Nr. 104 September - Oktober - November 2021 - IM FLUSS DES JAHRES - Kreisstadt ...

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Nr. 104 September - Oktober - November 2021 - IM FLUSS DES JAHRES - Kreisstadt ...
MAGAZIN FÜR UNNA

            September – Oktober – November 2021
                                            Nr. 104

      IM FLUSS DES JAHRES
        AUSSERDEM IN DIESER AUSGABE:
  DAS AHRTAL • PERSÖNLICHKEIT: WILLY TIMM
         DER KÄFER • ANGEKOMMEN
Nr. 104 September - Oktober - November 2021 - IM FLUSS DES JAHRES - Kreisstadt ...
Herbst-Blatt                    Nr. 104 09.2021                                             Editorial 2

Inhalt                                                   Liebe Leserin, lieber Leser!

3     Nachlese – Ferien – Sommer 2021                    Lieb gewordene Gewohnheiten wechselt
4     Das Ahrtal                                         man nicht gern. Und dennoch dürften sich
5     1700 Jahre jüdisches Leben                         viele Landsleute coronabedingt neue Ziele
      in Deutschland – Veranstaltungen                   gesteckt haben. Die Epidemie hat uns
 6    Im Reigen des Jahres                               scheinbar doch nachdenklich gestimmt.
 8    In memoriam: Willy Timm                            Vielen dürfte wohl durch den Kopf gegan-
 9    Esel und Stahl                                     gen sein, ob wir in der Vergangenheit alles
10    VW-Käfer … er läuft und läuft                      richtig gemacht haben.
      und läuft ...                                      Umso erfreulicher zu hören, dass Einiges
12    Nanu, habe ich richtig gehört?                     ungebrochen so weitergeht, wie zum Bei-
13    Die Zeit, die uns bleibt ...                       spiel der wieder entdeckte Spaß am Lesen.
14    Gesund und länger leben                            Eine kleine Beobachtung gebe ich hier zum
15    Noch einmal Glück gehabt!                          Besten.
16    Wie ich eine Reise buchte …                        Zufällig brachte ich an einem schönen Juni-
      und eine Überraschung erlebte                      Abend einige Exemplare des Herbst-
18    Angekommen                                         Blattes Nr. 103 mit ins Schwimmbad Bor-
20    Die Urgroßmutter der Demokratie                    nekamp. Binnen Minuten waren die fünf
      Marie Juchacz                                      Exemplare, die ich dort lediglich auslegen
21    Die guten Bekannten                                wollte, verteilt. Und jeder erzählte mir sei-
22    Wie die Quadriga nach Unna kam                     ne Version, warum er/sie darauf brennt,
24    Die Stechpalme                                     immer wieder von uns so vortrefflich mit
25    Seeadler Grobi                                     Lesestoff versorgt zu werden. Ein schöne-
                                                         res Kompliment kann man gar nicht erhal-
Impressum                                                ten.
Herausgeberin:   Kreisstadt Unna                         Dank des Einsatzes der Mitarbeiter vom
                 Hertinger Straße 12, 59423 Unna         Stadtarchiv sind nun alle HB-Ausgaben
Internet:        www.unna.de, Suchbegriff: herbstblatt
                                                         von Heft Nr. 1 bis 104 inhaltlich einge-
V.i.S.d.P:       Dr. Bärbel Beutner
Internet:        Marc Christopher Krug                   scannt und unter www.unna.de/rathaus/
Redaktion:       Andrea Irslinger, Bärbel Beutner,       verwaltung/kultur/archiv abrufbar.
                 Benigna Blaß, Brigitte Paschedag,       Die älteren Ausgaben bis hin zur Nr. 53
                 Franz Wiemann, Hans Borghoff,
                 Klaus W. Busse, Klaus Thorwarth,        sind lediglich in einem Stichwortverzeich-
                 Reinhild Giese                          nis, dem sogenannten Finderbuch, nach-
Seniorenarbeit Kreisstadt Unna:                          schlagbar. Diese Hefte selbst können vor
                 Linda Brümmer                           Ort entliehen werden. Auf Wunsch können
                 Tel.: 02303/103-687
Titelfoto:       Franz Wiemann
                                                         einzelne Artikel auch fotokopiert werden.
                 Bauernhof am Hellweg in Ostönnen        Lassen Sie sich vorerst von den gut sortier-
Gestaltung:      Andrea Irslinger                        ten, vielfältigen Beiträgen in dieser aktuel-
Druck:           WIRmachenDRUCK GmbH, Backnang
Auflage:         2000                                    len Ausgabe Nr. 104 unterhalten. Vielleicht
                                                         greifen Sie selbst mal zum Stift und brin-
                                                         gen eine schriftliche Reaktion zu Papier.
                                                         Konstruktiv verfasste Beiträge sind uns im-
       Das nächste
                                                         mer willkommen. Denn Eigenlob „stinkt“.
        mit der Nr. 105 erscheint
           im Dezember 2021!                             Im Namen der Redaktion
                                                         Franz Wiemann
Nr. 104 September - Oktober - November 2021 - IM FLUSS DES JAHRES - Kreisstadt ...
3   Unterwegs                                          Nr. 104 09.2021   Herbst-Blatt
                  Nachlese – Ferien – Sommer 2021
                      - Gastbeitrag von Heike Kosert-Altmann -

Endlich Ferien! Und das kurz nach der            me eine Sitzgelegenheit für den Strand, in
Corona-Lockdown-Zeit. Wie sehr hatten            der sie die heilende Seeluft, geschützt vor
wir uns doch darauf gefreut, endlich wieder      Wind und Sonne, genießen konnte. Es ent-
einmal verreisen zu dürfen. Das Wort             stand der erste Strandkorb, ein sogenannter
„Ferien“ kommt übrigens aus dem Lateini-         „Einsitzer“, der von Spöttern zunächst auch
schen und hat mit Fest und Feiern zu tun:        als „aufrecht stehender Wäschekorb“ be-
Feiertage, Ruhetage, freie Tage, Freizeit        zeichnet wurde.
und Sommerferien. Wer Ferien macht, hat          Bald schuf er auch einen „Zweisitzer“, der
also Zeit zum Feiern. Er verfügt plötzlich       sich erst recht an der Nord- und Ostsee,
über viel freie Zeit, und das ist ein Fest für   hier insbesondere im Ostseebad Warne-
uns Menschen. Ferien sind so etwas wie           münde, wachsender Beliebtheit erfreute. In
ein langer Sonntag: ein Fest der freien Zeit.    kürzester Zeit stieg die Nachfrage unter
Ferien! Damit verbinde ich auch ein              den Badegästen bis weithin zur niederlän-
Strandkorb-Gefühl. Entspannen und das            dischen und flämischen Küste. Und so
Meer genießen, oder aber auch zu Hause           gründete Bartelmann zusammen mit seiner
im Garten sitzen mit der Erinnerung: ein         Frau, Elise Bartelmann, 1883 die erste
Tag am Meer.                                     Strandkorbvermietung in der Nähe des
Wussten Sie schon, dass der Strandkorb           Leuchtturms in Warnemünde, was sich als
1882 in Rostock erfunden wurde? Wilhelm          einträgliche Einnahmequelle erwies.
Bartelmann (1845–1930), seinerzeit Kai-          Ich hoffe, Sie, liebe Leserin und lieber Le-
serlicher Hofkorbmacher, fertigte 1882 auf       ser, hatten eine angenehme Ferienzeit.
Wunsch einer adeligen, schwerkranken Da-         Foto: Franz Wiemann
Nr. 104 September - Oktober - November 2021 - IM FLUSS DES JAHRES - Kreisstadt ...
Herbst-Blatt              Nr. 104 09.2021                                     Naturgewalt   4

