Pappesatt - HILF DIR SELBST

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Pappesatt - HILF DIR SELBST
HILF     DIR   SELBST
Journal der Schweriner Selbsthilfe
Ausgabe 4 | 18. Jahrgang | Dezember 2020 bis Mai 2021

                                                        Thema:
                                                 pappesatt
Pappesatt - HILF DIR SELBST
Editorial

    HILF     DIR SELBST                                              Liebe Leserin,
    Journal der Schweriner Selbsthilfe
    Ausgabe 4 | 18. Jahrgang | Dezember 2020 bis Mai 2021            lieber Leser,
                                                                     pappesatt – genau, passt zu Corona
                                                                     und Weihnachten. Gerade hatten wir
                                                                     uns in der KISS nach dem ersten Lock-
                                                                     down wieder eingespielt, Selbsthilfe-
                                                                     gruppen trafen sich, dankbar, unsere
                                                                     Räume nutzen zu dürfen. Für die an-
                                                                     stehenden Gruppengründungen hat-
                                                            Thema:   ten sich zahlreiche Interessierte ange-

                                                     pappesatt       meldet, viel Energie und Hoffnung auf
                                                                     Neustarts und dann – plong – zweiter
                                                                                                                                    Foto: Gudrun Schulze

                                                                     Lockdown, diesmal „light“.                     Aus einer neu gegründeten Selbst-
                                                                     Nachdem nun auch in MV wie in Bay-         hilfegruppe erfahren wir, wie schwer
                                           Inhalt                    ern, Hamburg und Berlin die Selbsthil-     der Kampf gegen Magersucht ist. Die
                                                                     fe als „systemrelevant“ eingestuft wird,   SHG Zöliakie nimmt uns mit zu ihrem
Titelbild Birgitt Hamm�������� 1                                    können seit Anfang Dezember wieder         Projekttag im Luna-Lichtspielhaus
Editorial Sabine Klemm�������� 2                                    Präsenztreffen der Selbsthilfegruppen      Ludwigslust. In einem weiteren Be-
Gastkolumne Peter Grosch����� 3                                     stattfinden. Einzelberatungen sind         richt erzählt eine zart gebaute Frau,
Umfrage Was macht uns pappesatt? 4                                  weiterhin möglich; die Antragsbera-        wie sie als Kind schon immer mehr es-
Erfahrung                                                            tungen für die Selbsthilfeförderung        sen musste als sie wollte und sich „ge-
Umspringen im Leben��������� 6
                                                                     2021 können stattfinden. Dem liegt         mästet“ fühlte. Pappesatt machen Vor-
Projekt                                                              eine vernünftige Risikoabwägung zu-        urteile gegenüber psychisch Kranken
Freie Konsumkultur����������� 7
                                                                     grunde: Rückfälle und Einsamkeit kön-      und die Anstrengungen, die sie un-
Thema
Selbstbestimmt und Corona����� 8                                    nen vermieden werden.                      ternehmen müssen, um in ihren Be-
Thema                                                                Nichtsdestotrotz sind Selbsthilfeakti-     dürfnissen ernst genommen zu wer-
Essen aus der Tonne���������� 9                                     ve gefragt auch andere Wege zu fin-        den. Andere Erfahrungsberichte
Menschen Bürokratie statt Pflege� 10                                den, um untereinander Kontakt zu           handeln vom Umgang mit sich selbst
Thema Psychisch oder physisch?� 11                                  halten. Wir sind dabei, technische         und den Schwierigkeiten, die eigenen
Erfahrung                                                            Ausstattung für digitale Angebote in       Bedürfnisse zu erkennen und für sich
Immer mehr, immer weiter����� 12                                    der KISS zu installieren, auch wenn        einzufordern.
Thema Ein stinkendes Geschenk� 13                                   uns bewusst ist, dass das nicht für alle       Weiterhin bekommen wir Einblicke
Erfahrung                                                            Nutzer*innen eine echte Alternati-         in den Alltag einer pflegenden Ange-
Weihnachten in einer Nicht-Familie 14                               ve zu persönlichen Begegnungen ist.        hörigen, der geprägt ist vom Wider-
Thema Zum essen gezwungen�� 15                                      Aber besser als nix.                       sprüche-Schreiben, um an das Recht
Selbsthilfe                                                              Wir sind einfach pappesatt von         auf Pflegemittel zu kommen.
Feind Magersucht����������� 16
                                                                     Überfluss, Umweltzerstörung und u.U.           Für das Weihnachtsfest, das dies-
Erfahrung Weniger ist mehr���� 17
                                                                     krank machenden Arbeits- und Le-           mal wohl besonders wird, erhalten wir
Selbsthilfe Filmbrunch der Zölis� 18
                                                                     bensbedingungen. Gleichzeitig sind         Tipps: Was sind wirklich gute Geschen-
Interview                                                            wir in der Welt privilegiert… Das fin-     ke und wie kann Weihnachten in einer
Drei Fragen an Kristina Timmermann 19
                                                                     det auch Peter Grosch. In seiner Gast-     echten Patchwork-Familie gestaltet
Service KISS aktuell��������� 20
                                                                     kolumne berichtet er von der wich-         werden.
Zu guter Letzt/Förderer������ 22
                                                                     tigen Arbeit der Tafel. Wir lesen vom          Für ein frohes Weihnachtsfest und
So gesehen
Lange vorher abzusehen������� 23                                    Containern, also dem heimlichen He-        ein gutes 2021 wünschen wir Ihnen
Impressum��������������� 24                                         rausnehmen von Lebensmitteln aus           viel Geduld, Toleranz und Zuversicht –
                                                                     den Abfallcontainern von Supermärk-        und bleiben Sie gesund!
Die nächste Zeitschrift
                                                                     ten, um der tonnenweisen Lebens-
erscheint im Juni 2021                                               mittelvernichtung etwas entgegenzu-
zum Thema                                                            setzen. Ein hoffnungsvolles Projekt ist    Ihre Sabine Klemm
„30 Jahre Selbst bestimmt“.                                          FKK, Freie Konsumkultur: ein mobiler
                                                                     unverpackt-Wagen mit Lebensmitteln
                                                                     und Rezepten in Schwerin.

