Nr. 103 Juni - Juli-August 2021 - ZUR JAHRESMITTE - Kreisstadt Unna
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MAGAZIN FÜR UNNA Juni – Juli– August 2021 Nr. 103 ZUR JAHRESMITTE AUSSERDEM IN DIESER AUSGABE: VOGEL DES JAHRES: ROTKEHLCHEN • PUPPENSPIEL GESCHICHTE EINES DENKMALS • REISEBERICHT
Herbst-Blatt Nr. 103 06.2021 Editorial 2 Inhalt Liebe Leserin, lieber Leser! 3 Christian Modrok – ein Nachruf Es ist noch gar nicht so lange her, dass unser 4 Unna um 1860 Magazin die 100. Ausgabe feiern konnte. Mancher zweifelte, ob es wohl weiter geht? 6 Im Reigen des Jahres Inzwischen halten Sie die Nr. 103 in den 8 Kriegerdenkmal auf dem Alten Markt Händen. Es ging also weiter mit der bekann- 10 Puppenspiel ten Freude und Aktivität in unserer Redakti- 12 Humor in Unna und Westfalen on – trotz aller Einschränkungen durch die 14 Sprache bleibt immer lebendig teuflische Pandemie. 16 Rotkehlchen flattert zum Sieg Mit dieser Sommerausgabe stehen wir schon 17 Sprücheklopfer in dem grünen Teil des Jahres. 18 Augenblicke Ein 400 Jahre altes Lied beginnt mit den 20 Mehr als ein Geschenk Worten „Nach grüner Farb mein Herz ver- 21 Coronazeit ist Wartezeit langt.“ 22 Löwen auf der Wanderung Grün ist die beliebteste aller Farben. Sie 24 Der Rolls Royce der kleinen Leute steht für Leben und Wachstum, für das Posi- Über 40 Jahre Rollator tive. Schließlich ermöglicht die Photosyn- these den wichtigsten photochemischen Pro- zess auf der Erde. Mit Hilfe des grünen Ka- Impressum talysators Chlorophyll entstand alles Leben auf unserer Erdkugel. Herausgeberin: Kreisstadt Unna Postadresse: Fässchen, Hertinger Straße 12 59423 Unna Internet: www.unna.de/herbstblatt/ V.i.S.d.P: Dr. Bärbel Beutner Internet: Marc Christopher Krug Redaktion: Andrea Irslinger, Bärbel Beutner, Benigna Blaß, Brigitte Paschedag, Franz Wiemann, Hans Borghoff, Klaus W. Busse, Klaus Thorwarth, Reinhild Giese Seniorenarbeit Kreisstadt Unna: Linda Brümmer Tel.: 02303/103-687 Titelfoto und Gestaltung: Andrea Irslinger Druck: WIRmachenDRUCK GmbH, Backnang Die Strahlung der Sonne setzt Energie und Sauerstoff frei, Kohlendioxid wird verringert! Auflage: 2000 Alle Farben haben eine Bedeutung: Grün ist die Farbe der Hoffnung! Wir hoffen für Sie und wünschen Ihnen eine gute Jahreszeit im Grünen der Natur und ei- ne Wiederkehr zur alten Lebensfreude. Das nächste Im Namen der Redaktion mit der Nr. 104 erscheint Klaus Thorwarth im September 2021! Foto: Andrea Irslinger
3 Nachruf Nr. 103 06.2021 Herbst-Blatt Christian Modrok - ein Nachruf - Wir trauern um Christian Modrok, unse- firma, die für die Bergbauindustrie pro- ren langjährigen Mitarbeiter und vertrau- duzierte. ten Wegbegleiter in der Herbst-Blatt- Nach 1980 war er noch jahrelang für ei- Redaktion. Noch kurz vor dem Jahres- ne Duisburger Firma und später für ein wechsel konnte er seinen 88. Geburtstag Gelsenkirchener Werk im Maschinenbau begehen. Umso größer war dann auch tätig, die ebenfalls für das Bergbauwe- unsere Betroffenheit, als wir Anfang sen produzierten. Anlässlich mehrerer Februar von seinem so Auslandseinsätze für diese plötzlichen Tod erfuhren. beiden Firmen gelangte er Uns allen bleiben seine mit in verschiedene Länder viel Humor verfassten Zei- Westeuropas, beispielswei- len in Erinnerung. Ob es se nach Frankreich, Eng- sich um die so nett und ver- land und Belgien. ständlich formulierten Er- Einmal zur Ruhe gesetzt, läuterungen zu Themen der entschloss er sich schon Technik handelte oder um früh, für das Herbst-Blatt zu die liebenswürdigen Zeilen schreiben. Schon bald ge- des Esels Balduin. Gerne hörte er zum „Harten Kern“ schlüpfte er in diese zwei des Teams und reichte an- Rollen, einmal in die des fangs zahlreiche Reisebe- Großvaters, der wechselweise den Laien richte von Touren ins Ausland ein, die er oder auch schon mal den Enkelkindern zusammen mit seiner Frau gemacht hat- Probleme technischer Natur erläuterte. te. Auch schlossen sich zahlreiche Be- Und in der Rolle des Esels Balduin und richte von Fahrradausflügen und Wan- seines Treibers gelang es ihm, mit spit- derungen an, ehe ihm in der Redaktion zer Feder so manchen unzumutbar er- endgültig die Rolle des Eseltreibers zu- scheinenden Zustand, Neuerungen oder fiel. Zusätzlich noch brachte er seine fo- Veränderungen in der Stadt satirisch totechnischen Kenntnisse ein, wenn es verfasst zu Papier zu bringen. beispielsweise um eine grafische Gestal- Das ursprünglich aus Oberschlesien tung, eine Fotocollage oder um einen stammende Ehepaar Christian und Bri- Titelbildentwurf ging. gitte Modrok zog es im Jahr 1980 im Wir schätzten seine innere Ruhe und Rahmen einer Familienzusammenfüh- Gelassenheit, nie machte er viel Aufhe- rung nach Unna. Gebürtig aus Hinden- bens um seine Person. Erst wenn er die burg und Gleiwitz, wo Christian Modrok Notwendigkeit erkannte, Klartext spre- seine Ausbildung zum Ingenieur (nach chen zu müssen, ergriff er das Wort. Für polnischem Standard magister inzynier) uns ist Christian Modrok unersetzlich. erfuhr, hielt es ihn dort für 25 Jahre. Un- Auch darum werden wir ihn sehr ver- gehindert und allseitig wegen seiner be- missen. ruflichen Qualifikation geachtet, arbeite- Für die Redaktion te er für eine polnische Maschinenbau- Franz Wiemann
Herbst-Blatt Nr. 103 06.2021 Geschichte 4 Unna um 1860 - von Klaus Thorwarth - Unnas Stadtkirche ist unbestritten prägend In einer Zusammenstellung mit Fakten über für unsere Stadt und ihre Umgebung. Aber dieses „Alte Unna“ beziehe ich mich im Fol- darüber ist gerade in jüngster Zeit, so auch genden auf das Buch des Hofrates Moritz im Herbst-Blatt, genügend geschrieben wor- Friedrich Essellen. Unna gehörte damals zum den. In unmittelbarer Nachbarschaft zur Kreis Hamm. Der Titel des Buches lautet: Stadtkirche befindet sich eins der ältesten „Beschreibung und kurze Geschichte des Viertel. Kreises Hamm und der einzelnen Ortschaften Für Besucher der Stadt mag das Bronzemo- in demselben“. dell in der Straße „Krummfuß“ zur Orientie- Man erfährt darin beispielsweise, dass es in rung dienen. Es basiert auf einer historisch jenem Jahr 5.640 Einwohner gab, davon bedeutsamen Flurkarte aus dem Jahr 1828, 4.573 Evangelische, 1.000 Katholische und die jetzt fast 200 Jahre alt ist. 103 Juden. Besonderes Ansehen in der Bevölkerung hatten die zahlreichen Burgmänner und Adligen. Die Herren „von Arnsberg“ stellten zahlreiche Bürgermeister. Sie stammen vom Grafen von Arnsberg ab. Daran erinnert heute noch der „Aspers Weg“. Neben den Angehörigen zahlreicher, heute oft aus- gestorbener Berufsgruppen gab es an Tagelöhnern 147 Männer und 181 Frauen. Das Braugewerbe war we- gen der Fruchtbarkeit des Ackerbodens erstaunlich gut vertreten. Es gab vier Gasthöfe, sieben Gastwirt- schaften, vier Speisewirte und 30 Schankwirte. Die Gesamtzahl aller Gast- stätten war so auffallend, dass der Historiker Dr. Ernst Nolte versicherte, er habe keine Stadt mit einem so großen Angebot gefun- den. Rund um die Stadtkirche lag der Friedhof der Chris- ten, der Kirchhof. Er wurde Gotha 1000 Jahre genutzt, von der
