensuche. mehr Kontinente über und unter den Ozea- jedoch abweichen. Die Varianten bilden cha- nen bildeten, riss die Decke auf und mach- rakteristische, genau bestimmbare Isotope, Weg frei te den Weg frei für die Hitze. Als Folge legte die über winzige Unterschiede ihrer Masse für die Hitze die Konvektion rapide an Tempo zu, bis der eindeutige Signaturen hinterlassen. Erdmantel schließlich vollständig homogen Die Isolierung des Wolframs aus Gestei- Ihre jüngste Entdeckung, unlängst ver- durchmischt war. nen und die Bestimmung der Isotope per öffentlicht im angesehenen Fachjournal Womit wir wieder bei der Liebe der bei- Massenspektrometrie ist allerdings ein hoch PNAS, liefert erstmals eine in der Fachwelt den Geologen für uralte Steine wären. Denn diffiziles Verfahren, das nur in Köln und von viel beachtete Erklärung für einen bis dato nur mit deren Hilfe konnten sie den wissen- einer Handvoll Wissenschaftler:innen welt- ungelösten Widerspruch: Obwohl die jun- schaftlichen Nachweis für ihre These führen. weit beherrscht wird. Zurück in der Heimat ge Erde in ihrem Kern vor vier Milliarden Dafür begaben sie sich 2016 und 2017 auf gingen die Forscher an die Auswertung. Für 26 2021 17
EVOLUTION DES LEBENS Wolfram – Das DER ANSTIEG VON SAUERSTOFF IN DER ERDATMOSPHÄRE Schwermetall HADAIKUM ARCHAIKUM PROTEROZOIKUM PHANEROZOIKUM hat eine hohe Dichte und 100% den höchsten Schmelz- Entstehung des Sonnensystems und Siedepunkt unter den Elementen. Sein 21% Vorkommen wurde erst- 10% mals im 16. Jahrhundert (4,567 Mrd. Jahre v.h.) in sächsischen Zinnerzen beschrieben. Sein deut- scher Name rührt daher, dass es das Zinnerz wie Tiere / Pilze 1% ein Wolf »aufzufressen« Pflanzen schien. Die englische Bezeichnung tungsten Bakterien & Archaeen Algen leitet sich von tung sten 0,1% (schwedisch für »schwe- rer Stein«) ab. 4 3 2 1 heute Milliarden Milliarden Milliarden Milliarden Jahre v.h. Jahre v.h. Jahre v.h. Jahre v.h. diese bietet das 2016 eröffnete und nach An dieser Stelle kommt Dr. Florian wachsene, schlanke 38-Jährige aber in der dem neusten Stand der Technik ausgestat- Kurzweil ins Spiel, dessen Arbeitszimmer im Gegenwart statt in der Vergangenheit nach tete Reinraumlabor des Instituts für Geolo- vierten Stock des Institutsgebäudes liegt, der Erklärung für die zeitliche Entwicklung gie und Mineralogie an der Zülpicher Straße zwei Etagen über den Büros von Münker und der Sauerstoffkonzentration in den urzeit- ausgezeichnete Voraussetzungen. »Die ana- Tusch. Auch seine aktuellen Projekte werden lichen Ozeanen. Und wiederum sollte die lytischen Verfahren in Köln ermöglichen zur- aus dem DFG-Schwerpunktprogramm über Wolframisotopie der Schlüssel sein, diese zeit die weltweit präzisesten Messungen von die Evolution unseres Planeten finanziert. präziser zu bestimmen. relativen Isotopenhäufigkeiten des Elements Und wie seine Kollegen interessiert sich Wolfram«, lobt Münker. Kurzweil ganz besonders für die Frage, wann Alte Gesteine – ein Die Auswertung der Messdaten stützte die und wie der Sauerstoff (O2) freigesetzt wur- »genetischer Finderabdruck« Theorie des Kölner Geologen-Duos. Es fand de, ohne den die Erde tot geblieben wäre und in dem Uralt-Gestein wie vermutet kleinste es weder uns noch Flora und Fauna gäbe. Als geeignete Quelle lokalisierte Kurzweil Anreicherungen am Wolfram-Isotop 182. Erst Die vorherrschende Theorie derzeit lautet: ein 460 Meter tiefes Meeresbecken in der vor drei Milliarden Jahren verschwindet dies Irgendwann fingen erste Bakterien in den Ostsee vor der Küste Gotlands. Die Wasser- aus jüngerem Gestein – genau zu dem Zeit- Ozeanen an, ihre Energie aus dem Licht der säule im Landsort Deep genannten Seege- punkt, als die einsetzende Plattentektonik Sonne per Photosynthese zu beziehen. Als biet trennt sauerstoffreiches Oberflächen- den Erdmantel zu einer homogenen Masse Abfallprodukt des Stoffwechsels setzten sie wasser von sauerstoffarmem in der Tiefe. An zu durchmischen begann und die Isotopen- Sauerstoff frei. Das passierte zunächst in we- der Grenze der beiden Schichten bilden sich zusammensetzung des Wolframs änderte. nigen isolierten Becken – und in homöopa- Oxid-Minerale, an die sich bevorzugt isoto- thischen Dosen. pisch leichtes Wolfram heftet. Das schwere Als der Sauerstoff Doch das Aufkommen dieser ersten sau- bleibt im Meerwasser zurück. »explodierte« erstoffproduzierenden Bakterien änderte Diesen Zusammenhang nutzte Kurzweil den Lauf der Erdgeschichte fundamental. für seine indirekte Beweisführung. Weil sich Was die beiden herausgefunden haben, Mehr und mehr Sauerstoffmoleküle beleb- Oxid-Minerale nur unter Anwesenheit von führt zu noch weitreichenderen Implikatio- ten die bis dahin anoxischen – also sauer- O2 bilden, muss die Sauerstoffkonzentration nen für das Verständnis der Erdgeschichte. stofffreien – Weltmeere und reicherten sich der Ozeane letztlich mit der Wolframisotopie Denn das Einsetzen der Plattentektonik war nach und nach auch in der Atmosphäre an. des Wassers korrelieren. »Je mehr