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Pappesatt - HILF DIR SELBST
Gastkolumne

                 Ich hab‘ genug von
             Lebensmittel-Verschwendung

Wer kennt das nicht? Immer, wenn               Klar, Hunger bedeutet in Afrika           Auch eine mobile Tafel bietet ihre
man zu Gast bei Geburtstagsfeiern           etwas ganz anderes als in Deutsch-           Dienste für bedürftige Menschen an,
und Jubiläen ist oder Einladungen           land. Doch auch hier fällt es vielen         die aus gesundheitlichen Gründen
aller Art Folge leistet, taucht wäh-        Menschen (es werden leider immer             die Wohnung nicht verlassen können.
rend oder nach dem Essen irgend-            mehr) schwer, sich mit notwendi-
wann die Frage auf: „Sind Sie / Bist        gen Lebensmitteln zu versorgen. An-              25 Jahre Tafel: Ein Grund zum Fei-
Du satt?“ Oder: „Möchten Sie / Willst       dererseits landen in Deutschland je-         ern ist dieses Jubiläum nicht. Die Tat-
Du noch was?“ Wahrscheinlich haben          des Jahr rund 18 Millionen Tonnen            sache, dass es in Deutschland über-
die meisten von uns auf diese Fragen        Lebensmittel im Müll. In der Sum-            haupt Tafeln gibt, ist eine Ohrfeige
schon mal mit „Nein danke, ich bin          me sind das jedes Jahr Lebensmittel          für die Politik, eine Schande für eines
pappesatt!“ geantwortet. Aber was           im Wert von circa 20 Milliarden Euro.        der reichsten Länder dieser Welt. Die
ist damit gemeint?                          Eine unvorstellbare Zahl, die mich,          Arbeit der Tafeln kann die Not nur ein
                                            ehrlich gesagt, „pappesatt“ macht.           wenig lindern. Es besteht von Seiten
    „Pappesatt“ ist ein Synonym für                                                      der Politik endlich dringender Hand-
„sehr satt“, „völlig satt“ oder „Ich hab‘       Die über 940 Tafeln in Deutsch-          lungsbedarf, damit Menschen im rei-
genug“. „Pappesatt“ ist also jemand,        land sammeln einwandfreie über-              chen Deutschland nicht mehr auf Le-
der umgangssprachlich „vollgefres-          schüssige Lebensmittel von Händlern          bensmittelspenden angewiesen sind.
sen“ und „kurz vorm Platzen“ ist. Es        und Herstellern und verteilen diese
passt kein Bissen mehr in ihn hinein.       regelmäßig an 1,6 Millionen bedürf-              Ich wünsche Ihnen bis dahin ein
Dabei denkt in diesem Moment wohl           tige Menschen im ganzen Land. Der            frohes und besinnliches Weihnachts-
niemand daran, in was für einer pri-        Dachverband Tafel Deutschland mit            fest, auch wenn wir bei dem, was wir
vilegierten Situation er sich befindet.     Sitz in Berlin besteht seit 25 Jahren.       zurzeit erleben, dazu neigen, „pappe-
                                            25 Jahre ist es auch her, dass in der        satt“ zu sein.
    Laut dem am 13. Juli 2020 veröf-        Landeshauptstadt Schwerin die Ta-
fentlichten UN-Report „Die Situation        fel gegründet wurde. Heute unter-
der Nahrungssicherheit und Ernäh-           hält die Tafel Schwerin e.V. Ausgabe-
rung in der Welt“ leiden immer mehr         stellen nicht nur in Schwerin, sondern
Menschen an Hunger. Die Zahl chro-          auch in Crivitz, Banzkow, Gadebusch,
nisch unterernährter Menschen ist in        Rehna, Ludwigslust, Hagenow, Wit-
den letzten fünf Jahren rapide ange-        tenburg, Lübtheen und Boizenburg.
stiegen. Gleichzeitig ist die Bevölke-      Insgesamt werden in Westmecklen-
rung vieler Länder von unterschied-         burg etwa 700 Haushalte mit mehr
lichen Formen von Mangelernährung           als 2.500 Personen durch die Tafel un-
betroffen. Weltweit leiden heute rund       terstützt. In Schwerin können sich Be-
                                                                                     Foto: Fotostudio Warsakis