5 Geschichte Nr. 103 06.2021 Herbst-Blatt Zeit Karls des Großen bis zur Zeit Friedrichs Der aufkommende Reichtum zeigte sich am des Großen. überzeugendsten in der 84 m hohen spätgoti- 1794 untersagte der preußische Staat die Be- schen Stadtkirche. Sie wirkt so einheitlich, stattung Verstorbener in bewohnten Gebieten, entstand aber in drei Bauabschnitten in fast insbesondere in Kirchengebäuden. Ein weite- 150 Jahren; ein Wunder der Architektur. rer Friedhof, der „Bauernfriedhof“ befand Noch beeindruckender als heute überragte sie sich an der Massener Straße auf dem Gelän- weit sichtbar die kleinen Häuser der Acker- de der ehemaligen Linden-Brauerei. Hier bürger. wurden Bauern aus der Umgebung beerdigt, Die Kirche war und ist von größter Bedeu- auch Katholiken und Reformierte. Daneben tung und wurde das Wahrzeichen der Stadt. entstand später der heutige Westfriedhof. Könnte sie sprechen, würde sie sagen: Essellen erwähnt einen jüdischen Friedhof im Stadtgraben am Morgentor. „Ich steh in Eurer Mitte, Erst 1854 entstand der heutige Friedhof für was hab ich nicht gesehn.. die Juden an der Massener Straße. Sah Krieg und Frieden walten, Erstaunlich ist der Viehbestand, meist inner- Geschlechter komm‘n und geh‘n halb der Mauern: 297 Pferde, sechs Esel, 582 Seit vielen hundert Jahren Stück Rindvieh, 771 Schafe, 843 Ziegen und präg ich der Stadt Gesicht, 922 Schweine wurden gezählt. und sonntags, wenn ich rufe, Nach der für die Grafschaft Mark entschei- dann kommt ihr – oder nicht. denden Schlacht von Worringen (1288) wur- Wie auch vergeh‘n die Zeiten, de Unna zur Stadt erhoben und mit vielen Freud, Leid, Geburt und Tod, Rechten beliehen, auch dem Recht, die Sied- ich steh an Eurer Seiten – lung mit hohen Mauern zu sichern. Diese be- als Weiser – hin zu Gott.“ wahrten die Stadt in zahlreichen kriegeri- schen Auseinandersetzungen vor der voll- Karte: Katasteramt Landkreis Unna, ständigen Vernichtung. Foto und Verse: Klaus Thorwarth
Herbst-Blatt Nr. 103 06.2021 Literatur 6 Im Reigen des Jahres - von Klaus Busse - In zwei weiteren Folgen werden Ihnen aus Monatssprüche dem Tagebuch der englischen Autorin Edith Holden Flora und Fauna im Wandel „Mai verregnet, Juni heiß - und das Jahr lohnt deinen Fleiß.“ der Jahreszeiten aufgezeigt. Von ihren Be- obachtungen in der Natur, niedergeschrie- „Ist der Juni feucht und warm, ben im Tagebuch von 1906, gebe ich eine wird der Bauer niemals arm.“ gekürzte Fassung wieder. Tages- und jahreszeitlicher Einklang ist die „Im Juni winkt die Liebe den ersten Gruß. Es kost‘ der Zephyr auf rosichten Spuren, Bestätigung für die Sehnsucht der Men- es erwacht die Sehnsucht in der Welt, schen nach der Geborgenheit in der Natur. und auf den vollblühenden Fluren neu üppiges Leben schwellt.“ Theodor Körner JUNI „Ich sah des Sommers letzte Rose steh‘n , Im Kalender der alten Römer war Juni der sie war, als ob sie bluten könnne, rot; vierte Monat des Jahres. Ovid sagt, dass Da sprach ich schaudernd im vorübergeh‘n: dieser Monat seinen Namen zu Ehren der So weit im Leben ist zu nah am Tod!“ Göttin Juno erhielt, während andere Auto- Friedrich Hebbel ren einen Zusammenhang mit dem Konsu- lat des Junius Brutus annehmen. Aber wahrscheinlich hatte der Name eine land- wirtschaftliche Bedeutung und bezeichnete ursprünglich den Monat, in dem die Feld- früchte reifen. Die Angelsachsen nannten ihn „den trockenen Monat“ oder „Mitsom- mernacht“ und auch im Unterschied zu Juli – den ersten milden Monat.
7 Literatur Nr. 103 06.2021 Herbst-Blatt AUGUST Wie lebendig das Herz auch schlägt, keine Unruhe mehr die Seele bewegt. Der Monat August erhielt seinen jetzigen Namen nach dem Kaiser Augustus, der zwar nicht im August zur Welt kam, in die- sem Monat aber seinen größten Triumph feierte. Da der Juli 31 Tage zählte und der August nur 30, wurde es für notwendig befunden, dem letztgenannten Monat einen Tag hin- zuzufügen, damit der August dem Julius in keiner Weise unterlegen wäre. (Enc. Brit.) Monatssprüche JULI „Fällt St. Swithin auch noch so viel Regen, Der Juli ist in unserem Kalender der sie- Bartholomäus wird alles trocken fegen.“ bente Monat des Jahres, er war ursprüng- lich der fünfte und als solcher von den Rö- „Bartholomäus Tag zu aller Zeit hält kalten Tau für uns bereit.“ mern „Quinctilis“ benannt. Der spätere Na- me „Julius“ wurde ihm zu Ehren von Julius „Ist der 24. August sonnig und klar, Caesar gegeben, der in diesem Monat ge- wird der Herbst gut in diesem Jahr.“ boren war. „Du Freudentag der Sommerzeit, Die Angelsachsen nannten den Juli „Moed- der Sinne größte Lust, monat“ oder „Mead-month“ nach den dank zieh an dein schönstes Königskleid blühenden Wiesen (englisch: meadows), und komme nun, August!“ oder auch „afterea Lida“ – „Der zweite mil- de Monat“, im Unterschied zum Juni, den sie als „ersten milden Monat“ bezeichneten. Monatssprüche „Wenn St. Swithin Regen fällt, der Regen vierzig Tage hält, herrscht St. Swithin Trockenheit, bleibt es trocken lange Zeit.“ „Ein Bienenschwarm im Mai ist wert ein Fuder Heu, ein Bienenschwarm im Jun‘ ist wert ein fettes Huhn, jedoch der im Julei ist nicht Quellen: Das Tagebuch der Edith Holden – Friedrich W. Heye Verlag ‘mal wert ein Ei.“ GmbH, München/Hamburg Theodors Körner´s, Sämtliche Werke – Leipzig Philipp „Im Juli denke an die Roggenernte.“ Reclam jun. Reigen des Jahres – Hyperion Verlag, Freiburg im Breisgau „Der September die reifere Kraft 365 Weisheiten ferner Länder – Coppenrath Verlag GmbH, des Lebens begrüßt.“ Münster
Herbst-Blatt Nr. 103 06.2021 Geschichte 8 Kriegerdenkmal auf dem Alten Markt - von Hans Borghoff - Nach dem von Preußen gewonnenen Krieg In dem Beschluss des Rates vom 13.12.1932 gegen Frankreich 1870/71 sollte auch in Un- wurde die Entscheidung zur Instandsetzung na der Gefallenen gedacht werden. Nachdem vertagt. von zwei Sachverständigen ein Gutachten Der Marine-Verein Unna schrieb am erstellt worden war, beschloss der Rat der 18.05.1933 dem Rat: „Nicht versäumen Stadt Unna, den Architekten Flügge und möchten wir, die Instandsetzung des Krieger- Nordmann (Essen) den Auftrag zu erteilen, denkmals auf dem Marktplatz nachdrücklich ein Kriegerdenkmal zu errichten. Die Kosten zu unterstützen.“ wurden auf 17.000 Mark veranschlagt, wovon In der Antwort vom 22.05.1933 beschloss 8.200 Mark bei der städtischen Sparkasse der Rat: „… das Kriegerdenkmal auf dem zinsbar angelegt waren. Das Denkmal sollte Altmarkt zu reinigen und die vier Ecklater- ursprünglich auf dem Kirchplatz stehen. nen zu beseitigen.