Nr. 104 September - Oktober - November 2021 - IM FLUSS DES JAHRES - Kreisstadt ...
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MAGAZIN FÜR UNNA September – Oktober – November 2021 Nr. 104 IM FLUSS DES JAHRES AUSSERDEM IN DIESER AUSGABE: DAS AHRTAL • PERSÖNLICHKEIT: WILLY TIMM DER KÄFER • ANGEKOMMEN
Herbst-Blatt Nr. 104 09.2021 Editorial 2 Inhalt Liebe Leserin, lieber Leser! 3 Nachlese – Ferien – Sommer 2021 Lieb gewordene Gewohnheiten wechselt 4 Das Ahrtal man nicht gern. Und dennoch dürften sich 5 1700 Jahre jüdisches Leben viele Landsleute coronabedingt neue Ziele in Deutschland – Veranstaltungen gesteckt haben. Die Epidemie hat uns 6 Im Reigen des Jahres scheinbar doch nachdenklich gestimmt. 8 In memoriam: Willy Timm Vielen dürfte wohl durch den Kopf gegan- 9 Esel und Stahl gen sein, ob wir in der Vergangenheit alles 10 VW-Käfer … er läuft und läuft richtig gemacht haben. und läuft ... Umso erfreulicher zu hören, dass Einiges 12 Nanu, habe ich richtig gehört? ungebrochen so weitergeht, wie zum Bei- 13 Die Zeit, die uns bleibt ... spiel der wieder entdeckte Spaß am Lesen. 14 Gesund und länger leben Eine kleine Beobachtung gebe ich hier zum 15 Noch einmal Glück gehabt! Besten. 16 Wie ich eine Reise buchte … Zufällig brachte ich an einem schönen Juni- und eine Überraschung erlebte Abend einige Exemplare des Herbst- 18 Angekommen Blattes Nr. 103 mit ins Schwimmbad Bor- 20 Die Urgroßmutter der Demokratie nekamp. Binnen Minuten waren die fünf Marie Juchacz Exemplare, die ich dort lediglich auslegen 21 Die guten Bekannten wollte, verteilt. Und jeder erzählte mir sei- 22 Wie die Quadriga nach Unna kam ne Version, warum er/sie darauf brennt, 24 Die Stechpalme immer wieder von uns so vortrefflich mit 25 Seeadler Grobi Lesestoff versorgt zu werden. Ein schöne- res Kompliment kann man gar nicht erhal- Impressum ten. Herausgeberin: Kreisstadt Unna Dank des Einsatzes der Mitarbeiter vom Hertinger Straße 12, 59423 Unna Stadtarchiv sind nun alle HB-Ausgaben Internet: www.unna.de, Suchbegriff: herbstblatt von Heft Nr. 1 bis 104 inhaltlich einge- V.i.S.d.P: Dr. Bärbel Beutner Internet: Marc Christopher Krug scannt und unter www.unna.de/rathaus/ Redaktion: Andrea Irslinger, Bärbel Beutner, verwaltung/kultur/archiv abrufbar. Benigna Blaß, Brigitte Paschedag, Die älteren Ausgaben bis hin zur Nr. 53 Franz Wiemann, Hans Borghoff, Klaus W. Busse, Klaus Thorwarth, sind lediglich in einem Stichwortverzeich- Reinhild Giese nis, dem sogenannten Finderbuch, nach- Seniorenarbeit Kreisstadt Unna: schlagbar. Diese Hefte selbst können vor Linda Brümmer Ort entliehen werden. Auf Wunsch können Tel.: 02303/103-687 Titelfoto: Franz Wiemann einzelne Artikel auch fotokopiert werden. Bauernhof am Hellweg in Ostönnen Lassen Sie sich vorerst von den gut sortier- Gestaltung: Andrea Irslinger ten, vielfältigen Beiträgen in dieser aktuel- Druck: WIRmachenDRUCK GmbH, Backnang Auflage: 2000 len Ausgabe Nr. 104 unterhalten. Vielleicht greifen Sie selbst mal zum Stift und brin- gen eine schriftliche Reaktion zu Papier. Konstruktiv verfasste Beiträge sind uns im- Das nächste mer willkommen. Denn Eigenlob „stinkt“. mit der Nr. 105 erscheint im Dezember 2021! Im Namen der Redaktion Franz Wiemann
3 Unterwegs Nr. 104 09.2021 Herbst-Blatt Nachlese – Ferien – Sommer 2021 - Gastbeitrag von Heike Kosert-Altmann - Endlich Ferien! Und das kurz nach der me eine Sitzgelegenheit für den Strand, in Corona-Lockdown-Zeit. Wie sehr hatten der sie die heilende Seeluft, geschützt vor wir uns doch darauf gefreut, endlich wieder Wind und Sonne, genießen konnte. Es ent- einmal verreisen zu dürfen. Das Wort stand der erste Strandkorb, ein sogenannter „Ferien“ kommt übrigens aus dem Lateini- „Einsitzer“, der von Spöttern zunächst auch schen und hat mit Fest und Feiern zu tun: als „aufrecht stehender Wäschekorb“ be- Feiertage, Ruhetage, freie Tage, Freizeit zeichnet wurde. und Sommerferien. Wer Ferien macht, hat Bald schuf er auch einen „Zweisitzer“, der also Zeit zum Feiern. Er verfügt plötzlich sich erst recht an der Nord- und Ostsee, über viel freie Zeit, und das ist ein Fest für hier insbesondere im Ostseebad Warne- uns Menschen. Ferien sind so etwas wie münde, wachsender Beliebtheit erfreute. In ein langer Sonntag: ein Fest der freien Zeit. kürzester Zeit stieg die Nachfrage unter Ferien! Damit verbinde ich auch ein den Badegästen bis weithin zur niederlän- Strandkorb-Gefühl. Entspannen und das dischen und flämischen Küste. Und so Meer genießen, oder aber auch zu Hause gründete Bartelmann zusammen mit seiner im Garten sitzen mit der Erinnerung: ein Frau, Elise Bartelmann, 1883 die erste Tag am Meer. Strandkorbvermietung in der Nähe des Wussten Sie schon, dass der Strandkorb Leuchtturms in Warnemünde, was sich als 1882 in Rostock erfunden wurde? Wilhelm einträgliche Einnahmequelle erwies. Bartelmann (1845–1930), seinerzeit Kai- Ich hoffe, Sie, liebe Leserin und lieber Le- serlicher Hofkorbmacher, fertigte 1882 auf ser, hatten eine angenehme Ferienzeit. Wunsch einer adeligen, schwerkranken Da- Foto: Franz Wiemann
Herbst-Blatt Nr. 104 09.2021 Naturgewalt 4 Das Ahrtal - von Hans Borghoff - Im Juli gab es von der Flutkatastrophe, die Häuser, 18 Mühlen und 9 Schmieden wur- uns das Wetter beschert hatte, Bilder in der den zerstört, sowie 524 Häuser, 2 Mühlen Presse zu sehen und in den Nachrichten zu und 1 Schmiede schwer beschädigt. Eine hören. Besonders das Ahrtal hatte es hart Brücke und eine Kapelle nahm die Flut mit. getroffen. Leider sind viele Tote zu bekla- Während der Jahrhunderte gab immer wie- gen. Wollen wir auch die vielen Verletzten der Flutkatastrophen und Überschwemmun- nicht vergessen. Die Materialschäden sind gen, bei denen auch für die damalige Zeit sehr hoch. Zum Glück kommt hier Hilfe in große Sachschäden auftraten. Rat und Tat. Nicht weniger dramatisch war die Flut vor Was wir nicht (mehr) wissen: Laut Auf- 111 Jahren, vom 12./13. Juni 1910: 52 Tote zeichnungen vom Ahrtal wurde schon 1410 waren zu beklagen, andere Quellen geben eine Flutwelle gemeldet, die selbst Mühlen 70 Tote an. weggerissen hatten. In Anbetracht dieser Katastrophe ver- Im Jahr 1601 gab es durch Regen und Ha- schickten der Amtsgerichtsrat und der Bür- gel eine Flutwelle, in der 9 Personen ertran- germeister von Ahrweiler am 16. Juni einen ken und 16 Gebäude zerstört wurden. Aufruf um Hilfe, der in Unna am 28. Juni Am 21. Juli 1804 gab es wieder eine Flut- in Unna eintraf. welle, die 63 Menschenleben forderte. 170