690 Millionen Menschen an Hunger.           dürftige Lebensmittel in der Petrus-
Bei einer Weltbevölkerung von 7,5           gemeinde im Stadtteil Mueßer Holz
Milliarden bedeutet das: Jeder neun-        und im Sozialkaufhaus im Stadtteil
te Mensch hat nicht genug zu es-            Lankow abholen. Zudem gibt es in
sen. Während Fortschritte im Kampf          der Landeshauptstadt zwei Suppen-
gegen den Hunger stagnieren, ver-           küchen, die sich im Lankower So-
schärft zusätzlich die Covid-19-Pan-        zialkaufhaus und in der Ferdinand-
demie die Lage. Noch ist es zu früh,        Schultz-Straße in der Werdervorstadt
um die Auswirkungen vollständig be-         befinden, sowie eine Kindertafel in          Peter Grosch
urteilen zu können.                         der Hegelstraße im Mueßer Holz.              Vorsitzender Tafel Schwerin e.V.

                                                                                                                              3
Pappesatt - HILF DIR SELBST
Umfrage

               Angst oder
              Zuk u n f t g e s t a l t e n
          Irene Strauch- Beddies, KISS Schwerin
          Ich bin verantwortlich, für unsere Gruppe „Sturzprävention“ die Anwesenheits-
          listen zu führen. Ende des Monats müssten die Formulare da sein. Ich kriege
          aber keine und muss immer improvisieren. Darüber ärgere ich mich besonders,
          wenn andere mich dafür auch noch kritisieren. Weil sie denken, dass ich über-
          fordert bin. Aber ich sehe nicht ein, dass ich für etwas kritisiert werde, wofür ich
          nichts kann.

          Klaus Dieter Weber, Gadebusch
          Ich bin pappesatt von dem leidigen Thema Corona. Ich bin zwar nicht davon be-
          troffen und die Familie auch nicht. Aber ich habe Angst, was jetzt noch kommt.
          Und ob ich das Grab meiner Eltern noch versorgen kann. Denn ich muss dahin
          weit fahren.
          Die Beschulung meiner Enkelkinder zu Hause in den vergangenen Monaten
          fand ich auch nicht so gut. Denn die jungen Leute wollen ja weiter kommen
          im Leben und brauchen richtigen Unterricht. Ich hab Angst, dass die es nicht
          schaffen.

          Ramona Spies-Tolksdorf, Schwerin (Ohne Foto)
          Ich arbeite am Theater, kümmere mich um die Märchenspiele. Das ist alles zur
          Zeit sehr schwierig. Und wir wissen auch nicht, ob die Märchenaufführungen
          überhaupt stattfinden können.