“ Aber es gab Bedenken wegen der Figur eines W. Rogge, Bau- und Kunstschlosserei in Un- Kriegers darauf. Man entschied sich daher zu na, bot in einem Schreiben vom 22.08.1933: der Germaniafigur mit Fahne. Letztendlich „… vier Stück achteckige schmiedeeiserne wurde der alte Markt zum Standort, etwa Laternen in guter handwerksmässiger Aus- dort, wo heute der Brunnen ist. führung zum Preis von RM (Reichsmark) Die Grundsteinlegung erfolgte am 22.03.1884 45,00 je Stück“ zur Erneuerung an. Aller- mit einer Feier und der Rede des Bürger- dings ohne Verglasung und Gasapparate. meisters Eichholz. Eine Bleikapsel mit einer Georg Eckhardt, Bildhauer in Unna, legte am Urkunde wurde eingemauert. 10.02.1933 ein dreiseitiges detailliertes Ange- Bei der Einweihung am 16.11.1884 waren bot vor, welches eine Summe von 460,96 RM alle Vereine der Stadt anwesend. Gefeiert enthielt. Ein „Kostenvoranschlag-Nachtrag“ wurde aber schon ausgiebig einen Tag vorher. betrug nur noch 339,20 RM. Beigelegt ist Mit den Jahren wurde das Denkmal unan- eine detaillierte Zeichnung für die Restaurie- sehnlich und marode. rung des Denkmals. In einem Brief vom 06.11.1932 der Kyffhäu- ser-Vereine an den Magistrat der Stadt Unna hieß es, dass „das Kriegerdenkmal auf dem alten Markt (sich) nicht in dem Zustand be- findet, der eines Denkmals für die gefallenen Söhne unsrer Stadt würdig wäre“. Weiter wurde um die Instandsetzung der Laternen – da diese eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen – und um einen Anstrich gebeten. Außerdem wurde moniert, dass die Markt- stände zu nah am Denkmal aufgestellt seien. Das Stadtbauamt bestätigte am 28.11.1932: „Der augenblickliche Zustand des Krieger- denkmales bildet für den Altmarkt der Stadt wahrlich keine Zierde.“ Heinrich Holt, Malermeister in Unna, reichte ein Angebot über 75,20 Mark ein. Gerhard Wigger, Spezialgeschäft in Unna, bot „die Laternen für Gas, jedoch ohne Gasappa- rate“ das Stück für 120,00 Mark der Stadt an.
9 Geschichte Nr. 103 06.2021 Herbst-Blatt zungen in einem Zustand, welcher der Würde des Andenkens nicht entspricht.“ Da sich wohl seitens der Stadt nichts tat, un- terbreitete die Nationalsozialistische Deut- sche Arbeiterpartei am 06.02.1939 dem Rat der Stadt Unna: „… Vorschlag auf Verle- gung des Denkmals in Erwägung zu zie- hen ...“ mit der Idee, den Wochenmarkt auf den Neumarkt zu verlegen: „… auch die Be- wohner von Königsborn hätten keinen all zu weiten Weg ...“ In einem Schreiben vom 09.02.1939 wurde der Provinzialkonservator in Münster nach seiner Meinung zur Verlegung des Denkmals befragt. Dieser befürwortete in seinem Schrei- ben vom 04.03.1939 die Verlegung, da er es als künstlerisch „minderwertig“ erachtete. Teilansicht einer Ansichtskarte aus dem Jahr 1906 Am 10.03.1939 mahnte der Reichskrieger- bund die Überholung des Denkmals an und In der Ratssitzung vom 26.10.1933 wurde be- bestand auf dem Standort. schlossen, das Geld für die neuen Lampen zu Unter Punkt 10 der Tagesordnung vom Rat genehmigen. In der Sitzung vom 01.11.1933 der Stadt vom 03.04.1939 ist zu lesen: „Im wurde der Auftrag an den Schlossermeister Interesse des Verkehrs scheint es unbedingt Rogge vergeben. Für eine ordnungsgemäße wünschenswert, daß das Denkmal entfernt Unterhaltung wurden weitere Mittel aber wird.“ Weiter heißt es, dass der alte Markt nicht bereitgestellt. inzwischen „… in erster Linie als Parkplatz Bei der nächste Sitzung wurde dem Bildhau- dient.“ er Eckhardt dann doch der Auftrag erteilt, Der Bildhauer Eckhardt machte dem Bürger- einige Teile des Sockels mittels Dübel für meister am 25.04.1939 daraufhin ein Angebot 36,00 RM zu erneuern. für den Abbruch des Denkmals über 380,- RM. Vom 09.08.1934 gab es die handschriftliche Der Reichskriegerbund/Kyffhäuser wider- Meldung, dass zwei Schüler, 10 und 13 Jahre sprach in dem Schreiben vom 10.05.1939 alt, namentlich bekannt und „als Täter“ von vehement einer Verlegung und mahnte ein zwei Marktfrauen erkannt, beschuldigt wur- Gutachten eines Prof. Hosäus in Berlin an. den, das Denkmal beschädigt zu haben. Der Mit dieser schriftlichen Bitte endet die Akte Schaden war wohl so gering, dass eine For- U-K VII / 3 27 im Stadtarchiv. derung an die Eltern unterblieb. Am 23.05.1939 erschien im Hellweger An- Da wohl das Denkmal noch immer nicht ei- zeiger ein Artikel mit der Überschrift: „Das nes Denkmals würdig erschien, machte Kriegerdenkmal verschwindet. Was wird nun Arthur Susen, Glas-Reinigungsinstitut in Un- daraus?“ na, in einem Schreiben vom 06.12.1937 an Mittlerweile war das Schicksal des Denkmals den Bürgermeister Kloeber ein Angebot zur selbst der Westfälischen Landeszeitung – Reinigung des Kriegerdenkmals zum Preis Rote Erde am 24.05.1939 einen Artikel wert. von 159,12 RM. Das Angebot wurde aber „Der Wiederaufbau des Denkmals ist nicht nicht angenommen. billig, und er hat nur symbolischen Sinn.“ Der Verkehrs- und Heimatverein Unna, Vor- Letztendlich wurde vom November 1932 bis sitzender Justitzrat Eylardi, bemerkte in ei- zum Mai 1939 das Kriegerdenkmal Gegen- nem Schreiben vom 09.07.1938: „Das Krie- stand von Wünschen der Vereine und der gerdenkmal auf dem Marktplatz zu Unna Entscheidung des Stadtrates. befindet sich zufolge jahrelanger Verschmut- Zeichnung: Akte Stadtarchiv, Ansichtskarte: Privatarchiv
Herbst-Blatt Nr. 103 06.2021 Kultur 10 Puppenspiel - von Bärbel Beutner - Als der Weihnachtsmarkt 2020 in Unna we- chen. Die Puppenbühne „versetzte mich um gen Corona ausfiel, blieb noch die Hoff- tausend Jahre rückwärts... in einen mittelal- nung, dass Kaspar und der Hund Flocki terlichen Burghof“ – und die Puppen sind auftreten könnten, vielleicht in der Masse- für den Jungen lebendig. „... diese seltsa- ner Straße im abgesperrten Bezirk, aber men Bewegungen, diese feinen oder doch mit Ritter Tunichgut und dem Bock- schnarrenden Puppenstimmchen, die denn wurstlied. Die Nachricht, dass die Puppen- doch wirklich aus ihrem Munde kamen – es bühne trotz aller Bemühungen nicht „live“, war ein unheimliches Leben in diesen klei- sondern „nur“ als Stream zu den Kindern nen Figuren.“ kommen konnte, sorgte dann für eine ganze Später hat Paul Gelegenheit, die Puppen- Seite im „Stadtspiegel“ vom 2. Dezember bühne bei Tageslicht und von der Rückseite 2020. zu sehen – „ein Gerüst aus Latten und Bret- „Jonni Krauses Puppenbühne“ gehört seit tern, worüber einige buntbekleckste Lein- 46 Jahren in Unna zur Adventszeit. Der wandstücke hingen“. Trostlos sieht es aus, Kaspar besiegt den Räuber und die Hexe und die Puppen hängen an einem Eisen- und verjagt den Teufel, und der freche Flo- draht, „elendig“, als seien sie tot. cki fährt ihm mit seiner Werbung für die „Herzfaden“ heißt der Roman von Thomas Bockwurst, die für einen guten Zweck ver- Hettche, der die Geschichte der „Augs- kauft wird, in die Parade. Die Kinder be- burger Puppenkiste“ und der Familie klatschen die Puppen, feuern sie an und Oehmichen schildert. Walter Oehmichen, warnen sie, so wie schon ihre Eltern dem Schauspieler und Theaterdirektor in Augs- Kaspar und seiner Truppe zugejubelt haben. burg, entdeckte, als er im 2. Weltkrieg ein- Worin liegt das Faszinierende eines Pup- gezogen wurde, in Frankreich in einer penspiels? In „Jonni‘s Puppenbühne“ sind Schule in Calais ein Puppentheater ohne es Handpuppen, aber ob Handpuppen oder Puppen, bastelte selbst welche, klapprige, Marionetten – wie ist es möglich, dass ein unansehnliche Dinger, und spielte seinen einfacher Puppenkopf und ein Stück Stoff Kameraden Stücke vor. „Und meine Kame- oder ein paar bemalte, mit Drähten zusam- raden, alles harte Kerle, die grauenvolle mengehaltene Holzstücke Menschen jeden Dinge erlebt hatten, wurden plötzlich wie- Alters so in ihren Bann ziehen? der zu Kindern. Es kam mir so vor, als wäre Denn das Puppenspiel war zunächst nicht mir das als Schauspieler auf der Bühne nie- nur eine Unterhaltung für Kinder. Es er- mals so gut gelungen.