Sauerstoff Voraussetzung dafür, dass sich in der Erd- Der anfangs zögerliche Prozess kulminier- vorhanden ist, umso mehr schweres marines atmosphäre Sauerstoff zu bilden begann. te vor etwa 2,4 Milliarden Jahren im »Great Wolfram muss vorhanden sein«, erläutert Ohne ihn hätte sich niemals komplexes Oxidation Event«: Die Sauerstoff-Konzentra- der Wissenschaftler vom Niederrhein. An- biologisches Leben entfalten können – von tion stieg unter wie über Wasser explosions- steigende Sauerstoffkonzentrationen in den ersten Bakterien bis hin zum Menschen. artig an – die Erde wurde bewohnbar. »Das Ozeanen der frühen Erdgeschichte haben »Die Erde«, sinniert Münker, »wäre nur ein war der absolute Wendepunkt für die Evolu- somit zur verstärkten Bildung der Oxid-Mi- weiterer fehlgeschlagener Planet in unse- tion des Lebens«, sagt Kurzweil. nerale und somit zu isotopisch schwererem rem Sonnensystem geworden.« Wie zum Doch was plausibel klingt, bedarf der marinen Wolfram geführt. Kurzweil vermu- Beispiel der Mars, der es nie schaffte, Kon- wissenschaftlichen Bestätigung. Anders als tet, dass eine solche Entwicklung in marinen tinente zu bilden. Münker und Tusch fahndete der großge- Sedimenten erhalten bleibt. Die Wolframiso- KÖLNER UNIVERSITÄTSMAGAZIN 18
EVOLUTION DES LEBENS topie der ältesten Sedimente der Erde könnte wahrte Kohlendioxid (CO2), Methan oder ein der Sauerstoff-Isotopen-Zusammensetzung dann wie ein genetischer Fingerabdruck die anderes Gas ihn vor dem Auskühlen? Und in an sehr alten Kalk- und Kieselgesteinen ab. Entwicklung der marinen Sauerstoffkonzen- welcher Konzentration schwebten sie in der Dabei taucht allerdings ein Problem auf: Das tration im Laufe der Erdgeschichte abzeich- Schutzhülle? In diesen Punkten scheiden Wasser der frühen Ozeane müsste diesen nen. sich mangels bisher unbestreitbaren Nach- Messungen zufolge 70 Grad Celsius und hei- Auch wenn das Rätsel noch nicht ganz weises die Geister. ßer gewesen sein. »Das halte ich für extrem gelöst ist: Der Startpunkt der Sauerstoffan- Ein vierter Kölner Geologe, Dr. Daniel unwahrscheinlich«, sagt Herwartz. reicherung auf der Erde kann nun klarer ein- Herwartz, hat eine Erklärung gefunden, die Enthielt die damalige Atmosphäre aber gegrenzt und das Tempo präziser bestimmt den Disput auflösen könnte. Seine Untersu- solche gigantischen Mengen CO2 wie der werden. Das neue Puzzleteil erleichtert es chungen, die er im Team mit Wissenschaft- 42-jährige gebürtige Bonner vermutet, hätte Geolog:innen zudem, die Rolle anderer erd- lern aus Göttingen und dem dänischen sich auch das Sauerstoffverhältnis des Meer- geschichtlicher Entwicklungen für die O2- Aarhus vorantrieb, lassen ein neues Modell wassers verändert. Die hohe CO2-Konzent- Bildung einzuordnen, zum Beispiel den Vul- plausibel erscheinen: Ein extrem hoher CO2- ration war bislang jedoch noch nicht in die kanismus und die Plattentektonik. Kurzweil: Gehalt in der Atmosphäre – viel höher als Berechnungen des Geothermometers einge- »Wir erhellen das Dunkel mit immer mehr bisher angenommen – verhinderte, dass die flossen, was das Ergebnis verfälschte. Einen Scheinwerfern.« Erde zu viel Wärme an den Weltraum verlor. solch heißen Ozean wie bisher vermutet hat Herwartz‘ Modell entschärft auch einen es demnach wahrscheinlich nicht gegeben. Gigantische Mengen anderen Streit. Geowissenschaftler:innen »Meinen Berechnungen zufolge lag die Tem- an Kohlendioxid hielten versuchen die jeweiligen Wassertemperatu- peratur eher bei 40 Grad Celsius.« die Erde warm ren in den Ozeanen im Verlauf der Erdge- Letzte Gewissheit liefert sein Modell indes schichte mit einer Art Geothermometer zu nicht. »Dafür brauchen wir weitere starke Zu den bis heute nicht endgültig geklärten rekonstruieren. Die Fieberkurve lesen sie aus Indikatoren«, betont Herwartz. Zu diesem Mysterien gehört auch die Frage, warum auf der Erde vor drei bis vier Milliarden Jahren Professor Dr. Carsten so hohe Temperaturen herrschten, dass es Münker neben 3,45 Milliarden Jahre altem so gut wie keine Gletscher gab. Denn die granitischem Gestein. Sonne wärmte die Erde damals allenfalls mit 70 bis 80 Prozent ihrer heutigen Strahl- kraft. Was erklärt dieses in der Fachwelt als »Paradoxon der schwachen Sonne« titulier- te Phänomen? Treibhausgase müssen unseren Planeten davor bewahrt haben, zu einem Eisklumpen zu erstarren. In dieser Erklärung sind sich Geolog:innen weitgehend einig. Doch be- Great Oxidation Event – Das GOE ist auf Deutsch als »Große Sauerstoffkatas- trophe« bekannt, da der steigende Sauerstoffge- halt in den Ozeanen die anaeroben Organismen zurückdrängte, deren Stoffwechsel nur ohne Sauerstoff funktioniert. Der Sauerstoffgehalt von Wasser und Luft stieg in mehreren Schüben an der Grenze vom Archai- kum zum Proterozoikum an. Dieser Prozess mar- kiert den Übergang von der zweiten zur dritten Erdatmosphäre. 26 2021 19