          Lydia Appau, Schwerin (Ohne Foto)
          Ich bin von einer Schweriner Familie adoptiert worden. Ich lebe hier mit meinen
          zwei Kindern, 3 und 5 Jahre alt. Meine Mutter und mein Sohn leben in Ghana.
          Dort gibt es nicht so viele Dinge wie hier.
          Ich habe zu Weihnachten das erste Mal Überfluss erlebt. Das war schön. Ich
          möchte hier bleiben. Ich arbeite auch am Theater.

          Heinrich Schliemann – Pfaffenteich Schwerin
          Eigentlich gibt es immer zu viel Hundekacke in der Stadt. Aber ich fühle mich
          im wahrsten Sinne des Wortes beschissen von den Möwen. Davon bin ich
          pappesatt.
          Leider kann ich überhaupt nichts dagegen tun.

          Marita Rusch, Schwerin
          In diesem Jahr ging bei mir alles bergab, nichts hat mehr funktioniert. Meine
          Wohnung habe ich verloren, wohne bei Freunden. Ich war an meinem tiefsten
          Punkt angekommen. Das war der Kipp- Punkt.
          Geholfen hat mir innere Arbeit, Selbstmanagement, das Integrieren meiner
          Schattenseiten. Und die Dinge bedingungslos so anzunehmen wie sie sind. Ich
          war lange im Rückzug. Jetzt geht es wieder bergauf. Ich habe ein Jobangebot
          bekommen.

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Pappesatt - HILF DIR SELBST
Umfrage
                                                                                         ug hat von
                                                  n ic ht s m eh r ge ht, wenn er gen
                                 Mensch, wenn                                                     in:
              Pappesatt ist ein                               ic ht en . W ir fr agten in Schwer
                                                      Nachr
                                 t, von schlechten
              Essen, von Arbei               W ie ge he n Sie damit um?
                                ie ge n u g?
              Wovon haben S

                     Sven Jentzen, Ltur Schwerin
                     Ich habe den schönsten Beruf und das Reisebüro hat sich wieder stabili-
                     siert. Mein Unternehmen nutzt die Pandemie, um durch Digitalisierung
                     fit für die Zukunft zu werden. Das macht Mut.
                     Pappesatt macht mich eher der Staat. In Flugzeugen und Hotels sind
                     nachweislich nur sehr wenige Infektionen aufgetreten sind, trotzdem
                     wurde Reisen wieder verboten.
                     Und die Parlamente trauen sich nicht zu regieren. Sie sollten das endlich tun.
                     Es gibt zwei Wege mit der Pandemie umzugehen: Angst oder Zukunft
                     gestalten! Ich bleibe im Kontakt mit Politikern und engagiere mich.

                     Dirk Ulbrich, Niedersachsen
                     Mich belastet Corona. Ganz besonders, dass die Politik sich nur um die
                     aktuellen Sachen kümmert, um die Einschränkungen. Aber nicht dar-
                     um, was wir in Zukunft machen. Darüber bin ich pappesatt!
                     Wir werden uns trotzdem mit der Familie an Weihnachten treffen.

                     Andrea Rang, Hannover, Fußpflegerin
                     Ich habe das Gefühl, die Politiker haben nichts aus dem ersten Lockdown ge-
                     lernt. 1,50 Meter Abstand lässt sich in der Fußpflege nicht realisieren. Also wird
                     sie verboten. Gerade die Menschen in Pflegeeinrichtungen leiden darunter,
                     denn das Pflegepersonal darf es nicht machen. Aber die Fußnägel wachsen...
                     Und die Zuwendungen, die Selbständige vom Staat erhalten, müssen sie als
                     Einnahmen versteuern. Darüber ärgere ich mich.

                     Karola Friedrich, Schwerin
                     Pappesatt passt ja zur Weihnachtszeit. Ich komme aus einer 14-köpfigen Fami-
                     lie, da musste man alles essen, was auf den Tisch kam. Ich musste lernen, recht-
                     zeitig aufzuhören, bevor ich zu viel esse. Auch wenn mal ein Löffel übrig bleibt.
                     Angebote wie Ente satt verstehe ich nicht. Da stopft man sich voll, nur um den
                     Preis richtig „abzuessen“. Das ist doch nicht gesund.