“ freute allgemein das Publikum und schaffte Das ist der „Herzfaden“, der von der Hand es in die Weltliteratur. des Puppenspielers zum Zuschauer führt. Ein allerliebstes Beispiel für die Bedeutung Der Puppenspieler Oehmichen erklärt das des Puppenspiels ist die Novelle „Pole Pop- so: „Marionetten sind unfertige Menschen. penspäler“ von Theodor Storm (1817– Und alles, was wir (die Spieler) machen, ist 1888). In der kleinen Stadt an der Nordsee unfertig. Denn was machen wir? Wir wa- (Husum wird es wohl sein) kommt der ckeln mit einem Stück Holz! Alles andere „Mechanikus und Puppenspieler Herr Josef geschieht im Kopf des Zuschauers.“ Tendler aus der Residenzstadt München“ Doch das „Stück Holz“ überwindet die an. Paul Paulsen, Sohn eines Kunstdrechs- Grenze zwischen Leben und Tod. Die Pup- lers, darf am Abend die Aufführung besu- pe kann „sterben“ und wieder lebendig wer-
11 Kultur Nr. 103 06.2021 Herbst-Blatt den, was nur im Märchen möglich ist und einer Oper besucht regelmäßig ein Mario- in der magischen Welt des Kindes. „Ein nettentheater „auf dem Markte“ „für den Schauspieler spielt das Sterben, eine Mario- Pöbel“ und erklärt einem Gesprächspartner, nette aber stirbt tatsächlich“, erklärt Walter was er von dem „Gliedermann“ lernt. Er Oehmichen. Wenn sie nicht mehr bewegt lernt die Grazie, die sich daraus ergibt, dass wird, ist sie ein totes Holz und wird dann jede Bewegung einen Schwerpunkt hat, doch wieder lebendig. dem die Glieder folgen. Der „Maschinist“, Den „Herzfaden“ können auch Handpuppen also der Puppenspieler, findet diesen auslegen und den Zuschauer glauben ma- Schwerpunkt und lässt die Puppe tanzen; chen, dass sie Könige, Ungeheuer und der Tänzer muss ihn in seiner Seele finden, um die Bewegungen fol- gen zu lassen. Walter Oehmichen er- klärt die Bewegung der Puppen so: „Die Fäden, an denen sie hängen, setzen genau in ihrem Zentrum an, weshalb man denkt, ihre Bewe- gungen hätten so etwas wie eine Seele. Dabei folgen ihre Glieder bloß dem Gesetz der Schwe- re. Das sie aber gar nicht kennen. So wenig wie Eitelkeit.“ Denn das ist entschei- dend. „Die Puppe ziert sich niemals“, heißt es bei Kleist. Sie hat kein Bewusstsein ihrer selbst Spaßmacher sind. In einer Aufführung im und ist sich ihrer Grazie nicht bewusst. Sie Kindergarten hat der Wolf soeben das Rot- befindet sich sozusagen im Zustand der käppchen verspeist, trotz der lauten War- Unschuld. Der Mensch, der „vom Baume nungen der Kinder. Nun lacht er hämisch. der Erkenntnis“ gegessen hat und nun um „Kinder, euer Geschrei hat gar nichts ge- seine Grazie weiß, hat sie damit schon ver- nützt. Ich habe das Rotkäppchen doch ge- loren und kann sie nur mit großer Mühe, fressen! Ein leckerer Braten!“ Da hält ein wenn überhaupt, zurückgewinnen. kleiner Junge es nicht mehr aus. Er springt Mögen Kaspar und Flocki auf dem nächs- auf. „Aber gleich kommt der Jäger! Der ten Weihnachtsmarkt in Unna wieder den schneidet dir den Bauch auf! Das sollste „Herzfaden“ zu den Kindern herstellen mal sehn!“ können. Und nicht nur zu den Kindern, Die Marionetten aber lehren die Menschen denn auch Erwachsene brauchen in schwe- etwas Wichtiges über Bewegung und Schwer- ren Zeiten das Märchen und die magische kraft, wie Heinrich von Kleist (1777– Welt. 1811) in seiner Abhandlung „Über das Ma- Foto: Franz Wiemann rionettentheater“ darlegt. Der erste Tänzer
Herbst-Blatt Nr. 103 06.2021 Humor 12 Humor in Unna und Westfalen - von Klaus Thorwarth - Was ist Humor? „Humor ist, wenn man Der Humor in Westfalen ist hintergründig trotzdem lacht“. Diese Formulierung geht und verhalten, bescheiden und nie übertrie- auf den deutschen Schriftsteller Otto Julius ben. Bierbaum (1865–1910) zurück. Er ist deftig, doch auch tiefsinnig und warm- Etwas genauer: Humor zeigt ein Mensch, der herzig. Manchmal zeigt er auch eine ver- den alltäglichen Problemen mit heiterer Ge- schmitzte Pfiffigkeit, eine Bauernschläue. lassenheit begegnet. Hier einige Beispiele aus unserer Stadt: Bei der Stoffsuche zu diesem Artikel fand ich ein aufschlussreiches Buch: Die Unnaer hielten früher auffallend viele „Ganz Deutschland lacht – Die Landschaften Esel. Dadurch bekamen die Bürger den Spott- des deutschen Humors“ namen „Unnaer Esel“. Erstaunlich – sie nah- Es ist bekannt, dass andere Länder andere men den Namen immer mit Humor. Das un- Arten von Witz haben. Der englische Witz terscheidet sie von den Bürgern anderer Orte! ist anders als der französische, der amerika- nische anders als der russische Witz, usw. 1933 entstand die neue katholische Kirche Doch selbst wo deutsch gesprochen wird, mit dem ungewöhnlichen Bild eines Esels. gibt es viele Varianten von Witzen. Dabei Dahinter versteckte der Pfarrer Stratmann sei- gibt es kaum eine Übereinstimmung. Das er- ne Freude, dass er die störrischen Nazis über- wähnte Buch bringt 1500 Witze. In 22 ein- listet hatte. Gegen alle Widerstände hatte er zelnen Kapiteln finden sich jeweils zahlrei- den Kirchbau durchgesetzt. Den humorvollen che Beispiele für den Humor verschiedener Spaß gab er aber nicht zu, sondern erklärte Landschaften. ihn mit ähnlichen Darstellungen, die an vie- len mittelalterlichen Kirchen zu sehen sind. Die Westfalen hält man eher für humorlos. Dieses Reliefbild vom Glockenturm an St. Ein Vorurteil! Katharina war Vorbild für den bedeutenden Wo in deutschen Landen hätte es folgendes Künstler Josef Baron aus Hemmerde. Er gegeben: schuf die bronzene Eselsskulptur am Markt- Ein Prediger auf der Kanzel droht mit Höl- brunnen, das am häufigsten fotografierte lenglut und Verdammnis, plötzlich aber Kunstwerk in Unna. Die Aufstellung ist ein bringt er scherzhafte Späße, dass die Kirche weiteres Beispiel für die positive Einstellung von befreiendem Lachern erdröhnt. der Bürger zu ihrem „Symboltier.“ Eselsparade am Rathaus Unna
