Die Akte Rosenburg Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit - MINISTERIUM UND GESCHICHTE - BMJV

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Die Akte Rosenburg Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit - MINISTERIUM UND GESCHICHTE - BMJV
MINISTERIUM UND
GESCHICHTE

Die Akte Rosenburg
Das Bundesministerium der Justiz
und die NS-Zeit
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Die Akte Rosenburg
Das Bundesministerium der Justiz
und die NS-Zeit
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Vorwort

Die Nazi-Diktatur hat unvorstellbare      erstmals vollständigen Einblick in
Verbrechen begangen und größtes           sämtliche Akten gewährt. Mein großer
Leid über Deutschland und die Welt        Dank für ihre engagierte Arbeit gilt
gebracht. Die Mitwirkung von Justiz und   den beiden Leitern der Kommission,
Juristen daran ist mittlerweile wissen-   Professor Manfred Görtemaker und
schaftlich gut untersucht. Ein offenes    Professor Christoph Safferling, sowie
Geheimnis war aber bisher, dass viele     ihrem gesamten Team.
Juristen, die Schuld auf sich geladen
hatten, nach der Gründung der Bundes-     Die Ergebnisse sind bedrückend: Von
republik 1949 wieder in den west-         den 170 Juristen, die von 1949 bis 1973
deutschen Staatsdienst zurückkehrten.     in Leitungspositionen des Ministeriums
                                          tätig waren, hatten 90 der NSDAP und
Die Unabhängige Wissenschaftliche         34 der SA angehört. Mehr als 15 Prozent
Kommission beim Bundesministerium         waren vor 1945 sogar im Reichsjustiz-
der Justiz zur Aufarbeitung der NS-­      ministerium der Nazis tätig. Diese
Vergangenheit, das „Rosenburg-Projekt“,   Zahlen machen deutlich, warum die
hat diese personelle Kontinuität und      Strafverfolgung der Nazi-Verbrechen
ihre Folgen intensiv untersucht. Unser    so lange hintertrieben, das Leid der
Ministerium hat dafür den Forschern       Opfer viel zu lange ignoriert und viele
5

Opfergruppen – etwa Homosexuelle            wünsche ich dem Abschlussbericht
oder Sinti und Roma – in der Bundes-        des Rosenburg-Projekts und dieser
republik erneut diskriminiert wurden.       Broschüre eine weite Verbreitung. Jeder
                                            deutsche Jurist, jede deutsche Juristin
Die Perversion des Rechts während der       sollte um die Schattenseiten der Vergan­
Nazi-Zeit und das Versagen der jungen       genheit ihrer Berufsgruppe wissen, um
Bundesrepublik bei deren Aufarbeitung       zu erkennen, welch hohe Verant­wortung
machen eines ganz deutlich: Juristinnen     sie für die Gegenwart und Zukunft
und Juristen müssen heute mehr sein         tragen.
als bloße Techniker des Rechts, die jede
beliebige politische Idee in Paragraphen
gießen und sie vollstrecken. Es kommt
stattdessen darauf an, die Werte unseres
Grundgesetzes – Menschenwürde,
Freiheit und Vielfalt – zu verinnerlichen
und zu leben. Das Wissen um die
Geschichte macht uns sensibel dafür,        Christine Lambrecht, MdB
wenn Menschenrechte und Rechtsstaat-        Bundesministerin
lichkeit heute verletzt werden. Deshalb     der Justiz und für Verbraucherschutz
Das Buch

Die vorliegende Broschüre fasst die wesentlichen Ergebnisse der Arbeit der
‚­Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission‘ (UWK) beim Bundesministerium
der Justiz zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit zusammen. Die Langfassung
der ­Arbeitsergebnisse ist als Buch „Die Akte Rosenburg“ im Verlag C.H.BECK
erschienen.

Manfred Görtemaker /
Christoph Safferling

Die Akte Rosenburg
Das Bundesministerium
der Justiz und die NS-Zeit

2016. Ca. 600 Seiten mit
ca. 30 Abbildungen.
Gebunden € 29,95 (D)
ISBN 978-3-406-69768-5
Die Autoren

Prof. Dr. Christoph Safferling               Prof. Dr. Manfred Görtemaker

Christoph Safferling ist Professor für         Manfred Görtemaker ist Professor
Strafrecht, Strafprozessrecht, Inter-          für Neuere Geschichte an der Universität
nationales Strafrecht und Völkerrecht an       Potsdam. Bei C.H.BECK ist von ihm
der Friedrich-Alexander-Universität          u. a. erschienen: Geschichte der Bun­des­
Erlangen-Nürnberg. Er hat Publikatio-        republik Deutschland. Von der
nen u. a. zur Völkerstrafrechtspolitik und   ­Gründung bis zur Gegenwart (1999);
zum Internationalen Strafrecht                Kleine Geschichte der Bundesrepublik
vorgelegt.                                    ­Deutschland (2002).

Beide Autoren sind Leitende Mitglieder der Unabhängigen Wissenschaftlichen
­Kommission beim Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz zur
 Aufarbeitung der NS-Vergangenheit.
8
Inhalt

Vorwort  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .          4
Das Buch  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .            6
Die Autoren  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  7
Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Einleitung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  10
Die Akte Rosenburg  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  10
1.	Untersuchungsgegenstände und Arbeitsweise der Kommission  .  .  .  .  .  12
2.	
   Die Rolle der Justiz in der NS-Zeit und in der Bundesrepublik  .  .  .  .  .  .  . 14
3.	Das Bundesministerium der J­ ustiz und seine NS-Belastung  .  .  .  .  .  .  .  . 21
4.	Amnestie und Verjährung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 22
5. Die Taten und ihre Täter  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  24
6.	Probleme der Transformation nach 1945  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 27
7.	Die Personalentwicklung im BMJ von 1949 bis 1973  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 28
       NS-Mitgliedschaften  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .   30
       Übernahme aus den Zonen­verwaltungen und „131er“  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .                                        36
8.	Das BMJ und die Verfolgung von NS-Straftätern  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  38
Endnoten  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 42
Impressum  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 46
Manfred Görtemaker / Christoph Safferling

   Die Akte Rosenburg

   Das Bundesministerium
   der Justiz
   und die NS-Zeit

Einleitung                                       dem Band Die Akte Rosenburg, der im
                                                 Oktober 2016 im C. H. BECK Verlag
Die sogenannte „Rosenburg“ am Venus-             München erschien, legte die Kommis-
berg in Bonn-Kessenich – ein Landhaus            sion jetzt ihren Bericht vor1.
im neoromanischen Stil, das sich der
Bonner Professor Georg August Goldfuß            Forschungsgegenstand der Kommission
1831 hatte errichten lassen – war von            war nicht primär die Justiz im „Dritten
1950 bis 1973 der Hauptsitz des Bundes-          Reich“, sondern die Frage, wie man im
ministeriums der Justiz (BMJ). Dies ist in       Bundesministerium der Justiz nach 1949
etwa auch der Zeitraum, auf den sich die         mit der NS-Vergangenheit im eigenen
Tätigkeit der „Unabhängigen Wissen-              Haus umging: Welche personellen und
schaftlichen Kommission beim Bundes-             institutionellen Kontinuitäten gab es?
ministerium der Justiz zur Aufarbeitung          Wie tief war der Bruch 1945/49 wirk-
der NS-Vergangenheit“ bezog, die im              lich? Und wie sah es mit den inhalt-
Januar 2012 von der damaligen Bundes-            lichen Aspekten der Politik aus? Wurden
justizministerin Sabine Leutheusser-             auch diese, wenn man unterstellt, dass
Schnarrenberger eingesetzt wurde. Mit            viele der handelnden Personen schon
11