                                     Das Ahrtal
                                - von Hans Borghoff -

Im Juli gab es von der Flutkatastrophe, die     Häuser, 18 Mühlen und 9 Schmieden wur-
uns das Wetter beschert hatte, Bilder in der    den zerstört, sowie 524 Häuser, 2 Mühlen
Presse zu sehen und in den Nachrichten zu       und 1 Schmiede schwer beschädigt. Eine
hören. Besonders das Ahrtal hatte es hart       Brücke und eine Kapelle nahm die Flut mit.
getroffen. Leider sind viele Tote zu bekla-     Während der Jahrhunderte gab immer wie-
gen. Wollen wir auch die vielen Verletzten      der Flutkatastrophen und Überschwemmun-
nicht vergessen. Die Materialschäden sind       gen, bei denen auch für die damalige Zeit
sehr hoch. Zum Glück kommt hier Hilfe in        große Sachschäden auftraten.
Rat und Tat.                                    Nicht weniger dramatisch war die Flut vor
Was wir nicht (mehr) wissen: Laut Auf-          111 Jahren, vom 12./13. Juni 1910: 52 Tote
zeichnungen vom Ahrtal wurde schon 1410         waren zu beklagen, andere Quellen geben
eine Flutwelle gemeldet, die selbst Mühlen      70 Tote an.
weggerissen hatten.                             In Anbetracht dieser Katastrophe ver-
Im Jahr 1601 gab es durch Regen und Ha-         schickten der Amtsgerichtsrat und der Bür-
gel eine Flutwelle, in der 9 Personen ertran-   germeister von Ahrweiler am 16. Juni einen
ken und 16 Gebäude zerstört wurden.             Aufruf um Hilfe, der in Unna am 28. Juni
Am 21. Juli 1804 gab es wieder eine Flut-       in Unna eintraf.
welle, die 63 Menschenleben forderte. 170
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5 Naturgewalt                                        Nr. 104 09.2021    Herbst-Blatt
Im Protokollbuch der Amts-
versammlung vom 29. Sep-
tember – drei Monate später –
steht: „Der Antrag wurde ein-
stimmig abgelehnt.“
In der Ausgabe vom 16. Juni
1910 vom Hellweger Anzei-
ger und Bote stand unter der
Überschrift: Wetterkatastro-
phen überall. Zu den zahlrei-
chen durch Gewitter und Wol-
kenbrüche verursachten ein-
zelnen Unglücksfällen kom-
men nun eine ganze Reihe ele-
mentarer Katastrophen. Nach
der furchtbaren Wassernot im
Ahrtal, werden nun auch aus                   Zufall? Denn wie vor 111 Jahren zog das
dem oberbayrischen Hochlande, dem nörd-       Unwetter weiter in den Südosten von
lichen Alpengebiet und den Schweizer          Deutschland und richtete dort große Schä-
Bergländern riesige Hochwasserverheerun-      den an.
gen gemeldet.                                 Fotos: Stadtarchiv Unna

                         Veranstaltungen zum Festjahr
          1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland
                               - von Franz Wiemann -
    Im Jahr der Begehung „1700 Jahre jüdi-    Der sehr interessante und weit reichende
    sches Leben in Deutschland“ hat die       Informationsgrad dieser Veranstaltungs-
    Stadt Unna in Zusammenarbeit mit dem      reihe reicht vom Blick in die Vergangen-
    Kreis als Veranstalter einen Reigen von   heit bis hin zur Deutung des Begriffs
    insgesamt 25 Veranstaltungen organi-      Antisemitismus. Diesem Thema, betitelt
    siert. Das reicht von der Auftaktveran-   „Entwicklung und Phasen des Antisemi-
    staltung am 18. August 2021 „Jüdisches    tismus“, widmet sich in einem Vortrag
    Leben in Unna“ bis zum Ausklang der       der Zeithistoriker Peter Longerich.
    Reihe am 25. November 2021. Die ein-      Nicht alle Veranstaltungen sind kosten-
    zelnen Veranstaltungen finden in unter-   los. Der an den üblichen Stellen, wie z. B.
    schiedlichen Lokalitäten in Unna statt,   der Buchhandlung Hornung und im ZIB
    vornehmlich in Räumen des Zentrums        ausliegende, sehr detailreiche Flyer gibt
    für Information und Bildung (ZIB), im     dazu Auskunft. Verschiedentlich wird in
    Kinorama Unna (Massener Straße 32-        dem Flyer auch darauf hingewiesen, wel-
    38) und in der Synagoge der Gemeinde      che Vorinformationen man sich aneignen
    haKochaw (Unna-Massen, Buderusstra-       sollte, um die Themen besser aufnehmen
    ße 11).                                   zu können.
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Herbst-Blatt             Nr. 104 09.2021                                           Literatur   6

                           Im Reigen des Jahres
                                  - von Klaus Busse -

Vor Ihnen steht der letzte Abschnitt von den   „September halt aufs Wetter acht,
Naturbeobachtungen von Edith Holden.           bis alle Früchte eingebracht.“
Blatt für Blatt dieses Tagebuches zeigte
ihre Liebe zur Natur, das Erlebte empfin-      „Der September trocknet die Brunnen aus
dungsreich zu vermitteln. Mit nur 49 Jahren    oder reißt die Brücken fort.“
verunglückte sie beim Pflücken von Kas-        „Ich liebe das Septembergelb,
tanienzweigen und ertrank in der Themse.       den Morgentau auf Spinnfäden,
Das Tagebuch aus dem Deutschen Ta-             der kurzen Tage stummes Reden,
schenbuch Verlag (dtv) ist bei Amazon er-      das Blatt, das nicht am Baum mehr hält,
hältlich.                                      der Krähe Ruf, das Stoppelfeld –
                                               mehr als des Frühlings Drang
SEPTEMBER                                      und Hast ist es der Herbst,
                                               der zu mir passt.
Der September war der siebente Monat des       Alexander Smith
römischen Kalenders nach unserer Zeitrech-
                                               „Ich bin das Land. Meine Augen sind der
nung der neunte. Die Angelsachsen nann-
                                               Himmel. Meine Glieder sind die Bäume.
ten ihn „barley-month“ – Gerstenmonat.
                                               Ich bin der Fels, die Wassertiefe. Ich bin
                                               nicht hier, um die Natur zu beherrschen
Monatssprüche
                                               oder sie zu nutzen. Ich bin selbst Natur.“
„Ist es am 1. September schön,                 Von den Hopi (Nordamerika)
wird‘s bis zum letzten so weiter gehen.“
Nr. 104 September - Oktober - November 2021 - IM FLUSS DES JAHRES - Kreisstadt ...
7   Literatur                                         Nr. 104 09.2021       Herbst-Blatt
                                              NOVEMBER
                                              Novembers Zeit tritt in die Welt mit dem
                                              Winterkleid.
                                              Der neunte Monat des alten römischen Jah-
                                              res, das mit dem März anfing.
                                              Der 11. November wurde zum Datum des
                                              Winteranfangs bestimmt.
                                              Die Angelsachsen nannten den November
                                              „Blood-month“ (den Blutmonat), wahr-
                                              scheinlich im Zusammenhang mit der Ge-
                                              wohnheit, um den Martinstag herum Vieh
                                              für den Wintervorrat zu schlachten.
                                              Enc.Brit.

                                              Monatssprüche
                                              „Kommt November-Sturm an Bord,
                                              lass die Schiffe all‘ im Port.
                                              „Feiern die Enten im November
                                              auf dem Eise fest,
                                              wird der Winter zahm und lahm
                                              den ganzen Rest.“
OKTOBER
                                              „Wenn laut der Windsturm heult und pfeift,
Mit Beginn des Oktobers reift des Spät-       und Spätzlein sucht im Schnee sein Brot,
jahrs ruhiger Sinn; die Luft wird wieder      wann Husten Pastors Worte ersäuft
kühl und klar.                                und Hannes Nas‘ wird rauh und rot.“
Der achte Monat des römischen Kalenders.      Shakespeare
Die Slawen nennen ihn den „Gelben Mo-
nat“ nach der Farbe des welkenden Laubs.
Für die Angelsachsen war er der „Win-
termonat“, da mit ihm, wie sie meinten, der
Winter begänne.

Monatssprüche
„Am 1. März bewegt die Krähe den Sterz,
am 1. April weiß sie schon, was sie will,
am 1. Mai fliegt sie davon mit Geschrei.
Und erst wenn die Oktoberwinde weh‘n,
ist sie dann wieder bei uns zu seh‘n.“
                                              Quellen:
„Ein guter Oktoberwind                        Das Tagebuch der Edith Holden – Friedrich W. Heye Verlag
schüttelt von den Ästen                       GmbH, München/Hamburg
                                              Theodors Körner´s, Sämtliche Werke – Leipzig Philipp Reclam jun.
Eicheln und Eckern,                           Reigen des Jahres – Hyperion Verlag, Freiburg im Breisgau
die Schweine zu mästen.“                      365 Weisheiten ferner Länder – Coppenrath Verlag GmbH, Münster
Nr. 104 September - Oktober - November 2021 - IM FLUSS DES JAHRES - Kreisstadt ...
Herbst-Blatt              Nr. 104 09.2021                                          Persönlichkeit 8

                          In memoriam Willy Timm
                           - Gastbeitrag von Klaus Basner -