5 Naturgewalt Nr. 104 09.2021 Herbst-Blatt Im Protokollbuch der Amts- versammlung vom 29. Sep- tember – drei Monate später – steht: „Der Antrag wurde ein- stimmig abgelehnt.“ In der Ausgabe vom 16. Juni 1910 vom Hellweger Anzei- ger und Bote stand unter der Überschrift: Wetterkatastro- phen überall. Zu den zahlrei- chen durch Gewitter und Wol- kenbrüche verursachten ein- zelnen Unglücksfällen kom- men nun eine ganze Reihe ele- mentarer Katastrophen. Nach der furchtbaren Wassernot im Ahrtal, werden nun auch aus Zufall? Denn wie vor 111 Jahren zog das dem oberbayrischen Hochlande, dem nörd- Unwetter weiter in den Südosten von lichen Alpengebiet und den Schweizer Deutschland und richtete dort große Schä- Bergländern riesige Hochwasserverheerun- den an. gen gemeldet. Fotos: Stadtarchiv Unna Veranstaltungen zum Festjahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland - von Franz Wiemann - Im Jahr der Begehung „1700 Jahre jüdi- Der sehr interessante und weit reichende sches Leben in Deutschland“ hat die Informationsgrad dieser Veranstaltungs- Stadt Unna in Zusammenarbeit mit dem reihe reicht vom Blick in die Vergangen- Kreis als Veranstalter einen Reigen von heit bis hin zur Deutung des Begriffs insgesamt 25 Veranstaltungen organi- Antisemitismus. Diesem Thema, betitelt siert. Das reicht von der Auftaktveran- „Entwicklung und Phasen des Antisemi- staltung am 18. August 2021 „Jüdisches tismus“, widmet sich in einem Vortrag Leben in Unna“ bis zum Ausklang der der Zeithistoriker Peter Longerich. Reihe am 25. November 2021. Die ein- Nicht alle Veranstaltungen sind kosten- zelnen Veranstaltungen finden in unter- los. Der an den üblichen Stellen, wie z. B. schiedlichen Lokalitäten in Unna statt, der Buchhandlung Hornung und im ZIB vornehmlich in Räumen des Zentrums ausliegende, sehr detailreiche Flyer gibt für Information und Bildung (ZIB), im dazu Auskunft. Verschiedentlich wird in Kinorama Unna (Massener Straße 32- dem Flyer auch darauf hingewiesen, wel- 38) und in der Synagoge der Gemeinde che Vorinformationen man sich aneignen haKochaw (Unna-Massen, Buderusstra- sollte, um die Themen besser aufnehmen ße 11). zu können.
Herbst-Blatt Nr. 104 09.2021 Literatur 6 Im Reigen des Jahres - von Klaus Busse - Vor Ihnen steht der letzte Abschnitt von den „September halt aufs Wetter acht, Naturbeobachtungen von Edith Holden. bis alle Früchte eingebracht.“ Blatt für Blatt dieses Tagebuches zeigte ihre Liebe zur Natur, das Erlebte empfin- „Der September trocknet die Brunnen aus dungsreich zu vermitteln. Mit nur 49 Jahren oder reißt die Brücken fort.“ verunglückte sie beim Pflücken von Kas- „Ich liebe das Septembergelb, tanienzweigen und ertrank in der Themse. den Morgentau auf Spinnfäden, Das Tagebuch aus dem Deutschen Ta- der kurzen Tage stummes Reden, schenbuch Verlag (dtv) ist bei Amazon er- das Blatt, das nicht am Baum mehr hält, hältlich. der Krähe Ruf, das Stoppelfeld – mehr als des Frühlings Drang SEPTEMBER und Hast ist es der Herbst, der zu mir passt. Der September war der siebente Monat des Alexander Smith römischen Kalenders nach unserer Zeitrech- „Ich bin das Land. Meine Augen sind der nung der neunte. Die Angelsachsen nann- Himmel. Meine Glieder sind die Bäume. ten ihn „barley-month“ – Gerstenmonat. Ich bin der Fels, die Wassertiefe. Ich bin nicht hier, um die Natur zu beherrschen Monatssprüche oder sie zu nutzen. Ich bin selbst Natur.“ „Ist es am 1. September schön, Von den Hopi (Nordamerika) wird‘s bis zum letzten so weiter gehen.“
7 Literatur Nr. 104 09.2021 Herbst-Blatt NOVEMBER Novembers Zeit tritt in die Welt mit dem Winterkleid. Der neunte Monat des alten römischen Jah- res, das mit dem März anfing. Der 11. November wurde zum Datum des Winteranfangs bestimmt. Die Angelsachsen nannten den November „Blood-month“ (den Blutmonat), wahr- scheinlich im Zusammenhang mit der Ge- wohnheit, um den Martinstag herum Vieh für den Wintervorrat zu schlachten. Enc.Brit. Monatssprüche „Kommt November-Sturm an Bord, lass die Schiffe all‘ im Port. „Feiern die Enten im November auf dem Eise fest, wird der Winter zahm und lahm den ganzen Rest.“ OKTOBER „Wenn laut der Windsturm heult und pfeift, Mit Beginn des Oktobers reift des Spät- und Spätzlein sucht im Schnee sein Brot, jahrs ruhiger Sinn; die Luft wird wieder wann Husten Pastors Worte ersäuft kühl und klar. und Hannes Nas‘ wird rauh und rot.“ Der achte Monat des römischen Kalenders. Shakespeare Die Slawen nennen ihn den „Gelben Mo- nat“ nach der Farbe des welkenden Laubs. Für die Angelsachsen war er der „Win- termonat“, da mit ihm, wie sie meinten, der Winter begänne. Monatssprüche „Am 1. März bewegt die Krähe den Sterz, am 1. April weiß sie schon, was sie will, am 1. Mai fliegt sie davon mit Geschrei. Und erst wenn die Oktoberwinde weh‘n, ist sie dann wieder bei uns zu seh‘n.“ Quellen: „Ein guter Oktoberwind Das Tagebuch der Edith Holden – Friedrich W. Heye Verlag schüttelt von den Ästen GmbH, München/Hamburg Theodors Körner´s, Sämtliche Werke – Leipzig Philipp Reclam jun. Eicheln und Eckern, Reigen des Jahres – Hyperion Verlag, Freiburg im Breisgau die Schweine zu mästen.“ 365 Weisheiten ferner Länder – Coppenrath Verlag GmbH, Münster
Herbst-Blatt Nr. 104 09.2021 Persönlichkeit 8 In memoriam Willy Timm - Gastbeitrag von Klaus Basner - 2021 hätte ein bedeutender Sohn der Stadt delndes Lexikon“ der Ortsgeschichte (HA, seinen 90. Geburtstag begehen können. Die 01.03.96) –, aber doch auch nicht ganz rich- Rede ist von Willy Timm, Unnas wichtigs- tig. Seine Bedeutung hatte er ja in erster tem Stadthistoriker, der am 5. Februar 1931 Linie durch seine zahlreichen fundierten als Bergmannskind in der Morgenstraße das Werke zur Stadthistorie erlangt, und die sind Licht der Welt erblickte. Schon früh zeigte natürlich auch heute noch greifbar. Seine sich sein Interesse an der Ortsgeschichte; be- frühesten Arbeiten publizierte Timm schon reits als 11-Jähriger ging er Museumsleiter als Teenager; sein „Erstling“ (Thema: Was- Kettling zur Hand und wirkte 1948/50 an der serversorgung) erschien am 29.09.49 in der Ordnung des Stadtarchivs mit. Nach einer Westfälischen Rundschau. Eine von ihm Verwaltungslehre beim Kreis 1950/52 er- selbst erstellte, 1979 herausgegebene Biblio- warb er am (heutigen) Archivamt in Münster grafie seiner Schriften listete 224 Titel auf. das Rüstzeug für die Archivlauf- Bis zu seinem Tod erhöhte sich bahn. Diese begann er 1953 am die Zahl auf 348. Letztere um- Landesarchiv Münster; 1958 fasst, das sei betont, nur seine wechselte er ans Stadtarchiv in Arbeiten zur Unnaer Geschich- Dortmund, 1963 an das in Of- te. Timm hatte sich auch mit der fenbach/Main. Dort hielt es ihn Historie anderer Orte befasst; jedoch nicht lange. „Ich bin eben von seinen vielen Publikationen Westfale“, so Timm, „und dann zur regionalen Geschichte – da- dieser Dialekt“ (HA, 01.03.96). runter mehrere Quelleneditio- 1966 kehrte er in seine Heimat- nen – ganz zu schweigen. stadt zurück, um die kombinier- Wie schaffte ein Einzelner ten Ressorts Museum, Archiv solch ein Pensum? Wir wissen und Kulturamt zu übernehmen. 