13 Humor Nr. 103 06.2021 Herbst-Blatt Höhepunkt aber für die Sympathie der Bür- ger sind 25 teure, künstlerisch gestaltete bun- te Esel. Sie stehen seit wenigen Jahren über die ganze Stadt verteilt. In dem Buch „Lachendes Westfalen“ findet sich die Geschichte eines Beckumers, der hier am Markt bei einem Wirt einkehrte, der weithin als Original bekannt war. Provozierend laut fragte der Gast, was denn in Unna ein Esel koste. „Was ein Esel kostet, willste wissen? Das kommt ganz auf die Grö- ße an. Die kleinsten sind die teuersten, weil sie die seltensten sind. Die nächstgrößeren Mönch und Nonne am Haus Markt 10 kosten 20 Taler. Drei handbreit größer unge- fähr die Hälfte und für solch große, wie Du Etwas Einmaliges befindet sich am Haus einer bist, bezahlt man höchstens zwei bis Markt 10. Es ist über 400 Jahre alt und gilt drei Handkäse, weil von dieser Sorte viele als schönstes Fachwerkhaus der Stadt. Links aus Deiner Gegend nach Unna kommen!“ oben findet sich eine Abbildung, auf der ein Umgehend verließ der Beckumer das Gast- Mönch sich über eine Nonne „hermacht“ , haus. Er wurde nie wieder in Unna gesehen. sehr zum Entsetzen eines Kindes. Das Bild gilt als Protest des reformierten Hausbesit- Das heutige „Cafe Extrablatt“ war früher das zers gegen Luther und seine Lehre. dritte Rathaus der Stadt. Unter den Bögen ver- steckt sich ein plattdeutscher Spruch, übersetzt: Heiterkeit und Lachen sind eine wichtige und „Das Schwerste ist gleich geschafft, notwendige Seite des Lebens. wenn in unserm Arm ist Kraft“. Dem Menschen das Glück des Lachens Im Originaltext findet man die lateinischen zu bringen, ist eine gute Tat. Worte „asinus enormis“, deutsch: „enormer Auch in Westfalen. Esel“. Zum Schluss eine Erinnerung an den Kardi- Die namenlose Brücke über den Verkehrs- nal Graf Galen in Münster. Er war in der Na- ring sollte nach Vorschlag des Herbst-Blatt- zizeit ein ebenso mutiger wie für die Macht- Magazins den Namen „Eselsbrücke“ erhal- haber unbequemer Mann. Einmal wandte er ten. Der Unnaer Rat stimmte dem einstimmig sich in einer Predigt gegen die Jugenderzie- zu und zeigte damit Sinn für Humor. Der Be- hung durch die Hitlerjugend. Da rief jemand griff „Eselsbrücke“ hat ja viele Bedeutungen. dazwischen: „Wie kann ein Mann, der keine In diesem Fall hilft die Brücke den Kinder hat, über Kindererziehung sprechen „zweibeinigen Eseln“ von Unna, aus dem wollen!“ Häusermeer ungefährdet über die Verkehrs- Galen stutzte, sagte aber dann recht schlag- flut ins Grüne zu gelangen. Früher führte hier fertig: „Eine solch persönliche Kritik am wohl eine Eselsbrücke über den reißenden Führer kann ich hier nicht zulassen ...“ Bornekamp-Bach. Literaturtipps: Bei der gut geplanten Namens-Taufe gab es „Ganz Deutschland lacht“ bei Desch eine Panne: Ein Fernsehteam des WDR Klaus Seifert: 2 x 66 „UN-glaubliche Geschichten“ musste unverrichteter Dinge umkehren. Die mit humorvollen Bildern von Andrea Agner Wikipedia.de: Humor Brücke war noch nicht im Navi zu finden … Fotos: Hellweger Anzeiger, Klaus Thorwarth Schade, ein humorvoller TV-Bericht kam nicht zustande.
Herbst-Blatt Nr. 103 06.2021 Kultur 14 Sprache bleibt immer lebendig - von Franz Wiemann - Man ist mit zunehmendem Alter schon mal Stimme der stets freundlichen Telefonistin, irritiert, wenn sich gewisse Dinge in der Ge- die beim Herstellen einer Telefonverbindung sellschaft zu schnell verändern. Das trifft in half. Auch hierfür gibt es im Englischen mit starkem Maße auch auf unsere Sprache zu: dem Wort Miss eine Entsprechung. Diese Ungewöhnliche neue Wörter finden da mit- Form der Anrede wurde ebenfalls zu Recht unter ihren Eingang. Ganz aktuell findet zur- abgeschafft. Was hatte es die Öffentlichkeit zeit eine wenig nachvollziehbare Diskussion denn schon zu interessieren, wenn durch die darüber statt, wie wir uns in der Schriftspra- Benutzung der Wörter Miss oder Fräulein der che möglichst geschlechtergerecht zu verhal- Zustand der Noch-Nicht-Verehelichung be- ten haben. kannt wurde? Jedes Bürschchen war gleich ein Am dritten Sonntag im Februar 2021 ver- Herr. Frauen dagegen gelang es erst durch nahm ich im Radio die Meldung, heute sei ihre Heirat ernst genommen zu werden? der Tag der Muttersprache. Soweit so gut. Es war der zusehends mehr verwirklichten Nur wenige Tage zuvor hatte ich jedoch in Gleichberechtigung zuzuschreiben, dass neue der F.A.Z. gelesen, dass es bald nicht mehr Wörter und Berufsbezeichnungen in Umlauf schicklich sein würde, von Muttermilch zu kamen. Ein populäres Beispiel dafür war das sprechen. Größer konnte der Widerspruch Verhalten der ehemaligen Gesundheitsminis- nicht sein, dachte ich mir. Muttersprache terin Frau Dr. Elisabeth Schwarzhaupt geht noch, aber das Wort Muttermilch nicht? (CDU). Als sie 1961 zu Beginn der 3. Amts- Wir müssen uns in Zukunft wohl noch von zeit von Konrad Adenauer als erste Frau ein mehreren vertrauten Begriffen verabschie- Ministeramt bekleiden sollte, wurde sie am den, die wir so arglos mit der Muttermilch Tag ihrer Vereidigung gefragt, ob man sie aufgesogen haben. Zum Beispiel der Mutter- nun als Frau Minister oder als Ministerin tag. Und all das, weil sich in vielen Wörtern ansprechen sollte. Sie erwiderte, dass sie eine Herabwürdigung der Frau ausdrückt? In Wert lege auf die Anrede als Ministerin. Dies England führt man zurzeit übrigens eine ähn- begründete sie sowohl mit ihrer Weiblichkeit lich gelagerte Diskussion: Der Gebrauch des als auch mit dem Umstand, dass sich ja alle Wortes „breastfeeding“, das Pendant für auf „-er“ endenden Berufsbezeichnungen mit Muttermilch, soll in Krankenhäusern einge- Leichtigkeit umformen ließen. schränkt bzw. durch „chestfeeding“ ersetzt Dieser Logik konnte man sich nicht entzie- werden. Die Erwähnung der vorgeschlagenen hen: Die Berufsbezeichnung Lehrer wurde, deutschen Kunstwörter, die als Ersatz herhal- zum Beispiel, rasch erweitert um „Lehre- ten sollen, erspare ich mir lieber. Als hätten rin“. Aber Briefbote und Briefbotin? Aber wir keine anderen Sorgen! lassen wir zunächst einmal alle Haarspalte- Eine fast vergleichbare Diskussion wurde rei. Auf die Diskussion um die per Sternchen übrigens schon einmal in den frühen 60er (Symbol *) fast krampfhaft herbeigeführte Jahren geführt. Auf den Prüfstand kamen so Gleichberechtigung will ich hier nicht einge- manche althergebrachte Formulierungen, wie hen. beispielsweise die Redewendung „Mein lie- Bisher ist die Frage noch nicht berührt wor- bes Fräulein“. Als erzieherische Ermahnung den, wie es dazu kommt, dass in der Sprache soll sie ja in manchen Haushalten durchaus ständig Neues entsteht. Gibt es eine neue noch Geltung haben(!), hört man. Die Til- Weltsicht der Dinge? Liegt es gar an der gung des Wortes hatte aber seine Berechti- Weltsprache Englisch? Auffällig geworden gung, denn das berühmte Fräulein vom A mt ist es, wenn jemand meint, sich unbedingt hatte längst ausgedient. Gelegentlich ver- eines englischen statt eines deutschen Wor- misste schon mal der ein oder andere die tes bedienen zu müssen.