WANN IST EIN MANN EIN MANN? Dr. Jonas Tusch ent- nimmt Gesteinsproben. Die Verwendung eines großen Vorschlagham- mers ist nötig um die massiven magmatischen Gesteine zu zertrüm- mern. aktuellen Klimakrise so gefürchteten Koh- lendioxids? Es ist heute hauptsächlich in Karbonatge- steinen wie den Kalkalpen gebunden, aber auch in Kohle-, Erdöl- und Erdgaslagerstät- ten, ebenso wie in Permafrostböden, Bäu- Zweck will er nun den fest an Phosphor ge- Solche Proben können wir aber nun durch men, Pflanzen und sonstiger Biomasse. Be- bundenen Sauerstoff untersuchen – in der hochpräzise Messungen von allen drei Sau- wahrte das CO2 die Erde in ihren Anfängen Hoffnung, dass dieser noch genauere Rück- erstoffisotopen erkennen und aussortieren. vor der Vereisung und setzte das Leben in schlüsse auf die damaligen Temperaturen Das war bisher nicht möglich«, erläutert der Gang, könnte seine heutige ungebremste An- ermöglicht. »Das Thermometer ergibt na- Experte. So bald geht den Geolog:innen der reicherung in der Luft den Planeten für den türlich falsche Temperaturen, wenn sich die Forschungsstoff also nicht aus. Menschen wieder unbewohnbar machen. ursprüngliche Sauerstoff-Isotopen-Zusam- Bleibt eine spannende Frage: Wohin ver- Denn Boden, Meer und Atmosphäre – da- mensetzung über die Zeit verändert hat. schwand eigentlich der Großteil des in der mals wie heute hängt alles zusammen. »BUILDING A HABITABLE EARTH« Nur im Pilbara Kraton und im Kaapvaal Kraton Das DFG-Schwerpunktprogramm wird von in Südafrika dringt die 2015 bis 2022 von der Deutschen For- unberührte archaische schungsgemeinschaft gefördert. Sprecher ist Erdkruste von vor 3,6 Professor Dr. Carsten Münker an der Univer- bis 2,7 Milliarden Jahren sität zu Köln. Die Forschungen an insgesamt an die Oberfläche. 12 beteiligten Universitäten und Forschungs- institutionen helfen zu klären, wie die Erde zum einzig bekannten bewohnbaren Planeten im Universum wurde. Die drei wichtigsten Themen sind die Zusammensetzung und die Quellen der Baumaterialien der Erde, ihre frühe innere Differenzierung in Kruste, Mantel und Kern, und die Entwicklung des Ozean- Atmosphären-Systems. Zu den beteiligten geowissenschaftlichen Disziplinen gehören die Geologie, Geochemie, Planetologie, Kosmo- chemie, Geobiologie und die geophysikalische Modellierung. Die Mitglieder des Schwerpunktprogramms bearbeiten diese Themen mithilfe alter Gesteinsproben und extraterrestrischer Proben – Meteoriten oder Proben aus Weltraummis- sionen. Diese Untersuchungen werden durch Modellierung und Laborexperimente ergänzt. www.habitableearth.uni-koeln.de KÖLNER UNIVERSITÄTSMAGAZIN 20
WISSENSCHAFT KURZNACHRICHTEN »HYPERAUGE« AUS DER URZEIT ENTDECKT Bei Trilobiten der Unterordnung Phacopina Die Untersuchungen legen nahe, dass es aus dem Devon (390 Mio. Jahre v.h.) haben sich um ein Hyper-Verbundauge handelt. Forscher:innen ein Augensystem gefunden, Jeder Phacopide hat zwei Augen. Jedes die- das im Tierreich einzigartig ist: Über einer ser Augen besteht aus etwa 200 bis zu 1 Gruppe von sechs normalen Facettenaugen mm großen Linsen. Unter den einzelnen spannt sich die Linse eines Überauges. Unter Linsen sind mindestens 6 Facetten auf- Leitung der Kölner Zoologin PD Dr. Brigitte gestellt, die wieder einem eigenen kleinen Schoenemann vom Institut für Didaktik der Facettenauge entsprechen. Es finden sich Biologie machte das Forschungsteam zu- also etwa 200 Facettenaugen in einem sätzlich zu den Hyper-Facettenaugen eine Auge. Darunter saß ein schaumartiges Struktur aus, die sie für ein lokales neuronales Nest, das wahrscheinlich ein kleines neu- FUNKSTILLE IN DER FAMILIE Netzwerk halten, das die Informationen die- ronales Netz war, das die Signale verarbei- ses speziellen Auges direkt verarbeitet und die tete. Viele Menschen entfremden sich im Laufe Informationen vom Auge zum Gehirn führt. ihres Lebens von ihren Eltern: Jede fünf- te Vater-Kind-Beziehung ist betroffen, bei Müttern ist es knapp jede zehnte. Das zeigt eine neue Studie von Soziolog:innen der Martin-Luther-Universität Halle-Witten- berg (MLU) und der Universität zu Köln. Für die Studie nutzten die Soziolog:innen Daten aus den Jahren 2008 bis 2018 von mehr als 10.000 Personen. Im Zentrum stand die Frage, welche Faktoren und Ereig- nisse die Wahrscheinlichkeit einer Entfrem- dung beeinflussen. Dabei zeigte sich: Beson- ders gefährdet sind Familien, in denen ein Elternteil verstorben ist oder in denen nach einer elterlichen Trennung ein Stiefeltern- teil hinzugekommen ist. Innerhalb von zehn Jahren entsteht diese Distanz bei 20 Prozent KOMPETENZNETZWERK CORE-NET LEGT BERICHT aller erwachsenen Kinder und ihren Vätern, ZUR VERSORGUNGSSITUATION VON MENSCHEN dagegen nur bei neun Prozent der Mütter. IM LETZTEN LEBENSJAHR VOR Dies lässt sich damit erklären, dass die Bin- dung zur Mutter oft enger ist als zum Vater. Wie die Bedürfnisse und die Versorgungs- können. Dabei geht es um Themen wie den Ob es sich beim Kind um einen Sohn oder situation von Menschen im letzten Le- gewünschten Sterbeort, die Kommunikati- eine Tochter handelt, spiele dabei kaum eine bensjahr aktuell aussehen, ist Gegenstand on über das Sterben und