1973 ging er es nicht; überliefert ist, dass er, wenn’s zeit- noch einmal „fremd“ – nicht ganz freiwillig: lich „eng“ wurde, auch schon mal im Archiv Der konservative Timm war inzwischen eini- nächtigte. Timm wirkte offenbar polarisie- gen neuen, „progressiven“ Kräften in Politik rend: Er schien nur leidenschaftliche Vereh- und Verwaltung „ein Dorn im Auge“ (HA, rer oder scharfe Kritiker zu haben, wobei 01.11.80) und übernahm deshalb die (zudem Erstere eindeutig überwogen. Die Kritiker besser dotierte) Leitung des Stadtarchivs Ha- stießen sich vor allem an verharmlosend, gen. mitunter auch bedenklich empfundenen For- Was die Unnaer an ihm gehabt hatten, wurde mulierungen in seinen Texten zur NS-Zeit. bald offenbar, als sein Nachfolger sich als Der Hellweger Anzeiger fragte am 31.05.80 ziemlich überfordert erwies. 1981 holte die in fetten Lettern: „In Stadt-Schrift faschisti- Stadt Unna Timm zurück, und er blieb nun sche Tendenzen?“ Gemeint war Timms Heft ihr Archivar bis zu seiner Pensionierung En- „Garnisonstadt Unna“ (mit dem die Stadt de Februar 1996. Nicht einmal drei Jahre 1976 ihre Reihe „Analysen und Meinungen“ später, am 30. März 1999, erlag er einem eröffnet hatte). Das Blatt zitierte daraus u. a., Krebsleiden. Im Nachruf der Stadt hieß es, das berittene Trompeterkorps des Unnaer mit dem Verstorbenen gehe ein „uner- SS-Nachrichtensturmbanns habe „mit seinen schöpfliches und detailliertes Wissen um die silberglänzenden Instrumenten, auf 28 Rap- Stadt- und Heimatgeschichte unersetzbar“ pen [...] ein großartiges Bild“ geboten (S. verloren (HA, 06.04.99). Dies war einerseits 18). Hier hätte man, hieß es, „den Rotstift nicht falsch – galt Timm doch als „wan- drastisch ansetzen“ müssen. In einem Leser-
9 Persönlichkeit Nr. 104 09.2021 Herbst-Blatt brief (vom 3. Juni) verwahrte Timm sich da- oder einen Platz zu benennen, tat sich die Po- gegen, seine Texte zeigten NS-Tendenzen: litik schwer. Einhellige Zustimmung fand da- „Objektiv heißt nun einmal, wahrheitsgemäß gegen der Vorschlag, dem Lesesaal im Stadt- und nicht tendenziös (gleich welcher Fär- archiv seinen Namen zu geben. Am 5. Feb- bung) zu berichten.“ Dagegen erinnere die ruar 2011, es wäre Timms 80. Geburtstag Forderung, drastisch den Rotstift anzusetzen, gewesen, enthüllte Bürgermeister Werner „fatal an die Praktiken jener Zeit“. In der ge- Kolter in Anwesenheit von Timms Witwe nannten (inzwischen 61 Bände zählenden) und Kindern sowie rund 40 weiteren Bürgern Reihe hat Timm nie wieder publiziert. Für eine entsprechende Gedenktafel im nunmeh- seine zahlreichen Veröffentlichungen besaß rigen „Willy-Timm-Raum“. Dabei würdigte er bereits seit den 50er-Jahren einen eigenen er noch einmal das Werk des Verstorbenen, Verlag, der zunächst seinen, dann den Na- zu dem lange Zeit auch die von ihm begrün- men „Kleine Hellweg-Bücherei“ trug. 1975 deten Stadtführungen zählten. Ehrungen wa- etablierte er die Reihe „Hagener Hefte“, in ren Timm auch schon zu Lebzeiten erwiesen der bis 1980 zwölf seiner Arbeiten erschie- worden; aus Platzgründen sei hier nur eine nen (eine davon, Nr. 7, zur Salzgeschichte in genannt: In Anerkennung seiner Verdienste Königsborn). Zurück am Hellweg, hob Timm um die Landesgeschichte hatte ihn die Histo- 1981 die Reihe „Stadtarchiv Unna“ aus der rische Kommission für Westfalen 1976 zum Taufe, in der er bis zu seiner Pensionierung korrespondierenden, 1991 zum ordentlichen 14 Hefte veröffentlichte. Danach änderte er Mitglied gewählt. Willy Timm war der erste den Titel in „Hellweg-Bücherei“ und publi- Unnaer und der erste Nichtakademiker, dem zierte darin als Privatmann weiter. Speziell diese Auszeichnung zuteil wurde. für Quelleneditionen hatte er 1986 eine wei- Foto: Stadtarchiv Unna tere Reihe ins Leben gerufen, in der bis 1996 drei Bände mit Materialien zur Bevölke- rungsgeschichte Unnas und der Grafschaft Mark erschienen. Esel und Stahl Die meisten Veröffentlichungen Timms be- schäftigten sich mit Einzelaspekten der Un- naer Geschichte. 1962 gab er erstmals eine Gesamtdarstellung heraus, die mit nur 104 Seiten den Stoff allerdings stark komprimier- te. Daran änderte auch die Neuauflage von 1975 nichts, die sogar noch schmaler ausfiel. Nach seiner Pensionierung nahm Timm da- her eine breit angelegte Neubearbeitung in Angriff, die sein gesamtes Wissen zur Unna- er Historie zusammenfassen sollte. Das Vorhaben stand jedoch unter einem un- günstigen Stern. Durch einen Computerde- fekt ging mit einem Schlag alles bis dahin Erreichte verloren; es blieben ihm lediglich einige Zettelkästen. Dann behinderte eine schwere Krankheit das weitere Arbeiten, die ihm schließlich die Feder ganz aus der Hand Zeichnung: Eckhard Müller, Herbst-Blatt-Leser. nahm. Die neue Stadtgeschichte schrieben Der traditionelle Esel ist hier mit dem Stahl als dann andere, die dabei natürlich auch auf seine Symbol der Industrialisierung kombiniert (bei Detailstudien zurückgriffen. Mit dem Wunsch Besuch von Kunst im öffentlichen Raum in Unna). seiner Anhänger, Timm zu Ehren eine Straße