15 Kultur Nr. 103 06.2021 Herbst-Blatt Als Student der Germanistik und Linguistik Eine lustige Anekdote machte in meiner Fa- hört man im Verlauf des Studiums unweiger- milie väterlicherseits die Runde. Mein Paten- lich folgenden Satz: Sprache sei immer die onkel, namens August und gelernter Abbildung des unmittelbaren Geschehens un- Schmied, war im Zweiten Weltkrieg als seres Alltags. „Die sprachliche Benennung Stabsbeschlagmeister in Nordfrankreich sta- von Gegenständen (Zeichen) bestimmt sich tioniert. Zuständig war seine Einheit für die durch die Notwendigkeit ihres Gebrauchs.“ Beschlagung der im Einsatz befindlichen Dieser Satz wird übrigens dem österreichi- Pferde. Mit dem Eigentümer des Bauernho- schen Kommunikationswissenschaftler Paul fes, auf dem sie einquartiert waren, gab es Watzlawick zugeschrieben. ziemlich schnell eine augenzwinkernde Art Folgendes recht lustige Beispiel kann dies der Verständigung. Mit der französischen untermauern helfen. Es herrschte gerade das Sprache zunächst nicht vertraut, hatte mein Schnee- und Eischaos in der zweiten Febru- Onkel es sich angewöhnt, jede Frage mit der arwoche dieses Jahres. In einer Kölner Fern- Wendung „Qu‘est-ce-dat-denn-für‘n-Ding?“ sehreportage äußerte sich eine ältere Dame zu beginnen. Dem Franzosen wiederum ge- dazu, dass ihr Zug ausgefallen sei. So gar fiel es, dass der Schmied vor Ort auch schon nicht auf den Mund gefallen sagte sie: mal seinen kaputten Pflug reparierte. So „Meine Enkel warten auf mich. Sie spielen wurde nach und nach das ein oder andere mit ihren Handys schon ‘Oma-Tracking‘, als wäre ich ein Paket, das sie erwarten.“ Welch eine geniale Wortschöpfung, dachte ich mir spontan. Sie konnte nämlich ihr Ver- sprechen, sich um die Enkelkinder zu küm- mern, nicht einlösen. Hier greift erneut das Lehrverständnis des oben erwähnten Wissenschaftlers: Damit sich Sender (hier: Sprecher) und Empfänger (Zuhörer) miteinander verständigen können, ist es nötig, dass sie sich vom sprachlichen Empfinden her auf ein und derselben Ebene bewegen. Sich in der Not auch mal „mit Händen und Füßen“ verständlich machen zu müssen, ist wohl schon jedem mal passiert. Werkstück aus Armeebeständen gegen guten Entscheidend ist demnach die jeweilige Situ- französischen Wein oder Cognac getauscht. ation. „Eine Hand wäscht die andere“, lautete halt Zwei Beispiele können dies verdeutlichen. die Maxime. Als im späten 18. Jh. unter Napoleon franzö- Noch bis weit in die 60er Jahre hinein mach- sische Soldaten nach Deutschland einmar- te diese Anekdote in meiner Familie die schierten, fiel ihnen auf, dass bei dem Lärm, Runde. Und zwar hauptsächlich dann, wenn den sie auf den Straßen erzeugten, die Bürger die beiden Beteiligten sich in ihren Heimat- in den Städten durch kleine Mansardenfens- orten Münster und Lille gegenseitig besuch- ter lugten und sich verwundert fragten: „Was ten. So waren sie, mehr oder weniger unge- ist das?“ Die Franzosen verbanden mit der wollt, in die Vorreiterrolle für die erst später Frage die ihnen offenbar nicht bekannten etablierte „Deutsch-Französische Freund- Dachfenster. Später bürgerte sich für diese schaft“ geschlüpft. Art von Klappfenstern in leicht abgewandel- Was können wir daraus lernen? Not macht ter Schriftform im Französischen das Wort nicht nur erfinderisch, sie kann mitunter „Vasistas“ ein. Der Begriff ist seit 1776 be- auch Völkerverbindendes leisten. legt. Grafik im Kettenschmiede-Museum Fröndenberg
Herbst-Blatt Nr. 103 06.2021 Natur 16 Rotkehlchen flattert zum Sieg - von Benigna Blass - Normalerweise wird der Vogel des Jahres Revier sehr hart und stark verteidigt. Hat durch den Naturschutzbund gewählt, doch sich ein Paar gefunden, so wird das napfarti- dieses Jahr, ein Jubiläumsjahr (50-jähriges ge Nest in kleinen Baumhöhlen, Hecken Bestehen des NABU), durfte die Bevölke- oder in Nischen nur vom Weibchen gebaut. rung den Vogel aussuchen. Unter zehn Ar- Es ist sehr vorsichtig, wird sie beobachtet, ten wie die Stadttaube, Rauchschwalbe und so legt es das Nistmaterial nieder und holt es Kiebitz wurde das Rotkehlchen von 450.000 erst später wieder ab, denn es gibt viele Menschen zum V ogel des Jahres 2021 no- Nesträuber und der Kuckuck bevorzugt ihr miniert. Es ist keine bedrohte Vogelart, son- Nest. Die vier bis fünf weißlich-rotbraun dern ein beliebter Wald- und Gartenvogel. punktierten Eier bebrütet es 14 Tage allein, Sein orangerotes Brustgefieder hat ihm den während das Männchen sie mit Nahrung Namen gegeben. Männchen und Weibchen versorgt. Sind die Kleinen nach 12–15 Ta- sehen gleich aus. Sie haben keine Scheu vor gen geschlüpft, so bringt die Mutter die Ei- Menschen. Arbeitet man im Garten, so erschalen viele Meter weit weg, ebenso die schauen sie mit ihren großen Augen zu, und Kotsäckchen, manchmal sogar in die Nähe warten, ob nicht eine kleine Larve, eine von anderen Nestern. Schlüpft ein weibli- Ameise oder ein Würmchen zum Vorschein ches Küken, so legt es im nächsten Jahr Eier kommt. mit dem gleichen Muster wie die ihrer Mut- Mit ihrem melodischen, perlenden Gesang ter. Beide Elternteile füttern die Kleinen, die wecken uns die 14 cm großen Rotkehlchen nach 15 Tagen gemeinsam das Nest verlas- auf, am frühen Morgen, ehe die Sonne auf- sen. Sie werden noch lange mit Nahrung geht. Ihr Lied begleitet uns in die Abend- versorgt, und ihnen wird gezeigt, wie und dämmerung das ganze Jahr hindurch – nicht wo sie Nahrung finden können, wie Spin- nur zur Paarungszeit, da aber besonders laut nen, Insekten oder kleine Käfer. Besonders und eindringlich. Sie können bis zu 275 Me- beliebt sind Blattläuse, im Herbst sogar Sa- lodien singen, auch imitieren sie ande- men und Beeren. Nicht selten ist die Fut- re Vögel wie Meisen und Buch- terbeschaffung die Aufgabe des Va- finken. Die Rotkehlchen ters, da die Mutter für die zweite sind gesellige Vögel, sie Brut wieder ein neues Nest baut, kennen den Gesang denn die Lebenserwartung beträgt ihrer Nachbarn und höchstens fünf Jahre. kommen mit ih- Das Rotkehlchen lebt in Europa, Asien nen gut aus, und Afrika, nur in Island ist es nicht zu doch kommt finden. ein Fremder Einige Kuriositäten habe ich gelesen: hinzu, so In einem Bergwerk hatte sich ein Rot- wird das kehlchen verirrt und durch seinen Gesang wurde es gerettet. Eines Abends kam eine Frau ins Schlafzim- mer und fand ein Rotkehlchen- nest in ihrem Bett, sie ließ das Fenster offen und schlief in ei- nem anderen Zimmer. Foto: David Reed/pixabay.de