Entscheidungen zu Rolle. des Berichts »Versorgung von Menschen komplexen Behandlungsbedürfnissen. Aus im letzten Lebensjahr in Köln« des Kölner den Ergebnissen wurden Handlungsemp- Kompetenznetzwerks aus Praxis und For- fehlungen zur Verbesserung der Versorgung schung (CoRe-Net). im letzten Lebensjahr abgeleitet. Der Bericht basiert auf Ergebnissen ei- CoRe-Net ist eine vom Bundesministe- ner Studie, für die unter anderem Ange- rium für Bildung und Forschung (BMBF) hörige von im Großraum Köln Verstor- geförderte Initiative zum Aufbau eines benen befragt, Versorger:innen aus dem Kompetenznetzwerks aus Versorgungsfor- Gesundheitswesen interviewt und Kran- schung und Versorgungspraxis in Köln. Sie kenkassendaten ausgewertet wurden. Der hat sich zum Ziel gesetzt, mit innovativen Versorgungsbericht befasst sich unter an- Forschungsprojekten die medizinische und derem mit der Frage, wie die individuellen soziale Versorgung der Kölner Bevölkerung Bedürfnisse eines Menschen in der letzten zu verbessern. Lebensphase bestmöglich erfüllt werden 26 2021 21
MEERESÖKOLOGIE Aufgewühlt und leergefischt Fische und andere Meerestiere gelten als gesunde Eiweißquellen. Doch die Fischerei ist in Verruf geraten, weil viele ihrer Methoden nicht nachhaltig sind. Ein Forschungsprojekt mit Kölner Beteiligung untersucht die Auswirkungen der besonders schädlichen Bodenschleppnetzfischerei in der Ostsee. EVA SCHISSLER KÖLNER UNIVERSITÄTSMAGAZIN 22
MEERESÖKOLOGIE D as Meer ist keine Landschaft, es ist das Erlebnis ke, Riffe und Muschelbänke in der Ostsee systematisch der Ewigkeit, soll Thomas Mann mal gesagt ha- erforscht. Neben geophysikalischen und geochemischen ben. Der Ostseefreund hatte in dem litauischen Eigenschaften wird dabei auch das gesamte bodennahe Örtchen Nida auf der Kurischen Nehrung ein Sommer- Nahrungsnetz untersucht. Dabei geht es in erster Linie haus. Doch so ewig, wie es dem großen Romancier damals um einen Vergleich zwischen Schutzgebieten und Ge- vielleicht erschien, ist das Meer keinesfalls. Ganze Ökosys- bieten, die nicht unter Schutz stehen. In den deutschen teme verändern sich – unter anderem aufgrund des Kli- Gewässern der Nord- und Ostsee sind mehrere Meeres- mawandels. Auch die Ostsee ist betroffen: Flora und Fauna schutzgebiete eingerichtet beziehungsweise deren Ein- sind vielfältigen, durch den Menschen verursachten Ver- richtung vorbereitet worden. Dort darf etwa kein Müll änderungen ausgesetzt. Das bleibt nicht ohne Folgen für abgeladen werden und es ist untersagt, fremde Arten das ökologische Gleichgewicht des maritimen »Ein intakter Meeresboden Lebensraums. Zerfurcht wie eine Elefantenhaut Die Ostsee ernährt auch seit jeher die Men- dient auch als ›Kläranlage‹, schen, die an ihren Küsten leben. Heute wird Fischerei jedoch in industriellem Ausmaß be- die dem Wasser überschüssige trieben. Große Trawler fischen das Meer leer – nicht nur in der Ostsee, sondern auf allen organische Substanzen ent- zieht und Schadstoffe bindet.« Weltmeeren. Besonders effektiv, aber auch invasiv, ist die sogenannte Grund- oder Bo- denschleppnetzfischerei. Dabei werden Netze großflächig über den Meeresboden gezogen. Die Ausbeute ist groß, doch groß ist auch der Schaden, den einzuführen. Doch gefischt werden durfte bis vor kur- sie anrichtet: Es geht viel Beifang mit in die Netze und der zem immer noch – auch mit Grundschleppnetzen. Viele empfindliche Meeresboden wird aufgewühlt und zerstört. Fische, die in der Nähe des Bodens leben, wie Schollen »Schaut man sich Bilder des Meeresgrundes beispiels- und Dorsche, sind auf dem Weltmarkt gefragt. weise am Fehmarnbelt an, sieht es aus wie eine Elefan- tenhaut: da ist kaum ein Bereich, der nicht mit Furchen Belastbare Befunde für den Meeresschutz durchzogen ist«, sagt Maria Sachs, Doktorandin am Lehr- stuhl für Allgemeine Ökologie von Professor Dr. Hartmut Das Kölner Team ist für die sogenannte Nano- und Mi- Arndt am Institut für Zoologie. krofauna verantwortlich – Geißeltierchen, kleine Amö- Am 2. Juni stach das Forschungsschiff Elisabeth Mann ben und Wimpertierchen im Größenbereich von 1 bis Borgese – benannt nach der bedeutenden Meeresforsche- 200 Mikrometern. Diese hoch diverse Organismengrup- rin und jüngsten Tochter des Schriftstellers Thomas Mann pe wurde bislang in der Forschung nur wenig berück- – zu einer vierzehntägigen Forschungsreise von Rostock sichtigt. »Wenn der Meeresgrund durch die Schleppnet- aus in See. Die Expedition dokumentiert umfangreich die ze aufgewühlt wird, werden diese kleinen Tiere teilweise Beschaffenheit des Meeresgrundes. Auch Sachs war mit an in tiefere, anaerobe Sedimentschichten ›untergepflügt‹ Bord. Sie untersucht im Rahmen ihrer Doktorarbeit, wie und sterben dort. Dadurch fehlt dann einigen Krus- sich die von der Bodenschleppnetzfischerei verursachte tentieren, von denen sich wiederum die Fische ernäh- Störung der Sedimentstruktur durch Sedimentumlage- ren, die Nahrungsgrundlage«, sagt Sachs. Ein intakter rungen auf das maritime Ökosystem auswirkt – vor