                     Julie, Gneven
                     Nassfutter rechts, trockenes links – ich kann mich nicht entscheiden. Am liebs-
                     ten mag ich sowieso das gute, frisch gekochte Essen von Frauchen. Und zwi-
                     schendurch natürlich gern auch ein paar Leckerlis.
Fotos: Hesse, Hamm

                                                                                                                5
Pappesatt - HILF DIR SELBST
Erfahrung

        Vom Umspringen und Abspringen
                                               Mein langer Weg zu mir

Unzählige Male war ich in meinem           wohnte unter dem Dach des Kindsva-        machen und vor allem besser auf mich
Leben pappesatt. Voll von überzoge-        ters und weiß bis heute nicht, wie ich    achten. Pappesatt machte ich jetzt
nen Anforderungen an mich selbst           es schaffte, an eine eigene Wohnung       mein Umfeld, das ich mit all meinen
und solchen, die von außen kom-            zu kommen. Ich entwickelte eine Urti-     gesammelten Lebensweisheiten per-
men. Wenn es darum ging, etwas gut         karia, hatte Angst-Panik-Attacken und     manent fütterte. Mich selbst fütterte
zu machen, hing meine Anspruchs-           war permanent satt. Doch anschei-         ich mit Seminaren und Weiterbildun-
latte immer zu hoch.                       nend war ich noch immer nicht pappe-      gen, die auch immer Selbstfindung
                                           satt. Da ging noch was. Da sie den An-    zum Inhalt hatten. Ich lernte „Nein“ sa-
„Wenn Du Dir nur ein bisschen mehr         sprüchen der Großeltern nicht gerecht     gen nur langsam und verband mich
Mühe gibst, schaffst Du das schon“ und     geworden waren, wurden meine Zwil-        einmal mehr mit einem nicht zu mir
„Aufgeben gilt nicht“ waren zwei von       linge zu mir zurück geschickt. Mit ei-    passenden Partner. Obwohl ich begrif-
vielen Glaubenssätzen, die mein Eltern-    nem Sack voller neuer Probleme, die       fen hatte, dass ich mich von narziss-
haus mir mit Nachdruck auf den Weg         auch nicht verschwanden, als sie in die   tischen Persönlichkeiten fern halten
gab. Ich sagte zwar immer: „Ich hab die    Lehre gingen. Meine Anstellung in ei-     sollte, konnte ich es nicht. Hier lock-
Nase voll“, doch funktionierte bestens     ner Arztpraxis wurde nach sechs Mo-       te endlich eine Atempause von Exis-
weiter. Wirklich sprach mein Magen         naten einvernehmlich beendet und ich      tenzangst und anderen Nöten. Die
mit mir. Das heißt, er sprach eben nicht
mehr mit mir. Oft waren schon drei Hap-
pen zu viel, weil ich nichts mehr runter
bekam. Pappesatt eben! Das ging oft
                                             „Wenn ich heute pappesatt
wochenlang so und ich schmiss mal
schwuppdiwupp eine bis zwei Kleider-
                                                     bin, dann höchstens von
größen ab. Am Körper rank und schlank          zu viel Lieblingsschokolade.”
und im Gesicht müde und fahl, fand ich
ersteres attraktiv und letzteres wurde
überschminkt. Da ich nicht in der Lage     musste mich arbeitslos melden. Mein       stetig wachsende Müdigkeit, das ewi-
war dieses Muster zu erkennen, über-       erstes Mal und völlig inakzeptabel. Ich   ge Durchhalten – das schien mit dieser
forderte ich mich mit den Jahren im-       erkämpfte eine Umschulung. Die schei-     Wahl kompensiert.
mer mehr. Ja, ich war eine Kämpferin,      terte an einer längeren Krankschrei-          Wunschdenken! Im Frühjahr 2015
aufgeben keine Option. Und wirklich        bung. Da ich über 20 Jahre das Pap-       kippte alles. Ich war unendlich müde,
gute Erkenntnisse aus der Selbstreflexi-   pesatt-Sein nicht wahr haben wollte,      Tränen liefen bei jeder Kleinigkeit; die
on wurden nur minimalistisch in die Tat    meldete sich mein Rücken dazu. Eine       Welt war nur noch grau. Pappesatt war
umgesetzt.                                 Bandscheibe hatte sich auf den Weg        ich schon lange, doch nun konnte ich
    Mit Ende 30 war ich an einem Tief-     gemacht, mich immer dann zu quälen,       dieses Gefühl nicht länger ertragen.
punkt angekommen. Abgemagert und           wenn ich hätte innehalten sollen. Doch    So sprang ich ohne Sicherungsseil und
mit allen Symptomen einer Depression       stattdessen machte ich mich mit einem     ohne Plan in eine ungewisse Zukunft.
hatte ich einen völlig verzerrten Blick    Secondhand selbständig - überschau-       Mit der Angst, völlig die Kontrolle über
auf mich. Ich hatte es geschafft, den      bare Miete, Ware auf Kommission, prä-     mein Leben zu verlieren, mobilisierte
Vater meiner jüngsten Tochter zu ver-      sentiert in selbstgebastelter Ladenein-   ich meine letzten Reserven und ging in
lassen, mit nichts als meinem Hausrat,     richtung. Ständig war ich am Tun und      eine lange Krankschreibung.
einer Waschmaschine und einem al-          Machen und nährte so meinen fragilen          Es hat vier Jahre und viele schmerz-
ten Kleiderschrank. Meine pubertieren-     Selbstwert. Mein Appetit nahm Fahrt       hafte Momente gedauert, mein Leben
den Zwillinge waren zu den Großeltern      auf. Und beim neuen Partner dachte        mit neuer Kraft neu durchzustarten.
abgewandert und mein Selbstwert als        ich, diesmal besser gewählt zu haben.     Wenn ich heute pappesatt bin, dann
Mutter schien irreparabel zerrüttet. Ich       Mit 45 dann die Bandscheiben-         höchstens von zu viel Lieblingsschoko-
hatte keinen Job, kein Einkommen,          OP. Aber nun wollte ich alles besser      lade.                 Evelyn Eichbaum