17 Gedanken Nr. 103 06.2021 Herbst-Blatt Sprücheklopfer ... - Gastbeitrag von Edith Weber - Mein Sohn bat mich vor einigen Jahren, Irgendwann vor Jahren wurde ich einmal doch bitte einmal alle meine Sprüche, die im Verlauf eines Gesprächs gefragt, ob und ich ihm im Laufe seines mittlerweile 30jäh- welche Lebensmaxime ich mit auf den rigen Lebens mit auf den Weg gegeben hat- Weg ins Leben bekommen habe. Und mir te, aufzuschreiben. fiel spontan als Antwort eben die erwähnte Diese Bitte ließ mich grübeln … War oder Lebensweisheit ein, denn sie bestimmte in bin ich tatsächlich solch eine Sprücheklop- erster Linie seit meiner Kindheit meine Le- ferin? bens- und Denkweise. Und ja! Ich bin es! Ich habe schnell mal Heute mag dieser Spruch antiquiert er- einen Spruch zur Hand, machte mir die Bit- scheinen – wer wendet solche Sprüche te meines Sohnes bewusst. heute noch an? –, aber ich bin meiner Mut- Genauer betrachtet wurde auch ich mit ter immer wieder dankbar für ihre Sprüchen – oder sollte ich besser „Le- „spruchreife“ Erziehung – und ganz beson- bensweisheiten“ sagen? – erzogen, die ich ders für diese prägende Lebensweisheit. an meine Kinder in den passenden Situatio- Und auch, wenn es antiquiert ist, so bin ich nen weitergegeben habe. Und reflektierend fest davon überzeugt, dass Kinder auch stelle ich fest, dass diese „Sprüche“ mir heute – besser: gerade heute – solche Richtschnur, Trost, Halt, Werte und Auf- Sprichworte brauchen, die ihnen Werte munterung gaben – je nachdem, wann, wo vermitteln und ihnen begreiflich machen, und wie mir meine Mutter den jeweiligen dass wir alle nur ein Rädchen im großen Spruch zu Ohren brachte. Ganzen sind. Heute noch wirken diese Sprüche in mir In diesem Sinne wünsche ich eine gute Zeit nach. Manche tiefere Bedeutung eines … und klopfe gerne mal wieder einen Sprichwortes erkannte ich erst mit den Jah- Spruch … ren oder erst, als ich selbst Mutter war. Foto: Andrea Irslinger So hörte ich zum Beispiel schon ganz früh „Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem andern zu!“ Als Kind konnte ich mit der Bedeutung der Worte wenig anfangen, begriff aber sehr schnell an der Reaktion meiner Mutter oder des Gegenüber, dass ich mich so verhalten hatte, dass es dem Anderen nicht gefiel oder ihm mein Verhalten sogar weh tat. Erst später wurde mir die gewaltige Aussa- ge dieses Spruches klar. Manches Mal dachte ich leider zu spät da- ran, ob der Andere tatsächlich wollte, was ich da gerade tat. Aber dieser Spruch ließ mich nachdenken über mein Handeln, ließ mich „Entschuldigung“ sagen und machte mich mitfühlend …
Herbst-Blatt Nr. 103 06.2021 Besinnliches 18 Augenblicke - Gastbeitrag von Rita Bergmann - Alles ist anders in dieser Zeit, auch das Spa- Wir lassen uns nicht unterkriegen. Es gibt zierengehen. immer einen Weg. Ich liebe es, wenn mir am großen Fluss der Wenn in einer solchen Begegnung auch nur frische Wind um die Nase weht. Von mei- flüchtige Kontakte entstehen, so spüre ich nem Wohnblock aus laufe ich nur zwei Mi- dennoch die Kraft und das Belebende. nuten, dann stehe ich an der kleinen Straße Eine bunte Frau auf dem Fahrrad kommt und blicke hinunter auf den mächtigen angeradelt. Sie trägt eine rote Mütze und Rhein. Es ist um die Mittagszeit. Die Sonne einen gleichfarbigen Schal, orange Hosen sendet ihre ersten wärmenden Strahlen und und olivgrüne Stiefel. Interessiert folge ich umfängt mich. Wohlig schließe ich die Au- ihr mit den Augen. Unerwartet hält sie ihr gen und hole tief Luft. Eine Ahnung von Fahrrad an und fragt mich: nahendem Frühling macht mich weit. „Haben Sie etwas mit Tanzen zu tun? Wa- Es ist eine Momentaufnahme, ich gönne mir ren Sie das, im März 2020, noch vor dem diesen Augenblick. Dann schlendere ich Lockdown im Bootshaus?“ zum Ufer hinunter. Mein Weg führt mich Auf mein unwillkürliches Nicken hin erklärt immer zuerst zum Geländer der Uferprome- sie weiter: Ich war dort, und es hat mir sehr nade. Von dort habe ich einen guten Über- gut gefallen. Machen Sie weiter mit dem blick über den aktuellen Wasserstand. freien Tanzen, wenn das alles vorbei ist? In der Zeit des großen Regens sah ich hin Ja, sobald es wieder möglich ist. So lange und wieder ein junges Elternpaar, dessen kann es nicht mehr dauern. Vielleicht sehen Kleinkind in Gummistiefeln und bunter Re- wir uns bald. genkleidung im Morast saß und hingegeben Oh ja, dann bin ich dabei. Endlich wieder mit Stöckchen im Schlick spielte, und dann mit anderen Menschen tanzen können. lustvoll durch die Pfützen platschte. Ohne Sie steigt auf ihr Fahrrad und radelt gutge- sich vom ewigen Regen beeindrucken zu launt mit einem Winken davon. lassen, verfolgten Mutter und Vater stolz die Die schnell vorbeiziehenden Wolken verde- Bewegungen ihres Kindes und lächelten cken immer wieder die Sonne, und der auf- ihm aufmunternd zu. Manche Vorüberge- kommende Wind nimmt zu. Es frischt auf. hende blickten irritiert, in anderen lächelte Von dem netten Gespräch eben noch erfüllt das eigene Kind. komme ich beschwingt in einem kleinen In diesem Jahr verändert sich so vieles. Der Park an. In dem Moment schickt die Sonne tägliche Spaziergang wird mir immer wich- noch einmal wärmende Strahlen. Hier am tiger. Spazierengehen, flanieren, sich ab- mächtigsten Baum angekommen mache ich sichtslos treiben lassen. Dabei in die Ge- kurz Halt und richte mein Gesicht in die sichter der Entgegenkommenden blicken. Sonne. Wie zur Begrüßung lehne mich an Und erkennen, ob mich diese als Menschen seinen starken Baumstamm, schmiege ich tatsächlich wahrnehmen oder in sich ver- mich an ihn und berühre seine bemooste schlossen vorbei gehen. Es ist ein Spiel: Ich Rinde. freue mich, wenn mich fremde Augen anlä- Zwei Tage später setzt sich die Sonne durch. cheln, mich als menschliches Wesen wahr- Aufs Neue mache ich mich auf den Weg nehmen. Wie gestern der interessierte Blick und probiere es mit Schlendern, Trödeln, und das Augenspiel mit einer netten Frau Promenieren. Heute führt mich mein Weg meines Alters. Ihre verschmitzten Augen an das gegenüberliegende Ufer. Am Auf- winkten mir zu, sie schien zu signalisieren: gang zur großen Autobahnbrücke angekom-
