Nachbarschaftsarbeit in Zeiten von Corona - Empirische Grundlagen zu Herausforderungen und Chancen - Age-Stiftung
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Nachbarschaftsarbeit in Zeiten von Corona Empirische Grundlagen zu Herausforderungen und Chancen OST – Ostschweizer Fachhochschule IFSAR Institut für Soziale Arbeit und Räume Dezember 2020
Impressum Der vorliegende Bericht dokumentiert ein Förderprojekt der Age-Stiftung; weitere Informationen dazu finden Sie unter www.age-stiftung.ch. Die Publikation ist integraler Bestandteil der Förderung. Projektleitung Prof. Dr. Christian Reutlinger Projektmitarbeit Caroline Haag, Prof. Dr. Nicola Hilti, Madeleine Vetterli, Thomas Bucher Mitwirkende Fachpersonen und Vertreterinnen und Vertreter von Träger- schaften Daniele Agnolazza, Katharina Barandun, Simone Gatti, Jasper Haubensak, Marco Hort, Irène Kühne, Regula Suter, Barbara Tschanz, Heidi Wicki, An- drea Wieland und andere mehr Zitiervorschlag Haag, Caroline/Hilti, Nicola/Reutlinger, Christian/Vetterli, Madeleine/Bucher, Thomas (2020): Nachbarschaftsarbeit in Zeiten von Corona. Empirische Grundlagen zu Herausforderungen und Chancen, IFSAR Institut für Soziale Arbeit und Räume, OST – Ostschweizer Fachhochschule Fotos Bildnachweise siehe Seite 43 Kontaktadresse OST – Ostschweizer Fachhochschule IFSAR Institut für Soziale Arbeit und Räume Rosenbergstrasse 59 CH-9001 St. Gallen Druckexemplare des Berichts zum Vorgängerprojekt «Nachbarschaften als Beruf – Stellen konzipieren, einführen und entwickeln» (2. Auflage) können beim IFSAR Institut für Soziale Arbeit und Räume der OST – Ostschweizer Fachhochschule bestellt werden: nicola.hilti@ost.ch St. Gallen, 14. Dezember 2020
Inhaltsverzeichnis 1 Nachbarschaftsarbeit unter Corona-Bedingungen ........................ 6 1.1 Vorgängerprojekt «Nachbarschaften als Beruf» ............................... 6 1.2 Nachbarschaftsarbeit steht Kopf....................................................... 7 1.3 Ziele, Fragestellungen und Methodik................................................ 8 1.5 Aufbau des Berichts ........................................................................ 11 2 Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das (nachbarschaftliche) Zusammenleben ............................................ 12 3 Herausforderungen und Chancen der Zusammenarbeit in Zeiten von Corona ................................................................................... 16 3.1 Professionelles Selbstverständnis der Fachpersonen ..................... 16 3.2 Arbeit der Fachpersonen mit Adressatinnen und Adressaten ........ 20 3.3 Organisationsinterne (Zusammen-)Arbeit der Fachpersonen......... 27 3.4 Zusammenarbeit der Fachpersonen mit Externen.......................... 35 4 Herausforderungen meistern und Chancen nutzen ................... 37 Bildnachweise ................................................................................................... 43 Dank ...................................................................................................................... 43
Zusammenfassung (nachbarschaftlichen) Zusammenleben viel So- lidarität und gegenseitige Hilfe, zum anderen Das vorliegend dokumentierte Forschungspro- nehmen individuelle Probleme und Konflikte zu. jekt «Nachbarschaftsarbeit in Zeiten von Corona» (Juni bis Dezember 2020) beschäftigt Die Herausforderungen und Chancen für die sich mit der Arbeit von Fachpersonen, welche Nachbarschaftsarbeit infolge der Corona-Pan- Nachbarschaften in Siedlungen, Quartieren demie lassen sich entlang von vier Handlungs- oder Gemeinden professionell gestalten, be- bereichen der Fachpersonen systematisieren: gleiten und fördern. Im professionellen Selbstverständnis der Fach- Diese Nachbarschaftsarbeit ist im Jahr 2020 personen zeigt sich: Unter Corona-Bedingun- stark geprägt durch die Ausbreitung des gen übernehmen viele von ihnen neue Aufga- Coronavirus SARS-CoV-2 und die damit einher- ben, die mitunter zu Rollenkonflikten führen. gehende Krankheit COVID-19. Angesichts des- Bei manchen bestehen anfänglich Zweifel und sen geht es in diesem Projekt um Folgendes: Unsicherheit, was die Corona-Pandemie für die Erstens erfassen und beschreiben wir die zent- Arbeit bedeutet. Doch diese Unsicherheit ver- ralen Herausforderungen und Chancen, die die fliegt rasch, weil klar wird, wie wichtig die Nach- Nachbarschaftsarbeit unter Corona-Bedingun- barschaftsarbeit ist, gerade jetzt. gen mit sich bringt. Zweitens stellen wir die In der Arbeit der Fachpersonen mit den Adres- wichtigsten Entwicklungslinien dar, die sich für satinnen und Adressaten wird deutlich: Adres- das Berufsfeld Nachbarschaftsarbeit durch die satinnen und Adressaten sind teilweise in der Corona-Pandemie ergeben. Und drittens identi- Krise, die Nachbarschaftsarbeit muss darauf re- fizieren wir die Bedarfe an Formaten für Fach- agieren. Partizipative Prozesse, die in vielen personen und Vertreterinnen und Vertreter von projektteilnehmenden Organisationen wichtig Trägerschaften, in welchen sich diese über die sind, müssen auf Eis gelegt oder umgestaltet Nachbarschaftsarbeit und die Stellenentwick- werden; diesbezüglich wird viel mit virtuellen lung (während und nach der Corona-Pandemie) Formaten experimentiert und daraus gelernt. austauschen können. Die coronabedingten Massnahmen und Regeln Um diese Ziele zu erreichen, haben wir ver- stehen mancherorts im Widerspruch zu den Le- schiedene methodische Zugänge verwendet, bensrealitäten der Menschen, sodass die Fach- insbesondere Interviews und Workshops mit personen auch damit umgehen müssen. Fachpersonen der Nachbarschaftsarbeit sowie In der organisationsinternen (Zusammen-)Ar- Vertreterinnen und Vertreter der Trägerschaf- beit der Fachpersonen erweist sich Folgendes ten. Alle Fachpersonen und Trägerschaften sind als wichtig: Die coronabedingten Massnahmen in der Deutschschweiz tätig. und Regeln führen zu neuen Anforderungen im In der Analyse der erhobenen Daten hat sich zu- Arbeitsalltag innerhalb der Organisationen. So nächst gezeigt, dass die Corona-Pandemie sind die Fachpersonen etwa damit konfrontiert, grosse Auswirkungen auf das (nachbarschaftli- dass ihre Organisationskultur mit gewissen Si- che) Zusammenleben der Menschen hat, – und cherheitsmassnahmen im Widerstreit steht. damit auch auf die Grundlage der Nachbar- Weiter offenbaren sich Vorzüge und Defizite in schaftsarbeit. Zum einen entstehen im den baulichen Gegebenheiten der Organisa- 4