2021 hätte ein bedeutender Sohn der Stadt        delndes Lexikon“ der Ortsgeschichte (HA,
seinen 90. Geburtstag begehen können. Die        01.03.96) –, aber doch auch nicht ganz rich-
Rede ist von Willy Timm, Unnas wichtigs-         tig. Seine Bedeutung hatte er ja in erster
tem Stadthistoriker, der am 5. Februar 1931      Linie durch seine zahlreichen fundierten
als Bergmannskind in der Morgenstraße das        Werke zur Stadthistorie erlangt, und die sind
Licht der Welt erblickte. Schon früh zeigte      natürlich auch heute noch greifbar. Seine
sich sein Interesse an der Ortsgeschichte; be-   frühesten Arbeiten publizierte Timm schon
reits als 11-Jähriger ging er Museumsleiter      als Teenager; sein „Erstling“ (Thema: Was-
Kettling zur Hand und wirkte 1948/50 an der      serversorgung) erschien am 29.09.49 in der
Ordnung des Stadtarchivs mit. Nach einer         Westfälischen Rundschau. Eine von ihm
Verwaltungslehre beim Kreis 1950/52 er-          selbst erstellte, 1979 herausgegebene Biblio-
warb er am (heutigen) Archivamt in Münster       grafie seiner Schriften listete 224 Titel auf.
das Rüstzeug für die Archivlauf-                                Bis zu seinem Tod erhöhte sich
bahn. Diese begann er 1953 am                                   die Zahl auf 348. Letztere um-
Landesarchiv Münster; 1958                                      fasst, das sei betont, nur seine
wechselte er ans Stadtarchiv in                                 Arbeiten zur Unnaer Geschich-
Dortmund, 1963 an das in Of-                                    te. Timm hatte sich auch mit der
fenbach/Main. Dort hielt es ihn                                 Historie anderer Orte befasst;
jedoch nicht lange. „Ich bin eben                               von seinen vielen Publikationen
Westfale“, so Timm, „und dann                                   zur regionalen Geschichte – da-
dieser Dialekt“ (HA, 01.03.96).                                 runter mehrere Quelleneditio-
1966 kehrte er in seine Heimat-                                 nen – ganz zu schweigen.
stadt zurück, um die kombinier-                                 Wie schaffte ein Einzelner
ten Ressorts Museum, Archiv                                     solch ein Pensum? Wir wissen
und Kulturamt zu übernehmen. 1973 ging er        es nicht; überliefert ist, dass er, wenn’s zeit-
noch einmal „fremd“ – nicht ganz freiwillig:     lich „eng“ wurde, auch schon mal im Archiv
Der konservative Timm war inzwischen eini-       nächtigte. Timm wirkte offenbar polarisie-
gen neuen, „progressiven“ Kräften in Politik     rend: Er schien nur leidenschaftliche Vereh-
und Verwaltung „ein Dorn im Auge“ (HA,           rer oder scharfe Kritiker zu haben, wobei
01.11.80) und übernahm deshalb die (zudem        Erstere eindeutig überwogen. Die Kritiker
besser dotierte) Leitung des Stadtarchivs Ha-    stießen sich vor allem an verharmlosend,
gen.                                             mitunter auch bedenklich empfundenen For-
Was die Unnaer an ihm gehabt hatten, wurde       mulierungen in seinen Texten zur NS-Zeit.
bald offenbar, als sein Nachfolger sich als      Der Hellweger Anzeiger fragte am 31.05.80
ziemlich überfordert erwies. 1981 holte die      in fetten Lettern: „In Stadt-Schrift faschisti-
Stadt Unna Timm zurück, und er blieb nun         sche Tendenzen?“ Gemeint war Timms Heft
ihr Archivar bis zu seiner Pensionierung En-     „Garnisonstadt Unna“ (mit dem die Stadt
de Februar 1996. Nicht einmal drei Jahre         1976 ihre Reihe „Analysen und Meinungen“
später, am 30. März 1999, erlag er einem         eröffnet hatte). Das Blatt zitierte daraus u. a.,
Krebsleiden. Im Nachruf der Stadt hieß es,       das berittene Trompeterkorps des Unnaer
mit dem Verstorbenen gehe ein „uner-             SS-Nachrichtensturmbanns habe „mit seinen
schöpfliches und detailliertes Wissen um die     silberglänzenden Instrumenten, auf 28 Rap-
Stadt- und Heimatgeschichte unersetzbar“         pen [...] ein großartiges Bild“ geboten (S.
verloren (HA, 06.04.99). Dies war einerseits     18). Hier hätte man, hieß es, „den Rotstift
nicht falsch – galt Timm doch als „wan-          drastisch ansetzen“ müssen. In einem Leser-
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9 Persönlichkeit                                         Nr. 104 09.2021    Herbst-Blatt
brief (vom 3. Juni) verwahrte Timm sich da-       oder einen Platz zu benennen, tat sich die Po-
gegen, seine Texte zeigten NS-Tendenzen:          litik schwer. Einhellige Zustimmung fand da-
„Objektiv heißt nun einmal, wahrheitsgemäß        gegen der Vorschlag, dem Lesesaal im Stadt-
und nicht tendenziös (gleich welcher Fär-         archiv seinen Namen zu geben. Am 5. Feb-
bung) zu berichten.“ Dagegen erinnere die         ruar 2011, es wäre Timms 80. Geburtstag
Forderung, drastisch den Rotstift anzusetzen,     gewesen, enthüllte Bürgermeister Werner
„fatal an die Praktiken jener Zeit“. In der ge-   Kolter in Anwesenheit von Timms Witwe
nannten (inzwischen 61 Bände zählenden)           und Kindern sowie rund 40 weiteren Bürgern
Reihe hat Timm nie wieder publiziert. Für         eine entsprechende Gedenktafel im nunmeh-
seine zahlreichen Veröffentlichungen besaß        rigen „Willy-Timm-Raum“. Dabei würdigte
er bereits seit den 50er-Jahren einen eigenen     er noch einmal das Werk des Verstorbenen,
Verlag, der zunächst seinen, dann den Na-         zu dem lange Zeit auch die von ihm begrün-
men „Kleine Hellweg-Bücherei“ trug. 1975          deten Stadtführungen zählten. Ehrungen wa-
etablierte er die Reihe „Hagener Hefte“, in       ren Timm auch schon zu Lebzeiten erwiesen
der bis 1980 zwölf seiner Arbeiten erschie-       worden; aus Platzgründen sei hier nur eine
nen (eine davon, Nr. 7, zur Salzgeschichte in     genannt: In Anerkennung seiner Verdienste
Königsborn). Zurück am Hellweg, hob Timm          um die Landesgeschichte hatte ihn die Histo-
1981 die Reihe „Stadtarchiv Unna“ aus der         rische Kommission für Westfalen 1976 zum
Taufe, in der er bis zu seiner Pensionierung      korrespondierenden, 1991 zum ordentlichen
14 Hefte veröffentlichte. Danach änderte er       Mitglied gewählt. Willy Timm war der erste
den Titel in „Hellweg-Bücherei“ und publi-        Unnaer und der erste Nichtakademiker, dem
zierte darin als Privatmann weiter. Speziell      diese Auszeichnung zuteil wurde.
für Quelleneditionen hatte er 1986 eine wei-      Foto: Stadtarchiv Unna
tere Reihe ins Leben gerufen, in der bis 1996
drei Bände mit Materialien zur Bevölke-
rungsgeschichte Unnas und der Grafschaft
Mark erschienen.                                               Esel und Stahl
Die meisten Veröffentlichungen Timms be-
schäftigten sich mit Einzelaspekten der Un-
naer Geschichte. 1962 gab er erstmals eine
Gesamtdarstellung heraus, die mit nur 104
Seiten den Stoff allerdings stark komprimier-
te. Daran änderte auch die Neuauflage von
1975 nichts, die sogar noch schmaler ausfiel.
Nach seiner Pensionierung nahm Timm da-
her eine breit angelegte Neubearbeitung in
Angriff, die sein gesamtes Wissen zur Unna-
er Historie zusammenfassen sollte.
Das Vorhaben stand jedoch unter einem un-
günstigen Stern. Durch einen Computerde-
fekt ging mit einem Schlag alles bis dahin
Erreichte verloren; es blieben ihm lediglich
einige Zettelkästen. Dann behinderte eine
schwere Krankheit das weitere Arbeiten, die
ihm schließlich die Feder ganz aus der Hand          Zeichnung: Eckhard Müller, Herbst-Blatt-Leser.
nahm. Die neue Stadtgeschichte schrieben             Der traditionelle Esel ist hier mit dem Stahl als
dann andere, die dabei natürlich auch auf seine      Symbol der Industrialisierung kombiniert (bei
Detailstudien zurückgriffen. Mit dem Wunsch          Besuch von Kunst im öffentlichen Raum in Unna).
seiner Anhänger, Timm zu Ehren eine Straße
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           VW-Käfer … er läuft und läuft und läuft ...
                               - von Klaus Thorwarth -