19 Besinnliches Nr. 103 06.2021 Herbst-Blatt men wechsle ich oben ins Marschieren, die Friedlich, ja friedlich ist es hier. lauten Fahrgeräusche beschleunigen meinen Auf meinem heutigen Weg haderte ich noch Schritt. mit mir. Jetzt, wo vieles wegfällt, was mir Bald liegt die laute Autobahnbrücke hinter Struktur im Alltag gibt, fühle ich mich mir. Am anderen Ufer angelangt, blicke ich manchmal wie aus einem warmen Nest ge- auf einen der reizvollsten Uferabschnitte mit worfen. Ohne meine geliebte Arbeit als seinen weiten Rheinwiesen und Uferbäu- Tanztherapeutin bei einem öffentlichen Trä- men. ger (Minijob), und außerdem Kursleiterin Hier ist ein Paradies für Leute wie mich. für freies Tanzen erscheint mir mein Leben Hier gibt es weder Straßen noch asphaltierte mitunter trist. Mir fehlen einerseits die Auf- Wege, nur weitläufige Wiesen, und lehmige gaben und andererseits Resonanz der Men- Pfade dehnen sich entlang des alten Stro- schen, mit denen ich arbeite. mes. Ich liebe diesen himmlischen Flecken, Früher gab es Momente, in denen ich Zeit beschwingt ziehe ich meine Schuhe aus und für mich allein ersehnte. Ohne Ablenkung. laufe barfuß weiter. In einer der steinigen Mir selbst mehr Raum zu geben, mich selbst Buchten bin ich an meinem Lieblingsplatz. besser zu erkennen und zu verstehen. Da Es ist die Ruhe, die hier herrscht. Ein Ort, an war wieder der Satz von Sokrates: Erkenne dem die Sonne am längsten scheint. Begleitet dich selbst. Und jetzt habe ich das Glück, vom leisen Geräusch der Wellen, die in ewig der beinahe einjährige Stillstand schenkt mir gleichem Rhythmus ans Ufer plätschern. unerwartet viel freie Zeit. Wenn da nicht Ich lass mich auf einem größeren Stein nie- plötzlich so ein Widerstand wäre … der und genieße die wärmende Sonne. Junge Heute Abend gehe ich zu mir. Hoffentlich Paare schlendern vorbei, Leute mit ihren bin ich da … Hunden. Von meinem Platz sehe ich den Ich bleibe auf meinem Stein hocken, bis ei- großen Schiffen auf dem Rhein zu und den ne leise Ahnung aufscheint, was den Wider- Wellen, die sie nach sich ziehen. In meinem stand ausmacht. Blickwinkel tauchen zwei herumtollende Für heute ist es genug. Morgen ist ein neuer Hunde auf, sie toben zum Wasser, einer Tag. Ich pilgere nach Hause. springt hinein, der andere scheut eher das Foto: Rita Bergmann Wasser. Eine Freude, ihnen bei ihrem Spiel zuzusehen.
Herbst-Blatt Nr. 103 06.2021 Gesundheit 20 Mehr als ein Geschenk - von Anne Nühm - Die Redaktionsmitglieder des Herbstblattes Berufsausbildung, eine eigene Familie und sind ständig auf der Suche nach neuen The- ein Haus. Es gelang ihr, alle ihre Ziele zu men, die für die Leser/innen von Interesse verwirklichen, bis der bereits erwähnte sein könnten. Anne macht jedoch immer Rollstuhl ihre Zukunft zu sein schien. Lei- wieder die Erfahrung, dass es das Leben der haben viele Menschen in ihrem Leben selbst ist, das die schönsten Geschichten dieses Hilfsmittel zu akzeptieren. schreibt. So wie diese, die sie vor einigen Eine Schwangerschaft wird von der Umge- Monaten erlebt hat: bung immer wieder als ein freudiges Ereig- Sie war mal wieder unterwegs. Gedanken- nis empfunden. Aber unter den Gegeben- versunken schlenderte sie durch die Stadt. heiten, die ein Rollstuhl mit sich bringt – Plötzlich nahm sie eine junge Frau wahr. wie sollte das gehen? Schon allein die Das könnte – nein das kann ... nicht sein. Treppen zur oberen Etage ihres Hauses Denn wie Anne erfahren hatte, saß Monika würden zu einer Herausforderung werden seit geraumer Zeit in einem Rollstuhl. Ihre … Beine machten immer wieder neue Proble- Die junge Frau kam näher auf Anne zu. Es me. Mal war es eine Zerrung, ein Bänder- wurde ein Lächeln ausgetauscht. Zaghaft riss … Die Häufung der Beeinträchtigungen nannte Anne deren Name: „Monika?“– war auffällig, beunruhigend und schlecht „Ja, das bin ich.“ „Ich freue mich, dich zu einzuschätzen. Aber Monika wollte sich sehen, aber wie ist das möglich?“ Dann er- nicht davon abhalten lassen, ein ganz nor- fuhr Anne die Geschichte, die wie ein males Leben zu führen. Dazu gehörten eine Wunder wirkt:
21 Gesundheit Nr. 103 06.2021 Herbst-Blatt Als schwangere Rollstuhlfahrerin hielten es nicht regelmäßig Kontakt haben, gibt es die Ärzte für unumgänglich, Monika vor- immer wieder mal das eine oder andere Le- sorglich Thrombosespritzen zu verabrei- benszeichen. Bei einer Begegnung erfuhr chen. Diese hatten auf den Organismus ei- Anne, dass Monikas Leben schon wieder ne besondere Wirkung. Denn sie verbesser- einer Prüfung ausgesetzt war. Sie erhielt ten den Gesundheitszustand in der Art, dass die Diagnose „Corona“. Schock! Warum die akuten Probleme der Beine immer mehr werden manchen Menschen immer und im- verschwanden. Die Fortschritte setzten sich mer wieder Schwierigkeiten in den Weg fort, so dass die werdende Mutter sogar in- gelegt? Besonders tragisch war es, dass nerhalb von wenigen Wochen den Roll- Monika einen schweren Krankheitsverlauf stuhl verlassen konnte. Die Ärzte fanden hatte: Sie musste beatmet werden. Mehrere heraus, dass ihre Patientin ein Blutgerinn- Wochen stand nicht fest, ob sie den Kampf sel im Rückenmark gehabt hatte, das durch gegen den Tod meistern werde. Aber Mo- die Thrombosespritzen aufgelöst worden nika wäre nicht Monika. Wieder nahm sie war. die Herausforderung an und kämpfte. Mit Das inzwischen geborene gesunde Mäd- Erfolg! Ganz langsam arbeitete sie sich ins chen hat somit ihrer Mutter zweifaches Leben zurück. Mit viel Anstrengung und Glück geschenkt. Es hat nicht nur den Konzentration lernte sie wieder selbständig Traum einer Familie vervollständigt, son- zu atmen. Das Beatmungsgerät konnte ab- dern zugleich auch nebenbei dafür gesorgt, geschaltet werden … dass ihre Mama ein ganz normales gesun- Heute ist Monika wieder bei ihrer Familie, des Leben einer jungen Frau ohne eine für die sie schon so viel gekämpft hat. Aber Gehhilfe führen darf. genau die Familie ist es, die ihr sicherlich An dieser Stelle könnte die Geschichte von auch die Kraft für den unermüdlichen Le- Monika enden. Tut sie aber nicht. Uner- benswillen gegeben hat. wartet gab es eine Fortsetzung: Foto: lena/pixabay.de Monikas Mutter und Anne verbindet eine jahrelange Freundschaft. Auch wenn sie Coronazeit ist Wartezeit - Gastbeitrag von Petra Hülsken - Warten auf die nächsten Regierungsmaßnahmen Warten auf ein Ende des Lockdowns Warten auf Tests und Impfungen Warten auf Menschen, die man vermisst Warten auf Umarmungen, Herzlichkeit und Nähe Warten auf Urlaub und Reisen Warten auf gute Nachrichten Warten auf das Leben von damals Warten auf Lebendigkeit Zeichnung: Andrea Irslinger
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