Herbst-Blatt Nr. 104 09.2021 Industrie 10 VW-Käfer … er läuft und läuft und läuft ... - von Klaus Thorwarth - Wer erinnert sich nicht an diese Werbung Betätigung als Chefredakteur der Zeit- für den buckeligen Käfer? Mit diesem Slo- schrift „Motor Kritik“ wurde jäh beendet. gan wurde ab 1968 der VW- Am 31.05.1933 wurde er von der GeStaPo Käfer beworben. Wir denken verhaftet und im Gefängnis Moabit einge- an die Behauptung, dieses sperrt. Zahlreiche Dokumente wurden kon- berühmteste aller Autos sei fisziert. von Ferdinand Porsche er- Er war humorvoll und zielstrebig. Seine funden worden. Irrtum: Durch Vision war es ein „Auto für jedermann“ zu eine TV-Sendung erfuhr ich von der un- konstruieren: klein, leicht und bezahlbar. glaublichen Geschichte des eigentlichen Die Ideen für Konstruktion und Namen wa- Erfinders dieses Autos. Sein Name: Josef ren zukunftsweisend. Sein Blick erinnerte Ganz, ein deutscher Ingenieur und Journa- an einen Maikäfer. Und so hieß auch sein list ungarischer Herkunft. erstes Modell. Es verfügte über Einzelrad- aufhängung, Pendelachsen Er wurde 1898 in Budapest und einen Mittelmotor, das geboren und wuchs in Wien Prinzip des späteren VW- auf. Schon mit 12 Jahren Käfers! erhielt er sein erstes Patent. In verschiedenen Varianten Seine technische Begabung entwickelte er 30 Kleinwa- versprach eine große Zu- gen. Seinen Ur-VW konnte kunft. Im Ersten Weltkrieg Ganz noch im Frühjahr 1933 kämpfte er auf deutscher auf der 23. Internationalen Seite. Er war Jude, emp- Automobil-Ausstellung in fand sich aber in erster Li- Berlin präsentieren. Gebaut nie als Deutscher. wurde dieses Modell damals Er studierte an der TH in von der Firma Standard, die Wien und ab 1921 in ihn als „Standard-Superior“, Darmstadt. 1926 schloss er Volkswagen-Viersitzer, vor- nach neun Semestern sein stellte. Auch von Adolf Hit- Studium im Maschinenbau mit dem Dip- ler wurde dieser Wagen bewundert. lom erfolgreich ab. Er war ein Autonarr Dennoch war den neuen Machthabern Josef und arbeitete für die führenden Hersteller Ganz‘s Erfolg wohl ein Dorn im Auge. Nur wie Adler, BMW und Daimler-Benz. wenige Jahre später wurde die Schaffung Dem niederländischen Autor Paul Schiller- dieses Wagentyps propagandistisch von poord verdanken wir, dass das Lebenswerk Goebbels als Errungenschaft des Entwick- von Josef Ganz erhalten bleibt. In seinem lers Ferdinand Porsche vermarktet. Im Auf- Buch, das leider nur in niederländischer trag der Nationalsozialistischen Deutschen Sprache erschienen ist, arbeitete er heraus, Arbeitsfront wurde der Zweitürer als KDF- dass es ihm als Jude nicht vergönnt war, Errungenschaft (Kraft durch Freude) dem seinen Ruhm auszukosten. Schon kurz Volk präsentiert. In deren Produktionsstät- nach der Machtergreifung wurde er von ten liefen etwas mehr als 1500 Käfer noch einer NS-Zeitung als „jüdischer Schädling“ vor dem Kriegsausbruch vom Band. Schon verunglimpft. Seine ebenso erfolgreiche bald ruhte die Produktion; das Modell wur-
11 Industrie Nr. 104 09.2021 Herbst-Blatt 1946: Deutschland er- lebte mit dem Käfer als Symbol den wirtschaft- lichen Wiederaufstieg. Doch niemand erinnerte sich, wem die frühe Er- findung dieses einmali- gen Autos zu verdanken war, wer als erster ein „erschwingliches Auto für jedermann“ verwirk- lichte. Was Josef Ganz begann, wurde ein Milli- onen-Erfolg: Zwischen 1938 und 2003 wurden Ganz-Maikäfer von 1931 über 21 Millionen „Kä- fer“ gebaut. Der Käfer de umfunktioniert für den Krieg. Fortan war damit das beliebteste Auto aller Zei- ging es unter dem Namen „Kübelwagen“, ten! als geländegängiges Fahrzeug, in die Pro- Ohne seine Frau wanderte er 1951 nach duktion. Australien aus. Die Familie wusste nicht, 1934 entstand in Wien der kleine Alu- ob sie ihn als Spinner oder Genie sehen Leichtwagen „Silberfisch“ (450 kg). sollte. In seiner neuen Heimat Melbourne 1936 rettete Ganz in Eile seine Patente. Er gab es einen Neustart. Ganz arbeitete für floh über Nebenwege in die Schweiz, zur eine Unter-Firma von General Motors. In Sicherheit in die Berge. Dann gab es Prob- weit über 1000 Fotos auf Mikrofilm hat er leme mit den Schweizer Behörden, die ihn die Arbeit seines Erfinder-Lebens doku- nach Prozessen als notorischen Querulan- mentiert. ten aus der Schweiz auswiesen. In einer Garage fanden Angehörige seiner 1938 folgte der Entzug der deutschen Familie ein 30 Jahre altes, gut erhaltenes Staatsbürgerschaft. Modell der Maikäfer-Serie. Es wurde in Rumänien restauriert und später in Wolfsburg ausgestellt. VW hat Josef Ganz später rehabilitiert und ihm eine kleine Rente ge- zahlt. Die Gesundheit des genia- len Erfinders litt in Australien immer mehr. Einer Einladung nach Wolfsburg konnte er nicht mehr folgen. Er verstarb 1967 einsam und überschuldet nach einem Herzinfarkt. Seine Asche wurde verstreut, einen Erinne- rungsstein gibt es nicht. Quellen: TV-Dokumentation WDR (12.08.2020), Der erste „Volkswagen“ von Josef Ganz, 1933 wikipedia.de
Herbst-Blatt Nr. 104 09.2021 Wahrnehmung 12 Nanu – habe ich richtig gehört? - von Bärbel Beutner - Eine berechtigte Frage, die sich der große der Köchin schmackhaft zubereiten lassen. Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) Das folgende Gespräch zwischen dem stellte, als er das Krähen eines Hahnes nicht Hausherrn und seinem Diener enthält alle gehört hatte. Dieser Hahn war ein Erzfeind wichtigen Aspekte der Wahrnehmungspsy- des Philosophen. Er gehörte seinem Nach- chologie und der Erkenntnistheorie. barn und störte ihn mit seinem Krähen beim „Lampe, sag Er, lebt der Hahn des Nach- Denken und Schreiben. Eines Tages gab Kant seinem Diener Mar- tin Lampe den Auftrag, den Hahn dem Nachbarn abzukaufen und ihn seiner Tisch- runde zu servieren. Anscheinend gehorchte der Diener, und so saß Kant schließlich mit seinen Freunden am Tisch und erklärte, er werde nun seinen für immer besiegten Feind tranchieren und verzehren. In diesem Moment krähte draußen der Hahn! Alle erstarrten, und der arme Diener Lampe wurde einem Verhör unterzogen. Der Nachbar hatte sich geweigert, den Hahn zu verkaufen, und so hatte Lampe ei- nen Hahn auf dem Markt erworben und von barn unten im Hofe noch?“ „Jawohl, Euer Gnaden!“ „Und hat er heute gekräht?“ „So wie immer, Euer Gnaden!“ „Und ich habe das Krähen über Stunden nicht gehört!“ Kant wurde nachdenklich. „So nehmen wir also etwas nicht wahr, was vorhanden ist. Wir täuschen uns!“ Ja, der Philosoph hatte das Krähen des Hahnes überhört, weil er von dessen Tod überzeugt war und das Krähen nicht mehr erwartete. Die Redaktion des Herbst- Blattes hat etwas übersehen, was einer auf- merksamen Leserin aufgefallen ist. Diese war darüber gestolpert, dass im Heft 103 in dem Beitrag „Puppenspiel“ durchgehend vom „Kaspar“ die Rede ist. Sie meldete sich telefonisch und wies darauf hin, dass die lustige Figur doch „Kasper“ heiße und dass nach ihr das „Kasperle-Theater“ be- nannt ist. Die Leserin lobte das Herbst- Blatt überschwänglich, aber hier hakte sie nach.