allem Meeresboden ist aber nicht nur für das Nahrungsnetz auf Kleinstlebewesen am Meeresboden. wichtig. Er dient auch als »Kläranlage«, die dem Was- Es ist das erste Mal, dass eine solche Expedition den ser überschüssige organische Substanzen entzieht und Einfluss von Fischerei auf Lebensräume wie Sandbän- Schadstoffe bindet. Forschungsreise – Die Fahrt ist Teil einer Pilotmission der Deutschen Allianz Meeresforschung e.V. (DAM) unter der Leitung des Leibniz-Instituts für Ostseeforschung in Rostock-Warnemünde (IOW). Weitere beteiligte Einrichtungen sind das Thünen-Institut, die Sencken- berg Gesellschaft für Naturforschung, das Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, das Helmholtz-Zentrum Potsdam – Deutsches GeoForschungsZentrum, die Universität Rostock und die Universität zu Köln. 25 2021 23
MEERESÖKOLOGIE Zunächst wählten die Forscher:innen her See möglich, denn auf dem Schiff stehen ihre Lebensgrundlage entziehen. Doch ei- Flächen zur Untersuchung aus: im Feh- über 97 Quadratmeter an Laborfläche für gentlich entzieht die übermäßige Fischerei marnbelt, einer Wasserstraße zwischen der Forschungsarbeiten zur Verfügung. »Das der Fischerei selbst ihre Lebensgrundlage«, Südküste der dänischen Insel Lolland und sogenannte Sandlückensystem der Oder- sagt Sachs. Noch dominiere eher der Inter- Fehmarn, und an der Oderbank, einer in der bank zeigte eine Vielfalt von Lebensformty- essenkonflikt, aber man versuche, ins Ge- Pommerschen Bucht gelegenen Sandbank. pen, die bereits im Größenbereich von weni- spräch zu kommen, so die Doktorandin. Die Um belastbare Daten vorlegen zu können, gen Mikrometern verschiedene Ebenen der Fischerei ganz abzuschaffen – darum geht welchen Effekt der Wegfall der Fischerei hat, Nahrungspyramide aufwiesen. Besonders es den Wissenschaftler:innen überhaupt werden regelmäßig Bodenproben in den beeindruckend war das zahlreiche Auftre- nicht. Vielmehr wollen sie auf der Grundla- Meeresschutzgebieten sowie in den Ver- ten der Mikrofauna in Sedimentschichten, ge solider Daten eine Perspektive für mehr gleichsgebieten genommen. Wie entwickeln die eigentlich gar keinen Sauerstoff mehr Naturverträglichkeit entwickeln, um die sich Gebiete, wenn keine Fischerei mehr enthielten«, sagt Arndt. Umwelt zu schützen und der Fischerei eine stattfindet? Erholen sie sich schnell oder gute und nachhaltige Grundlage zu bieten. dauert es lange? Und wie unterscheidet sich Damit der Fisch sich nicht Denn letztendlich ist ein gesundes Ökosys- die Zusammensetzung des Meeresbodens? in den Schwanz beißt tem im Sinne aller. Da aufgrund von Corona nur jeweils halb so viele Menschen mit an Bord durften, Nach Abschluss der Mission wird das Team Von 2020 bis voraussichtlich 2023 laufen zwei musste die Mission in zwei Fahrten aufge- auf der Grundlage der gesammelten Daten PILOTMISSIONEN DER DEUTSCHEN teilt werden. Professor Dr. Hartmut Arndt Empfehlungen für die verantwortlichen ALLIANZ MEERESFORSCHUNG E.V. war im zweiten Teil der Ostsee-Expedition Entscheidungsträger:innen in Deutschland (DAM) zum Einfluss der Grundschleppnetzfi- vom 11. bis zum 16. Juni in den gleichen Ge- erarbeiten. Da die Schutzgebiete an den scherei auf Meeresschutzgebiete in Nord- und Ostsee. Die Projektleitung für die Mission bieten der Ostsee unterwegs. Während Maria Grenzen zu den Nachbarländern Dänemark, »MGF Nordsee« liegt beim Alfred-Wegener- Sachs die molekularbiologischen Untersu- Schweden und Polen liegen, wird in Zukunft Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und chungen im ersten Fahrtabschnitt durch- auch die internationale Kooperation immer Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven, für führte, nutzte Hartmut Arndt den zweiten wichtiger werden. Doch was sagt die Fische- die Pilotmission »MGF Ostsee« beim Leibniz- Institut für Ostseeforschung in Rostock- Fahrtabschnitt, um Direktbeobachtungen rei dazu? Lange schon herrsche ein Antago- Warnemünde (IOW). Beide Missionen, die der sensiblen Mikrolebewelt am Mikroskop nismus vor. »Es heißt oft, Wissenschaft und auf Initiative des und in enger Zusammen- an Bord durchzuführen. Das ist auch auf ho- Naturschutz wollten den Fischereibetrieben arbeit mit dem Bundesamt für Naturschutz durchgeführt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert werden, sind Teil der DAM-Forschungsmission »Schutz Aufbruch zur und nachhaltige Nutzung mariner Räume«. Ostsee-Expedition Die DAM ist eine Allianz des Bundes mit von Rostock-Warne- den fünf norddeutschen Ländern Bremen, münde unter Leitung Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein des Leibniz-Instituts und Mecklenburg-Vorpommern zur Förderung für Ostseeforschung und Koordinierung der deutschen Meeresfor- (IOW). Die Kölner schung. Wissenschaftler:innen sind im Rahmen der Forschungsmission für Kleintiere, die sogenannte Nano- und Mikrofauna, verantwortlich. Die Kölner Biologin Maria Sachs ent- nimmt Proben vom Meeresboden um zu analysieren, wie die Bodenschlepp- netzfischerei dessen Zusammensetzung beeinflusst. KÖLNER UNIVERSITÄTSMAGAZIN 24