vor 1945 aktiv gewesen waren, vom           Vorbereitung: zum Bundesnachrichten-
Gedankengut des Nationalsozialismus         dienst, zum Bundesministerium der
beeinflusst? Und wenn ja, auf welche        Finanzen, zum Bundesministerium für
Weise? Um diese Fragen möglichst            Wirtschaft und Technologie, zum
umfassend sowohl aus historischer als       Bundesministerium für Arbeit und
auch aus juristischer Sicht beantworten     Soziales sowie zum Bundesministerium
zu können, war die Kommission inter-        des Innern.5
disziplinär besetzt – mit einer größten-
teils juristischen Arbeitsgruppe an der     Das Bundesministerium der Justiz und
Philipps-Universität Marburg und einer      für Verbraucherschutz (BMJV), wie es seit
wesentlich aus Historikern bestehenden      2013 heißt, fügt sich in diese Reihe ein.
Gruppe an der Universität Potsdam.          Es ist also Teil eines inzwischen sehr
Für ihre Forschungen erhielt die Kom-       weitreichenden Bemühens, die mög-
mission unbeschränkten Zugang zu            lichen NS-Belastungen zentraler Insti-
den Akten des Ministeriums. Nicht           tutionen in der Nachkriegszeit der
zuletzt galt dies auch für die besonders    Bundesrepublik zu erforschen. In die
sensiblen Personalakten, soweit diese       Koalitionsvereinbarung zwischen CDU/
den Untersuchungszeitraum betrafen.         CSU und SPD wurde 2013 eigens ein
                                            Satz eingefügt, in dem mit Blick auf die
Zum Auswärtigen Amt liegt seit 2010         politischen Absichten der zu bildenden
eine entsprechende Untersuchung vor.2       Bundesregierung erklärt wird:
Gleiches gilt für das Bundeskriminal-
amt, über das 2011 eine Studie erschien.3
Auch das Bundesamt für Verfassungs-         „Die Koalition wird die Aufarbeitung der
schutz beauftragte am 1. November            NS-Vergangenheit von Ministerien und
2011 auf Initiative des damaligen BfV-       Bundesbehörden vorantreiben.“6
Präsidenten Heinz Fromm eine
Forschergruppe, die „Organisations-
geschichte des BfV 1950 bis 1975 unter      Zwar förderte das BMJ bereits in den
besonderer Berücksichtigung der             1980er Jahren unter Minister Hans A.
NS-Bezüge früherer Mitarbeiter in der       Engelhard einzelne Studien, die sich mit
Gründungsphase“ zu untersuchen;             möglichen personellen und sachlichen
deren Ergebnisse wurden 2015 präsen-        Kontinuitäten zwischen der NS-Zeit
tiert4. Weitere Studien zu Ministerien      und der Bundesrepublik befassten.7
und anderen Institutionen sind in           Es ­blieben jedoch große Forschungs-
12

lücken, die erst jetzt mit dem Rosen-    erforscht, wie groß der Personenkreis
burg-Projekt geschlossen werden          war, der sich in der NS-Zeit bereits aktiv
sollten. Dabei kam die Initiative aus    gezeigt hatte und nach 1949 in den
dem Ministerium selbst. Ähnlich wie      Dienst des BMJ übernommen wurde,
im Auswärtigen Amt, in dem Bundes-       und welche Kriterien und Maßstäbe bei
außenminister Joschka Fischer            der Einstellung sowie bei Beförderungen
2005 eine „Unabhängige Historiker-       galten. Ein Ausgangspunkt der Unter-
kommission zur Aufarbeitung der          suchung bildete dabei der im Nürnber-
Geschichte des Auswärtigen Amtes in      ger Juristenprozess 1947 entwickelte
der Zeit des Nationalsozialismus und     strafrechtliche Maßstab für das Ver-
in der Bundesrepublik“ berufen hatte,    halten von Ministerialbeamten, Rich-
war inzwischen im BMJ die Über-          tern und Staatsanwälten. Dabei ging es
zeugung gewachsen, dass der Justiz-      nicht nur um die Übernahme von
bereich in der frühen Bundesrepublik     Juristen in den Dienst des BMJ, sondern
ebenfalls eine nähere Untersuchung       auch um die inhaltliche Auseinander-
erfordere. Die Hausleitung unter         setzung mit dem Unrecht der NS-Justiz,
Bundesjustizministerin Leutheusser-      die Bereinigung der Gesetze von
Schnarrenberger und nach 2013 unter      nationalsozialistischer Ideologie und die
Bundesjustizminister Heiko Maas          Strafverfolgung von NS-Tätern durch
unterstützten das Projekt nachhaltig     die Justiz der Bundesrepublik.8
und trugen so dazu bei, dem Vorhaben
zu größtmöglicher öffentlicher Reso-     Untersucht wurde ebenfalls die Rolle des
nanz zu verhelfen.                       BMJ bei der Amnestierung von NS-Tätern
                                          und ihrer vorzeitigen Haftentlassung,
                                          durch die bis 1958 fast alle Verurteilten
1.	Untersuchungsgegenstände und          freikamen, sowie bei der Erarbeitung
    Arbeitsweise der Kommission          des Einführungsgesetzes zum Ordnungs­
                                         widrigkeitengesetz vom 24. Mai 1968,
Untersuchungsgegenstand der Kommis-      durch das die Beihilfestrafbarkeit in
sion war in erster Linie der Umgang      bestimmten Fallkonstella­tionen herab-
des Bundesministeriums der Justiz        gesetzt wurde, was im Zusammenspiel
und seines Zuständigkeitsbereichs mit    mit der sogenannten Gehilfenrecht-
den persönlichen und politischen         sprechung zur rückwirkenden Verjährung
Belastungen, die sich aus dem „Dritten   zahlloser nationalsozialistischer
Reich“ ergaben. Hierbei wurde zunächst   ­Gewaltverbrechen mit Ablauf des
13

8. Mai 1960 führte. ­Ferner wurde der         war, ehe sie in den Verantwortungs-
Frage nachgegangen, inwieweit das BMJ         bereich des Auswärtigen Amtes über-
bei der verschleppten Rehabilitierung         ging. Denn die ZRS diente nicht nur der
der Opfer der NS-Justiz mitwirkte –           Hilfe für Kriegsgefangene und dem
etwa bei strafgerichtlichen Entschei­         rechtlichen Beistand von Deutschen, die
dungen, bei Erbgesundheitsurteilen oder       sich vor Gerichten im Ausland ver-
in der Militärjustiz −, so dass die Urteile   antworten mussten, sondern betätigte
des „Volksgerichtshofs“ und der Stand-        sich bis zu ihrer Auflösung 1968 auch als
gerichte erst am 28. Mai 1998 bzw.            Instrument zur Warnung deutscher
17. Mai 2002 durch Bundesgesetz pau-          Kriegsverbrecher und erschwerte damit
schal aufgehoben wurden, Kriegsverrats-       die 1958 eingerichtete Arbeit der
fälle sogar erst im September 2009.           Ludwigsburger Zentralstelle zur Auf-
                                              klärung von NS-Verbrechen.9

„Die Unabhängige Kommission stellte          Es war also ein sehr umfangreicher
 ihre Ergebnisse […] in Symposien und         Themenkatalog, der die Arbeit der
 Tagungen vor, um einen kritischen            Kommission bestimmte. Dabei betrieb
 Diskurs zu ermöglichen.“                     sie ihre Forschung nicht in der stillen
                                              Stube des Gelehrten, sondern beschritt
                                              von Anfang an den Weg der public
Wichtige Untersuchungsfelder waren            history. Die Arbeiten und die daraus
darüber hinaus die Haltung des BMJ            resultierenden Erkenntnisse wurden
zum Alliierten Kontrollrat, etwa zum          in Symposien und Tagungen zur Dis-
Kontrollratsgesetz Nr. 1 vom 20. Septem-      kussion gestellt, um die einzelnen
ber 1945 über die Aufhebung von ins-          Schritte transparent zu machen und
gesamt 24 Gesetzen, Verordnungen und          bereits zu einem möglichst frühen
Erlassen aus der Zeit des „Dritten Rei-       Zeitpunkt zu einem kritischen Diskurs
ches“, sowie zu den Nürnberger Prozes-        beizutragen – weit über den begrenzten
sen der Alliierten nach 1945 und ihren        Kreis der Wissenschaft hinaus. Nicht
Urteilen, die in der Bundesrepublik           zufällig stand daher am Beginn der
bekanntlich weithin umstritten waren.         Arbeit, am 26. April 2012, ein Sympo-
Untersucht wurde schließlich auch die         sium in jenem Saal des Berliner
Haltung des Ministeriums zur Zentralen        Kammergerichts, in dem 1944 Roland
Rechtsschutzstelle (ZRS), die bis 1953        Freislers „Volksgerichtshof“ tagte und
im Geschäftsbereich des BMJ angesiedelt       in dem sich 1945 das Internationale
14