tionen, weil etwa die Wohnungen und Woh- Arbeitsweise innerhalb der Organisationen numfelder viel häufiger genutzt werden, vor al- sollte vor dem Hintergrund der coronabeding- lem während des so genannten Lockdowns. In ten Erfahrungen evaluiert und weiterentwickelt der organisationsinternen Kommunikation wird werden. Die baulichen Voraussetzungen und vieles von analogen auf digitale Formate umge- Reglementierungen von Räumen sind den stellt, was teilweise vorteilhaft ist, teilweise Corona-Bedingungen nicht überall angemessen aber auch nachteilig. Schliesslich sind die Trä- und sollten daher geprüft und gegebenenfalls gerschaften vermehrt damit befasst, gute Ar- angepasst werden. Die vielerorts entstandenen beitsbedingungen und den Schutz der Gesund- Freiwilligennetzwerke und informellen Partizi- heit ihrer Fachpersonen zu gewährleisten. pationsformen sollten geprüft und gegebenen- falls weiterentwickelt werden. In der Zusammenarbeit der Fachpersonen mit Externen fällt auf: Diejenigen Kooperationsach- Die Fachpersonen und deren Trägerschaften sen, welche für die Krisenbewältigung wichtig kommen Grossteils gut durch die Corona-Pan- sind, werden gestärkt; auch neue Partnerschaf- demie. Sie verfügen über das Rüstzeug, die Ar- ten kommen infolge der Corona-Pandemie beit den Corona-Bedingungen anzupassen, res- hinzu. Andere externe Akteurinnen und Akteure pektive begeben sich engagiert in entspre- wiederum wären wichtig, sind aber nicht er- chende Lern- und Entwicklungsprozesse. Die reichbar. Allgemeine Vernetzungs- und Aus- Corona-Pandemie – so die einhellige Meinung – tauschformate ohne Corona-Bezug treten in veranschaulicht ganz besonders, wie wichtig die den Hintergrund. Herausfordernd ist teilweise, Arbeit der Fachpersonen ist, welche sich profes- dass alle wichtigen Akteurinnen und Akteure sionell um Nachbarschaften kümmern. mit ins Boot geholt werden, dass niemand ver- gessen wird. Anknüpfend an die Chancen und Herausforde- rungen in diesen vier Handlungsbereichen kön- nen sechs Entwicklungslinien benannt werden, welche für die Weiterentwicklung des Berufs- felds der Nachbarschaftsarbeit infolge der Corona-Pandemie wichtig sind: Für die Fachpersonen ist bedeutsam, dass sie ihr Aufgabenprofil und ihr professionelles Selbstverständnis (im Kontext der Corona-Pan- demie) reflektieren und damit schärfen können. Weiter gilt es, den Austausch mit anderen Fach- personen zu fördern, sodass diese sich gegen- seitig unterstützen und voneinander lernen können. Weiterbildungen zu digitalen Kommu- nikations- und Partizipationsmöglichkeiten sind ein grosses Bedürfnis der Fachpersonen, wel- chem nachgekommen werden sollte. Die 5
1 Nachbarschaftsarbeit unter die Mieterinnen und Mieter einer oder mehre- rer Wohnsiedlungen, zuweilen aber auch die Corona-Bedingungen Einwohnerinnen oder Einwohner eines Quar- tiers oder einer Gemeinde. Manchmal werden 1.1 Vorgängerprojekt «Nachbarschaften als alle Menschen angesprochen, die an einem be- Beruf» stimmten Ort wohnen, manchmal aber auch ex- Der vorliegende Bericht dokumentiert das For- plizit die Älteren, zum Beispiel in einer Alters- schungsprojekt «Nachbarschaftsarbeit in Zeiten siedlung, an einem Quartiertreff für Seniorin- von Corona» (Juni bis Dezember 2020), welches nen und Senioren oder im Rahmen der Alters- auf das Forschungsprojekt «Nachbarschaften arbeit einer Gemeinde (IFSAR 2020, S. 9). als Beruf – Stellen konzipieren, einführen und entwickeln» 1 folgt. Letzteres haben wir vom Fachpersonen der Nachbarschaftsarbeit setzen Institut für Soziale Arbeit und Räume der OST – mit ihrer Arbeit in erster Linie am (nachbar- Ostschweizer Fachhochschule (vormals FHS schaftlichen) Zusammenleben an, sie arbeiten St.Gallen) zwischen 2017 und 2019 durchge- mit den Menschen vor Ort und übernehmen führt. Beide Projekte sind von der Age-Stiftung vielfältige Aufgaben: Sie leisten Beziehungsar- finanziell gefördert worden. beit mit den Mieterinnen und Einwohnern, sie beugen nachbarschaftlichen Konflikten präven- Ausgangspunkt für das erste Projekt war die Be- tiv vor und beraten in Konfliktfällen, sie aktivie- obachtung, dass in der Schweiz immer mehr ren und unterstützen Teilhabe und Partizipation Stellen geschaffen werden, in denen es um die der Adressatinnen und Adressaten, sie bringen professionelle Gestaltung, Begleitung und För- sich in die Organisationsentwicklung ein, stim- derung des (nachbarschaftlichen) Zusammenle- men sich mit Arbeitskolleginnen und -kollegen bens geht. Diese Stellen haben vielfältige und sowie Vorgesetzten ab und arbeiten mit diesen mitunter schillernde Bezeichnungen: Siedlungs- zusammen, sie leisten Vernetzungsarbeit mit leiterin, Alltagscoach, Fachstelle Gemein- externen Kooperationspartnerinnen und -part- schaftsentwicklung, Siedlungs- und Wohnassis- nern, übernehmen umfangreiche kommunika- tentin, Standortleitung, Hauswart plus, Projekt- tive und administrative Aufgaben u. v. m. (IFSAR leiter Wohn- und Lebensqualität, Siedlungs- 2020, S. 24ff). Nachbarschaftsarbeit, so haben coach, Gesellschaftsgärtner u. v. m. Sie werden wir in diesen Vorgängerprojekt «Nachbarschaf- häufig von Wohnbaugenossenschaften, aber ten als Beruf» gezeigt, kann als neues Berufsfeld auch von Vereinen, Gemeinden und privaten qualifiziert werden, welches jedoch viele Berüh- Trägerschaften ins Leben gerufen. rungspunkte zu anderen Arbeitsansätzen wie Entsprechend den verschiedenen Trägerschaf- etwa der Gemeinwesenarbeit aufweist. Und so ten adressiert die Nachbarschaftsarbeit oftmals sind beide Projekte – das Vorgängerprojekt Stellen der Nachbarschaftsarbeit in (Alters-)Siedlungen, 1 Die Ergebnisse des Projekts «Nachbarschaften als Beruf Quartieren und Gemeinden auf, und richtet sich insbeson- – Stellen konzipieren, einführen und entwickeln» sind ver- dere an Trägerschaften, die solche Stellen geschaffen ha- öffentlicht unter: https://www.age-stiftung.ch/publika- ben oder noch schaffen möchten. tion/nachbarschaften-als-beruf-stellen-konzipieren-ein- fuehren-und-entwickeln/. Die Publikation (inklusive Checkliste und Argumentarium) zeigt zentrale Erfolgsfak- toren für die Konzeption, Einführung und Entwicklung von 6
sowie das vorliegende – als Beiträge zur Ent- Es gilt, physische Distanz zu wahren, Gruppen- wicklung dieses Berufsfelds respektive der pro- ansammlungen zu vermeiden, vielerorts Mas- fessionellen Nachbarschaftsarbeit zu verste- ken zu tragen, ältere Menschen und Menschen hen. Nachbarschaft erscheint uns hier als pas- mit Vorerkrankungen besonders zu schützen sender Begriff, weil er sowohl eine soziale wie und anderes mehr. auch eine räumliche Dimension beinhaltet, und zudem unter berufstheoretischen Gesichts- punkten betrachtet werden kann. Die räumli- che, die soziale und die berufstheoretische Di- mension sind wichtig, um Nachbarschaftsarbeit zu verstehen (IFSAR 2020, S. 15). 