Wer erinnert sich nicht an diese Werbung       Betätigung als Chefredakteur der Zeit-
für den buckeligen Käfer? Mit diesem Slo-      schrift „Motor Kritik“ wurde jäh beendet.
             gan wurde ab 1968 der VW-         Am 31.05.1933 wurde er von der GeStaPo
               Käfer beworben. Wir denken      verhaftet und im Gefängnis Moabit einge-
               an die Behauptung, dieses       sperrt. Zahlreiche Dokumente wurden kon-
               berühmteste aller Autos sei     fisziert.
               von Ferdinand Porsche er-       Er war humorvoll und zielstrebig. Seine
             funden worden. Irrtum: Durch      Vision war es ein „Auto für jedermann“ zu
eine TV-Sendung erfuhr ich von der un-         konstruieren: klein, leicht und bezahlbar.
glaublichen Geschichte des eigentlichen        Die Ideen für Konstruktion und Namen wa-
Erfinders dieses Autos. Sein Name: Josef       ren zukunftsweisend. Sein Blick erinnerte
Ganz, ein deutscher Ingenieur und Journa-      an einen Maikäfer. Und so hieß auch sein
list ungarischer Herkunft.                     erstes Modell. Es verfügte über Einzelrad-
                                                               aufhängung, Pendelachsen
Er wurde 1898 in Budapest                                      und einen Mittelmotor, das
geboren und wuchs in Wien                                      Prinzip des späteren VW-
auf. Schon mit 12 Jahren                                       Käfers!
erhielt er sein erstes Patent.                                 In verschiedenen Varianten
Seine technische Begabung                                      entwickelte er 30 Kleinwa-
versprach eine große Zu-                                       gen. Seinen Ur-VW konnte
kunft. Im Ersten Weltkrieg                                     Ganz noch im Frühjahr 1933
kämpfte er auf deutscher                                       auf der 23. Internationalen
Seite. Er war Jude, emp-                                       Automobil-Ausstellung in
fand sich aber in erster Li-                                   Berlin präsentieren. Gebaut
nie als Deutscher.                                             wurde dieses Modell damals
Er studierte an der TH in                                      von der Firma Standard, die
Wien und ab 1921 in                                            ihn als „Standard-Superior“,
Darmstadt. 1926 schloss er                                     Volkswagen-Viersitzer, vor-
nach neun Semestern sein                                       stellte. Auch von Adolf Hit-
Studium im Maschinenbau mit dem Dip-           ler wurde dieser Wagen bewundert.
lom erfolgreich ab. Er war ein Autonarr        Dennoch war den neuen Machthabern Josef
und arbeitete für die führenden Hersteller     Ganz‘s Erfolg wohl ein Dorn im Auge. Nur
wie Adler, BMW und Daimler-Benz.               wenige Jahre später wurde die Schaffung
Dem niederländischen Autor Paul Schiller-      dieses Wagentyps propagandistisch von
poord verdanken wir, dass das Lebenswerk       Goebbels als Errungenschaft des Entwick-
von Josef Ganz erhalten bleibt. In seinem      lers Ferdinand Porsche vermarktet. Im Auf-
Buch, das leider nur in niederländischer       trag der Nationalsozialistischen Deutschen
Sprache erschienen ist, arbeitete er heraus,   Arbeitsfront wurde der Zweitürer als KDF-
dass es ihm als Jude nicht vergönnt war,       Errungenschaft (Kraft durch Freude) dem
seinen Ruhm auszukosten. Schon kurz            Volk präsentiert. In deren Produktionsstät-
nach der Machtergreifung wurde er von          ten liefen etwas mehr als 1500 Käfer noch
einer NS-Zeitung als „jüdischer Schädling“     vor dem Kriegsausbruch vom Band. Schon
verunglimpft. Seine ebenso erfolgreiche        bald ruhte die Produktion; das Modell wur-
11 Industrie                                       Nr. 104 09.2021   Herbst-Blatt
                                                                  1946: Deutschland er-
                                                                  lebte mit dem Käfer als
                                                                  Symbol den wirtschaft-
                                                                  lichen Wiederaufstieg.
                                                                  Doch niemand erinnerte
                                                                  sich, wem die frühe Er-
                                                                  findung dieses einmali-
                                                                  gen Autos zu verdanken
                                                                  war, wer als erster ein
                                                                  „erschwingliches Auto
                                                                  für jedermann“ verwirk-
                                                                  lichte. Was Josef Ganz
                                                                  begann, wurde ein Milli-
                                                                  onen-Erfolg: Zwischen
                                                                  1938 und 2003 wurden
Ganz-Maikäfer von 1931                                            über 21 Millionen „Kä-
                                                                  fer“ gebaut. Der Käfer
de umfunktioniert für den Krieg. Fortan       war damit das beliebteste Auto aller Zei-
ging es unter dem Namen „Kübelwagen“,         ten!
als geländegängiges Fahrzeug, in die Pro-     Ohne seine Frau wanderte er 1951 nach
duktion.                                      Australien aus. Die Familie wusste nicht,
1934 entstand in Wien der kleine Alu-         ob sie ihn als Spinner oder Genie sehen
Leichtwagen „Silberfisch“ (450 kg).           sollte. In seiner neuen Heimat Melbourne
1936 rettete Ganz in Eile seine Patente. Er   gab es einen Neustart. Ganz arbeitete für
floh über Nebenwege in die Schweiz, zur       eine Unter-Firma von General Motors. In
Sicherheit in die Berge. Dann gab es Prob-    weit über 1000 Fotos auf Mikrofilm hat er
leme mit den Schweizer Behörden, die ihn      die Arbeit seines Erfinder-Lebens doku-
nach Prozessen als notorischen Querulan-      mentiert.
ten aus der Schweiz auswiesen.                In einer Garage fanden Angehörige seiner
1938 folgte der Entzug der deutschen          Familie ein 30 Jahre altes, gut erhaltenes
Staatsbürgerschaft.                           Modell der Maikäfer-Serie. Es wurde in
                                                         Rumänien restauriert und später
                                                         in Wolfsburg ausgestellt. VW hat
                                                         Josef Ganz später rehabilitiert
                                                         und ihm eine kleine Rente ge-
                                                         zahlt. Die Gesundheit des genia-
                                                         len Erfinders litt in Australien
                                                         immer mehr. Einer Einladung
                                                         nach Wolfsburg konnte er nicht
                                                         mehr folgen. Er verstarb 1967
                                                         einsam und überschuldet nach
                                                         einem Herzinfarkt. Seine Asche
                                                         wurde verstreut, einen Erinne-
                                                         rungsstein gibt es nicht.
                                                        Quellen: TV-Dokumentation WDR (12.08.2020),
Der erste „Volkswagen“ von Josef Ganz, 1933             wikipedia.de
Herbst-Blatt              Nr. 104 09.2021                                    Wahrnehmung 12

                    Nanu – habe ich richtig gehört?
                                  - von Bärbel Beutner -

Eine berechtigte Frage, die sich der große      der Köchin schmackhaft zubereiten lassen.
Philosoph Immanuel Kant (1724–1804)             Das folgende Gespräch zwischen dem
stellte, als er das Krähen eines Hahnes nicht   Hausherrn und seinem Diener enthält alle
gehört hatte. Dieser Hahn war ein Erzfeind      wichtigen Aspekte der Wahrnehmungspsy-
des Philosophen. Er gehörte seinem Nach-        chologie und der Erkenntnistheorie.
barn und störte ihn mit seinem Krähen beim      „Lampe, sag Er, lebt der Hahn des Nach-
Denken und Schreiben.
Eines Tages gab Kant seinem Diener Mar-
tin Lampe den Auftrag, den Hahn dem
Nachbarn abzukaufen und ihn seiner Tisch-
runde zu servieren. Anscheinend gehorchte
der Diener, und so saß Kant schließlich mit
seinen Freunden am Tisch und erklärte, er
werde nun seinen für immer besiegten
Feind       tranchieren    und     verzehren.
In diesem Moment krähte draußen der
Hahn! Alle erstarrten, und der arme Diener
Lampe wurde einem Verhör unterzogen.
Der Nachbar hatte sich geweigert, den
Hahn zu verkaufen, und so hatte Lampe ei-
nen Hahn auf dem Markt erworben und von
                                                barn unten im Hofe noch?“ „Jawohl, Euer
                                                Gnaden!“ „Und hat er heute gekräht?“ „So
                                                wie immer, Euer Gnaden!“ „Und ich habe
                                                das Krähen über Stunden nicht gehört!“
                                                Kant wurde nachdenklich. „So nehmen wir
                                                also etwas nicht wahr, was vorhanden ist.
                                                Wir täuschen uns!“
                                                Ja, der Philosoph hatte das Krähen des
                                                Hahnes überhört, weil er von dessen Tod
                                                überzeugt war und das Krähen nicht mehr
                                                erwartete. Die Redaktion des Herbst-
                                                Blattes hat etwas übersehen, was einer auf-
                                                merksamen Leserin aufgefallen ist. Diese
                                                war darüber gestolpert, dass im Heft 103 in
                                                dem Beitrag „Puppenspiel“ durchgehend
                                                vom „Kaspar“ die Rede ist. Sie meldete
                                                sich telefonisch und wies darauf hin, dass
                                                die lustige Figur doch „Kasper“ heiße und
                                                dass nach ihr das „Kasperle-Theater“ be-
                                                nannt ist. Die Leserin lobte das Herbst-
                                                Blatt überschwänglich, aber hier hakte sie
                                                nach.
13 Wahrnehmung                                             Nr. 104 09.2021      Herbst-Blatt
Es wurde ein langes Telefongespräch. Ge-             Wahrnehmung“. Kant spricht von den Ver-
meinsam zog man verschiedene Texte her-              standeskategorien Raum und Zeit, mit de-
an, in denen vom „Kasper“ die Rede ist,              nen unser Verstand die Welt „ordnet“ und
und wirklich: überall gab es nur den                 die uns angeboren, „a priori“, also von
„Kasper“ oder „Kasperl“. Also war der Na-            vornherein gegeben sind. Die moderne
me „Kaspar“ für den fröhlichen Gesellen              Hirnforschung bestätigt das.
des Hundes Flocki auf dem Unnaer Weih-               Dem Volk waren diese Zusammenhänge
nachtsmarkt nicht richtig.                           immer bekannt. „Man muss ein Auge zu-
Wie konnte das passieren? Die Autorin hat-           drücken können!“ rät es. „Der hört das
te vielleicht an „Caspar, Melchior und               Grad wachsen!“ spottet es. Man kann „die
Balthasar“ gedacht, also beim Weihnachts-            Ohren auf Durchzug stellen“ und „das
markt unbewusst die Heiligen Drei Könige             Haar in der Suppe finden“.
herangezogen. Aber warum war das kei-                Kants Erlebnis mit dem krähenden Hahn
nem der Redaktionsmitglieder des HB auf-             und der falsche Name „Kaspar“ lehren vor
gefallen? Warum nur der außenstehenden               allem eines: Was ist Wirklichkeit? Was ist
Leserin?                                             Wahrheit? Wir sollten vorsichtig und ge-
Auf unsere Wahrnehmung können wir uns                wissenhaft vorgehen, wenn wir etwas be-
also nicht unbedingt verlassen. Wir überhö-          zeugen wollen.
ren und übersehen manches, unser Gehirn              Zeichnung: Andrea Irslinger; Schwarzweißabbildung eines
„sortiert aus“. Man nennt das „selektive             Porträts von V. C. Vernet (um 1800)/wikipedia.de