Militärtribunal konstituierte, das dann     Bach als Richter am Obersten Gericht
in Nürnberg den Prozess gegen die           Israels und stellvertretender Ankläger
Hauptkriegsverbrecher des „Dritten          im Prozess gegen Adolf Eichmann 1961
Reiches“ durchführte. Dort wurde eine       in Jerusalem, Düx als Untersuchungs-
erste Bestandsaufnahme vorgenommen,         richter beim Landgericht Frankfurt am
deren Ergebnisse in einem Sammelband        Main, wo er von 1960 bis 1963 mit den
nachzulesen sind.10 Im Februar 2013         Auschwitz- und Euthanasieverfahren
folgte ein Symposium über die Verant­       befasst war. Weitere Veranstaltungen
wortung von Juristen im Schwur-             fanden am Institut für Zeitgeschichte in
gerichtssaal des Landgerichts Nürnberg-     München, im Haus der Geschichte in
Fürth – also im historischen Saal 600, wo   Bonn, am Bundesgerichtshof in Karls-
1945/46 der Prozess gegen die Haupt-        ruhe, im Haus der Wannsee-Konferenz
kriegsverbrecher des Nazi-Regimes           in Berlin und in den USA statt: am
stattfand und danach auch der soge­         Deutschen Historischen Institut in
nannte Juristenprozess, in dem sich von     Washington und am Leo Baeck Institute
Februar bis Dezember 1947 vornehmlich       in New York, wo besonders das Gespräch
Beamte des Reichsjustizministeriums         mit den jüdischen Verbänden gesucht
und Justizjuristen vor einem amerikani-     wurde.
schen Militärgericht verantworten
mussten. In diesem Prozess wurde zum
ersten Mal die Mitwirkung der Juristen      2.	
                                               Die Rolle der Justiz in der NS-Zeit
in Gesetzgebung, Verwaltung und                und in der Bundesrepublik
Rechtsprechung am nationalsozialis­
tischen Justizterror zum Gegenstand         Die Rolle der Justiz in der NS-Zeit wurde
eines Strafverfahrens gemacht. „Der         bereits vielfach erforscht. Sowohl über
Dolch des Mörders war unter der Robe        die Ära von Reichsjustizminister Franz
der Juristen verborgen“ – dieser Aus-       Gürtner als auch über die Zeit seines
spruch aus dem Nürnberger Juristen-         Nachfolgers Otto Georg Thierack liegen
urteil verdeutlicht die Verantwortung       umfangreiche Untersuchungen vor.11
der Juristen an dem erschreckenden          Zahlreiche wissenschaftliche Studien
Ergebnis der Nazi-Diktatur: vieltausend-    beschäftigen sich zudem mit einzelnen
facher Mord. Referenten bei dem Sym-        Regionen oder Gerichten und deren
posium in Nürnberg waren unter              Rechtsprechung während der NS-Zeit.
anderem Gabriel Bach und Heinz Düx,         Das BMJ beteiligte sich an dieser Auf-
die über ihre Erfahrungen berichteten:      arbeitung mit der Ausstellung „Im
15

Namen des Deutschen Volkes – Justiz          Vergangenheit unserer Justiz hingewiesen
und Nationalsozialismus“, die sich in        und aufgezeigt, wie tief Juristen in die
drei Abschnitten mit der Justiz im           Verbrechen und den Massenmord des
Nationalsozialismus, ihrer Vorgeschichte     NS-Regimes verstrickt gewesen waren
in der Weimarer Republik und der             und welche personellen und sachlichen
Frage, wie die bundesdeutsche Justiz         Kontinuitäten über die Zäsur von
mit dieser Vergangenheit umging,             1945 hinweg bestanden.13 Inzwischen
befasste. Rund 2 000 Dokumente und           sind die anfänglich umstrittenen
Bilder sowie Begleittexte zu den einzel-     ­Aussagen Müllers weithin unstrittig
nen Themenkreisen machten wichtige            und durch zahlreiche Studien belegt.
Aspekte der historischen und ideo-            Hervorzuheben ist besonders der 1996
logischen Grundlagen der Justiz, der          erstmals erschienene, vieldiskutierte
Einflussnahme der Partei auf die Justiz       Band Vergangenheitspolitik. Die
und der Zusammenarbeit zwischen               Anfänge der Bundesrepublik und die
Justiz, NSDAP und SS deutlich. Die            NS-Vergangenheit von Norbert Frei,
Ausstellung wurde 1989 in der Staats-         der sich, ausgehend von grundlegenden
bibliothek Berlin an der Potsdamer            Weichenstellungen in Parlament
Straße eröffnet, ging dann für zwei           und Regierung, mit der mangelnden
Jahrzehnte auf Wanderschaft durch alle        „­Vergangenheitsbewältigung“ in der
Bundesländer und war in 43 Städten zu         Bundesrepublik in den frühen 1950er
sehen, meist in Gerichten und Justiz-         Jahren beschäftigt und dabei vor allem
gebäuden, bevor sie im Juni 2008 einen        auch dem Justizbereich umfangreiche
dauerhaften Platz im Oberverwaltungs-         Passagen widmet.14 Marc von Miquel
gericht Berlin-Brandenburg in der            setzte diese Überlegungen 2004 für
Berliner Hardenbergstraße 31 am              die 1960er Jahre fort und kam zu ähn-
Bahnhof Zoo fand.12                          lichen Ergebnissen.15

Die Ausstellung zeigt, wie verhängnisvoll
die Rolle der Justiz nicht nur im „Dritten   „Die unbewältigte Vergangenheit in
Reich“ gewesen war, sondern welche            der bundesdeutschen Justiz wurde
Verbindungen es auch zur bundes-              durch das Aufzeigen der personellen und
deutschen Justiz der Nachkriegszeit gab.      sachlichen Kontinuitäten deutlich.“
Ingo Müller hatte darauf bereits 1987
in seiner rechtshistorischen Dissertation
Furchtbare Juristen. Die unbewältigte
16

Zu erwähnen ist in diesem Zusammen-        mehr oder weniger nahtlos hatten
 hang aber auch der Publizist Jörg         fortsetzen können.17
­Friedrich, der in seinen Büchern Frei-
spruch für die Nazi-Justiz und Die kalte   Tatsächlich hat sich die deutsche Justiz
Amnestie – NS-Täter in der Bundes-         in der Nachkriegszeit – mit Ausnahme
republik schon zwanzig Jahre zuvor trotz   des Nürnberger Juristenprozesses, der
 eines noch sehr begrenzten Material­      unter alliierter Federführung stattfand –
 zugangs auf skandalöses Verhalten von     der eigenen Strafverfolgung nahezu
 Richtern und Staatsanwälten, frag­        völlig entzogen. Dabei hatten Tausende
 würdige Urteile und eine kalkulierte      von Richtern und Staatsanwälten in
 Schlussstrich-Mentalität der Politik      ordentlichen Gerichten, Sonder-
 hingewiesen hatte. Bei aller material-    gerichten, Standgerichten oder am
 bedingten Vorläufigkeit seiner Erkennt-   berüchtigten „Volksgerichtshof“ bei der
 nisse ließen die publizistisch            Durchsetzung der nationalsozialis­
 zugespitzten Ausführungen Friedrichs      tischen Ideologie geholfen und sich,
 immerhin erahnen, welche Problematik      direkt oder indirekt, an den Verbrechen
 hier noch immer der näheren Unter-        des NS-Regimes beteiligt. Das methodi-
 suchung harrte.16 Der Berliner Rechts-    sche Handwerkszeug dafür war ihnen
soziologe Hubert Rottleuthner schließ-     von zahlreichen Hochschullehrern und
lich, der nach der Jahrtausendwende        der am 26. Juni 1933 in München
 anhand der Daten von über 34 000          gegründeten „Akademie für Deutsches
 Personen, die zwischen 1933 und 1964      Recht“ unter ihren Präsidenten Hans
 im höheren Justizdienst tätig gewesen     Frank (bis 1942) und Otto Georg Thie-
 waren, die „Karrieren und Kontinui­       rack (bis 1944) geliefert worden, die als
 täten deutscher Justizjuristen vor und    wissenschaftliche Zentralstelle für
 nach 1945“ analysierte, vermochte         die Umgestaltung des deutschen Rechts
 dann auch flächendeckend zu beweisen,     im Sinne der nationalsozialistischen
 was inzwischen kaum noch ein              Weltanschauung und als Instrument
 Geheimnis war: dass Brüche in den         der rechtswissenschaftlichen Gleich-
 Karrieren deutscher Juristen nach dem     schaltung fungierte. Gesetze und Ver-
 Ende des Nationalsozialismus eine         ordnungen hatte das Reichsjustiz-
 Ausnahme darstellten und dass die         ministerium vorbereitet, das darüber
 meisten Juristen, auch wenn sie poli-     hinaus akribisch die Einhaltung der
 tisch belastet waren, ihre Laufbahn       neuen Ideologie durch die Justiz über-
 nach Gründung der Bundesrepublik          wachte. Fast eine ganze Generation von
17