1.2 Nachbarschaftsarbeit steht Kopf Kurz nachdem wir das Projekt «Nachbarschaf- ten als Beruf – Stellen konzipieren, einführen und entwickeln» abgeschlossen haben, breitet sich das Coronavirus SARS-CoV-2 und die damit Abb.1: Das öffentliche Leben steht still einhergehende Krankheit COVID-19 weltweit Die neuen Massnahmen und ihre Folgen für das aus. Auch in der Schweiz verändert die Corona- private und öffentliche Leben veranlassen uns, Pandemie Leben und Arbeiten aller Menschen zu fragen, wie Nachbarschaftsarbeit unter die- radikal, zumindest vorläufig. Zwischen Mitte sen veränderten Bedingungen geleistet werden März und Mitte Mai 2020 galt hierzulande wäh- kann. Immerhin handelt es sich um ein Berufs- rend acht Wochen die so genannte «ausseror- feld, in dem der unmittelbare Kontakt zu Men- dentliche Lage». Sie war verbunden mit der schen, die direkte Arbeit mit Gruppen und die Schliessung von Kinderbetreuungs- und Bil- persönliche Begleitung von Älteren und Ge- dungseinrichtungen, Hotels, Restaurants, Bars, brechlichen essentiell sind – und in dem diese (fast aller) Geschäfte sowie Unterhaltungs-, Tätigkeiten nicht einfach ins Homeoffice verla- Freizeit- und Sportanlagen. Hinzu kam die ge- gert werden können. Vor diesem Hintergrund sundheitspolitische Aufforderung, möglichst zu gehen wir davon aus, dass sich mit der Corona- Hause zu bleiben, auch für die Berufsarbeit, und Pandemie in der Nachbarschaftsarbeit vieles in manchen Kantonen wurden Ausgangssper- verändert hat, dass diese gewissermassen Kopf ren verhängt. All diese staatlich verordneten, steht – und dass sich dabei zahlreiche Heraus- das private und öffentliche Leben einschrän- forderungen stellen, aber auch Chancen eröff- kenden Massnahmen werden auch als Lock- nen. Die Vermutung liegt nahe, dass derzeit down-Massnahmen bezeichnet. Lockdown hat coronabedingt fachlich-methodisch viel Neues sich in Zusammenhang mit dem Coronavirus als erdacht und erprobt wird, welches das Poten- Begriff zur Benennung einer restriktiven Mas- zial hat, das Berufsfeld der Nachbarschaftsar- senquarantäne eingebürgert. Auch nach dem beit weiter zu entwickeln. Um hierzu einen Bei- Ende dieses sogenannten Lockdowns sind bis trag zu leisten, gilt es, diese Potenziale zu erken- heute und bis auf Weiteres zahlreiche Regeln nen und im Folgenden systematisch darzustel- und Massnahmen zur Eindämmung des Corona- len. virus und zum Schutz der Bevölkerung in Kraft: 7
1.3 Ziele, Fragestellungen und Methodik Vertreter von Trägerschaften, in welchen Vor dem Hintergrund der oben skizzierten An- sich diese über die Nachbarschaftsarbeit nahmen sollen die Erkenntnisse des vorliegen- und die Stellenentwicklung (während und den Projekts zur professionellen Weiterent- nach der Corona-Pandemie) austauschen wicklung der Nachbarschaftsarbeit beitragen, können. indem sie aufzeigen, wo aktuell coronabedingte Um diese Ziele zu erreichen, wurden folgende Herausforderungen und Chancen liegen und methodische Zugänge gewählt: was aus diesen für die Zukunft des Berufsfelds gelernt werden kann. Daher richtet sich die vor- • 30 qualitative telefonische Interviews mit liegende Publikation in erster Linie an Fachper- Fachpersonen und Vertreterinnen und Ver- sonen der Nachbarschaftsarbeit sowie an Trä- tretern von Trägerschaften, welche Fachper- gerschaften, welche bereits solche Stellen ge- sonen der Nachbarschaftsarbeit angestellt schaffen haben. Sie ist aber, so hoffen wir, auch haben, in der Deutschschweiz, darunter für weitere Akteurinnen und Akteure interes- neun Genossenschaften, drei Gemeinden sant, etwa aus den Genossenschaftsverbänden, respektive öffentlich-rechtliche Träger, eine der Immobilienbranche oder der Wohnungspo- private Trägerschaft sowie eine selbständig litik, weil sie Potenziale eines Berufsfelds auf- auf Mandatsbasis arbeitende Fachperson zeigt, welches immer wichtiger wird. Denn die (siehe auch Kapitel 1.4); wachsende Bedeutung professioneller Nach- • ein Online-Workshop mit Fachpersonen; barschaftsarbeit hängt mit übergeordneten ge- • ein Online-Workshop mit Vertreterinnen sellschaftlichen Entwicklungen wie Individuali- und Vertretern von Trägerschaften; sierung (Stichworte: Vereinzelung, Einsamkeit), • Aufarbeitung relevanter Literatur und Doku- Globalisierung und Mobilisierung (Stichworte: mente mit Bezug zur Corona-Pandemie (z. B. Wohnmobilität, Lebensweisen über weite Dis- Studien, Umfragen, Hilfekonzepte). tanzen), Migration und Flucht (Stichworte: Die Interviews wurden aufgezeichnet, transkri- Diversität, Wohnkulturen), demografischem biert und computergestützt (Software Wandel (Stichworte: zu Hause alt werden, MAXQDA) mittels der inhaltlich-strukturieren- Dienstleistungen), Raumentwicklung nach in- den Inhaltsanalyse ausgewertet (Mayring nen (Stichworte: soziale Dichte, funktionale 2015). Die Online-Workshops sind protokolliert Dichte) etc. zusammen. und zur Vertiefung, Differenzierung und Verifi- Folgende drei Ziele waren für uns leitend: zierung der Ergebnisse der Interviewanalysen • Erfassung und Beschreibung der zentralen beigezogen worden. Erkenntnisse aus recher- Herausforderungen und Chancen, die die chierten Dokumenten sind punktuell ergänzend Nachbarschaftsarbeit unter Corona-Bedin- eingeflossen. Insgesamt haben 14 Trägerschaf- gungen mit sich bringt; ten am Projekt teilgenommen, indem sich de- ren Fachpersonen und teilweise deren Vertre- • Darstellung von Entwicklungslinien, die sich terinnen und -vertreter für Interviews zur Ver- durch die Corona-Pandemie für das Berufs- fügung gestellt und/oder an den Online-Work- feld der Nachbarschaftsarbeit ergeben; shops teilgenommen haben. • Identifikation von Bedarfen an Formaten für Fachpersonen und Vertreterinnen und 8
Projektteilnehmende Trägerschaften Baugenossenschaft mehr als woh- Allgemeine Baugenossenschaft nen, Zürich Zürich (ABZ) Die Baugenossenschaft mehr als wohnen Die ABZ in Stadt und Kanton Zürich ist eine hat ein Areal in der Stadt Zürich überbaut Genossenschaft, die ab 2013 zwei Stellen (Hunziker Areal). Dort gibt es seit Baufer- geschaffen hat für eine Fachspezialistin tigstellung 2015 die 80-Prozent-Stelle Par- und einen Fachspezialisten Siedlungs- und tizipationsverantwortliche (für die Bau- Quartierarbeit im Umfang von insgesamt und Aufbauphase gab es ab 2011 bereits 135 Stellenprozent. Diese Fachpersonen die Stelle «Nutzung und Partizipation»), sind für alle Siedlungen und damit rund wobei sich die Stellenbezeichnung im 12000 Mieterinnen und Mieter in 5100 Laufe der Zeit mehrmals geändert hat (u. Wohnungen der ABZ zuständig. a. weil früher auch die Öffentlichkeitsar- www.abz.ch beit zum Aufgabenprofil der Fachperson zählte). Die Fachperson ist für die rund 1300 Bewohnerinnen und Bewohner in Baugenossenschaft des eidgenössi- den 373 Wohnungen auf dem Areal zu- schen Personals (BEP), Zürich ständig. Die BEP in Stadt und Kanton Zürich ist www.mehralswohnen.ch ebenfalls eine Genossenschaft. Seit 2005 gibt es dort den Bereich Soziales, welcher mit 260 Stellenprozent ausgestattet ist. Bau- und Wohngenossenschaft Kraftwerk1, Zürich Die Fachpersonen sind für alle rund 2200 Mieterinnen und Mieter in den 1700 Kraftwerk1 ist eine Genossenschaft in Wohnungen der BEP-Siedlungen da. Stadt und Kanton Zürich. Sie beschäftigt www.bep-zuerich.ch eine Fachperson Gemeinwesenarbeit & Partizipation im Umfang von 80 Stellen- prozent. Die Fachperson ist für die rund Baugenossenschaft Glattal Zürich 700 Bewohnerinnen und Bewohner der (BGZ) drei bestehenden Siedlungen mit gesamt- Die BGZ ist eine Genossenschaft in der haft 232 Wohnungen verantwortlich, aber Stadt Zürich und Umgebung. Bei der BGZ auch für den Partizipationsprozess im neu arbeitet seit 2013 ein Verantwortlicher in Entwicklung befindlichen Bauprojekt. Fachbereich Zusammenleben sowie eine www.kraftwerk1.ch Mitarbeiterin Fachbereich Zusammenle- ben, die für rund 2000 Wohnungen in mehreren Siedlungen zuständig sind. www.bg-glattal.ch 9