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Entrümpeln in den Zellen Ausmisten kann befreiend wirken. Radikaler Minimalismus, Klarschiff machen mit Ordnungsguru Marie Kondo oder dem Trödeltrupp. Genau das machen unsere Zellen tagtäglich. Jeden Moment. Auch jetzt. Das Putzkommando übernimmt das Protein Ubiquitin, und es sorgt in unseren Zellen nicht nur für Ordnung, sondern hält sie auch jung. HANNAH REITER I n den letzten 150 Jahren hat sich die Lebenserwartung steigt, und zwar rasant, ist das Risiko für altersbedingte in Deutschland verdoppelt. Wir werden immer älter. Erkrankungen. Wenn das letzte Drittel unseres Daseins Was allerdings mit fortschreitendem Alter ebenso von Krankheit geprägt ist, hat das Auswirkungen auf die KÖLNER UNIVERSITÄTSMAGAZIN 26
A LT E R N S F O R S C H U N G Dr. Seda Koyuncu und Professor Dr. David Vilchez in ihrem Labor am Exzellenzcluster für Alternsforschung CECAD. Lebensqualität und letztendlich auch auf die Teil- den. Aber Schritt für Schritt: Wie entrümpelt Ubiquitin – Das Protein wurde habe am Leben. Die Forschungen im Exzellenzclus- Ubiquitin unsere Zellen? Dazu müssen wir uns 1975 entdeckt. Als zellu- ter für Alternsforschung CECAD der Universität zu zunächst einen Kleiderschrank vor Augen führen. läres »Post-it« steuert es Köln setzen genau hier an. »Gesundheit auch im Wir öffnen die Türen und schon kommt uns der den Proteinabbau. Dazu Alter, ohne Krankheiten oder mit guten Therapien. gesamte Inhalt entgegen. Das T-Shirt hat ein Loch, wird es durch die Ubiqui- tinase an andere Proteine Das ist unsere Vision«, sagt der Biomediziner und der kratzige Wollpulli von Tante Käthe ist (end- geheftet, um diese zu CECAD-Forschungsgruppenleiter Professor Dr. Da- lich!) eingelaufen, die Lieblingsjeans von Anno entsorgen. Ubiquitin vid Vilchez. Mithilfe eines Modellorganismus, des Dazumal liegt zerknittert hinten links in der Ecke. findet sich in allen Zellen Fadenwurms Caenorhabditis elegans, haben er und Zeit auszumisten! Schnell holen wir unsere kli- von Tieren, Pflanzen und Pilzen. sein Forschungsteam ein essentielles Puzzleteil ent- maneutralen Post-it-Zettel zur Hand und kleben schlüsselt: die Rolle des Proteins Ubiquitin für den sie auf alles, was ausgedient hat. Erledigt! Alterungsprozess. Alles, was weg soll, liegt nun auf einem Hau- fen. Aus Nettigkeit gehen wir den Kram noch mal Ausmisten – aber mit unserer Partnerin, unserem Partner oder den mit Augenmaß Kindern zusammen durch. Die Lieblingshose will eins der Kinder noch tragen. Post-it entfernt. An Die ursprüngliche Entdeckung von Ubiquitin Tante Käthes Pulli hängen zu viele Erinnerungen, brachte Aaron Ciechanover, Avram Hershko und um ihn zu entsorgen. Post-it weg (siehe 3A auf Irwin Rose 2004 den Nobelpreis für Chemie ein. S. 26). Aber das T-Shirt. Das kommt mit den an- Sie entdeckten damals bereits, welche grundsätz- deren ausgemisteten Klamotten in den Altklei- liche Funktion es in unseren Zellen übernimmt: dercontainer (siehe 3B auf S. 26). Nach dem Klei- es entrümpelt. So sorgt es dafür, das überlebens- derschrank fällt unser Blick auf das Kinderzimmer wichtige Gleichgewicht der Proteine innerhalb unserer Kleinen, die gar nicht mehr so klein sind. einer Zelle zu wahren. Doch das funktioniert im Sie brauchen dringend ein Jugendzimmer. Also Alter immer schlechter. geht es lustig weiter mit dem Ausmisten. Was genau in den gealterten Zellen schief läuft, Überall in unseren vier Wänden finden wir Pröll, haben Vilchez und sein Team nun herausgefun- den wir anhäufen und gelegentlich ausmisten 26 2021 27
A LT E R N S F O R S C H U N G Der Prozess der zellu- lären Entrümpelung in jungen und alten Zellen: Während in jungen Zellen der Entsorgungs- prozess im Gleichge- wicht ist, können sich in alten Zellen zu viele Proteine ansammeln. Das schränkt die Zelle in ihrer Funktion ein und kann sogar zum Zelltod führen. müssen. Denn nimmt er überhand, ist das eine Ubiquitin-Markierung durch ein wei- für unser Wohlbefinden nicht gut. Wenn teres Protein, die Ubiquitinase – ähnlich, Ubiquitinase – Dieses Enzym alles zugestellt ist, können wir uns nicht wie wir bei unserem Kleiderschrank Post-its steuert, welche Proteine mehr frei bewegen oder verschenken kost- eingesetzt haben. Diese mit Ubiquitin mar- innerhalb der Zelle mit bare Zeit, wenn wir etwas nicht finden, das kierten Proteine werden danach über das Ubiquitin zur Entsorgung wir dringend benötigen. Doch wir sollten es Proteasom – den Altkleidercontainer – ent- markiert werden. Diesen Markierungsvorgang auch nicht übertreiben. Genauso schädlich sorgt. So wird innerhalb unserer Zellen ein nennt man Ubiquitinie- ist es nämlich, wenn wir alles radikal weg- ausgewogenes Gleichgewicht hergestellt, rung. schmeißen und überlebenswichtige Dinge das für ihre Langlebigkeit wichtig ist. Man dabei abhandenkommen. nennt diese Balance unter den Proteinen auch Proteostasis. Proteasom – » Im Alter gerät der Gibt es zu viele oder zu wenige Proteine, Proteasome, oder auch »Müllvernich- ter der Zelle«, bauen Entrümpelungsapparat aus büßt die Zelle in ih- rer Funktion ein. Sie ubiquitinierte Proteine ab. Eigentlich sind sie dem Gleichgewicht.