13 Wahrnehmung Nr. 104 09.2021 Herbst-Blatt Es wurde ein langes Telefongespräch. Ge- Wahrnehmung“. Kant spricht von den Ver- meinsam zog man verschiedene Texte her- standeskategorien Raum und Zeit, mit de- an, in denen vom „Kasper“ die Rede ist, nen unser Verstand die Welt „ordnet“ und und wirklich: überall gab es nur den die uns angeboren, „a priori“, also von „Kasper“ oder „Kasperl“. Also war der Na- vornherein gegeben sind. Die moderne me „Kaspar“ für den fröhlichen Gesellen Hirnforschung bestätigt das. des Hundes Flocki auf dem Unnaer Weih- Dem Volk waren diese Zusammenhänge nachtsmarkt nicht richtig. immer bekannt. „Man muss ein Auge zu- Wie konnte das passieren? Die Autorin hat- drücken können!“ rät es. „Der hört das te vielleicht an „Caspar, Melchior und Grad wachsen!“ spottet es. Man kann „die Balthasar“ gedacht, also beim Weihnachts- Ohren auf Durchzug stellen“ und „das markt unbewusst die Heiligen Drei Könige Haar in der Suppe finden“. herangezogen. Aber warum war das kei- Kants Erlebnis mit dem krähenden Hahn nem der Redaktionsmitglieder des HB auf- und der falsche Name „Kaspar“ lehren vor gefallen? Warum nur der außenstehenden allem eines: Was ist Wirklichkeit? Was ist Leserin? Wahrheit? Wir sollten vorsichtig und ge- Auf unsere Wahrnehmung können wir uns wissenhaft vorgehen, wenn wir etwas be- also nicht unbedingt verlassen. Wir überhö- zeugen wollen. ren und übersehen manches, unser Gehirn Zeichnung: Andrea Irslinger; Schwarzweißabbildung eines „sortiert aus“. Man nennt das „selektive Porträts von V. C. Vernet (um 1800)/wikipedia.de Die Zeit, die uns bleibt ... - Gastbeitrag von Petra Hülsken - … sinnvoll füllen gleichförmige Tage vermeiden dem Tagesablauf immer wieder aufs Neue ins Auge blicken mit Aufstehen und sich Schlafenlegen die Zeit nicht aufhalten können auch Tage ertragen, in denen man nichts geschafft hat die Zeit im Alltag willkommen heißen und schöne Momente genießen Zeit, die uns bleibt, Zeichnung: Andrea Irslinger in Zuversicht zu verleben.
Herbst-Blatt Nr. 104 09.2021 Gesundheit 14 Gesund und länger leben - von Klaus Thorwarth - Erstaunlich: Durch mehrjährige Befolgung von nur fünf Geboten wurde bei 7000 Men- schen in Kalifornien eine erhebliche Verlän- gerung des Lebens erreicht: Männer wurden 11 Jahre, Frauen 7 Jahre äl- ter. Der Grund für die Unterschiede war der Universität in Los Angeles nicht bekannt. Hier die fünf Gebote: kein Rauchen täglich 30 Minuten körperliche Bewegung kein oder kaum Alkohol Abbau von Übergewicht täglich 7 bis 8 Stunden Schlaf Ähnliche Tipps für die Gesundheit finden sich fast täglich in Zeitungen und im TV. Und schnell erhöht sich die Zahl der Gebote auf zehn! gesunde Ernährung mit weniger Fleisch Dann folgt meist eine überzogene Werbung genügend trinken für „Wundermittel“ – „ganz bewährte“ oder ausreichend Entspannung „ganz neue“. Ihr Herbst-Blatt hält sich vor Kontrolle des Blutdrucks und solchen Empfehlungen zurück. Prinzipiell Beachtung der Cholesterinwerte machen wir ja keine Werbung im redaktio- nellen Teil. Es empfiehlt sich aber, das Angebot der regel- mäßigen ärztlichen Betreuung zu nutzen und sich natürlich zu verhalten nach dem Motto: „Nichts ist vernünftiger als die Natur“. Zum Schluss eine wahre Geschichte aus dem „Hellweger Anzeiger“: Eine alte Dame aus Schwaben feierte ihren 108. Geburtstag. Die Presse stellte die übli- chen Fragen nach dem Geheimnis für ihr hohes Alter und ihre geistige Fitness. Es war das erste Interview ihres Lebens. Bescheiden antwortete sie: „Ich kann gut verzichten, kein Alkohol, keine Zigaretten, keine Schokolade, dafür viel Arbeit und Spazierengehen“. Fotos: Andrea Irslinger, Franz Wiemann
15 Gesundheit Nr. 104 09.2021 Herbst-Blatt Noch einmal Glück gehabt! - von Anne Nühm - Ein sonniger Tag lockte Anne ins Freie. Fassungslos fuhr Anne weiter. Sie war total Kurzentschlossen setzte sie sich auf ihr Fahr- erleichtert, dass es zu keinem größeren Scha- rad. Ihr Weg führte sie zunächst über die Fel- den gekommen war. Sie mochte sich nicht der bis zum nächsten Ortseingang. Sie hatte vorstellen, was aus dem jugendlichen Leicht- das Bahnhofsgelände erreicht. Seitdem die sinn hätte werden können. Hätte sie nicht so Gleise untertunnelt waren, brauchte niemand geistesgegenwärtig reagiert und wäre es tat- mehr an der sehr oft verschlossenen Schran- sächlich zu einem Unfall gekommen, wäre ke zu warten. In Gedanken versunken wollte wohl auch den Jugendlichen das Lachen Anne ihren Weg fortsetzen und in die Unter- rasch vergangen. Bei der übermütigen Art führung einfahren. An der Auswahl des Bo- des Jungen und des Mädchens wäre es gut denbelages war ganz klar erkennbar, welcher möglich gewesen, dass Anne als die Verursa- Bereich für die Fußgänger bzw. für die Rad- cherin hätte dargestellt werden können. Die fahrer vorgesehen war. Eine langge- zogene Kurve machte es schwer, den Verlauf des Radweges im Voraus zu erkennen. Deshalb verringerte Anne ihre Geschwindigkeit. Wie sich weni- ge Augenblicke später herausstellte, war das eine gute Entscheidung ge- wesen. Denn ohne Vorwarnung be- fand sich plötzlich ein junges Mäd- chen auf ihrer Fahrstrecke. Blitz- schnell betätigte Anne die Bremsen. Es gelang ihr, tatsächlich durch ihre schnelle Reaktion einen Zusammen- stoß zu verhindern. Sie hatte zusätz- lich den Lenker herumgerissen. Auf diese Weise konnte sie in einem Bo- gen der Konfrontation entgehen. Ein entsetztes „Haalloo!!!“ kam ihr über die Lippen. Nach einigen Metern kam sie zum Stehen und drehte sich um. Das Heranwachsenden waren schließlich zu Mädchen, vielleicht 16-17 Jahre alt, war zweit. Dann hätte Aussage gegen Aussage nicht allein. Ihr Begleiter krümmte sich vor gestanden. Wie hätte sie beweisen können, Lachen. Er war es nämlich gewesen, der den dass das Fehlverhalten nicht auf ihrer Seite Beinahe-Unfall verursacht hatte. Nachdem er gelegen hat? Ist es nicht erschreckend, wie Anne hatte kommen sehen, hatte er seiner schnell eine Unschuldige vom Opfer zum Freundin einen Schubs in Richtung des Rad- Täter werden kann? Dank der Schutzengel ist weges gegeben. Diese muss zunächst wohl für alle die Situation glimpflich ausgegangen genauso erschrocken gewesen sein. Denn sie und jeder konnte den sonnigen Tag auf seine schrie einige Schimpfwörter heraus, ent- Art weiter genießen. schied sich aber dann auch für das Lachen. Aber jedes Mal, wenn Anne diese Route Es hatte den Anschein, dass sie sich keine noch einmal fährt, denkt sie an diese Bege- Blöße geben und als Spielverderberin daste- benheit zurück. hen wollte. Foto: Reinhild Giese