Gemeinnützige Bau- und Mieterge- Landpfrundhaus Riehen-Bettingen nossenschaft Zürich (GBMZ) (BS) Die GBMZ ist eine Genossenschaft in der Das Landpfrundhaus Riehen-Bettingen Stadt Zürich. Sie hat 2018 eine Verant- steht im Baselstädtischen Riehen. Es ist wortliche Soziales und Kommunikation eine öffentlich-rechtliche Anstalt, selbst- im Umfang von 70 Stellenprozent einge- ständig und selbsttragend. Das Land- stellt. Diese ist für alle Siedlungen pfrundhaus umfasst 65 Alterswohnungen und damit für die Mieterinnen und in drei Siedlungen. Für die üblicherweise Mieter von 1029 Wohnungen tätig. zwischen 65 und 80 Mieterinnen und Mie- www.gbmz.ch ter ist die 2016 geschaffene 70-Prozent- Genossenschaft für Alters- und Inva- Stelle der Siedlungsleitung zuständig. lidenwohnungen (gaiwo), Win- www.alterswohnungen-basel.ch terthur Sihlsana AG, Adliswil (ZH) Die gaiwo bietet in der Stadt Winterthur Die Sihlsana AG ist eine gemein- und im Kanton Zürich günstigen Wohn- nützige Aktiengesellschaft, getragen von raum für ältere Menschen und Menschen der Stadt Adliswil. Sie bietet 100 Wohnun- mit einer Behinderung. Im Jahr 2006 wur- gen für ältere Menschen an. Für diese ist den die bestehenden Stellen aufgestockt, die Siedlungsassistenz im Umfang so dass jede Siedlungsleiterin mit je 40 bis von 60 Stellenprozent zuständig. 60 Stellenprozent für 40 bis 60 Wohnein- www.sihlsana.ch heiten zuständig war. 2011 wurde die vor- gesetzte Stelle der Leiterin Siedlungsarbeit Mehrgenerationensiedlung Strick- ler-Areal, Gemeinde Horgen (ZH) (60 Stellenprozent) geschaffen. Die insge- samt 11 Siedlungsleiterinnen betreuen In der Gemeinde Horgen sind im Kontext derzeit 630 Personen in 570 Wohnungen. der kommunalen Altersarbeit 2014 – nach www.gaiwo.ch einer 2-jährigen Pilotphase – drei Stellen für Wohn- und Siedlungsassistentinnen Genossenschaft für selbstverwalte- geschaffen worden. Diese sind jeweils für tes Wohnen (Gesewo), Winterthur eine Alterssiedlung sowie zusätzlich für zu Die Gesewo ist das genossenschaftliche Hause lebende Ältere in der Gemeinde zu- Dach mehrerer selbstverwalteter Häuser ständig. Die Wohn- und Siedlungsassisten- in der Stadt und Region Winterthur. In den tin der Mehrgenerationensiedlung Strick- Häusern wohnen (und arbeiten) rund 750 ler-Areal kümmert sich im Umfang von 80 Personen. Seit 2013 gibt es die Fachstelle Stellenprozent um 85 Personen in 44 Gemeinschaftsentwicklung mit einem Wohnungen der Siedlung sowie weitere, Pensum von 60 Stellenprozent, die für so- die zu Hause Hilfe benötigen. ziale Unterstützungsleistungen sämt- www.horgen.ch licher Hausgemeinschaften zuständig ist. www.gesewo.ch 10
1.5 Aufbau des Berichts Stadt Sursee (LU) Die vorliegenden Ergebnisse zeigen, dass sich die Nachbarschaftsarbeit coronabedingt tat- Die Stadt Sursee im Kanton Luzern hat im sächlich sehr stark verändert. Zunächst, so zeigt Zuge einer Verwaltungsreform 2018 den sich, liegen markante Veränderungen im (nach- Fachbereich Gesellschaft aufgebaut; hier- barschaftlichen) Zusammenleben. für wurden mehrere Verwaltungsbereiche zusammengelegt. Der Leiter des Fachbe- Dieses (nachbarschaftliche) Zusammenleben reichs kümmert sich zusammen mit sei- bildet die Grundlage für das professionelle Han- nem Team (total 420 Stellenprozent) um deln der Fachpersonen, wie im nachfolgenden verschiedene Projekte für und mit wech- Kapitel 2 ausgeführt wird. Für das professio- selnden Teilen der Gemeindebevölkerung. nelle Handeln ergeben sich weiter coronabe- www.fachbereich-gesellschaft.ch dingte Herausforderungen und Chancen. Diese Herausforderungen und Chancen lassen sich Simone Gatti, Zürich entlang von vier Handlungsbereichen systema- Die Organisationsentwicklerin, Gerontolo- tisieren (Kapitel 3): 1) professionelles Selbstver- gin und Fachfrau Altersarbeit Simone Gatti ständnis der Fachpersonen, 2) Arbeit der Fach- aus Zürich ist mit ihrem Ein-Personen-Un- personen mit Adressatinnen und Adressaten, 3) ternehmen spezialisiert auf Organisations- organisationsinterne (Zusammen-)Arbeit der entwicklung, Projektleitung und Coaching Fachpersonen, 4) Arbeit der Fachpersonen mit unter anderem in den Bereichen Förde- Externen. Weiter lassen sich abschliessend rung neuer gemeinschaftlicher Wohn- sechs Entwicklungslinien aufzeigen, welche für formen und Aktivierung nachbarschaftli- die Nachbarschaftsarbeit unter pandemischen chen Zusammenlebens. Sie ist selbst- ebenso wie unter nicht-pandemischen Bedin- ständig auf Mandatsbasis tätig. gungen in Zukunft besonders bedeutsam sind www.simonegatti.ch (Kapitel 4). Wohnbaugenossenschaft WGL Littau (LU) Die WGL Littau ist eine Genossenschaft in der Stadt Luzern und Umgebung. Sie ver- fügt über 32 Liegenschaften mit 96 Woh- nungen, in denen 540 Personen leben. Seit 2013 beschäftigt die WGL Littau eine Betreuungsperson im Umfang von 20 Stel- lenprozent. www.wgl.lu Weitere Informationen über den Grossteil der Mit- wirkenden finden sich in der Abschlusspublikation «Nachbarschaften als Beruf – Stellen konzipieren, einführen und entwickeln» ab Seite 112; denn diese haben bereits beim Vorgängerprojekt mitgewirkt. 11