                                   Die Zeit, die uns bleibt ...
                                   - Gastbeitrag von Petra Hülsken -
                                                    … sinnvoll füllen
                                                    gleichförmige Tage vermeiden
                                                    dem Tagesablauf immer wieder aufs
                                                    Neue ins Auge blicken
                                                    mit Aufstehen und sich Schlafenlegen
                                                    die Zeit nicht aufhalten können
                                                    auch Tage ertragen, in denen man
                                                    nichts geschafft hat
                                                    die Zeit im Alltag willkommen heißen
                                                    und schöne Momente genießen
                                                    Zeit, die uns bleibt,
     Zeichnung: Andrea Irslinger                    in Zuversicht zu verleben.
Herbst-Blatt             Nr. 104 09.2021                                                Gesundheit 14

                       Gesund und länger leben
                              - von Klaus Thorwarth -

Erstaunlich: Durch mehrjährige Befolgung
von nur fünf Geboten wurde bei 7000 Men-
schen in Kalifornien eine erhebliche Verlän-
gerung des Lebens erreicht:
Männer wurden 11 Jahre, Frauen 7 Jahre äl-
ter. Der Grund für die Unterschiede war der
Universität in Los Angeles nicht bekannt.
Hier die fünf Gebote:
 kein Rauchen
 täglich 30 Minuten körperliche Bewegung
 kein oder kaum Alkohol
 Abbau von Übergewicht
 täglich 7 bis 8 Stunden Schlaf

Ähnliche Tipps für die Gesundheit finden
sich fast täglich in Zeitungen und im TV.
Und schnell erhöht sich die Zahl der
Gebote auf zehn!
 gesunde Ernährung mit weniger Fleisch        Dann folgt meist eine überzogene Werbung
 genügend trinken                             für „Wundermittel“ – „ganz bewährte“ oder
 ausreichend Entspannung                      „ganz neue“. Ihr Herbst-Blatt hält sich vor
 Kontrolle des Blutdrucks und                 solchen Empfehlungen zurück. Prinzipiell
 Beachtung der Cholesterinwerte               machen wir ja keine Werbung im redaktio-
                                               nellen Teil.
                                               Es empfiehlt sich aber, das Angebot der regel-
                                               mäßigen ärztlichen Betreuung zu nutzen und
                                               sich natürlich zu verhalten nach dem Motto:
                                               „Nichts ist vernünftiger als die Natur“.
                                                Zum Schluss eine wahre Geschichte aus
                                               dem „Hellweger Anzeiger“:
                                               Eine alte Dame aus Schwaben feierte ihren
                                               108. Geburtstag. Die Presse stellte die übli-
                                               chen Fragen nach dem Geheimnis für ihr
                                               hohes Alter und ihre geistige Fitness.
                                               Es war das erste Interview ihres Lebens.
                                               Bescheiden antwortete sie:
                                               „Ich kann gut verzichten, kein Alkohol, keine
                                               Zigaretten, keine Schokolade, dafür viel
                                               Arbeit und Spazierengehen“.
                                               Fotos: Andrea Irslinger, Franz Wiemann
15 Gesundheit                                           Nr. 104 09.2021   Herbst-Blatt
                        Noch einmal Glück gehabt!
                                    - von Anne Nühm -

Ein sonniger Tag lockte Anne ins Freie.          Fassungslos fuhr Anne weiter. Sie war total
Kurzentschlossen setzte sie sich auf ihr Fahr-   erleichtert, dass es zu keinem größeren Scha-
rad. Ihr Weg führte sie zunächst über die Fel-   den gekommen war. Sie mochte sich nicht
der bis zum nächsten Ortseingang. Sie hatte      vorstellen, was aus dem jugendlichen Leicht-
das Bahnhofsgelände erreicht. Seitdem die        sinn hätte werden können. Hätte sie nicht so
Gleise untertunnelt waren, brauchte niemand      geistesgegenwärtig reagiert und wäre es tat-
mehr an der sehr oft verschlossenen Schran-      sächlich zu einem Unfall gekommen, wäre
ke zu warten. In Gedanken versunken wollte       wohl auch den Jugendlichen das Lachen
Anne ihren Weg fortsetzen und in die Unter-      rasch vergangen. Bei der übermütigen Art
führung einfahren. An der Auswahl des Bo-        des Jungen und des Mädchens wäre es gut
denbelages war ganz klar erkennbar, welcher      möglich gewesen, dass Anne als die Verursa-
Bereich für die Fußgänger bzw. für die Rad-      cherin hätte dargestellt werden können. Die
fahrer vorgesehen war. Eine langge-
zogene Kurve machte es schwer, den
Verlauf des Radweges im Voraus zu
erkennen. Deshalb verringerte Anne
ihre Geschwindigkeit. Wie sich weni-
ge Augenblicke später herausstellte,
war das eine gute Entscheidung ge-
wesen. Denn ohne Vorwarnung be-
fand sich plötzlich ein junges Mäd-
chen auf ihrer Fahrstrecke. Blitz-
schnell betätigte Anne die Bremsen.
Es gelang ihr, tatsächlich durch ihre
schnelle Reaktion einen Zusammen-
stoß zu verhindern. Sie hatte zusätz-
lich den Lenker herumgerissen. Auf
diese Weise konnte sie in einem Bo-
gen der Konfrontation entgehen. Ein
entsetztes „Haalloo!!!“ kam ihr über
die Lippen. Nach einigen Metern kam
sie zum Stehen und drehte sich um. Das           Heranwachsenden waren schließlich zu
Mädchen, vielleicht 16-17 Jahre alt, war         zweit. Dann hätte Aussage gegen Aussage
nicht allein. Ihr Begleiter krümmte sich vor     gestanden. Wie hätte sie beweisen können,
Lachen. Er war es nämlich gewesen, der den       dass das Fehlverhalten nicht auf ihrer Seite
Beinahe-Unfall verursacht hatte. Nachdem er      gelegen hat? Ist es nicht erschreckend, wie
Anne hatte kommen sehen, hatte er seiner         schnell eine Unschuldige vom Opfer zum
Freundin einen Schubs in Richtung des Rad-       Täter werden kann? Dank der Schutzengel ist
weges gegeben. Diese muss zunächst wohl          für alle die Situation glimpflich ausgegangen
genauso erschrocken gewesen sein. Denn sie       und jeder konnte den sonnigen Tag auf seine
schrie einige Schimpfwörter heraus, ent-         Art weiter genießen.
schied sich aber dann auch für das Lachen.       Aber jedes Mal, wenn Anne diese Route
Es hatte den Anschein, dass sie sich keine       noch einmal fährt, denkt sie an diese Bege-
Blöße geben und als Spielverderberin daste-      benheit zurück.
hen wollte.                                      Foto: Reinhild Giese
Herbst-Blatt              Nr. 104 09.2021                                            Reisen 16