Herbst-Blatt Nr. 104 09.2021 Reisen 16 Wie ich eine Reise buchte … und eine Überraschung erlebte - von Hans Borghoff - Es sollte eine abenteuerliche Reise werden. So hatte ich also während dieser Reise meine Und sie wurde es! Schwiegermutter an den Hacken. Gebucht wurde sie im Reisebüro einer Be- Am Abreisetag selbst habe ich meine kannten mit Flug von Frankfurt nach Mos- Schwiegermutter abgeholt und wir sind dann kau. Von dort mit dem Moskau-Peking- mit dem Auto nach Frankfurt gefahren. Von Express und von Peking mit der Lufthansa dort ging es mit dem Flugzeug nach Moskau. zurück nach Frankfurt. Die Visa für Russ- In Moskau haben wir zwei Tage die U-Bahn, land, die Mongolei und China waren durch die Stadt und deren Bauern- und Großmärkte das Reisebüro besorgt worden. Anfang Janu- erkundet. Den Kreml, das Kaufhaus Gum, ar sollte es losgehen. einige Denkmäler und das Mausoleum kann- Kurz vor Weihnachten fragte mich meine te ich schon von früheren Reisen. Schwiegermutter – sie war zu Besuch bei Dann fuhren wir mit dem Moskau-Peking- meiner Frau, ihrer Tochter: „Wann holst du Express, mit Zwischenstationen in Jekaterin- mich ab?“ Ich dachte so: „Was will sie? burg – Omsk – Nowosibirsk – Krasnojarsk – Mich auf den Arm nehmen?“ Wieso sollte ich sie abholen? Habe aber nicht nachgefragt und auch nicht geant- wortet. Zum besseren Verständnis: Meine Schwiegermutter wohnt auch in Unna. Einige Tage vor der Reise holte ich die Reiseunterlagen und Visa im Reisebüro ab. Da fragte mich unsere Bekannte: „Nimmst du die Unterlagen für dei- ne Schwiegermutter mit?“ Auf meinen fra- Chinesischer Waggon genden Gesichtsaus- druck hin sagt sie: „Sie hat die gleiche Reise Irkutsk – Ulan-Ude – Ulan Bator – Datong wie du gebucht.“ nach Peking. Meine Frau wollte mit dem Argument „Ich Wer die Strecke ohne auszusteigen bereisen friere mir doch nicht den Hintern ab!“ nicht möchte, weiß, es sind sechs Tage und Nächte mitfahren. Zuhause fragte ich sie, wie es Nonstop! Und nur mit den normalen Aufent- denn zu dieser eigenartigen Fügung gekom- halten in den Bahnhöfen. Die gesamte Stre- men sei. Sie hatte ihrer Mutter von meinen cke Moskau – Peking ist 7622 Kilometer Reiseplänen erzählt. Daraufhin ist meine lang. Schwiegermutter zu unserer Bekannten ge- Auf einer Etappe nahm meine Schwieger- gangen und hat die gleiche Reise zum selben mutter eines Abends ein Bettlaken und be- Termin gebucht. spaßte Kinder von russischen Mitreisenden
17 Reisen Nr. 104 09.2021 Herbst-Blatt als Geist. Keiner verstand den Anderen, aber ein tolles Gekreische kam in den Kabinen und im Gang auf. Nur ich war der Leidtra- gende! Von den Eltern wurde ich in deren Abteil eingeladen. Dort wurde mir Wodka gereicht. Vergebens suchte ich einen Blu- mentopf! „Sto gramm“ (100 Gramm) und noch mehr „Sto gramm“. Verständigung? Mit ein paar Brocken Russisch und mit Hän- den und Füßen gelang das. Während meine Schwiegermutter den nächsten Tag in Ruhe genoss, war ich „krank“. In Irkutsk und am Baikalsee war es dann wirklich kalt: 43 Grad minus. Aber ich wuss- te ja, wohin ich fahre und hatte dementspre- chende Kleidung dabei. Es war meine vierte Reise im Winter mit der Eisenbahn durch Russland. Meine längste Reise war bisher Moskau-Vladivostok mit einer Gesamtlänge von 9288 Kilometern in sieben Tagen. Meine Schwiegermutter indes hatte nicht so an die Kälte gedacht und daher etwas gefroren. Jede Stadt hatte sich in den Jahren meiner Mein Visum Reisen verändert. Wo Häuser waren, gab es nun Straßen. Der Verkehr hatte in den Jahren Das war ein Abenteuer! Ich war die „Lang- enorm zugenommen. nase“ oder das „Rundauge“. Das geliehene In Irkutsk gab es eine längere Reiseunterbre- Fahrrad habe ich nur an dem grünen Bügel- chung. Mit einem Bus fuhren wir zum Bai- schloss erkennen können, da so gut wie alle kalsee. Dort über das Eis vom Baikalsee zu Räder aus einer Produktion stammten. gehen, war ein Erlebnis. Eine meterdicke Auf dem langen Rückflug von Peking nach Eisschicht ermöglichte es, dass selbst belade- Frankfurt hatten wir genügend Zeit zum ne LKWs darüber fahren konnten. Schlafen, um uns auf die Zeitumstellung In den Zügen und in den Hotels war es ja vorzubereiten. Immerhin beträgt der Zeitun- warm. Bei den Aufenthalten spürte man aber terschied sechs Stunden. die Kälte. Vom Flughafen in Moskau bis zur Trotzdem hat diese Reise viel Spaß gemacht. russisch-mongolischen Grenze hatten wir Nach unserer Rückkehr habe ich unserer Be- eine Dolmetscherin (Aufpasserin) dabei. In kannten gesagt, sie solle mich vorher infor- der Mongolei war es eine männliche Person, mieren, wenn meine Schwiegermutter sich ab der mongolisch-chinesischen Grenze wieder an eine meiner zukünftigen Reisen ebenfalls eine männliche Person. An der letz- anhängen will. Nun einmal auf den ten Grenze wurden die Fahrschemel der „Geschmack“ gekommen, wollte sie mich Waggons gewechselt, da in Russland und der als nächstes zu einer Reise durch Vietnam Mongolei eine breitere Spur befahren wird. und Kambodscha überreden. „Leider“ ist Von Peking aus habe ich bei einem Ausflug diese Reise nicht realisiert worden. Warum die Chinesische Mauer bestiegen. Meine nur? Schwiegermutter wollte nicht mit. Zurück im Bliebe noch zu erwähnen: Ich bin mit meiner Hotel in Peking habe ich mir ein Fahrrad ge- Schwiegermutter immer gut ausgekommen! liehen und bin in der Stadt herumgefahren. Fotos: Hans Borghoff
Herbst-Blatt Nr. 104 09.2021 Erinnerung 18 Angekommen - Gastbeitrag von Rita Bergmann - Endlich wieder Yoga mit der Gruppe, drau- Plötzlich kannten sie ihren Weg und ver- ßen auf der sonnigen Wiese am Rhein. Voll schwinden schnell in Richtung Uferweg. Ein Vorfreude steige ich auf mein Fahrrad und Seufzer der Umstehenden ertönt. sause die kleine Steigung zur Uferstraße hin- Das junge Paar, wahrscheinlich die Initiato- unter. Bald erkenne ich auf meinem Weg ei- ren der Rettungsaktion, umarmt sich freude- nen Menschenauflauf. strahlend. Es sieht aus, als beglückwünschen Ein Polizeiauto mit blinkendem Blaulicht sie sich für die gelungene Rettung der verirr- steht auf der Kreuzung. Daneben ein querste- ten Entenfamilie. Dann eine erneute innige hender PKW, mit offenen Türen. Was ist Umarmung. passiert? Hm, was die Polizei so alles macht, raunt mir Meine Fahrt wird gestoppt von einer Polizis- eine Fahrradfahrerin zu, bevor sie auf ihr tin mit blondem Pferdeschwanz, mit weit Fahrrad steigt und davonfährt. Ein ungedul- ausgebreiteten Armen sperrt sie den Fahrrad- diger Fahrer eines Lieferwagens hupt. Nach weg ab. Ich steige ab und sehe mich um, su- und nach machen die Autos die Kreuzung che das Hindernis. Ein weiterer Polizist steht frei und die noch umher Stehenden zerstreu- neben Passanten, im Gespräch deutet er mit en sich in alle Richtungen. seiner Hand die Straße hinauf. Andere an- kommende Fahrradfahrer halten und steigen Die Polizei, dein Freund und Helfer. ab, recken neugierig die Hälse. Das Wort POLIZEI bedeutet für mich selbst Nein, kein Unfall war die Ursache für die heute noch, nach rund 4 Jahrzehnten, Ach- Sperrung. Ich traue meinen Augen nicht. Da tung, Gefahr. Immer noch beschleicht mich watschelt eine Ente näher, dirigiert von ei- ein beklommenes, warnendes Gefühl, sehe ich Polizeiwagen oder Uniformierte der Poli- zei. Ein Relikt aus einem anderen Leben. Es erinnert an eine Zeit, in der ich mit meiner Familie noch in der DDR lebte. In jener Zeit wurde uns schmerzlich bewusst, wie schmalspurig und vorgezeichnet unsere Lebenswege in der DDR verlaufen würden. Als 30jähriger DDR-Bürger durftest du nicht nach Paris reisen oder in einen anderen Ort des nichtsozialistischen Auslands. Mit einer Ausnahme: Reisefreiheit galt nur für Bürger im Rentenalter. Also mit 65 Jahren dürfte ich nach Paris, den Eifelturm besteigen. Das ist nur ein Beispiel. Die Unzufriedenheit mit nem jungen Paar. Nun erkenne ich auch die unseren Lebensmöglichkeiten in der DDR ihr folgenden, winzigen Entenküken. Die Ge- wuchs, und so fühlte ich mich in meinem sichter der Umstehenden entspannen sich, jungen Erwachsenenalter wie abgestorben. mitfühlend blicken sie zu der nervösen En- Nie vergesse ich die grauen, resignierten Ge- tenmutter mit ihrem wuscheligen kleinen Ge- sichter mittelalter Frauen, im Bus sitzend und folge. Jetzt hat die Entenfamilie unter dem ihre Taschen auf dem Schoß umklammernd. Schutz des Paares auch die Uferstraße und Müde starrten sie mit leerem Blick durch die letztlich den Radweg überquert. In der Nähe Fensterscheiben. Immer trugen sie große der Pflanzen und Bäume ahnten die Tiere, Einkaufstaschen. Immer waren sie auf der dass die Gefahrenzone hinter ihnen liegt. Suche nach irgendwelchen Dingen des tägli-