2 Auswirkungen der Corona- Wissen darüber und Sensorium dafür, was sich bei den Menschen in den Siedlungen, Quartie- Pandemie auf das (nachbar- ren und Gemeinden abspielt und welche Verän- schaftliche) Zusammenleben derungen coronabedingt diesbezüglich vonstat- tengehen. Insbesondere im Lockdown zwischen Die weltweite Corona-Pandemie bestimmt Mitte März und Mitte Mai 2020 zeigten sich im 2020 unser Leben, unser Arbeiten, ja unsere (nachbarschaftlichen) Zusammenleben massive ganze Gesellschaft, schon fast das ganze Jahr. Auswirkungen, wie die Befragten erläutern – Sicht- und spürbar werden in den meisten Fäl- und die mutmasslich auch längerfristig nachwir- len nicht das Virus, sondern die mal strengeren, ken werden. mal wieder gelockerten Regeln, Massnahmen So beobachten die interviewten Personen, dass und Beschränkungen, mit denen versucht wird, sich prekäre, das heisst schwierige und unsi- dessen Verbreitung einzudämmen. Die Auswir- chere, Lebenslagen zuspitzen; das dauernde Zu- kungen auf das private und öffentliche Leben hause-Sein führt mitunter zu Isolation, Einsam- sind massiv. keit und Überforderung. Auch Ängste, Verunsi- Deutlich zu spüren sind sie nicht zuletzt im cherung und teilweise der Verlust der Selbstbe- (nachbarschaftlichen) Zusammenleben. Dies stimmung, welche die Corona-Massnahmen bei hängt vor allem damit zusammen, dass wir – vor ihren Adressatinnen und Adressaten auslösen, allem während des Lockdowns – fast alle auf un- fallen ihnen auf, letzteres insbesondere bei Äl- sere Wohnungen und Häuser, unser nahräumli- teren und Alleinlebenden. ches Umfeld, unsere nachbarschaftlichen Be- züge beschränkt worden sind und teilweise noch immer sind. Fast Tag und Nacht zu Hause sein zu müssen, Tür an Tür mit vielen anderen, die ebenfalls fast Tag und Nacht zu Hause sind – ein derart räumlich zusammengeschrumpfter Alltag bleibt nicht ohne Folgen, weder für die Mieterinnen und Einwohner noch für die Fach- personen, die mit diesen arbeiten. Oder in den Worten einer interviewten Fachperson ausge- drückt: «Man bekommt mehr mit voneinander – im Gu- Abb. 2: Spaziergang allein in der Nachbarschaft ten wie im Schlechten.» 2 Mehrere Befragte berichten auch von finanziel- Das (nachbarschaftliche) Zusammenleben ist len Problemen der Wohnungs- und auch Ge- der zentrale Orientierungspunkt der Fachperso- werbemietenden ihrer Trägerschaften. Diese nen, denn dort setzt ein Grossteil ihrer Arbeit Probleme führen bei einigen dazu, dass sie die an. Daher haben sie auch ein besonderes Mieten (vorläufig) nicht mehr bezahlen können: 2 Alle Sätze, Satzteile und Worte ab hier, die in Anführungs- Befragten aus den Interviews oder von Teilnehmerinnen und Schlusszeichen gesetzt sind, sind direkte Zitate von und Teilnehmern der Workshops. 12
«Ich fürchte, dass durch die Krise persönliche alleinerziehenden berufstätigen Nachbarin und ökonomische Probleme von Mieterinnen kümmert. und Mietern zunehmen. Teilweise erlebe ich, «Solidarität und gegenseitige Unterstützung in dass Leute bereits jetzt die Miete nicht mehr den Siedlungen haben sehr zugenommen, das zahlen können, weil sie keine Einnahmen haben, war sehr schön, vor allem auch, dass vieles aus und weil noch nicht klar ist, ob sie vom Bund den Siedlungskommissionen selbst gekommen Geld bekommen.» (Fachperson) ist, aber nicht nur. Es gab zum Beispiel spontane Weiter gibt es vermehrt Nachbarschaftskon- Hofkonzerte, oder zu Ostern hat man Oster- flikte – allerdings in geringerem Umfang als er- neste vor die Türen der Nachbarinnen und Nach- wartet, wie mehrere Fachpersonen betonen. barn gestellt.» (Vertretung Trägerschaft) Das sind insbesondere Konflikte rund um die Nutzung von (siedlungsinternen) Aussenräu- men und Lärm, vor allem durch Kinder und Ju- gendliche. Besonders deutlich zeigen sich diese während des Lockdowns, als Kindertagesstät- ten, Kindergärten, Schulen sowie öffentliche Spielplätze und Parks geschlossen sind, oder Kinder teilweise auch allein daheim sind, weil die Eltern arbeiten gehen müssen. So erzählt eine Befragte: «Bei uns haben sich einige daran aufgehangen, dass der Innenhof plötzlich so belebt und ge- nutzt war, und kein Abstand gehalten wurde, die Kinder alles angefasst haben und die Erwachse- nen dabei waren und nichts dagegen unternom- men haben. Das hat Konflikte hervorgerufen, und auch Ängste geschürt. Weil in der ersten Zeit wusste man ja sehr wenig darüber, wie man mit diesem Coronavirus jetzt umgehen soll.» Abb. 3: Ostergrüsse für die Bewohnerschaft (Fachperson) Auch zwischen Gruppen, die vorher kaum mit- Im Zusammenleben der Menschen vor Ort zei- einander zu tun hatten oder sogar Konflikte mit- gen sich aber auch viel Solidarität und Miteinan- einander ausgetragen haben, gibt es Hilfestel- der. Dies drückt sich aus in all der Hilfe, die lungen und Annäherungen: Nachbarinnen und Nachbarn einander im Alltag «Erstaunlich ist: Bisher war es immer so, dass nun leisten, zum Beispiel der junge Mann, der die Alten nicht alt sein wollten und die Jungen für die ältere Nachbarin einkaufen geht, das keine Zeit hatten. Und jetzt gehen die Jungen Paar, das jetzt besonders darauf achtet, wie es plötzlich für die Alten einkaufen.» (Fachperson) dem alleinstehenden Mann nebenan geht, oder «In unseren Häusern passiert gerade viel im Be- die Familie, die sich zeitweise um die Kinder der reich Solidarität und ehrenamtliche Nachbar- schaftshilfe. In der Not, so scheint es, vereint 13
man sich. Ich habe auch aus einem Haus gehört, Nachbarschaft blitzschnell kreative Formen ge- in dem es immer wieder interne Spannungen funden, in unserer jüngsten Siedlung war es eher gab, dass diese dort zur Zeit in den Hintergrund still.» (Fachperson) treten, dass die Leute zusammenrücken, sich Die kreativen Formen des Miteinanders, die helfen; vielleicht, weil sie jetzt einen gemeinsa- hier angesprochen werden, sind beispielsweise, men Feind im Aussen haben.» (Fachperson) dass die Mieterinnen und Mieter sich im Garten Dabei entstehen auch neue Ansätze des gegen- zum Qigong mit Abstand verabreden, dass sie seitigen Sorgens, Helfens und Ermunterns: sich via Zoom virtuell austauschen und dass sie gemeinsam eine Geschichte schreiben sowie «Bei uns ist vieles in Selbstorganisation entstan- das siedlungsinterne Konsumdepot – das ist ein den. Eltern haben die Nutzung des Spielplatzes Selbstversorgungsdepot mit nichtverderblicher via WhatsApp-Chat organisiert. Eine Gruppe hat Ware für die Siedlungsbewohnerinnen und -be- ein Programm für den «Tag der Nachbarn» auf wohner – aufrüsten. die Beine gestellt, welches auf Distanz über die Balkone hinweg funktioniert. Und Familien ha- ben T-Shirts gestaltet und diese auf einer langen Schnur quer durch die Siedlung aufgehängt, um einander zum Durchhalten zu motivieren.» (Fachperson) Abb. 5: Willkommensapéro im Freien Solche Beobachtungen verknüpfen die Fach- personen mit der Hoffnung, dass Solidarität und Zusammenhalt langfristig fortbestehen: «Ich würde es begrüssen, wenn die aktuelle So- Abb. 4: T-Shirt Aktion in der Nachbarschaft lidaritätswelle anhält, auch über Corona hinaus. Derlei Selbstorganisation, so beobachten an- Nachbarschaften wurden aus meiner Sicht dere Fachpersonen, hat viel mit «funktionieren- vielerorts gestärkt. Es wäre schön, wenn dies so dem» (nachbarschaftlichem) Zusammenleben bleiben würde.» (Fachperson) zu tun, das heisst mit Nachbarinnen und Nach- Die gestiegene Solidarität wird von den Fach- barn, die sich vorher schon gekannt, sich fürei- personen insgesamt stark hervorgehoben und nander interessiert und einander ausgeholfen als sehr positiv beurteilt. Allerdings weisen ei- haben: nige auch auf die Gefahr hin, dass das Zueinan- «Wir haben grosse Unterschiede festgestellt: In der-Schauen mitunter in eine unerwünschte so- einer langbestehenden Siedlung hat die ziale Kontrolle münden kann; auch von 14