« eher eine Art Recycling- kann unbeweglicher anlage: Proteine werden oder fragil werden in kleinere Peptide und und so beispielswei- Aminosäuren zerlegt, um se ihre Form nicht wiederum als Bausteine für neue Proteine zu Auch Zellen können zu voll oder zu leer mehr halten. Bei einer Muskelzelle wäre das dienen. sein. Sie bestehen aus Proteinen, die jeweils fatal. wichtige Funktionen erfüllen. Ubiquitin ist Das CECAD-Forschungsteam entdeckte, unter ihnen dafür zuständig, für Balance in dass diese Entrümpelung durch Ubiquiti- der Zelle zu sorgen. Fehlerhafte, falsch ge- nase und Ubiquitin bei gealterten Zellen faltete oder überzählige Proteine erhalten nicht mehr optimal abläuft. Der Grund: KÖLNER UNIVERSITÄTSMAGAZIN 28
A LT E R N S F O R S C H U N G Deubiquitinierung – Der Ge- genspieler der Ubiquitinierung ist die Deubiquitinierung, die durch verschiedene Proteine ausgelöst wird. In dem Prozess wird das Ubiquitin von markierten Proteinen, die doch noch benötigt werden, wieder entfernt. Auch die Deubiquitinierung ist ein wichtiger Prozess, denn sie reguliert die Stabilität der Proteine. Wenn sie im Alter über- handnimmt, kann sie jedoch den Zelltod beschleunigen. Das CECAD Forschungszentrum. Insgesamt forschen hier und an den anderen Standorten des Exzellenz- clusters für Alternsforschung über 650 Wissenschaftler:innen an alternsassoziierten Krankheiten. Zum Cluster gehören neben der Universität zu Köln die Uniklinik, die Max-Planck-Institute für Stoffwechselfor- schung und für Biologie des Alterns sowie das Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE). eine erhöhte Deubiquitinierung, also quasi Ubiquitinase und verringerten experimen- die Lebensdauer der Fadenwürmer, die in der ein übermäßiges Entfernen der »Ubiqui- tell die Anzahl der Proteine. Die Vermutung Regel etwa 19 Tage überleben, um drei bis vier tin-Post-its«. »Diejenigen Proteine, die die ging auf: »Die Verringerung des Protein- Tage verlängern. Also um fast ein Fünftel. Ubiquitin-Markierung entfernen, werden spiegels dieser nicht markierten Proteine mit zunehmendem Alter aktiver«, erklärt reichte tatsächlich aus, um die Langlebig- Das Ziel: den Alterungs- Vilchez. In einer jungen, intakten Zelle seien keit zu verbessern«, fasst Koyuncu ihre Ent- prozess verzögern die Ubiquitinierung und die Deubiqutinie- deckung zusammen. rung im ausgeglichenen Wechselspiel. Die Das Team konzentrierte sich in den Fol- Ein Dasein in Balance ist also das A und O Entfernung von Ubiquitin ist wie eine wei- geanalysen auf die zwei Proteine IFB-2 und für ein langes Leben – auch auf Zellebene. tere Kontrollinstanz zu verstehen, falls doch EPS-8, bei denen sie im Vorfeld ausgemacht Dem gegenüber steht die sinnbildliche Ver- mal zu viele Proteine durch Ubiquitin mar- hatten, dass die Markierung durch Ubiquitin wahrlosung und der letztendliche Zelltod kiert sind oder sie wieder gebraucht werden. während des Alterungsprozesses von C. ele- durch eine höhere Aktivität der Deubiquiti- Bei einer gealterten Zelle übersteigt die An- gans fehlte. Erhöhte Proteinmengen von IFB-2 nierung. Wie wichtig das Gleichgewicht der zahl der Deubiquitinerung jedoch plötzlich führen zum Beispiel dazu, dass der Darm Proteine für den Alternsprozess ist, ist nun die der Ubiqutinierung. Chaos! In der Folge nicht richtig verdaut, Nährstoffe nicht auf- also bekannt. Auch in menschlichen Zellen häufen sich die Proteine rasant an, beschä- nehmen kann und zudem anfälliger für bak- sind die jeweiligen Proteine und Prozesse digte können nicht entsorgt werden, einige terielle Infektionen ist. Tatsächlich reichte es zu finden. Doch ob, und wenn ja wie, auch wichtige fehlen sogar. Die Zelle stirbt. aus, die Menge von IFB-2 im erwachsenen beim Menschen dieses Zusammenspiel ge- Fadenwurm zu verringern, um wieder eine zielt beeinflusst werden kann, muss noch Proteinspiegel runter, normale Darmfunktion zu erreichen. Beim untersucht werden. Auch, um auf dieser Lebenserwartung rauf Protein EPS-8, das sich in den Zellen beispiels- Grundlage Therapien oder Medikamente weise auf Muskelfunktion und Beweglichkeit entwickeln zu können. »Wir wollten herausfinden, ob das Gleich- auswirkt, stellten die Wissenschaftler:innen Es liegt also noch viel Grundlagenfor- gewicht in den Zellen durch einen Eingriff fest, dass zu viele dieser Proteine die Zelle schung vor David Vilchez und seinem Team von außen wiederhergestellt werden kann starr macht. Die Verringerung von EPS-8 in – und vor Forschungsgruppen weltweit. Die – und ob sich das auf die Langlebigkeit der der Zelle führte ebenso zu einer Verbesserung Wissenschaftler:innen am CECAD haben je- Zellen und somit den gesamten Organis- der Beweglichkeit. denfalls im Verlauf ihrer Arbeit einen umfas- mus auswirkt«, sagt Dr. Seda Koyuncu aus »Wir haben eine neuartige Verbindung senden Datensatz über