19 Erinnerung Nr. 104 09.2021 Herbst-Blatt chen Lebens, die sie mit etwas Glück er- Ungewissheit und das unendliche scheinende wischten. Nein, so wollte ich nicht Jahr für Warten in der tristen Lagersiedlung bedrück- Jahr bis an mein Lebensende leben. te uns. Schließlich war ein Ort für uns gefun- Wir suchten nach legalen Wegen, die DDR den. Der vom Durchgangslager Unna Mas- zu verlassen. Wir, das waren 11 Personen, 6 sen eingesetzte Bus fuhr mit uns 11 Personen Erwachsene und 5 Kinder. Meine 2 Ge- und kleinem Reisegepäck Richtung Rhein- schwister und ich mit Familien. Leicht war land und hielt schließlich vor der Stadtver- es nicht und auch nicht ungefährlich. Zuerst waltung Troisdorf. Es war gerade Mittags- wusste keiner von uns, wie ein Ausreise- zeit. Neugierige Mitarbeiter der Stadtverwal- Antrag aussehen musste und welche Begrün- tung säumten die Fenster und sahen zu, wie dung für eine Ausreise erfolgversprechend wir nach und nach aus dem Bus stiegen. Spä- sein würde, noch war klar, bei welchem ter erfuhren wir, dass wir für Troisdorf ein Empfänger dieser Antrag abzugeben sei oder Novum waren. Die ersten ostdeutschen Aus- welche staatliche Stelle dafür zuständig ist. siedler kamen in ihre Stadt. Das Beschaffen dieser geheimen Informatio- An den Moment der Ankunft in Troisdorf nen bescherte uns alsbald den Besuch von 2 erinnere ich mich genau. Plötzlich war sie da, Mitarbeitern der Stasi. die Angst vor dem Ungewissen. Mich hatte Nach 2 Jahren, einer schwierigen Zeit des eine mächtige Angst ergriffen, Angst vorm Wartens und der Unsicherheit, erhielten wir Aussteigen. Als letzte verließ ich den Bus. die Zusage zur Ausbürgerung. Innerhalb kür- Heute sind wir längst angekommen. Keiner zester Zeit sollte der Hausstand der Familien von uns hat den Entschluss der Ausreise je für den Zoll verpackt und zum Versand für bereut. Nein, leicht war unser Neustart nicht. die Spedition bereitstehen. Aber wir Geschwister unterstützten uns und Eine spannende Zeit brach für uns an. Im erreichten so einen leichteren Start ins neue Sommer 1983 erreichten wir als Staatenlose bundesdeutsche Leben. die Bundesrepublik. Auf der Zugfahrt zum Grenzübergang rief der jüngste Sohn meiner Wieder zurück ins komplizierte Corona Jahr Schwester mit Blick aus dem Zugfenster 2021. Zurück vom Yoga schließe ich nach- überrascht aus, zur großen Autobahn zei- mittags die Wohnungstür auf. Appetitlicher gend: Guck mal, da drüben fahren lauter Kaffeeduft zieht in meine Nase. Mein Mann Matchbox-Autos. sitzt auf dem sonnigen Balkon, trinkt Kaffee Nach einem Zwischenstopp in der Erstaufnah- und liest Zeitung. meeinrichtung Gießen ging es weiter zum Vom morgendlichen Erlebnis mit der Enten- Durchgangslager Unna Massen. Hier ist eine familie noch gerührt will ich ihm von den erste, lose Verbindung der im Rheinland le- geretteten Enten berichten. Doch er über- benden Gastautorin des Unnaer Herbst- rascht mich. Auch er traf auf seinem Weg die Blattes mit der Stadt Unna erkennbar. Doch Entenfamilie, oben an der großen Ampel- weiter in meiner Geschichte. kreuzung der stark befahrenen Ausfallstraße. Unsere anfängliche Euphorie – Hurra, wir Unter dem Schutz der Polizei passierten hatten es geschafft, wich ersten Erfahrungen ängstlich die Entenmutter und ihr folgend 8 in einem neuen, sehr fremden Deutschland. süße Entenküken die Gefahrenstelle. So kam es, dass wir beide unabhängig von- einander und an verschiedenen Stellen Zeu- gen der Rettung der verirrten Tiere wurden. Sie fanden mit menschlicher Hilfe durch den gefährlichen Straßenverkehr hinunter zum rund 200 Meter entfernten rettenden Fluss- ufer. Auch sie sind angekommen. Fotos: Eismannhans/pixabay.de, Arne Schambeck, Bundesarchiv/wikipedia.de
Herbst-Blatt Nr. 104 09.2021 Berühmte Frauen 20 Die Urgroßmutter der Demokratie Marie Juchacz - von Brigitte Paschedag - Den Namen Marie Juchacz dürften wohl und Menschenwürde zu vermitteln. Da die viele Unnaer kennen, (nach ihr ist ein Betätigung in politischen Vereinen den Wohn- und Pflegeheim in unserer Stadt be- Frauen noch verboten war, tarnten sie ihre nannt), aber wer sie war, ist weitgehend politischen Organisationen durch die soge- unbekannt, obwohl sie eine wichtige Rolle nannten Bildungsvereine. Wegen ihres En- in der Sozialpolitik in Deutschland spielt. gagements wurden Elisabeth und Marie Maria Gohlke wurde am 15.03.1879 in schon bald Ämter in der Frauenbewegung Landsberg an der Warthe geboren. Nach übertragen. Jetzt durften sie Versammlun- dem Besuch der Volksschu- gen leiten und sogar Refera- le arbeitete sie zunächst als te halten. Das änderte sich Dienstmädchen, als Fabrik- 1908, als die Frauenvereine arbeiterin und als Wärterin auf Grund einer neuen Ge- in der „Landes-Provinz-Ir- setzgebung aufgelöst wur- renanstalt“. Es gelang ihr in den. Marie Juchacz begann dieser Zeit so viel Geld zu- daraufhin, für die Sozialde- rückzulegen, dass sie eine mokratische Partei zu arbei- Lehre zur Weißnäherin und ten. Schneiderin beginnen konn- Auf Veranlassung von te. (Es war eine Epoche, in Friedrich Ebert übernahm der noch Lehrgeld gezahlt sie die Nachfolge von Clara werden musste. Eine Aus- Zetkin im Zentralen Partei- bildungsvergütung gab es vorstand und wurde Redak- nicht). tionsleiterin der Frauenzeitung „Gleich- 1903 heiratete sie ihren Lehrherrn, den heit“. Außerdem arbeitete sie im Vorstand Schneidermeister Bernhard Juchacz. Schon des „Deutschen Vereins für öffentliche und früh interessierte sie sich für die Sozialde- private Fürsorge“. Sie war eine gefragte mokratie. Landsberg bot ihr jedoch kein Versammlungsrednerin. geeignetes Betätigungsfeld. Nicht nur des- halb trennte sie sich 1906 von ihrem Ehe- Weitere Stationen ihrer Tätigkeit waren: mann und zog mit ihren beiden Kindern 1908 Eintritt in die Sozialdemokratische und ihrer Schwester Elisabeth, zu der sie Partei, ein sehr enges Verhältnis hatte, nach Ber- 1913 Frauensekretärin für den Bereich lin. Elisabeth und Marie arbeiteten in Obere Rheinprovinz, Heimarbeit als Schneiderinnen. Auf Emp- 1917 Übernahme der Stelle der zentralen fehlung der Landsberger Sozialdemokraten Frauenreferentin der SPD in Berlin, lernte sie Ida Altmann, die erste Leiterin 1919 Mitbegründerin der Arbeiterwohl- der Frauensektion der Gewerkschaften ken- fahrt AWO, nen. Diese Bekanntschaft führte dazu, dass 1928 die Eröffnung einer Wohlfahrts- Marie Juchacz beim Frauen- und Mädchen- schule der AWO, bildungsverein in Schöneberg arbeitete. von 1920 bis 1933 hatte sie einen Sitz Dessen Ziel war es, den Frauen und Mäd- im Reichstag, wo sie als erste Frau eine chen Hilfe zur Selbsthilfe, Selbstachtung Rede hielt.