vermehrten «Denunziationen» innerhalb der genervt hat. Und so hat das auch zu Konflikten Bewohnerschaft ist die Rede: geführt.» (Fachperson) «Im Alltag geht es natürlich auch schnell ein Und schliesslich ist auch zu spüren, dass viele im bisschen in Richtung sozialer Kontrolle. Diese Umgang miteinander unsicher sind, weil sie Beispiele kennen wir auch. So haben wir etwa je- nicht wissen, wie nahe sie einander überhaupt manden, der sich ein bisschen zu sehr für einen kommen sollen oder dürfen: Innenhof verantwortlich fühlt, und findet, dass «Schwierig finde ich, dass man nicht so genau dieses nicht erlaubt sei und jenes nicht gemacht weiss, wie man sich begegnen soll. Das hat sich werden dürfe.» (Vertretung Trägerschaft) ein bisschen verkompliziert, weil wir ja auch Ab- Auch gemeinsame Aktivitäten von Nachbarin- stand halten müssen – und dazwischen ist nen und Nachbarn finden nicht überall unge- Corona. Die Frage ist dann zum Beispiel: Können teilte Zustimmung. So gibt es auch da und dort wir jetzt überhaupt draussen ein Siedlungsfest Konflikte um an sich gut gemeinte Aktionen, machen?» (Vertretung Trägerschaft) beispielsweise Balkonkonzerte und ähnliches. Eine häufige Beobachtung zu alledem ist, dass sich mit dem Coronavirus das Gute wie das we- niger Gute im (nachbarschaftlichen) Zusam- menleben zuspitzen. So meint eine Befragte: «Die Siedlungen sind jetzt so wie vorher auch, nur haben sich negative und positive Aspekte verstärkt: Konflikte nehmen zu und werden in- tensiver, Hilfsbereitschaft und Sensibilität wach- sen.» (Fachperson) Die in diesem Kapitel zusammengefassten Ver- Abb. 6 und 7: «Distanzkonzert» in einer Wohnsiedlung änderungen im (nachbarschaftlichen) Zusam- Aus einer Alterssiedlung berichtet eine Fach- menleben im Zuge der Corona-Pandemie sind person: eine wichtige Hintergrundfolie für die nun fol- genden vier Handlungsbereiche, in denen die «Zufällig wohnt bei uns ein Drehorgelspieler zentralen Herausforderungen und Chancen der und im Haus gegenüber noch einer. Und die bei- Nachbarschaftsarbeit in Zeiten von Corona zu den haben über mehrere Wochen jeden Abend verorten sind (Kapitel 3.1 bis 3.4). Dabei stellen ab sechs Uhr gespielt. Man hat sich dann im wir jedem der vier Kapitel eine Situationsbe- Garten sehr locker versammeln können, das Ein- schreibung zum betreffenden Themenfeld vo- halten der Distanzregeln ist gewährleistet gewe- ran, um anschliessend die wesentlichen Heraus- sen, andere haben vom Balkon zugehört, wieder forderungen und Chancen vorzustellen. andere haben von der Strasse aus gelauscht, entweder Passanten oder Leute, die extra vor- beigekommen sind. Für den grössten Teil ist das etwas sehr Schönes gewesen; aber es gab natür- lich auch andere, die das dann mit der Zeit 15
3 Herausforderungen und Unterm Strich fordern diese zusätzlichen und neuen Aufgaben das professionelle Selbstver- Chancen der Zusammenarbeit ständnis der Fachpersonen oftmals heraus. Bei in Zeiten von Corona manchen führen neue Aufgaben dazu, dass sie ihre Rollen überprüfen und reflektieren möch- 3.1 Professionelles Selbstverständnis der ten, mit dem Ziel, stärkere Rollenklarheit herzu- Fachpersonen stellen. Andere wiederum sehen sich in der De- Viele Fachpersonen übernehmen während der finition und Ausgestaltung ihrer Rolle bestätigt, Corona-Pandemie, insbesondere während des da nun genau ihre Kernaufgaben und Kernkom- Lockdowns, zusätzliche beziehungsweise neue petenzen besonders gefragt sind. Aufgaben und Aufträge. Zum einen sind dies «Braucht es mich noch?» Auf Zweifel folgt Be- Aufgaben, die bereits zum Stellenprofil der stärkung Fachpersonen gehörten, die jedoch nun inten- siver bearbeitet werden müssen, wie beispiels- Die Corona-Pandemie führt gerade zu Beginn weise die Vermittlung bei nachbarschaftlichen dazu, dass einige Fachpersonen Zweifel hegen Konflikten oder sozialarbeiterische Beratungs- und Unsicherheit spüren, was die Bedeutung tätigkeiten. Zum anderen kommen Aufgaben und Wirksamkeit der eigenen Arbeit anbelangt. hinzu, die bisher nicht zu den Aufgaben der Dies hat vor allem damit zu tun, dass sie viele Fachpersonen zählten, etwa die Koordination ihrer gewohnten Tätigkeiten aufgrund von Freiwilligen-Netzwerken, die Ausarbeitung coronabedingter Regeln und Massnahmen von Schutzkonzepten und die Kontrolle über die nicht oder nur mehr eingeschränkt ausüben Einhaltung von Schutzmassnahmen. Durch die können. So stehen etwa Projekte plötzlich still, Verschiebung des Aufgabenspektrums weiten welche das Zusammenkommen von (grösseren) sich bei vielen auch die Gruppen der Adressa- Gruppen erfordern; und persönliche Beratun- tinnen und Adressaten aus, beispielsweise im gen fallen teilweise aus, weil sie nicht ohne phy- Fall einer Gemeinde von spezifischen Gruppen sische Kopräsenz möglich sind. Vor diesem Hin- (z. B. Jugendlichen) auf alle Gruppen im öffent- tergrund meint eine Fachperson: lichen Raum. «Ich dachte anfangs, ich werde nicht mehr ge- braucht.» (Fachperson) Auch die im Nu auf die Beine gestellten zahlrei- chen Hilfestellungen in Siedlungen, Quartieren und Gemeinden lösen mitunter ambivalente Gefühle bei den Fachpersonen aus: «In mir drin habe ich eine Ambivalenz: Ich ar- beite schon seit Langem hart dafür, dass ich diese Sensibilität in den Nachbarschaften errei- che, und jetzt geht vieles plötzlich wie von Abb. 8: Konzert mit Abstand im öffentlichen Raum selbst.» (Fachperson) Den Fachpersonen wird aber auch rasch be- wusst, dass Solidarität, Zusammenhalt und Hilfe 16
unter den Mieterinnen und Einwohnern viel mit «Unsere Siedlungs- und Wohnassistentinnen ihrer Arbeit zu tun hat, dass sie dafür den haben eine ganz wichtige Rolle gespielt. Zusam- Grundstein mit gelegt haben, weil sie das (nach- men mit anderen haben sie unter anderem ge- barschaftliche) Zusammenleben gefördert ha- schaut, dass wir auch Leute auf dem Radar be- ben. So stellt eine Fachperson, welche zunächst halten, welche bei der Spitex und der Gemeinde ebenfalls glaubt, nicht mehr gebraucht zu wer- vielleicht nicht bekannt sind, und dann die Frei- den, rasch fest, dass «das Gegenteil der Fall» ist. willigen koordiniert, die bei diesen einmal nach- gefragt haben.» (Vertretung Trägerschaft) Somit kann die Corona-Pandemie dazu beitra- gen, dass die Nachbarschaftsarbeit an Bedeu- «Die Sozialarbeit hat sich in dem Sinne verän- tung gewinnt. Dadurch wiederum können sich dert, dass sie anspruchsvoller und noch wichti- ihre Legitimation und Anerkennung organisati- ger geworden ist. Denn aufsuchend zu arbeiten, onsintern und -extern erhöhen – was für viele vor Ort zu sein, das ist in Zeiten von Corona be- Fachpersonen sehr wichtig ist, aber häufig als sonders wichtig.» (Vertretung Trägerschaft) unzureichend gegeben empfunden wird, wie Viele Fachpersonen berichten, dass sie vor al- sich in der Vorgängerstudie «Nachbarschaften lem in den ersten Wochen und Monaten der