jegliche durch Ubiqu- dem Forschungsteam um Vilchez. Dazu zwischen dem Altern und Veränderungen itin markierten Proteine zusammengetragen. untersuchten sie Fadenwürmer mit einem der Proteinzusammensetzungen in der Zel- Dieser Datensatz bildet ein wichtiges Funda- defekten Proteasom, um Proteine zu identi- le hergestellt. Das Gleichgewicht der Zellen, ment für die weitere Forschung, da ist Vilchez fizieren, die mit dem Alter weniger markiert das durch das Zusammenspiel aus Ubiquiti- sich sicher: »Unsere Erkenntnisse könnten in werden. Koyuncu: »Diese Proteine konnten nierung, Deubiquitinerung und Proteasom Zukunft neue Wege aufzeigen, um den Alte- vom defekten Proteasom nicht aufgeräumt geregelt wird, beeinflusst die Langlebigkeit rungsprozess zu verzögern, bestenfalls zu re- werden und sammelten sich in der Fol- der Zellen und in der Folge die des ganzen gulieren und so die Lebensqualität im Alter ge übermäßig an.« Also übernahmen die Organismus«, sagt David Vilchez. Mit ihren zu verbessern.« Forscher:innen die Rolle von Ubiquitin und Erkenntnissen konnten die Forscher:innen 26 2021 29
A LT E R N S F O R S C H U N G Neuartige Uhr kann das biologische Alter aus der Genaktivität ablesen Schlägt eine bestimmte Therapie bei einem Patienten an oder nicht? Das ließe sich auch anhand der Genaktivität belegen. Am Exzellenzcluster für Alternsforschung CECAD wurde eine »Alternsuhr« entwickelt, die genau das messen kann. Und sie kann noch mehr: das biologische Alter von Organismen präziser bestimmen als alle bisherigen Methoden. HANNAH REITER W ie alt bin ich? Diese Frage ist für die meisten Menschen wohl recht ein- fach zu beantworten. Das chrono- logische Alter misst den Zeitraum ab unserer Geburt. Jedes Jahr kommt ein weiteres hinzu. Doch das ist nicht die einzige Berechnung, die für Organismen und ihr Altern von Bedeutung ist, denn es gibt neben dem chronologischen auch das biologische Alter. »Jeder Mensch, jeder Organismus altert ein bisschen anders. Daher können sich das chronologische Alter und das biologische Al- ter unterscheiden«, sagt Professor Dr. Björn Schumacher. Schumacher ist Genetiker und Forschungsgruppenleiter am Exzellenzcluster Anhand des Fadenwurms C. elegans nah- und individuell bestimmen für Alternsforschung CECAD sowie am Zent- men die Forscher das Transkriptom in den können, ob eine bestimmte rum für Molekulare Medizin Köln. Gemein- Blick: es bezeichnet alle in einer Zelle tran- Therapie, ein Ernährungs- sam mit dem Bioinformatiker David Meyer skribierten, also von der DNA in RNA umge- oder Sportprogramm für hat er eine Uhr entwickelt, die das biologische schriebenen Gene. Bisher galt das Transkrip- den Einzelnen erfolgreich Alter mit einer bislang unerreichten Präzision tom als zu komplex, um daraus das Alter ist. »Beeinflusst eine the- messen kann: die BiT age Alternsuhr (binari- abzuleiten. Deshalb gelang es bisher nicht, rapeutische Maßnahme die sierte Transkriptom-Alternsuhr). genaue Alternsuhren aus der Genaktivität Aktivität der Gene, können wir Das biologische Alter ist die Summe unse- abzuleiten. Der neue Ansatz von Meyer und das jetzt direkt messen und schauen, rer körperlichen Verfasstheit im Hinblick auf Schumacher nutzt jedoch einen mathema- ob die Therapie anschlägt«, beschreibt unsere natürliche Lebensdauer und unser tischen Trick, um die Unterschiede der Gen- Meyer die Einsatzmöglichkeiten der Uhr. Risiko altersbedingter Krankheiten. Um es zu aktivität auszuschalten. Da die binarisierte Wenn ihre Messungen beispielsweise zeigten, berechnen, brauchte es bisher eine sehr kom- Transkriptom-Alternsuhr Gene lediglich in dass ein zuvor inaktives Gen durch ein neu- plizierte Technik, die noch dazu nicht sehr »an« oder »aus« unterteilt, minimiert sie die es Medikament zu einem späteren Zeitpunkt genau war: die epigenetische Uhr. Diese Uhr, hohe Variation. als aktiviert gemessen wird, kann das darauf auch als »Horvathsche Lebensuhr« bekannt, Durch die neue Methode können die ge- hindeuten, dass die Einwirkung von außen beruht auf dem Muster von Methylierungen, messenen Daten sehr viel einfacher inter- Früchte trägt und vom Körper angenommen kleinen chemischen Gruppen, die sich auf pretiert werden – auch beim Menschen. »Da wird. die DNA setzen und sich im Alter verändern. BiT age rein auf der Genaktivität beruht, ist sie Bislang kommt die BiT age Alternsuhr noch BiT age funktioniert anders. »Zur Messung bei jedem Organismus anwendbar. So ließe sie nicht bei Menschen zum Ein- des biologischen Alters muss bestimmt wer- sich auch zur Vorhersage des menschlichen satz. Sie wird aber gerade so den, ob ein Gen ›an‹ oder ›aus‹ ist, ob es aktiv Alters schnell und mit sehr hoher Genauigkeit weiterentwickelt, dass sie ist oder nicht«, beschreibt David Meyer das anwenden«, erklärt Schumacher. Die Forscher künftig im Klinikalltag ange- Grundgerüst der Alternsuhr. wollen mithilfe der Alternsuhr künftig exakt wandt werden kann. KÖLNER UNIVERSITÄTSMAGAZIN 30
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