Juristen hatte sich nach Beendigung der    staatlichen und gesellschaftlichen
Ausbildung und dem Eintritt ins Berufs-    Positionen Einfluss aus und schützten
leben in den 1930er Jahren in diesen       sich immer wieder gegenseitig vor dem
Rahmen eingefügt und sich teils aus        Zugriff der rechtsstaatlichen Justiz.
Überzeugung, teils aus opportunisti-
schem Karrierestreben der NSDAP und
dem „Führer“ verschrieben.                 „Zahllose Richter konnten ihre
                                            ­Karriere in der Bundesrepublik
Dennoch gab es kaum Richter und              nahtlos fortsetzen.“
Staatsanwälte, die in der Bundesrepublik
nach 1949 wegen Unrechtsurteilen im
„Dritten Reich“ zur Rechenschaft           Für die Schwierigkeiten, die die west-
gezogen wurden. Während man in der         deutsche Rechtsprechung im Umgang
SBZ/DDR immerhin versuchte, belastete      mit NS-Justiztätern hatte, bieten der
Staatsanwälte auszutauschen und            SS-Richter Dr. Otto Thorbeck, der von
ehemalige Richter durch kurzfristig        1941 bis 1945 die Chefrichterstelle beim
ausgebildete sogenannte „Volksrichter“     SS- und Polizeigericht in München
zu ersetzen – allerdings um den hohen      innegehabt hatte und nach dem Krieg
Preis der Verlustes der politischen        als Rechtsanwalt in Nürnberg arbeitete,
Unabhängigkeit und der juristischen        und der SS-Standartenführer Walter
Fachkunde –, kehrten in der Bundes-        Huppenkothen, zuletzt Abteilungsleiter
republik zahllose Juristen, die das        im Reichssicherheitshauptamt, anschau-
NS-Regime mitgetragen hatten, weit-        liche Beispiele. Beide wurden 1955 vom
gehend unbehelligt an ihre Schreib-        Landgericht Augsburg wegen Beihilfe
tische und auf ihre Richterstühle zurück   zum Mord zu mehrjährigen Zuchthaus-
und reihten sich stillschweigend in die    strafen verurteilt. Aber der Bundes-
neue rechtsstaatliche Ordnung ein,         gerichtshof sprach in einem Revisions-
getragen oftmals von dem Willen, einen     verfahren am 19. Juni 1956 Thorbeck
Schleier des Schweigens über das Ver-      frei. Für Huppenkothen blieb es bei
gangene zu legen und das unbegreifliche    einer Zuchthausstrafe von sechs Jahren,
Ausmaß der Verbrechen vergessen zu         von denen er jedoch nur drei Jahre
machen. Auch wenn dadurch die Demo-        verbüßen musste. Anlass des Augs-
kratie der Bundesrepublik nicht ernst-     burger Schwurgerichtsurteils, über das
haft gefährdet war, übten NS-belastete     der Bundesgerichtshof zu befinden
Juristen so weiterhin in wichtigen         gehabt hatte, war das SS-Standgerichts-
18

verfahren, das am 8. April 1945 im KZ      Das Schwurgericht in Augsburg hatte
Flossenbürg gegen Generaladmiral           demzufolge argumentiert, das Stand-
Wilhelm Canaris, Generalmajor Hans         gerichtsverfahren sei nicht angeordnet
Oster, Pastor Dietrich Bonhoeffer,         worden, um die Wahrheit zu erforschen
Reichsgerichtsrat Hans von Dohnanyi,       und Recht und Gerechtigkeit walten zu
den Heereschefrichter Dr. Karl Sack und    lassen, sondern allein zu dem Zweck,
den Verbindungsoffizier im Wehrkreis       „unbequem gewordene Häftlinge unter
IV, Hauptmann Ludwig Gehre, geführt        dem Schein eines gerichtlichen Ver-
worden war. Thorbeck hatte den Pro-        fahrens beseitigen zu können“. Folge-
zess als Richter geleitet, Huppenkothen    richtig hatte das Gericht auch den
die Anklage vertreten. Der Prozess         verantwortlichen Richter Dr. Thorbeck
endete mit Todesurteilen für alle          wegen Beihilfe zum Mord zu vier
Angeklagten, denen ihre Beteiligung an     ­Jahren Zuchthaus verurteilt. Der BGH
der Verschwörung des 20. Juli 1944          erklärte demgegenüber in seinem
vorgeworfen wurde. Aber es war ein          Revisionsurteil 1956, Ausgangspunkt bei
Scheingericht ohne jeglichen recht-         der Feststellung der strafrechtlichen
lichen Mindeststandard gewesen, ohne        Schuld müsse „das Recht des Staates
Protokollführer und ohne Verteidiger,       auf Selbstbehauptung“ sein. Im „Kampf
in dem die Urteile von vornherein           um Sein oder Nichtsein“ seien „bei
festgestanden hatten. Zudem hätte der       allen Völkern von jeher strenge Gesetze
Prozess so gar nicht stattfinden dürfen,    zum Staatsschutze erlassen worden“.
denn die Angeklagten waren nicht            Auch dem nationalsozialistischen Staat
Mitglieder der SS und hätten sich daher     könne man „nicht ohne weiteres das
nach der Kriegsstrafverfahrensordnung       Recht absprechen, dass er solche Gesetze
(KStVO) nicht vor einem SS-Stand-           erlassen“ habe, auch wenn diese „in
gericht, sondern vor einem ordentlichen     immer zunehmendem Maße zugleich
Feldkriegsgericht verantworten müssen.      der Aufrechterhaltung der Gewalt­
                                            herrschaft der nationalsozialistischen
                                            Machthaber“ gedient hätten. Nicht
„SS-Richter Thorbeck wurde […]             nur die Widerstandskämpfer hätten
 vom BGH seriöses juristisches Handeln      sich dabei in einer „schicksalhaften
 […] attestiert, während die Akteure        Verflechtung“ befunden. Auch einem
 des Widerstandes nachträglich […]          Richter, „der damals einen Widerstands-
 zu ­Verbrechern erklärt wurden.“           kämpfer […] abzuurteilen hatte und ihn
                                            in einem einwandfreien Verfahren für
19