als Beruf» gezeigt hat (IFSAR 2020, S. 71ff). Corona-Pandemie kurzfristig und flexibel neue «Nun zeigt sich zum Beispiel, wie wichtig es war, und zusätzliche Aufgaben übernehmen. immer wieder Anlässe zu organisieren, an denen Dies hat ebenfalls dazu beigetragen, dass sie sich die Nachbarinnen und Nachbarn kennenler- mit ihrer Arbeit innerhalb der Organisation nen konnten.» (Fachperson) noch besser «gesehen» und anerkannt werden, und sich dadurch weiter etablieren können. Dies ist auch insofern von Bedeutung, als viele Fachpersonen vor der Corona-Pandemie das Problem hatten, dass sie ihre – im Ergebnis oft nicht unmittelbar sichtbare – Arbeit intern im- mer wieder rechtfertigen mussten (IFSAR 2020, S. 71ff). Damit verbunden ist bei manchen die Hoffnung, dass sich diese stärkere Anerkennung der Arbeit auch in der Erhöhung der Stellenpro- zente und auf dem Lohnzettel bemerkbar macht. Sie sehen weiter die Chance, dass sie Abb. 9: Geburtstagsglückwünsche aus der Ferne ihre (präventive) Arbeit künftig vielleicht nicht Diese Wichtigkeit der Nachbarschaftsarbeit mehr vor allem daran messen lassen müssen, wird im Übrigen besonders von Trägerschafts- welche Einsparungen sie der Organisation vertreterinnen und -vertretern betont, welche bringt, zumal dies vielfach auch gar nicht mög- die Arbeit der Fachpersonen auch und gerade lich ist (IFSAR 2020, S. 80). während der Corona-Pandemie als hochwichtig erachten, nicht zuletzt, weil sie vielerorts zent- Insgesamt scheint es aber, dass die Rolle der rale Kommunikations- und Koordinationsaufga- Fachpersonen in der Corona-Pandemie weiter ben übernehmen: gestärkt wird. Denn diese halten den Kontakt zu den Adressatinnen und Adressaten mittels 17
unterschiedlicher – vielfach kreativer – Wege «Bin ich jetzt auch noch Polizist?» Kontrollauf- und Kanäle weiter aufrecht; und besonders po- gaben und Rollenkonflikte tenzielle Problemlagen von Mieterinnen und Das professionelle Selbstverständnis der Fach- Einwohnern haben sie im Blick. personen ist unter «normalen» Umständen stark geprägt von Vorstellungen einer beglei- tenden, beratenden, vermittelnden, ermög- lichenden und netzwerkenden Funktion (IFSAR 2020, S. 89). Speziell währen des Lockdowns werden die Fachpersonen dann vermehrt mit Kontrollaufgaben betraut, beispielsweise der Beaufsichtigung von Gemeinschaftsräumen, der Überprüfung der Einhaltung von Schutz- massnahmen oder der Sensibilisierung im öf- fentlichen Raum, welche vor allem als Kontrolle, ob die Abstandsregeln eingehalten werden, ge- Abb. 10: Heftli für die Kinder zu Hause dacht ist. Damit kommt es zu einer Diskrepanz Insgesamt teilen viele Befragte die Einschät- zwischen professionellem Selbstverständnis zung, dass die Corona-Pandemie auch gesamt- und Aufgabenspektrum, da die Fachpersonen gesellschaftlich das Bewusstsein und die Sensi- Aufgaben übernehmen (sollen), die weder ih- bilität für (nachbarschaftliches) Zusammenle- rem Tätigkeitsprofil noch ihrem professionellen ben im lokalen Nahraum erhöht. Während der Selbstverständnis entsprechen. Sie geraten in Pandemie, so wird berichtet, wird der Wert ei- einen Rollenkonflikt. Dies beschreibt eine Fach- nes wohlwollenden und unterstützenden Mitei- person so: nanders im (nachbarschaftlichen) Zusammenle- «Dann haben wir den Kernauftrag übernom- ben erst richtig sichtbar. Und die Nachbar- men, im öffentlichen Raum die Sensibilisierung schaftsarbeit ist geeignet, dieses Miteinander zu fördern. Und das hat sich dann angefangen zu fördern und damit auch zur Krisenresistenz zuzuspitzen bis zu dem Punkt, an dem wir ge- einer Gesellschaft beizutragen. Handkehrum merkt haben, dass wir fast in eine Polizistenrolle gilt es, so einige Stimmen, die mancherorts er- fallen.» (Fachperson) lebte und gesteigerte Solidarität in der Sied- lung, im Quartier oder der Gemeinde nicht mit dem «erzieherischen Anspruch» zu verbinden, dies auch «nach Corona» im gleichen Ausmass weiterziehen zu «müssen». Vielmehr kann die gesteigerte Solidarität in der Krise als Ausdruck einer krisenresistenten Nachbarschaft verstan- den werden. Abb. 11: Infoveranstaltung mit Schutzmassnahmen 18
Die moderierenden und die kontrollierenden Kontrolle zum Monitoring des Geschehens im Aufgaben der Fachpersonen stehen mitunter in öffentlichen Raum übergegangen. Schwierig unmittelbarem Konflikt zueinander: war dann manchmal, zu entscheiden, welche unserer Beobachtungen wir weitergeben und «Es ist sehr herausfordernd, wenn ich als Veran- welche nicht. Denn sie konnten auch dazu füh- stalterin und Moderatorin zusätzlich auch in der ren, dass zum Beispiel gewisse Parks geschlos- Rolle bin, zu kontrollieren, ob die Schutzmass- sen wurden.» (Fachperson) nahmen eingehalten werden, und Ordnung durchzusetzen. Das ist eine Aufgabe, die neu In diesem Zusammenhang betont die Fachper- hinzukommt, die wir auch auf Augenhöhe anzu- son auch die grosse Bedeutung der Reflexion gehen versuchen. Aber es gibt dennoch eine Rol- respektive des Rollenmanagements: lenverschiebung und das Verhältnis wird auto- «Bei uns haben sich die kritische Haltung betref- matisch hierarchischer.» (Fachpersonen) fend die eigene Rolle gefestigt und die Reflexion Auch ist es für die Adressatinnen und Adressa- der eigenen Rolle angekurbelt; das werte ich po- ten nicht immer nachvollziehbar, weshalb die sitiv, denn für das professionelle Arbeiten finde Fachpersonen plötzlich Kontrollfunktionen aus- ich das sehr wichtig.» (Fachperson) üben; in manchen Fällen werfen sie ihnen Kom- Diese Art des Rollenmanagements erfordert al- petenzüberschreitungen oder gar «Diktatur» lerdings von den Fachpersonen eine aktive, vor. selbstbewusste und unerschrockene Haltung. Rollenkonflikte, die sich aus der Unvereinbar- keit von Unterstützungs- und Kontrollaufgaben Zusammenfassend zeigt sich, dass das ergeben, bieten gemäss der Befragten biswei- professionelle Selbstverständnis der len aber auch eine Chance. Denn sie sind Anlass, Fachpersonen durch die Auswirkungen die eigene Rolle zu reflektieren, zu schärfen und der Corona-Pandemie herausgefordert nach innen und aussen zu verteidigen. Dies ist ist. Vor allem zu Beginn ist manchen gerade in einem teilweise diffusen und mitunter Fachpersonen unklar, ob und wie sie mit vielfältigen Aufgaben überladenen Berufs- Nachbarschaftsarbeit unter Corona-Be- feld wichtig, und es trägt dazu bei, dass sich die dingungen überhaupt noch machen Fachpersonen innerhalb ihrer Organisationen können. Rasch wird aber deutlich, dass noch klarer positionieren können (siehe auch diese Arbeit nun wichtiger denn je ist. IFSAR 2020, S. 85ff). Den Prozess vom unange- Bei einigen verändern sich die Aufga- messenen Auftrag bis hin zur selbstbestimmten ben in der Weise, dass sie in Rollenkon- Abgrenzung beschreibt eine Fachperson für ihr flikte geraten. Mit diesen Konflikten set- Team folgendermassen: zen sie sich aktiv auseinander, um wie- der Rollenklarheit zu erlangen. «Wir haben gemerkt, dass wir nur noch den Zei- gefinger erheben sollen, wenn irgendwo jemand gegen Regeln verstösst, und das wollten wir nicht, da es nicht unserem Rollenverständnis entspricht. Dann haben wir angefangen uns zu wehren und von dieser Rolle abzugrenzen. Wir haben den Auftrag umgestaltet und sind von der 19