                      Wie ich eine Reise buchte …
                     und eine Überraschung erlebte
                                  - von Hans Borghoff -
Es sollte eine abenteuerliche Reise werden.      So hatte ich also während dieser Reise meine
Und sie wurde es!                                Schwiegermutter an den Hacken.
Gebucht wurde sie im Reisebüro einer Be-         Am Abreisetag selbst habe ich meine
kannten mit Flug von Frankfurt nach Mos-         Schwiegermutter abgeholt und wir sind dann
kau. Von dort mit dem Moskau-Peking-             mit dem Auto nach Frankfurt gefahren. Von
Express und von Peking mit der Lufthansa         dort ging es mit dem Flugzeug nach Moskau.
zurück nach Frankfurt. Die Visa für Russ-        In Moskau haben wir zwei Tage die U-Bahn,
land, die Mongolei und China waren durch         die Stadt und deren Bauern- und Großmärkte
das Reisebüro besorgt worden. Anfang Janu-       erkundet. Den Kreml, das Kaufhaus Gum,
ar sollte es losgehen.                           einige Denkmäler und das Mausoleum kann-
Kurz vor Weihnachten fragte mich meine           te ich schon von früheren Reisen.
Schwiegermutter – sie war zu Besuch bei          Dann fuhren wir mit dem Moskau-Peking-
meiner Frau, ihrer Tochter: „Wann holst du       Express, mit Zwischenstationen in Jekaterin-
mich ab?“ Ich dachte so: „Was will sie?          burg – Omsk – Nowosibirsk – Krasnojarsk –
Mich auf den Arm
nehmen?“ Wieso sollte
ich sie abholen? Habe
aber nicht nachgefragt
und auch nicht geant-
wortet. Zum besseren
Verständnis:      Meine
Schwiegermutter wohnt
auch in Unna.
Einige Tage vor der
Reise holte ich die
Reiseunterlagen und
Visa im Reisebüro ab.
Da fragte mich unsere
Bekannte: „Nimmst du
die Unterlagen für dei-
ne     Schwiegermutter
mit?“ Auf meinen fra- Chinesischer Waggon
genden Gesichtsaus-
druck hin sagt sie: „Sie hat die gleiche Reise   Irkutsk – Ulan-Ude – Ulan Bator – Datong
wie du gebucht.“                                 nach Peking.
Meine Frau wollte mit dem Argument „Ich          Wer die Strecke ohne auszusteigen bereisen
friere mir doch nicht den Hintern ab!“ nicht     möchte, weiß, es sind sechs Tage und Nächte
mitfahren. Zuhause fragte ich sie, wie es        Nonstop! Und nur mit den normalen Aufent-
denn zu dieser eigenartigen Fügung gekom-        halten in den Bahnhöfen. Die gesamte Stre-
men sei. Sie hatte ihrer Mutter von meinen       cke Moskau – Peking ist 7622 Kilometer
Reiseplänen erzählt. Daraufhin ist meine         lang.
Schwiegermutter zu unserer Bekannten ge-         Auf einer Etappe nahm meine Schwieger-
gangen und hat die gleiche Reise zum selben      mutter eines Abends ein Bettlaken und be-
Termin gebucht.                                  spaßte Kinder von russischen Mitreisenden
17 Reisen                                               Nr. 104 09.2021   Herbst-Blatt
als Geist. Keiner verstand den Anderen, aber
ein tolles Gekreische kam in den Kabinen
und im Gang auf. Nur ich war der Leidtra-
gende! Von den Eltern wurde ich in deren
Abteil eingeladen. Dort wurde mir Wodka
gereicht. Vergebens suchte ich einen Blu-
mentopf! „Sto gramm“ (100 Gramm) und
noch mehr „Sto gramm“. Verständigung?
Mit ein paar Brocken Russisch und mit Hän-
den und Füßen gelang das. Während meine
Schwiegermutter den nächsten Tag in Ruhe
genoss, war ich „krank“.
In Irkutsk und am Baikalsee war es dann
wirklich kalt: 43 Grad minus. Aber ich wuss-
te ja, wohin ich fahre und hatte dementspre-
chende Kleidung dabei. Es war meine vierte
Reise im Winter mit der Eisenbahn durch
Russland. Meine längste Reise war bisher
Moskau-Vladivostok mit einer Gesamtlänge
von 9288 Kilometern in sieben Tagen. Meine
Schwiegermutter indes hatte nicht so an die
Kälte gedacht und daher etwas gefroren.
Jede Stadt hatte sich in den Jahren meiner       Mein Visum
Reisen verändert. Wo Häuser waren, gab es
nun Straßen. Der Verkehr hatte in den Jahren     Das war ein Abenteuer! Ich war die „Lang-
enorm zugenommen.                                nase“ oder das „Rundauge“. Das geliehene
In Irkutsk gab es eine längere Reiseunterbre-    Fahrrad habe ich nur an dem grünen Bügel-
chung. Mit einem Bus fuhren wir zum Bai-         schloss erkennen können, da so gut wie alle
kalsee. Dort über das Eis vom Baikalsee zu       Räder aus einer Produktion stammten.
gehen, war ein Erlebnis. Eine meterdicke         Auf dem langen Rückflug von Peking nach
Eisschicht ermöglichte es, dass selbst belade-   Frankfurt hatten wir genügend Zeit zum
ne LKWs darüber fahren konnten.                  Schlafen, um uns auf die Zeitumstellung
In den Zügen und in den Hotels war es ja         vorzubereiten. Immerhin beträgt der Zeitun-
warm. Bei den Aufenthalten spürte man aber       terschied sechs Stunden.
die Kälte. Vom Flughafen in Moskau bis zur       Trotzdem hat diese Reise viel Spaß gemacht.
russisch-mongolischen Grenze hatten wir          Nach unserer Rückkehr habe ich unserer Be-
eine Dolmetscherin (Aufpasserin) dabei. In       kannten gesagt, sie solle mich vorher infor-
der Mongolei war es eine männliche Person,       mieren, wenn meine Schwiegermutter sich
ab der mongolisch-chinesischen Grenze            wieder an eine meiner zukünftigen Reisen
ebenfalls eine männliche Person. An der letz-    anhängen will. Nun einmal auf den
ten Grenze wurden die Fahrschemel der            „Geschmack“ gekommen, wollte sie mich
Waggons gewechselt, da in Russland und der       als nächstes zu einer Reise durch Vietnam
Mongolei eine breitere Spur befahren wird.       und Kambodscha überreden. „Leider“ ist
Von Peking aus habe ich bei einem Ausflug        diese Reise nicht realisiert worden. Warum
die Chinesische Mauer bestiegen. Meine           nur?
Schwiegermutter wollte nicht mit. Zurück im      Bliebe noch zu erwähnen: Ich bin mit meiner
Hotel in Peking habe ich mir ein Fahrrad ge-     Schwiegermutter immer gut ausgekommen!
liehen und bin in der Stadt herumgefahren.       Fotos: Hans Borghoff
Herbst-Blatt              Nr. 104 09.2021                                          Erinnerung 18