6
Pappesatt - HILF DIR SELBST
Projekt

           FKK – eine Idee bekommt Räder
                     Zwei Schwerinerinnen gründen einen mobilen Unverpackt-Laden

Mit seinen zwei Jahren ist der klei-
ne Almar eigentlich zu jung für sein
Hobby. Trotzdem betreibt er es mit
großer Begeisterung. Am liebsten
steht der Junge in seiner Spielzeug-
küche und schwingt die Pfanne.
Mama Genevieve füllt sie mit Nüs-
sen oder anderen ungefährlichen,
aber gesunden Lebensmitteln.

Von ihr hat er es gelernt, dass am bes-
ten schmeckt, was man selbst zuberei-
tet hat. Als die Schwerinerin mit 15 Jah-   Im November begann das Crowdfunding für Schwerins ersten Unverpackt-Laden.
ren zu Hause ausgezogen ist, hat sie        Genevieve Braune (r.) und Susanne Meletzki.                      Foto: Genevieve Braune
genau das getan: selbst gekocht. Und
nicht nur für sich und ihre Schwester,      die Familie es, den Verbrauch von Plas-      beschreibt die Gründerin das Prinzip.
auch im damaligen Café Kunterbunt,          tetüten von vier auf eine im Monat zu        „100 bis 150 Produkte können wir an-
zu Lesungen, Konzerten. „Kultur und         reduzieren. Das Prinzip ist nicht, kei-      bieten. Abgefüllt werden sie in mitge-
Kochen“, findet sie, „passt doch ideal.“    nen Müll mehr zu produzieren, son-           brachte Flaschen, Gläser oder Dosen.“
Die junge Mutter von inzwischen zwei        dern less waste, also weniger.               Um das Projekt zu finanzieren, starte-
Jungs hat Kulturwissenschaft und                Vor einigen Jahren hatte sie ge-         ten die beiden Frauen im November
französische Philologie studiert, dabei     meinsam mit einer Freundin einen             das Crowdfundig. Wer die mobile Freie
ihren ersten Sohn großgezogen. Und          Gedanken, aus dem sich eine Ge-              Konsumkultur unterstützen möchte,
für andere Menschen gekocht. „Klar,         schäftsidee entwickelte: in Schwerin         kann das über startnext.com tun.
dass ich immer zu wenig Zeit und Geld       den ersten Unverpackt-Laden zu er-               Wer mit Genevieve Braune spricht,
hatte“, sagt sie. Trotzdem wollte sie       öffnen. Mit FFK – Freie Konsumkul-           bekommt garantiert auch Koch- und
nie auf gute Lebensmittel verzichten.       tur beteiligten sich die jungen Frau-        Haushaltstipps serviert. Diese Erfah-
„Öko ist vielen Menschen ja zu teuer,       en am IHK-Gründerwettbewerb 2017             rungen hat sie in ein Projekt mit der
sie finden, Umweltbewusstsein könne         und siegten. Eine Umfrage ergab, dass        Schweriner BUND-Jugend gesteckt.
man sich nicht leisten,“ so ihre Erfah-     die meisten Schwerin sich Einkaufs-          Sie bietet Kochkurse an Schulen an.
rung. „Doch das stimmt nicht, denn es       alternativen zu den Supermärkten             Auch Erwachsene können von ihr ler-
ist ja nicht nur ein Zugewinn für mich      wünschen. Trotzdem gibt es den La-           nen bei Veranstaltungen unter dem
allein, sondern für unsere ganze Um-        den noch nicht – die Umsetzung war           Motto „Das kann ich selbst“ im Schwe-
welt.“ An die Stelle ständiger Ersatzbe-    nicht zu finanzieren, die Freundin zog       riner co-working-Café Tisch. Haupt-
friedigung durch Einkaufen setzt sie        weg. Doch mit ihrer neuen Geschäfts-         beruflich engagiert sie sich für Kul-
den bewussten Konsum. Das ist nach-         partnerin Susanne Meletzki will Gene-        tur im Schleswig-Holstein-Haus. Ihre
haltig und günstig.                         vieve ihn nun umsetzen. Etwas modi-          Rostrocker Freundin Christin Waters-
     Den größten Verzicht übt Gene-         fiziert, denn es wird einen FKK-Laden        trat, eine begnadete Grafikerin, unter-
vieve Braune bei den Verpackungen,          auf Rädern geben, der auf Märkten            stützt sie beim Kunstprojekt, das diese
denn „dieser Plastikmüll störte mich        und in Dörfern Station machen soll.          in Schwerin aufbauen möchte...
schon immer. Ich kaufe fast alle Dinge      „Wenn Sie auf dem Markt frische Wa-              „Manchmal“, gesteht die junge
inzwischen unverpackt.“ Das sei leicht      ren einkaufe, müssen Sie oft danach          Frau, „bin ich pappesatt, überfordert
bei Obst und Gemüse; für Backwaren          noch in den Supermarkt für Mehl, Öl,         mit Familie, Arbeit und meinen Pro-
hat sie immer einen Beutel dabei und        Reis, Pasta, Erbsen, Putzmittel. Das         jekten. Da muss ich lernen Maß zu
fürs Fleisch reicht eine hauchdünne         wird nicht mehr nötig sein, denn das         halten.“
Folie. Mit dieser Umstellung schaffte       bekommen Sie dann alles bei uns,“                                    Birgitt Hamm