überführt erachtete“, könne „heute in     Dr. Sack und Gehre vor ihrer Vollstre­
strafrechtlicher Hinsicht kein Vorwurf    ckung die Bestätigung der Todesurteile
gemacht werden, wenn er angesichts        durch den Gerichtsherrn einzuholen,
seiner Unterworfenheit unter die          wie es die Kriegsstrafverfahrens­ordnung
damaligen Gesetze“ geglaubt habe,         verlangte. Die sich allein daraus
„ihn des Hoch- oder Landesverrats bzw.    ergebende Widerrechtlichkeit der
des Kriegsverrats (§ 57 MStGB) schuldig   Tötungen finde ihre Bestätigung in der
erkennen und deswegen zum Tode            Art und Weise der Vollstreckung, näm-
verurteilen zu müssen“.18 SS-Richter      lich durch „Erhängung in völlig ent-
Thorbeck wurde damit vom BGH              kleidetem Zustand“, was die Menschen-
seriöses juristisches Handeln im Rah-     würde missachte, wobei aber gleich der
men einer als gerecht erachteten Justiz   Hinweis folgt, dass dies „den Gepflogen-
attestiert, während die Akteure des       heiten in den Konzentrationslagern“
Widerstandes nachträglich ein weiteres    entsprochen habe.19
Mal zu Verbrechern erklärt wurden.
                                          Die Urteile des BGH und deren
Die Verurteilung des SS-Standarten-       Begründungen sprechen für sich. Dabei
führers Huppenkothen, der in dem          war Huppenkothen der einzige Staats-
Verfahren gegen die Verschwörer des       anwalt überhaupt, der von der west-
20. Juli als Ankläger fungiert hatte,     deutschen Justiz für seine Taten im
wurde hingegen auch vom BGH               „Dritten Reich“ zu einer Haftstrafe
zumindest teilweise aufrechterhalten.     verurteilt wurde und diese auch tatsäch-
Im Ergebnis war er allerdings nicht       lich antreten musste. Das Versagen der
wegen seiner Teilnahme am Verfahren       Justiz in der Bundesrepublik im
verurteilt worden, oder weil er als       Umgang mit dem NS-Erbe ist somit
Mitarbeiter des SD und der Gestapo und    offenkundig. Der deutsch-jüdische
Angehöriger der Einsatzgruppe I in        Publizist Ralph Giordano sprach deshalb
Polen von Herbst 1939 bis Frühjahr 1940   schon 1987 von einer „zweiten Schuld“
an der Ermordung von mindestens           der Deutschen.20 Diese Schuld wog umso
60 000 Menschen beteiligt gewesen war,    schwerer, als sie vor allem auch die
sondern lediglich wegen Beihilfe zum      Berufsgruppe der Juristen selbst betraf,
Mord durch seine Mitwirkung an der        die im Hinblick auf die Wahrung des
Vollstreckung. Huppenkothen habe es       Rechts einer besonderen Verantwortung
nämlich versäumt, im Prozess gegen        unterliegt. Auch wer behauptet, dass die
Canaris, Oster, Bonhoeffer, Dohnanyi,     bewusste Missachtung des Gerechtig-
20

keitsanspruchs unter dem NS-Regime         Recht‘“, sondern dann entbehre es
in der totalitären Natur des National-     „überhaupt der Rechtsnatur“.22
sozialismus begründet gelegen habe,
wird nicht umhinkönnen, die justiziellen   Diese Überlegung, wonach legalistisches
Versäumnisse in der Zeit nach 1949         Unrecht nicht nur keine Anwendung
einzuräumen, als die Aufarbeitung der      finden darf, sondern seine Setzung und
Vergangenheit ohne persönliches Risiko     Anwendung – etwa als Verbrechen gegen
oder jedenfalls ohne Gefahr für das        die Menschlichkeit – sogar strafbewehrt
eigene Leben möglich gewesen wäre.         sein können, trat nach 1945 insbesondere
                                           im Nürnberger Juristenprozess hervor.
Dabei lagen rechtliche Maßstäbe für        In der Bundesrepublik nach 1949 wurde
die Beurteilung von Justizverbrechen       dieser Gedanke jedoch bald wieder
spätestens seit 1946 vor, als der ehe-     vergessen bzw. verdrängt. Man zog sich
malige Reichsjustizminister und Rechts-    vielmehr auf eine Gesetzesauslegung
philosoph Gustav Radbruch, der nach        zurück, die es ermöglichte, dass Straf-
der Machtübernahme der NSDAP am            täter, die unter dem Deckmantel des
30. Januar 1933 als erster deutscher       Gesetzes schwerste Verbrechen
Professor aus dem Staatsdienst entlassen   begangen hatten, straffrei ausgingen,
worden war, seine inzwischen berühmte      weil ihr Unrecht legalistisch gedeckt
„Formel“ entwickelt hatte, wonach im       gewesen war. Im Nürnberger Juristen-
Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und    prozess, in dem nicht weniger als neun
der Rechtssicherheit eine Situation        der 16 Angeklagten im Reichsjustiz-
eintreten könne, in der „der Widerspruch   ministerium eine leitende Funktion
des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit   innegehabt hatten, attestierte das
ein so unerträgliches Maß erreicht,        Gericht den Angeklagten deshalb in
dass das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘    seinem Urteil, sie hätten sich bewusst
der Gerechtigkeit zu weichen hat“.21       „an einem über das ganze Land ver-
In Situationen, in denen „Gerechtigkeit    breiteten und von der Regierung organi-
nicht einmal erstrebt“ werde, wie es       sierten System der Grausamkeit und
offenbar im Nationalsozialismus der        Ungerechtigkeit“ beteiligt und „im
Fall gewesen war, wenn also „die Gleich-   Namen des Rechts unter der Autorität
heit, die den Kern der Gerechtigkeit       des Justizministeriums mit Hilfe der
ausmacht, bei der Setzung positiven        Gerichte“ nicht nur Kriegsgesetze,
Rechts bewusst verleugnet“ werde, sei      sondern auch die Gesetze der Mensch-
„das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges    lichkeit verletzt.23
21

3.	Das Bundesministerium der              ° Josef Schafheutle, vor 1945 im Reichs-
    ­Justiz und seine NS-Belastung           ministerium der Justiz zuständig für
                                             politisches Strafrecht, und nach
Im Bundesministerium der Justiz              1949 Ministerialdirektor und Leiter
­wiesen in den 1950er und 1960er Jahren      der Leiter der Abteilung II (­Strafrecht)
 die meisten Abteilungsleiter und            im BMJ;
 ­Unterabteilungsleiter sowie zahlreiche
  Referatsleiter eine einschlägige         ° Walter Roemer, vor 1945 Erster
  NS-Vergangenheit auf. Unter ihnen          Staatsanwalt am Landgericht
  waren einige spektakuläre Fälle, wie       ­München I, nach 1949 Ministerial-
  etwa:                                       direktor und Leiter der für Grund-
                                              und Menschenrechte zuständigen
° Franz Maßfeller, vor 1945 im                Abteilung Öffentliches Recht im BMJ;
  ­Reichsjustizministerium für
   ­Familien- und Rasserecht               ° Hans Gawlik, vor 1945 Staatsanwalt
    zuständig, Teilnehmer an den             am Sondergericht Breslau, Beteiligter
    ­Folgebesprechungen zur Wannsee-         an zahlreichen Todesurteilen, nach
     Konferenz und Kommentator               1945 zunächst Verteidiger des SD
     des Blutschutzgesetzes und nach         und einiger Einsatzgruppenführer
     dem Zweiten Weltkrieg bis               in den Nürnberger Prozessen und
     1960 Ministerialrat im BMJ und          nach 1949 Leiter der Zentralen
     Referatsleiter Familienrecht;           Rechtsschutzstelle im BMJ;

° Eduard Dreher, vor 1945 Erster Staats­   ° Max Merten, von 1942 bis 1944 Kriegs-
  anwalt am Sondergericht Innsbruck,         verwaltungsrat beim Befehlshaber
   Mitwirkender an zahlreichen               der Wehrmacht in Thessaloniki, wo
  ­Todesurteilen wegen Nichtigkeiten         er als Leiter der Abteilung „Verwal­
   und dann von 1951 bis 1969 im BMJ,        tung und Wirtschaft“ einer der
   zuletzt als Ministerialdirigent;          Organisatoren der Ausplünderung
                                             und Deportation von mehr als
° Ernst Kanter, der vor 1945 als             50 000 Juden war – also einer der
  „Generalrichter“ im besetzten Däne-        größten deutschen Kriegsverbrecher
  mark an 103 Todesurteilen mitwirkte        und 1952 einige Monate lang Leiter
  und dann bis 1958, wie Dreher, als         des Referats „Zwangsvollstreckung“
  Ministerialdirigent im BMJ tätig war;      im Bundesjustizministe­rium in Bonn.
22