                                   Angekommen
                         - Gastbeitrag von Rita Bergmann -
Endlich wieder Yoga mit der Gruppe, drau-        Plötzlich kannten sie ihren Weg und ver-
ßen auf der sonnigen Wiese am Rhein. Voll        schwinden schnell in Richtung Uferweg. Ein
Vorfreude steige ich auf mein Fahrrad und        Seufzer der Umstehenden ertönt.
sause die kleine Steigung zur Uferstraße hin-    Das junge Paar, wahrscheinlich die Initiato-
unter. Bald erkenne ich auf meinem Weg ei-       ren der Rettungsaktion, umarmt sich freude-
nen Menschenauflauf.                             strahlend. Es sieht aus, als beglückwünschen
Ein Polizeiauto mit blinkendem Blaulicht         sie sich für die gelungene Rettung der verirr-
steht auf der Kreuzung. Daneben ein querste-     ten Entenfamilie. Dann eine erneute innige
hender PKW, mit offenen Türen. Was ist           Umarmung.
passiert?                                        Hm, was die Polizei so alles macht, raunt mir
Meine Fahrt wird gestoppt von einer Polizis-     eine Fahrradfahrerin zu, bevor sie auf ihr
tin mit blondem Pferdeschwanz, mit weit          Fahrrad steigt und davonfährt. Ein ungedul-
ausgebreiteten Armen sperrt sie den Fahrrad-     diger Fahrer eines Lieferwagens hupt. Nach
weg ab. Ich steige ab und sehe mich um, su-      und nach machen die Autos die Kreuzung
che das Hindernis. Ein weiterer Polizist steht   frei und die noch umher Stehenden zerstreu-
neben Passanten, im Gespräch deutet er mit       en sich in alle Richtungen.
seiner Hand die Straße hinauf. Andere an-
kommende Fahrradfahrer halten und steigen        Die Polizei, dein Freund und Helfer.
ab, recken neugierig die Hälse.                  Das Wort POLIZEI bedeutet für mich selbst
Nein, kein Unfall war die Ursache für die        heute noch, nach rund 4 Jahrzehnten, Ach-
Sperrung. Ich traue meinen Augen nicht. Da       tung, Gefahr. Immer noch beschleicht mich
watschelt eine Ente näher, dirigiert von ei-     ein beklommenes, warnendes Gefühl, sehe
                                                 ich Polizeiwagen oder Uniformierte der Poli-
                                                 zei. Ein Relikt aus einem anderen Leben. Es
                                                 erinnert an eine Zeit, in der ich mit meiner
                                                 Familie noch in der DDR lebte.
                                                 In jener Zeit wurde uns schmerzlich bewusst,
                                                 wie schmalspurig und vorgezeichnet unsere
                                                 Lebenswege in der DDR verlaufen würden.
                                                 Als 30jähriger DDR-Bürger durftest du nicht
                                                 nach Paris reisen oder in einen anderen Ort
                                                 des nichtsozialistischen Auslands. Mit einer
                                                 Ausnahme: Reisefreiheit galt nur für Bürger
                                                 im Rentenalter. Also mit 65 Jahren dürfte ich
                                                 nach Paris, den Eifelturm besteigen. Das ist
                                                 nur ein Beispiel. Die Unzufriedenheit mit
nem jungen Paar. Nun erkenne ich auch die        unseren Lebensmöglichkeiten in der DDR
ihr folgenden, winzigen Entenküken. Die Ge-      wuchs, und so fühlte ich mich in meinem
sichter der Umstehenden entspannen sich,         jungen Erwachsenenalter wie abgestorben.
mitfühlend blicken sie zu der nervösen En-       Nie vergesse ich die grauen, resignierten Ge-
tenmutter mit ihrem wuscheligen kleinen Ge-      sichter mittelalter Frauen, im Bus sitzend und
folge. Jetzt hat die Entenfamilie unter dem      ihre Taschen auf dem Schoß umklammernd.
Schutz des Paares auch die Uferstraße und        Müde starrten sie mit leerem Blick durch die
letztlich den Radweg überquert. In der Nähe      Fensterscheiben. Immer trugen sie große
der Pflanzen und Bäume ahnten die Tiere,         Einkaufstaschen. Immer waren sie auf der
dass die Gefahrenzone hinter ihnen liegt.        Suche nach irgendwelchen Dingen des tägli-
19 Erinnerung                                          Nr. 104 09.2021     Herbst-Blatt
chen Lebens, die sie mit etwas Glück er-        Ungewissheit und das unendliche scheinende
wischten. Nein, so wollte ich nicht Jahr für    Warten in der tristen Lagersiedlung bedrück-
Jahr bis an mein Lebensende leben.              te uns. Schließlich war ein Ort für uns gefun-
Wir suchten nach legalen Wegen, die DDR         den. Der vom Durchgangslager Unna Mas-
zu verlassen. Wir, das waren 11 Personen, 6     sen eingesetzte Bus fuhr mit uns 11 Personen
Erwachsene und 5 Kinder. Meine 2 Ge-            und kleinem Reisegepäck Richtung Rhein-
schwister und ich mit Familien. Leicht war      land und hielt schließlich vor der Stadtver-
es nicht und auch nicht ungefährlich. Zuerst    waltung Troisdorf. Es war gerade Mittags-
wusste keiner von uns, wie ein Ausreise-        zeit. Neugierige Mitarbeiter der Stadtverwal-
Antrag aussehen musste und welche Begrün-       tung säumten die Fenster und sahen zu, wie
dung für eine Ausreise erfolgversprechend       wir nach und nach aus dem Bus stiegen. Spä-
sein würde, noch war klar, bei welchem          ter erfuhren wir, dass wir für Troisdorf ein
Empfänger dieser Antrag abzugeben sei oder      Novum waren. Die ersten ostdeutschen Aus-
welche staatliche Stelle dafür zuständig ist.   siedler kamen in ihre Stadt.
Das Beschaffen dieser geheimen Informatio-      An den Moment der Ankunft in Troisdorf
nen bescherte uns alsbald den Besuch von 2      erinnere ich mich genau. Plötzlich war sie da,
Mitarbeitern der Stasi.                         die Angst vor dem Ungewissen. Mich hatte
Nach 2 Jahren, einer schwierigen Zeit des       eine mächtige Angst ergriffen, Angst vorm
Wartens und der Unsicherheit, erhielten wir     Aussteigen. Als letzte verließ ich den Bus.
die Zusage zur Ausbürgerung. Innerhalb kür-     Heute sind wir längst angekommen. Keiner
zester Zeit sollte der Hausstand der Familien   von uns hat den Entschluss der Ausreise je
für den Zoll verpackt und zum Versand für       bereut. Nein, leicht war unser Neustart nicht.
die Spedition bereitstehen.                     Aber wir Geschwister unterstützten uns und
Eine spannende Zeit brach für uns an. Im        erreichten so einen leichteren Start ins neue
Sommer 1983 erreichten wir als Staatenlose      bundesdeutsche Leben.
die Bundesrepublik. Auf der Zugfahrt zum
Grenzübergang rief der jüngste Sohn meiner      Wieder zurück ins komplizierte Corona Jahr
Schwester mit Blick aus dem Zugfenster          2021. Zurück vom Yoga schließe ich nach-
überrascht aus, zur großen Autobahn zei-        mittags die Wohnungstür auf. Appetitlicher
gend: Guck mal, da drüben fahren lauter         Kaffeeduft zieht in meine Nase. Mein Mann
Matchbox-Autos.                                 sitzt auf dem sonnigen Balkon, trinkt Kaffee
Nach einem Zwischenstopp in der Erstaufnah-     und liest Zeitung.
meeinrichtung Gießen ging es weiter zum         Vom morgendlichen Erlebnis mit der Enten-
Durchgangslager Unna Massen. Hier ist eine      familie noch gerührt will ich ihm von den
erste, lose Verbindung der im Rheinland le-     geretteten Enten berichten. Doch er über-
benden Gastautorin des Unnaer Herbst-           rascht mich. Auch er traf auf seinem Weg die
Blattes mit der Stadt Unna erkennbar. Doch      Entenfamilie, oben an der großen Ampel-
weiter in meiner Geschichte.                    kreuzung der stark befahrenen Ausfallstraße.
Unsere anfängliche Euphorie – Hurra, wir        Unter dem Schutz der Polizei passierten
hatten es geschafft, wich ersten Erfahrungen    ängstlich die Entenmutter und ihr folgend 8
in einem neuen, sehr fremden Deutschland.       süße Entenküken die Gefahrenstelle.
                                                So kam es, dass wir beide unabhängig von-
                                                einander und an verschiedenen Stellen Zeu-
                                                gen der Rettung der verirrten Tiere wurden.
                                                Sie fanden mit menschlicher Hilfe durch den
                                                gefährlichen Straßenverkehr hinunter zum
                                                rund 200 Meter entfernten rettenden Fluss-
                                                ufer. Auch sie sind angekommen.
                                                Fotos: Eismannhans/pixabay.de,
                                                Arne Schambeck, Bundesarchiv/wikipedia.de
Herbst-Blatt              Nr. 104 09.2021                                     Berühmte Frauen 20