                                                                                                                                 7
Pappesatt - HILF DIR SELBST
Thema

    Pappensatt, wieder
fremdbestimmt zu sein
         Corona nutzen und Dinge überdenken

Ich bin im Sozialismus groß geworden.
In der Schule wurde ich gelobt, wenn
ich mich an die Regeln hielt. Einmal je-
doch bekam ich einen Tadel. Nur weil
ich neugierig das Schulgelände 50                                Fremdbestimmt 	                         Foto: Henriette Fotografie
Meter weit verließ, um eine liegenge-
bliebene Straßenbahn anzugucken.
Ich verstand mit meinen damals acht
Jahren nicht, was daran so schlimm
sei, dass ich vor der ganzen Schule auf      Eine eigene Meinung zu entwickeln.         verstehen, Abstand zu halten und eine
dem Fahnenappell getadelt werden             Kritisch auf alles zu gucken. Ich wur-     Maske für eine gewisse Zeit zu tragen.
musste. Ich habe mich sehr klein und         de unbequem. In Firmen, in denen ich       Aber alles zu verbieten, was Leben be-
schuldig gefühlt. Um diese unange-           arbeitete, machte ich den Mund auf,        deutet, ist doch etwas zu viel verlangt.
nehme Erfahrung nicht noch einmal            wenn mir Arbeitsabläufe unproduktiv        Das erinnert mich an diese Schauspie-
erleben zu müssen, lernte ich schnell        erschienen. Das stieß nicht auf Beifall    lerin, die sich die Brüste entfernen ließ
artig zu sein. Ich befolgte die Regeln,      und so musste ich oft Spießrutenlau-       um keinen Brustkrebs zu bekommen.
egal wie sinnlos oder erniedrigend sie       fen oder wurde gemobbt. Das wiede-         Unser Leben einschränken vertreibt
manchmal waren. Jede autoritäre Per-         rum brachte die nächsten Burn outs.        vielleicht Corona, aber es werden wei-
son hatte uneingeschränkte Macht             Am Ende wählte ich die Selbstständig-      tere Krankheiten kommen, die uns da-
über mich. Bewundert habe ich die            keit. Wie heilsam, sich nicht mehr von     rauf hinweisen werden, dass es eine
Schüler, die sich dem widersetzten mit       Menschen traktieren zu lassen, die oft-    Ursache für diese Entgleisungen auf
allen Konsequenzen. Sie waren die He-        mals keine Ahnung hatten. Dies koste-      der Welt gibt. Und das ist der Mensch
ros in meinen Augen.                         te mich einige Beziehungen – alles hat     selbst, der verlernt hat auf sich zu hö-
    Je älter ich wurde, desto mehr ent-      seinen Preis im Leben. Die Freiheit, das   ren und im Einklang mit Mutter Natur
fernte ich mich von mir selbst. Es allen     zu tun was ich möchte, ist wunderbar.      zu leben. Jeder sollte hinterfragen, ob
recht zu machen, bedeutet am Ende            Gerade habe ich es schätzen gelernt,       er weitestgehend im Einklang mit der
ein gehöriges Maß an Selbstaufgabe.          da kommt Vater Staat und will mich         Natur lebt und seinen vorbestimmten
Das wiederum schwächt den Selbst-            wieder einschränken. Das macht mich        Platz ausfüllt. Als Konsumenten ha-