Letztlich galt die Weiterbeschäftigung       4.	Amnestie und Verjährung
ehemaliger Nationalsozialisten jedoch
für den gesamten Öffentlichen Dienst.        Das Bemühen um Integration und
Der Parlamentarische Rat hatte sogar         Aussöhnung, wenn nicht sogar um
eigens den Artikel 131 in das Grund-         Vergebung und Vergessen, zeigte sich
gesetz eingefügt, der den künftigen          ebenfalls in den Fragen von Amnestie
Gesetzgeber verpflichtete, die Wieder-       und Verjährung. So setzten sich bereits
einstellung früherer Angehöriger des         kurz nach dem Ende der Nürnberger
Öffentlichen Dienstes zu regeln. Der         Prozesse politische, kirchliche und
Bundestag kam dieser Aufforderung            andere gesellschaftliche Kreise für eine
1950 mit einem Gesetz nach, das mit          umfassende Amnestierung verurteilter
allen Stimmen des Parlaments – bei nur       NS-Täter ein. Damit sollte das als zu hart
zwei Enthaltungen – verabschiedet            und einseitig empfundene Vorgehen der
wurde und allen öffentlich Bediensteten      Alliierten gegen breite Bevölkerungs-
aus der Zeit vor 1945 grundsätzlich die      schichten in Deutschland ausgeglichen
Eingliederung in den Öffentlichen            werden. Zu denjenigen, die für eine
Dienst der Bundesrepublik ermöglichte.       schrittweise Amnestierung votierten,
Die Nutzung der Funktionseliten, auch        zählte nicht zuletzt der erste Bundes-
wenn sie einen hohen Belastungsgrad          justizminister Thomas Dehler (FDP). Bis
aufwiesen, war also politisch gewollt,       1958 wurden daher fast alle Verurteilten,
weil von ihnen, wie man meinte, nicht        denen NS-Verbrechen zur Last gelegt
nur das Funktionieren des neuen ­Staates     wurden, begnadigt und freigelassen.
abhing, sondern weil man davon auch
eine Integrationswirkung erwartete,          Auch die Möglichkeit der Verjährung
die, anders als in der Weimarer Repub-       wurde frühzeitig diskutiert, wobei die
lik, wesentlich zur inneren Stabilität der   Verjährungsdebatte aber teilweise durch
Bundesrepublik beitragen sollte.             die sogenannte „kalte Verjährung“
                                             unterlaufen wurde, bei der die Ver-
                                             jährung eintrat, noch ehe es, wie im
„Die Nutzung der Funktionseliten war        ­Verfahren gegen das Personal des
 politisch gewollt.“                          Reichssicherheitshauptamtes 1968/69,
                                              zum Prozess kam. Von Bedeutung war
                                              hier insbesondere das schon erwähnte
                                              Einführungsgesetz zum Ordnungs­
                                              widrigkeitengesetz vom 24. Mai 1968,
23

durch das im Ergebnis zahllose Beihilfe-      Rechtsstaat auf der Grundlage des
taten rückwirkend verjährt waren.             Grundgesetzes trotz der Einbindung
Tausende von Tätern, gegen die bereits        alter Eliten in der Bundesrepublik
Strafverfahren eingeleitet waren oder         gelungen ist und dass der Übergang
gegen die Verfahren hätten eröffnet           vom nationalsozialistischen Unrechts-
werden müssen, gingen damit straffrei         regime zu einer freien und offenen
aus. Im Gegensatz dazu erfolgte die           Gesellschaft sich offenbar rasch und
Aufhebung von NS-Unrechtsurteilen             scheinbar mühelos vollzog.
nicht pauschal und einheitlich, weil
Bundesjustizminister Dehler, aber auch        Eine Erklärung dafür ist die Tatsache,
die meisten seiner Nachfolger und weite       dass Justiz, Justizverwaltung und
Teile des Justizapparates hier eine Einzel-   Ministerialbürokratie nach 1949 an
fallentscheidung für erforderlich hielten,    Traditionen anknüpfen konnten, die zwar
um, wie sie erklärten, die „Rechtssicher-     vorübergehend massiv außer Kraft
heit“ zu wahren, die allerdings bei den       gesetzt, aber keineswegs völlig verschüttet
Fragen von Amnestie und Verjährung            waren. Dabei spielte nicht zuletzt das
kein entscheidendes Argument gewesen          Bundesverfassungsgericht eine Rolle, das
war. Viele Opfer des NS-Unrechts-             sich als geeigneter Hüter der Verfassung
regimes wurden daher nur zögerlich            erwies. Eine Verbindung zur positiven
rehabilitiert und entschädigt. Für nicht      Tradition der deutschen Rechts- und
wenige kam die Rehabilitie­rung zu spät;      Justizgeschichte stellte auch der ameri-
sie waren bereits verstorben.                 kanische Hauptankläger im Nürnberger
                                              Juristenprozess, Telford Taylor, her, der in
Allerdings muss auch gefragt werden,          seiner Eröffnungserklärung am 5. März
warum die Bundesrepublik trotz aller          1947 zwar den Angeklagten vorwarf, sie
Belastungen, die es im Justizbereich wie      hätten den „deutschen Tempel des
in vielen anderen Sektoren von Politik,       Rechts“ entweiht und Deutschland der
Wirtschaft und Gesellschaft gab, einen        Diktatur ausgeliefert, „mit all ihren
bemerkenswerten Grad an innerer               Methoden des Terrors und ihrer zyni-
Stabilität und demokratischer Substanz        schen und offenen Verweigerung der
erlangte – anders als die Weimarer            Herrschaft des Rechts“, der aber anderer-
Republik, deren Justiz ebenfalls dafür        seits den historischen Leistungen
bekannt war, „auf dem rechten Auge            der deutschen Justiz Respekt zollte und
blind“ zu sein. Fest steht jedenfalls, dass   forderte, dieser „Tempel des Rechts“
der Umbau zu einem demokratischen             müsse „wieder geweiht werden“.24
24

5. Die Taten und ihre Täter                Wie ist ein Berufsstand wie derjenige
                                           des Juristen zu bewerten, der hauptsäch-
Die Forderung Taylors wurde bekannt-       lich vom Schreibtisch aus tätig wurde
lich erfüllt. Doch der gelungene Neu-      und dabei hinter der Maske vermeint-
beginn nach 1949 kann nicht darüber        lich loyaler Gesetzesanwendung agierte?
hinwegtäuschen, dass die großzügige        Und was ist dann unter „NS-Belastung“
Wiedereingliederung belasteter Juristen    zu verstehen?
in die deutsche Justiz und Justiz­
verwaltung auch zu einer Verhinderung      Die sogenannte „Täterforschung“ hat
der Aufarbeitung des justiziellen NS-      sich mit diesen Fragen bereits ausgiebig
Terrors führte. Das plastisch als          beschäftigt und drei Phasen in der
„Krähenjustiz“ umschriebene Vorgehen       Betrachtung der Täter unterschieden:
der Juristen, sich untereinander kein      In der unmittelbaren Nachkriegszeit
Auge auszuhacken, war nur durch die        und in den 1950er Jahren galten prak-
vorgeschobene Selbstrechtfertigung         tisch nur die SA sowie Gestapo und SS
möglich, dass man vor 1945 „anständig“     als Haupttätergruppen, deren Schläger
geblieben sei und seine juristischen       und Mörder als „blutrünstige Exzess-
Fähigkeiten eingesetzt habe, um            täter“ mit niederen Instinkten und
„Schlimmeres“ zu verhindern. Bei           Unterschichtenhintergrund diabolisiert
nüchterner Betrachtung ist zwar schwer     und aus der Gesellschaft ausgegrenzt
vorstellbar, wie es noch schlimmer hätte   wurden.25
kommen können – was also genau von
den „anständig Gebliebenen“ verhindert     Nach dem Prozess gegen Adolf Eichmann
wurde. Dennoch setzte sich der Mythos      1961 in Jerusalem änderte sich diese
vom Handeln nach bestem Wissen             Sichtweise. So erschienen Hitlers „Todes-
und Gewissen und der untergeordneten       fabriken“ und der Holocaust seit den
Rolle der Juristen als bloße „Gehilfen“    1960er Jahren zunehmend als gesichts-
im Räderwerk des NS-Regimes schon          loser, industrialisierter Massenmord,
bald nach 1945 durch und wirkte noch       initiiert und befördert von abstrakten
in der Rechtsprechung der 1960er Jahre     Institutionen und Strukturen, hinter
beharrlich fort.                           denen die Persönlichkeiten der Mörder
                                           kaum noch erkennbar waren.26 Erst in
Doch wer waren überhaupt die „Täter“       der dritten Phase, die in den 1990er
und welche Schuld lässt sich dem Einzel-   Jahren mit Christopher Brownings
nen bei den jeweiligen Taten zumessen?     grundlegender Studie Ganz normale
25

Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101      an den Mordaktionen im Osten beteiligt
und die „Endlösung“ in Polen sowie mit        gewesen waren.29 Die Debatte, die sich
der Debatte über Daniel Goldhagens            darüber entspann, war insofern hilf-
Buch Hitlers willige Vollstrecker begann27,   reich, als sie einer breiten Öffentlichkeit
wurde gefragt, welche Akteure sich            die Augen dafür öffnete, wie unmöglich
eigentlich hinter den Verbrechen ver-         es war, den Täterkreis auf eine schmale
bargen: „Ganz normale Männer“, wie            Schicht fanatischer Nationalsozialisten
Browning meinte, ein ganzes Volk als          zu begrenzen.
Täterkollektiv mit einem spezifisch
deutschen Antisemitismus, wie Gold­           Alles in allem lassen sich die Ergebnisse
hagen behauptete, oder, wie Karin Orth,       der Täterforschung dahingehend
Michael Wildt und Klaus-Michael               zusammenfassen, dass diejenigen, die
Mallmann erklärten, neben den „Welt-          NS-Verbrechen begingen, keineswegs nur
anschauungseliten“ aus den Reihen der         „gehorsame und willenlose Exekutoren
Nationalsozialisten auch das „Fußvolk         einer Weltanschauung“ und „gefühllose
der Endlösung“: die zahllosen Vertreter       Befehlsautomaten“ waren, sondern
ziviler Verwaltungen und einheimischen        Personen, die aus der Mitte der Gesell-
Kollaborateure, die gemeinsam die             schaft kamen: aus allen Bevölkerungs-
Mordmaschinerie bedienten.28                  schichten und oft mit überdurchschnitt-
                                              lichem Bildungshintergrund. Und sie
Einen wichtigen Beitrag zu dieser             waren keineswegs nur männlichen
Erforschung der Täterfrage leisteten          Geschlechts.30 Natürlich gab es unter
auch zwei Wanderausstellungen des             ihnen unterschiedliche Typen: Weltan-
Hamburger Instituts für Sozialforschung       schauungstäter, Exzesstäter, utilitaris-
1995 bis 1999 und 2001 bis 2004, in           tisch motivierte Täter, Schreibtischtäter,
denen die Verbrechen der Wehrmacht,           traditionelle Befehlstäter. Aber, so das
vor allem im Krieg gegen die Sowjet-          Fazit von Gerhard Paul,
union, thematisiert wurden. Nachdem
die Wehrmacht bisher, wie das Aus-
wärtige Amt, zumeist als ein Hort der         „keine Alterskohorte, kein soziales und
„unpolitischen Neutralität“ geschildert        ethnisches Herkunftsmilieu, keine
worden war, der mit den Untaten der            Konfession, keine Bildungsschicht erwies
Nationalsozialisten angeblich nichts zu        sich gegenüber der terroristischen
tun gehabt hatte, wurde hier nun auf-          Versuchung als resistent“.31
gezeigt, dass auch die einfachen Soldaten
26

Eine besondere Rolle spielten indessen      Eine weitgehende Segmentierung
die „Funktionseliten“, zu denen ebenfalls   der Verantwortlichkeiten, routinierte
die Juristen zählten und die in ihrer       Verwaltungsabläufe – selbst beim
großen Mehrheit die Verbrechen des          „Verwaltungsmassenmord“ (Hannah
NS-Regimes nicht nur deckten und            Arendt) an den Juden oder an den Sinti
billigten, sondern die an ihnen auch        und Roma – und der Rückzug auf einen
„auf die eine oder andere Weise“            vermeintlich moralfreien „Effektivi­
beteiligt gewesen waren.32 Ihr professio-   tätsstandpunkt“ (Eberhard Kolb)
nelles „Mittun“ und „häufig von Nütz-       erleichterten ihnen ihr Verhalten.
lichkeitserwägungen und Zweck-              Vielfach kamen auch Antisemitismus,
orientierungen bestimmtes Verhalten“        Autoritätsgläubigkeit und Gruppen-
sei indessen, so Gerhard Hirschfeld,        druck oder, dies vor allem, Karriere-
durchaus ambivalent gewesen: Wäh-           absichten hinzu. All dies relativiert
rend viele von ihnen im privaten            nicht die Schuld der Funktionseliten,
Umgang eine „persönliche Distanz zum        trägt aber zur Erklärung bei, warum die
NS-Regime und seinen Protagonisten,         Täter sich später von ihren Taten
insbesondere gegenüber der Person           scheinbar mühelos zu distanzieren
Hitlers“ erkennen ließen, hätten sie        vermochten.
gleichwohl „keinen oder nur einen
geringen Widerspruch“ darin gesehen,        Wenn es also um das Kriterium der
„durch ihr Engagement und die               „NS-Belastung“ geht, die nach 1949 bei
schiere Professionalität ihres Handelns     der Wiederverwendung ehemaliger
das Regime und seine verbrecherische        Funktionseliten in der Bundesrepublik
Politik zu stützen – oder sogar zu          zu bewerten ist, darf nicht nur die
befördern“.33 Sie waren, wie die Mehr-      Zugehörigkeit zu einer nazistischen
zahl der NS-Funktionäre, weder ideo-        Organisation eine Rolle spielen, die für
logisierte Exzesstäter noch skrupellose     sich genommen noch nicht allzu viel
Massenmörder, „gelegentliche Zweifel        besagt. Vielmehr muss das konkrete
an ihrem Tun und mitunter sogar der         Verhalten während des „Dritten Reiches“
partielle Dissens zur Staatsführung“        betrachtet werden, das Aufschluss
waren ihnen keineswegs fremd.34 Und         darüber geben kann, wie sich ein ganzer
dennoch taten sie, was sie taten, und       Berufsstand vor den Karren eines
hatten damit großen Anteil an den           verbrecherischen Regimes spannen
Verbrechen des Regimes, das ohne sie        ließ, und das Max Frisch schon 1948
gar nicht handlungsfähig gewesen wäre.      ratlos fragen ließ:
27