3.2 Arbeit der Fachpersonen mit Adressatin- nen und Adressaten Nachbarschaftsarbeit fusst wesentlich auf phy- sischer Kopräsenz von Fachpersonen und ihren Adressatinnen und Adressaten, sei es in der Be- ratung einzelner Mieterinnen und Mieter, in der Aktivierung von Hausgemeinschaften oder in der Begleitung partizipativer Prozesse. Die unmittelbare Arbeit mit Menschen und Gruppen ist durch die Folgen der Corona-Pan- demie stark eingeschränkt, vor allem unter den Bedingungen des Lockdowns, und zwar sowohl bezogen auf die inhaltliche wie auf methodi- sche Arbeit. Abb. 12: Spielraumkarte für Familien im Corona-Sommer Inhaltlich spitzen sich bestehende Themen zu, Viele sind auch schlicht viel häufiger am Tele- sodass sich das Aufgabenspektrum der Fach- fon, schreiben vermehrt Briefe oder E-Mails. personen verändert und erweitert, beispiels- Die gute alte Briefpost wird in einem Fall sogar weise indem die Bearbeitung von Nachbar- zum Zwecke der Partizipation reaktiviert, wie schaftskonflikten einen grösseren Stellenwert das Beispiel aus einer Gemeinde zeigt: Die dor- bekommt, während Projekte, die mit Adressa- tige Fachperson möchte Kinder in die Gestal- tinnen und Adressaten partizipativ zu erarbei- tung eines neuen Spielplatzes einbeziehen, der ten sind, hingegen in den Hintergrund rücken Workshop dazu kann aufgrund der geltenden (siehe auch Kapitel 3.1). Corona-Regeln nicht stattfinden. So lädt sie stattdessen die Kinder ein, ihre Vorstellungen in Die methodische Arbeitsweise ist geprägt da- Form von Zeichnungen festzuhalten und per von, dass die Fachpersonen «auf Distanz» tätig Post einzusenden. sein müssen – ganz im Gegensatz zu vor der Corona-Pandemie. Viele der bisherigen «Ka- Zudem beschäftigen sich nahezu alle Fachper- näle» zu den Adressatinnen und Adressaten sonen mit digitalen Alternativen in der Arbeit sind nicht mehr nutzbar, zum Beispiel Hausbe- mit den Adressatinnen und Adressaten und de- suche, Zusammenkommen am Schalter oder im ren möglichen Vor- und Nachteilen. Sie experi- Büro, Durchführung von Workshops in Koprä- mentieren mit verschiedenen Tools, verlegen senz. Daher entwickeln die Fachpersonen neue Besprechungen und Veranstaltungen ins Digi- – sowohl analoge wie auch digitale – Zugänge, tale und erfinden neue Formate, wie beispiels- um mit den Menschen vor Ort in Kontakt zu weise den «virtuellen Echoraum» als Ersatz für kommen. So moderieren sie beispielsweise ei- Grossgruppenworkshops. nen Nachbarschaftskonflikt auf der Terrasse, Im Alterswohnbereich zeigt sich die Besonder- führen einen Workshop im Freien oder in klei- heit, dass die Adressatinnen und Adressaten in neren Gruppen durch und besprechen ein indi- den meisten Fällen zur Risikogruppe zählen. In viduelles Problem auf einem Spaziergang an- diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung statt im Büro. zwischen betreuten Alterssiedlungen und 20
selbstständigem Alterswohnen zentral: Wäh- stellen wird. So erzählt uns eine Fachperson, die rend in Alterssiedlungen der Kontakt zwischen mit älteren Menschen arbeitet: den Fachpersonen und den Adressatinnen und «Mich beschäftigen die Menschen, von denen Adressaten – unter Einhaltung entsprechender ich weiss, dass sie schon vor Corona mit psychi- Schutzmassnahmen – weiterhin physisch erfol- schen Themen belastet waren. Ängste, Zwänge gen muss, läuft im Kontext des selbstständigen und Suchtverhalten werden nun verstärkt. Oft Alterswohnens der Kontakt von Fachpersonen sind es alleinlebende Menschen, welche betrof- zu den Adressatinnen und Adressaten nicht fen sind. Wenn aber bei Eheleuten einer von bei- mehr persönlich, sondern meist telefonisch ab. den mit solchen Themen zu kämpfen hat, ist der «Wie kann ich unterstützen?» Adressatinnen Partner auch betroffen. Und manchmal kommt und Adressaten in der Krise es dann zu Spannungen zwischen beiden. Solche In Kapitel 2 werden die zunehmenden individu- Situationen überfordern mich manchmal, weil ellen Probleme und nachbarschaftlichen Kon- ich nicht weiss, wie ich helfen kann, vor allem flikte von Mieterinnen und Einwohnern be- wenn sie mir zu verstehen geben, dass sie nichts schrieben. Und so werden auch die Fachperso- brauchen. Und je länger die Massnahmen an- nen vermehrt mit vulnerablen Adressatinnen dauern, desto mehr werden sich psychische und Adressaten konfrontiert, wobei es bei- Krankheiten verfestigen und das Immunsystem spielsweise um Themen der physischen und schwächen.» (Fachperson) psychischen Gesundheit, den Arbeitsplatz (z. B. In der Krise drücken die Adressatinnen und Ad- Kurzarbeit, Jobverlust), die jeweiligen familiä- ressaten der Fachpersonen verschiedene Hal- ren Situationen (z. B. herausfordernde Betreu- tungen im Umgang damit aus. Manche reagie- ungspflichten) oder finanzielle Themen (z. B. ren sehr ängstlich, andere bleiben gelassen, Probleme, den Mietzins zu begleichen) geht. wieder andere nehmen die Empfehlungen des In Alterssiedlungen ist das Wegfallen sozialer Bundes nicht ernst oder verbreiten sogar krude Anlässe für viele Bewohnerinnen und Bewoh- Theorien – auch das ist für die Fachpersonen ner besonders schwierig, denn oftmals sind mitunter schwierig. Diese Herausforderung ist diese die «Highlights» im Alltag derselben, wie vor allem im Alterswohnbereich markant, denn eine befragte Person erklärt. Dabei ist die Situ- dort scheint die Situation vielerorts besonders ation des Lockdowns vor allem für alleinle- angespannt zu sein: bende Menschen, die kaum Familienangehö- «Ein wichtiges Thema war bei uns noch der Um- rige und/oder kaum Hobbies haben, schwierig. gang mit der Unsicherheit der Leute. Wie geht Auch all jene, deren Alltag vor allem durch Rou- man zum Beispiel mit neuen Verhaltensmustern tinen ausserhalb der eigenen vier Wände ge- von Leuten um, die plötzlich ängstlich und unsi- prägt ist, etwa den regelmässigen Besuch am cher sind? Auch Desinformation ist ein grosses Stammtisch oder die Ausflüge mit den Kollegen, Thema, oder diese ganzen Verschwörungstheo- haben besonders Mühe. retiker, die auf den Plan gerufen worden sind. Einige Befragte erwarten, dass manche der Diese lösen gerade bei älteren Menschen eine Problemlagen auch mittel- und längerfristige grosse Verunsicherung aus. Das hat uns sehr be- Folgen haben werden – und sie selbst auch schäftigt: Es galt neben der sonstigen Versor- noch länger vor herausfordernde Situationen gung und Zuwendung noch bezüglich Corona 21
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