21 Berühmte Frauen Nr. 104 09.2021 Herbst-Blatt Gleichzeitig Arbeit als Frauensekretärin, gab es. Die SPD 1930 Tod der Schwester Elisabeth, die hält ihre Versamm- eine große Rolle in ihrem Leben und Ar- lungen im Marie- beiten gespielt hatte. Juchacz-Saal ab. 2017 wurde ein Nach der Machtergreifung durch die Natio- Denkmal in Berlin- nalsozialisten emigrierte sie zunächst ins Schöneberg einge- Saarland und floh nach dessen Annexion weiht. Es trägt die an das „Deutsche Reich“ über Marseille Worte „Freiheit – und Martinique nach New York. Dort er- Gerechtigkeit – Gleichheit – Toleranz – lebte sie 1945 die Gründung der Arbeiter- Solidarität“. wohlfahrt in den USA und organisierte zu- Heute wird Marie Juchacz als Urgroßmut- sammen mit anderen die Paketsendungen ter der Demokratie bezeichnet. nach Deutschland zur Unterstützung der Fotos: wikipedia.de Mangel leidenden Bevölkerung. 1949 kehr- te sie nach Deutschland zurück. Bis zu ih- rem Tod am 28.01.1956 lebte sie in Düssel- dorf. Beigesetzt wurde sie im Grab ihrer Schwester. Sie wurde vielfach geehrt. Straßen, Wege, Schulen und Wohlfahrtseinrichtungen tra- gen ihren Namen. Film, Bühne Radio und Veröffentlichungen befassen sich mit ihr. Sogar eine Briefmarke mit ihrem Konterfei Skulptur „Marie Juchacz“ von Gerd Winner, Berlin Die guten Bekannten Gedicht von Eugen Roth Ein Mensch begegnet einem zweiten. Mit ungeheurer Hinterlist Sie wechseln Förm- und Herzlichkeiten, Herauszubringen, was er ist. Sie zeigen Wiedersehensglück Daß sie sich kennen, das steht fest. Und gehn zusammen gar ein Stück. Doch äußerst dunkel bleibt der Rest. Und während sie die Stadt durchwandern, Das Wo und Wann, das Wie und Wer, Sucht einer heimlich von dem andern Das wissen alle zwei nicht mehr, Doch sind sie, als sie sich nun trennen, Zu feig, die Wahrheit zu bekennen. Sie freun sich, daß sie sich getroffen; Jedoch im Herzen beide hoffen, Indes sie ihren Abschied segnen, Einander nie mehr zu begegnen. Zeichnung: Andrea Irslinger
Herbst-Blatt Nr. 104 09.2021 Geschichte 22 Wie die Quadriga nach Unna kam - von Franz Wiemann - Manchmal streift ein leichter Schatten der sie als Beutekunst nach Frankreich ver- Weltgeschichte auch kleinere Städte, so wie schleppt werden sollte. Unna. Es ist belegt, dass die berühmte Qua- Es kamen nach der Besiegung Napoleons driga, die das Brandenburger Tor ziert(e), und seiner Truppen im Jahr 1813 jedoch auf ihrem im Jahr 1814 durchgeführten neue Überlegungen ins Spiel. Preußische Rücktransport von Paris nach Berlin auch Soldaten waren Napoleon bei seinem Rück- durch Unna gezogen wurde. zug 1814 bis nach Paris gefolgt. Und zu ih- „Wie das denn?“, mag sich so mancher Le- rer großen Überraschung fanden sie die im- ser und Leserin fragen. Zum besseren Ver- mer noch in Kisten verpackte Figurengruppe ständnis ist ein kleiner Rückblick in die Ge- in Kellern der Stadt vor. Sofort wurde von schichte nötig. Und: Wer sich speziell für dem preußischen Generalfeldmarschall Blü- preußische Geschichte interessiert, für den cher eine Rückführung veranlasst, zu deren ist es leicht nachvollziehbar, dass das Bran- Zweck man sie auf Pferdefuhrwerke packte. denburger Tor in Einheit mit der Quadriga Ihr Transport quer durch Norddeutschland in ihrer Symbolwirkung und Identitätsbil- ging mancherorts sicherlich nicht ohne die dung für das deutsche Kaiserreich nicht un- Bezeugung von Triumphgefühlen vonstat- erheblich war. ten. Man kann sich gut vorstellen, dass bei Jetzt aber erst mal der Reihe nach. Das in ihrem Durchzug durch Unna ebenfalls gro- seiner heutigen Form uns allen sichtbar er- ßes Hurra-Geschrei in den engen Gassen zu halten gebliebene Brandenburger Tor wurde hören war. Bezeugt ist nämlich, dass der im ursprünglich nach Entwürfen von Carl Gott- Jahr zuvor errungene Sieg über Napoleon hard Langhans erbaut. 1791 fertiggestellt, unter Preußens Führung – übrigens in Zu- sollte es der zugrunde liegenden Idee nach sammenarbeit mit quasi Europäischen Alli- den Endpunkt einer Flaniermeile der Pracht- ierten Kräften – auch in Unna ausgiebig ge- straße „Unter den Linden“ bilden. Es war feiert worden war. Das Joch Napoleons über der Bildhauer und Künstler Johann Gottfried Europa war endgültig abgeschüttelt. Schadow, der vom preußischen König Früh genug war bekanntgegeben geworden, Friedrich Wilhelm III den Auftrag erhielt, dass der triumphale Durchzug der Quadriga eine Quadriga, das klassische Viergespann, von Schwelm über Hagen kommend mitten als Schmuck für das Tor zu entwerfen. Es durch Unna führen würde. In Ermangelung wurde zwei Jahre später obendrauf platziert, geeigneter Straßen musste jedoch erst ein- mit Blickrichtung nach Osten. Dieses En- mal Platz dafür geschaffen werden. Man war semble war insgesamt betrachtet als „Frie- bereit, dafür das längst baufällig gewordene denstor“ geschaffen worden. Darum hielt Hertinger Stadttor abzureißen. Vorsichtig die weibliche Wagenlenkerin Eirene, die formulierte Willy Timm in seiner Schrift Göttin des Friedens, auch ursprünglich einen Geschichte der Stadt Unna (1974) Folgendes: Palmwedel in der Hand. „Die noch erhaltenen Reste des Torturms Aber es kam anders! sollen im Mai 1814 bei der Rückführung der Quadriga … entfernt worden sein.“ Als Napoleon 1806 nach der für Frankreich Bleibt noch festzuhalten, dass damals infol- siegreichen Schlacht von Jena und Auerstedt ge der neuen politischen Situation die ur- einen Triumphzug durch das Tor durchführ- sprüngliche Berliner Flaniermeile umgestal- te, fiel ihm die prächtig gestaltete Figuren- tet wurde: Man baute sie zu einer Triumph- gruppe der Quadriga auf. Er ordnete an, dass Meile um. Das Brandenburger Tor wurde
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