                  Die Urgroßmutter der Demokratie
                                     Marie Juchacz
                               - von Brigitte Paschedag -
Den Namen Marie Juchacz dürften wohl            und Menschenwürde zu vermitteln. Da die
viele Unnaer kennen, (nach ihr ist ein          Betätigung in politischen Vereinen den
Wohn- und Pflegeheim in unserer Stadt be-       Frauen noch verboten war, tarnten sie ihre
nannt), aber wer sie war, ist weitgehend        politischen Organisationen durch die soge-
unbekannt, obwohl sie eine wichtige Rolle       nannten Bildungsvereine. Wegen ihres En-
in der Sozialpolitik in Deutschland spielt.     gagements wurden Elisabeth und Marie
Maria Gohlke wurde am 15.03.1879 in             schon bald Ämter in der Frauenbewegung
Landsberg an der Warthe geboren. Nach           übertragen. Jetzt durften sie Versammlun-
dem Besuch der Volksschu-                                      gen leiten und sogar Refera-
le arbeitete sie zunächst als                                  te halten. Das änderte sich
Dienstmädchen, als Fabrik-                                     1908, als die Frauenvereine
arbeiterin und als Wärterin                                    auf Grund einer neuen Ge-
in der „Landes-Provinz-Ir-                                     setzgebung aufgelöst wur-
renanstalt“. Es gelang ihr in                                  den. Marie Juchacz begann
dieser Zeit so viel Geld zu-                                   daraufhin, für die Sozialde-
rückzulegen, dass sie eine                                     mokratische Partei zu arbei-
Lehre zur Weißnäherin und                                      ten.
Schneiderin beginnen konn-                                     Auf     Veranlassung    von
te. (Es war eine Epoche, in                                    Friedrich Ebert übernahm
der noch Lehrgeld gezahlt                                      sie die Nachfolge von Clara
werden musste. Eine Aus-                                       Zetkin im Zentralen Partei-
bildungsvergütung gab es                                       vorstand und wurde Redak-
nicht).                                         tionsleiterin der Frauenzeitung „Gleich-
1903 heiratete sie ihren Lehrherrn, den         heit“. Außerdem arbeitete sie im Vorstand
Schneidermeister Bernhard Juchacz. Schon        des „Deutschen Vereins für öffentliche und
früh interessierte sie sich für die Sozialde-   private Fürsorge“. Sie war eine gefragte
mokratie. Landsberg bot ihr jedoch kein         Versammlungsrednerin.
geeignetes Betätigungsfeld. Nicht nur des-
halb trennte sie sich 1906 von ihrem Ehe-       Weitere Stationen ihrer Tätigkeit waren:
mann und zog mit ihren beiden Kindern              1908 Eintritt in die Sozialdemokratische
und ihrer Schwester Elisabeth, zu der sie           Partei,
ein sehr enges Verhältnis hatte, nach Ber-         1913 Frauensekretärin für den Bereich
lin. Elisabeth und Marie arbeiteten in              Obere Rheinprovinz,
Heimarbeit als Schneiderinnen. Auf Emp-            1917 Übernahme der Stelle der zentralen
fehlung der Landsberger Sozialdemokraten            Frauenreferentin der SPD in Berlin,
lernte sie Ida Altmann, die erste Leiterin         1919 Mitbegründerin der Arbeiterwohl-
der Frauensektion der Gewerkschaften ken-           fahrt AWO,
nen. Diese Bekanntschaft führte dazu, dass         1928 die Eröffnung einer Wohlfahrts-
Marie Juchacz beim Frauen- und Mädchen-             schule der AWO,
bildungsverein in Schöneberg arbeitete.            von 1920 bis 1933 hatte sie einen Sitz
Dessen Ziel war es, den Frauen und Mäd-             im Reichstag, wo sie als erste Frau eine
chen Hilfe zur Selbsthilfe, Selbstachtung           Rede hielt.
21 Berühmte Frauen                                     Nr. 104 09.2021         Herbst-Blatt
   Gleichzeitig Arbeit als Frauensekretärin,                         gab es. Die SPD
   1930 Tod der Schwester Elisabeth, die                             hält ihre Versamm-
    eine große Rolle in ihrem Leben und Ar-                           lungen im Marie-
    beiten gespielt hatte.                                            Juchacz-Saal ab.
                                                                      2017 wurde ein
Nach der Machtergreifung durch die Natio-
                                                                      Denkmal in Berlin-
nalsozialisten emigrierte sie zunächst ins
                                                                      Schöneberg einge-
Saarland und floh nach dessen Annexion
                                                                      weiht. Es trägt die
an das „Deutsche Reich“ über Marseille
                                                                      Worte „Freiheit –
und Martinique nach New York. Dort er-
                                                Gerechtigkeit – Gleichheit – Toleranz –
lebte sie 1945 die Gründung der Arbeiter-
                                                Solidarität“.
wohlfahrt in den USA und organisierte zu-
                                                Heute wird Marie Juchacz als Urgroßmut-
sammen mit anderen die Paketsendungen
                                                ter der Demokratie bezeichnet.
nach Deutschland zur Unterstützung der
                                                Fotos: wikipedia.de
Mangel leidenden Bevölkerung. 1949 kehr-
te sie nach Deutschland zurück. Bis zu ih-
rem Tod am 28.01.1956 lebte sie in Düssel-
dorf. Beigesetzt wurde sie im Grab ihrer
Schwester.
Sie wurde vielfach geehrt. Straßen, Wege,
Schulen und Wohlfahrtseinrichtungen tra-
gen ihren Namen. Film, Bühne Radio und
Veröffentlichungen befassen sich mit ihr.
Sogar eine Briefmarke mit ihrem Konterfei       Skulptur „Marie Juchacz“ von Gerd Winner, Berlin

                             Die guten Bekannten
                                Gedicht von Eugen Roth
    Ein Mensch begegnet einem zweiten.           Mit ungeheurer Hinterlist
    Sie wechseln Förm- und Herzlichkeiten,       Herauszubringen, was er ist.
    Sie zeigen Wiedersehensglück                 Daß sie sich kennen, das steht fest.
    Und gehn zusammen gar ein Stück.             Doch äußerst dunkel bleibt der Rest.
    Und während sie die Stadt durchwandern,      Das Wo und Wann, das Wie und Wer,
    Sucht einer heimlich von dem andern          Das wissen alle zwei nicht mehr,
                                                 Doch sind sie, als sie sich nun trennen,
                                                 Zu feig, die Wahrheit zu bekennen.
                                                 Sie freun sich, daß sie sich getroffen;
                                                 Jedoch im Herzen beide hoffen,
                                                 Indes sie ihren Abschied segnen,
                                                 Einander nie mehr zu begegnen.
                                                 Zeichnung: Andrea Irslinger
Herbst-Blatt              Nr. 104 09.2021                                        Geschichte 22

                  Wie die Quadriga nach Unna kam
                                 - von Franz Wiemann -

Manchmal streift ein leichter Schatten der      sie als Beutekunst nach Frankreich ver-
Weltgeschichte auch kleinere Städte, so wie     schleppt werden sollte.
Unna. Es ist belegt, dass die berühmte Qua-     Es kamen nach der Besiegung Napoleons
driga, die das Brandenburger Tor ziert(e),      und seiner Truppen im Jahr 1813 jedoch
auf ihrem im Jahr 1814 durchgeführten           neue Überlegungen ins Spiel. Preußische
Rücktransport von Paris nach Berlin auch        Soldaten waren Napoleon bei seinem Rück-
durch Unna gezogen wurde.                       zug 1814 bis nach Paris gefolgt. Und zu ih-
„Wie das denn?“, mag sich so mancher Le-        rer großen Überraschung fanden sie die im-
ser und Leserin fragen. Zum besseren Ver-       mer noch in Kisten verpackte Figurengruppe
ständnis ist ein kleiner Rückblick in die Ge-   in Kellern der Stadt vor. Sofort wurde von
schichte nötig. Und: Wer sich speziell für      dem preußischen Generalfeldmarschall Blü-
preußische Geschichte interessiert, für den     cher eine Rückführung veranlasst, zu deren
ist es leicht nachvollziehbar, dass das Bran-   Zweck man sie auf Pferdefuhrwerke packte.
denburger Tor in Einheit mit der Quadriga       Ihr Transport quer durch Norddeutschland
in ihrer Symbolwirkung und Identitätsbil-       ging mancherorts sicherlich nicht ohne die
dung für das deutsche Kaiserreich nicht un-     Bezeugung von Triumphgefühlen vonstat-
erheblich war.                                  ten. Man kann sich gut vorstellen, dass bei
Jetzt aber erst mal der Reihe nach. Das in      ihrem Durchzug durch Unna ebenfalls gro-
seiner heutigen Form uns allen sichtbar er-     ßes Hurra-Geschrei in den engen Gassen zu
halten gebliebene Brandenburger Tor wurde       hören war. Bezeugt ist nämlich, dass der im
ursprünglich nach Entwürfen von Carl Gott-      Jahr zuvor errungene Sieg über Napoleon
hard Langhans erbaut. 1791 fertiggestellt,      unter Preußens Führung – übrigens in Zu-
sollte es der zugrunde liegenden Idee nach      sammenarbeit mit quasi Europäischen Alli-
den Endpunkt einer Flaniermeile der Pracht-     ierten Kräften – auch in Unna ausgiebig ge-
straße „Unter den Linden“ bilden. Es war        feiert worden war. Das Joch Napoleons über
der Bildhauer und Künstler Johann Gottfried     Europa war endgültig abgeschüttelt.
Schadow, der vom preußischen König              Früh genug war bekanntgegeben geworden,
Friedrich Wilhelm III den Auftrag erhielt,      dass der triumphale Durchzug der Quadriga
eine Quadriga, das klassische Viergespann,      von Schwelm über Hagen kommend mitten
als Schmuck für das Tor zu entwerfen. Es        durch Unna führen würde. In Ermangelung
wurde zwei Jahre später obendrauf platziert,    geeigneter Straßen musste jedoch erst ein-
mit Blickrichtung nach Osten. Dieses En-        mal Platz dafür geschaffen werden. Man war
semble war insgesamt betrachtet als „Frie-      bereit, dafür das längst baufällig gewordene
denstor“ geschaffen worden. Darum hielt         Hertinger Stadttor abzureißen. Vorsichtig
die weibliche Wagenlenkerin Eirene, die         formulierte Willy Timm in seiner Schrift
Göttin des Friedens, auch ursprünglich einen    Geschichte der Stadt Unna (1974) Folgendes:
Palmwedel in der Hand.                          „Die noch erhaltenen Reste des Torturms
Aber es kam anders!                             sollen im Mai 1814 bei der Rückführung der
                                                Quadriga … entfernt worden sein.“
Als Napoleon 1806 nach der für Frankreich       Bleibt noch festzuhalten, dass damals infol-
siegreichen Schlacht von Jena und Auerstedt     ge der neuen politischen Situation die ur-
einen Triumphzug durch das Tor durchführ-       sprüngliche Berliner Flaniermeile umgestal-
te, fiel ihm die prächtig gestaltete Figuren-   tet wurde: Man baute sie zu einer Triumph-
gruppe der Quadriga auf. Er ordnete an, dass    Meile um. Das Brandenburger Tor wurde
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