                                            6.	Probleme der Transformation
„Wenn Menschen, die eine gleiche               nach 1945
 Erziehung genossen haben wie ich,
 die gleiche Worte sprechen wie ich und     Der Übergang vom „Dritten Reich“ zur
 gleiche Bücher, gleiche Musik, gleiche     Bundesrepublik war eine Zeit des
 Gemälde lieben wie ich – wenn diese        ­Neubeginns, aber auch der Kontinuität.
 Menschen keineswegs gesichert sind          Der Bereich der Justiz bildete hierbei,
 vor der Möglichkeit, Unmenschen             wie schon gesagt, keine Ausnahme. Dies
 zu werden und Dinge zu tun, die wir den     galt für die Staatsanwaltschaften und
 Menschen unsrer Zeit, ausgenommen           Gerichte ebenso wie für die akademi-
 die pathologischen Einzelfälle, vorher      sche Ausbildung des juristischen Nach-
 nicht hätten zutrauen können, woher         wuchses an den Universitäten und nicht
 nehme ich die Zuversicht, dass ich davor    zuletzt für das Bundesministerium der
 gesichert sei?“35                           Justiz selbst. Am Beispiel des BMJ lässt
                                             sich die Doppelgesichtigkeit sogar
                                             besonders gut beobachten: Die Minister,
Die vielleicht einzig mögliche Antwort       Staatssekretäre und Ministerialbeamten
auf diese selbstzweifelnde Frage hat         wirkten am Aufbau der freiheitlich-
vermutlich die Journalistin und Autorin      demokratischen Ordnung der Bundes-
Inge Deutschkron in einer Feierstunde        republik und an der Entwicklung des
des Deutschen Bundestages gegeben,           neuen Rechtsstaates mit. Aber ihre
als sie am 30. Januar 2013 zur Erinnerung    Tätigkeit war in vielerlei Hinsicht mit
an den Holocaust erklärte, es gelte,         der Hypothek der nationalsozialis­
                                             tischen Unrechtsjustiz belastet. Die
                                             Aufbauphase nach 1949 war deshalb in
„die Wahrheit zu wissen, die ganze Wahr-    der Erinnerung der Mitarbeiter auf
 heit. Denn solange die Frage Rätsel         der Rosenburg eine zwar arbeitsreiche,
 aufgibt, wie konnte das Fürchterliche       aber auch erfolgreiche Zeit, in der sie
 geschehen, ist die Gefahr nicht gebannt,    mit großem persönlichen Einsatz und
 dass Verbrechen ähnlicher Art die           unermüdlichem Engagement an der
 Menschheit erneut heimsuchen.“36            Formulierung der Gesetze – teilweise
                                             auch an deren kommentierender Aus-
                                             legung – und damit an der inneren
                                             Ausgestaltung der neuen Demokratie
                                             mitwirkten. Von außen betrachtet,
28

besaß „die Rosenburg“ ebenfalls einen       7.	Die Personalentwicklung im BMJ
guten Ruf: Der ministerielle Apparat            von 1949 bis 1973
galt als kenntnisreich und erfahren.
Die Beamten waren Spitzenkräfte ihres       Mit 67 planmäßigen Beamtenstellen
Faches mit großem Renommee. Sie             war das Bundesministerium der Justiz
berieten die Politik und trugen mit         bei seiner Errichtung 1949 das kleinste
ihren technisch meist grundsoliden          Bundesministerium. Am Ende des
Gesetzentwürfen maßgeblich dazu bei,        Untersuchungszeitraums 1973 waren es
den politischen Willen in abstrakte         zwar schon 250 Stellen, aber damit war
Rechtssätze zu gießen und ihn damit         es immer noch ein sehr kleines Haus.37
im parlamentarischen Verfahren durch-       Die Unabhängige Kommission, die 2012
setzbar zu machen.                          mit der Untersuchung der NS-Belastung
                                            beauftragt wurde, konzentrierte sich
Aber diese vordergründige Erfolgs-          in ihren Forschungen hingegen auf das
geschichte hatte auch eine Kehrseite: Als   Leitungspersonal: Abteilungsleiter,
Bundesjustizminister Thomas Dehler und      Unterabteilungsleiter und Referatsleiter
Staatssekretär Walter Strauß das neue       (seinerzeit hießen sie noch Referenten),
Bundesjustizministerium 1949 sachlich       während bei den damals sogenannten
und personell aufbauten, taten sie dies     Hilfsreferenten (heute Referenten) ein
in Anlehnung an Strukturen des früheren     häufiger Wechsel stattfand, da es sich in
Reichsjustizministeriums. Zugleich          der Mehrzahl um Personen handelte,
übernahmen sie zahlreiche Mitarbeiter,      die nur für einen Zeitraum von zwei bis
die teilweise schon vor 1933 im Justiz-     vier Jahren aus den Ländern abgeordnet
dienst tätig gewesen waren, vielfach aber   waren; diese Gruppe wurde deshalb
erst im „Dritten Reich“ ihre Karriere       nicht in die Untersuchung einbezogen.
gemacht hatten. Das Bundesministerium
der Justiz war deshalb von vornherein in    Insgesamt wurden 258 Personalakten
personeller Hinsicht belastet. Der Grad     eingesehen, wobei sich die Auswertung
der Belastung nahm in den führenden         auf die bis 1927 geborenen Mitarbeiter –
Positionen der Abteilungen und Referate     rund 170 – konzentrierte, die bei Kriegs-
aufgrund von Beförderungen bis in           ende 1945 mindestens 18 Jahre alt waren,
die späten 1950er Jahre hinein sogar         ihre Schulzeit im nationalsozialistischen
noch zu und wurde erst seit den 1960er       Deutschland absolviert hatten, in
Jahren allmählich geringer, wie sich an     ­NS-Jugendorganisationen aktiv gewesen
der Personalentwicklung ablesen lässt.       sein konnten und in der Regel beim
29

Arbeitsdienst und bei der Wehrmacht          und Kriegsdienst einschließlich der
gewesen waren. Das Hauptinteresse galt       Rekrutierungsdaten und militärischen
aber denjenigen Personen, die bereits        Auszeichnungen und gegebenenfalls das
im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts     Datum der Rückkehr aus der Kriegs-
geboren waren. Sie hatten ihre juristische   gefangenschaft verzeichnet. Schließlich
Ausbildung vor dem Krieg abgeschlossen       machen die Personalakten ebenfalls
und waren schon im Nationalsozialis-         Angaben zur Entnazifizierung und zu
mus als Juristen tätig, bevor sie nach       den Spruchkammerverfahren sowie zu
1945 in die Landesjustizverwaltungen         der Kategorie, in welche die Betroffenen
oder die alliierten Zonenverwaltungen        eingeordnet wurden. Diese Angaben
und schließlich in das Bundesminis­          lassen Rückschlüsse sowohl auf die
terium der Justiz gelangten.                 Qualifikation der Mitarbeiter als auch
                                             auf ihre NS-Belastung im formellen
Aus den Personalakten ergeben sich           Sinne einer Mitgliedschaft und im
jeweils die Prüfungsleistungen im            Sinne von Aktivitäten innerhalb der
ersten und zweiten juristischen Staats-      NS-­Organisationen zu. Auch eine
examen sowie das Datum und die Note          frühere juristische Tätigkeit der unter-
einer möglichen Promotion. Auf-              suchten ­Personen, vor allem eine Tätig-
gelistet sind der berufliche Werdegang       keit im Reichsjustizministerium (RJM),
vor Eintritt in das Bundesjustiz-            kann für die Bewertung relevant sein.
ministerium und Beförderungen im             Für die Rekrutierungspolitik des frü-
Haus oder außerhalb des Hauses, etwa         hen Bundesjustizministeriums ist
zum Bundesrichter am Bundesgerichts-         außerdem von Belang, wie der Wieder-
hof (BGH). Von besonderem Interesse          einstieg in die Justiz zwischen 1945 und
war die Nennung von Mitgliedschaften         1949 gelang.
in der NSDAP, ihren Gliederungen
oder angeschlos­senen Verbänden wie          Wenn Minister Dehler und Staats-
SA, Nationalsozialistisches Kraftfahr-       sekretär Strauß behaupteten, die fach-
korps (NSKK), Nationalsozialistisches        liche Qualifikation sei für die Aufnahme
­Fliegerkorps (NSFK) oder, für Juristen      in den ministeriellen Dienst das aus-
 besonders relevant, im National-            schlaggebende Kriterium gewesen, so
 sozialistischen Rechtswahrerbund            wird dies durch die Akten belegt.
 (NSRB). Neben diesen Mitgliedschaften       Von den 170 Personen, die für diese
 sind aber auch Ämter, etwa dasjenige        Untersuchung näher betrachtet wurden,
 eines Blockleiters, sowie Arbeits-, Wehr-   waren 155 Volljuristen, von denen
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