wert. Die Wende kam und die Anfor-           pappensatt.                                ben wir Macht. Jeder sollte sich Fragen
derungen stiegen. Ich versuchte nach             Corona. Diese Krankheit hat weni-      stellen. Zum Beispiel: Brauche ich eine
wie vor den Erwartungen der Men-             ger dahingerafft als die Grippe. Doch      neue Hose, bevor die alte kaputt ist?
schen um mich herum und der neuen            wird sie so dramatisiert, dass die Angst   Habe ich genug Geld um mich biolo-
Gesellschaftsordnung zu entsprechen.         umgeht. Angst macht eng im Denken          gisch zu ernähren? Muss ich jedes Mal
Buckeln bis zum Umfallen. Alleinerzie-       und verführt zu unüberlegten Hand-         eine Tüte für Obst und Gemüse neh-
hend, Schichtdienst, vom Arbeitgeber         lungen. Manche Menschen, die keine         men? Muss ich das kleine Stück mit
vorgegebene Ziele, die unerreichbar          Maske tragen, werden von anderen           dem Auto fahren? Bewege ich mich
waren. Resultat war mein erstes Burn         verprügelt. Ich halte mich zum Glück       genug? Geh ich einer sinnvollen Ar-
out. Es sollte nicht das letzte sein in      an die Regeln. Habe jedoch weniger         beit nach? Damit wäre der Erde schon
meinem Leben. Ich brauchte diese Kri-        Angst vor Corona als vor Vater Staat.      viel geholfen.
sen. Sie halfen mir zu erkennen, dass        Ich frage mich: „Was ist das eigentliche       Na, vielleicht bringt Corona we-
ich auf mich hören sollte, egal wie sehr     Ziel dieser Maßnahme?“ Wovon soll          nigstens eines: Zeit viele Dinge zu
mich andere dafür tadeln.                    uns diese übersteigerte Panikmache         überdenken und nicht alles hinzuneh-
    Step by Step fing ich an, alles zu hin-   ablenken? Ich fühle mich mehr einge-       men.
terfragen. Nicht alles hinzunehmen.          schränkt als zu DDR-Zeiten Ich kann                                 Ihre Flora Earth

8
Thema

                          Diebe oder Lebensmittelretter?
                                                                    Eine junge Frau erzählt vom „Containern“

Lange nach Ladenschluss machen            denen ich nach Verwertbarem such-       Tipps weiter gibt. Die Beiden haben
sich zwei junge Frauen in einem           te. Mit Jog­hurt, Bananen, Sand­wich­   auch schon Selbstversuche gemacht,
kleinen Dorf Mecklenburg-Vor-             broten und anderen genießbaren          mit wie wenig Geld sie auskommen,
pommerns auf dem Weg, um aus              Dingen fuhren wir nach Hause. Seit-     wenn sie regelmäßig auf Tour gehen.
den Abfalltonnen von Supermärk-           dem bin ich mit dem Containervi-        Es ist interessant zu sehen, wie es die
ten Lebensmittel zu holen. „Con-          rus infiziert. Zwei-, dreimal im Mo-    Anderen machen!
tainern“ ist das gebräuchliche Wort       nat mache ich mich nun auf den Weg.         Seit meinem ersten Mal, als ich mit
dafür. Diebstahl nennen es die Ge-        Manchmal allein, manchmal mit mei-      A. loszog, um fremde Mülltonnen zu
setzestreuen, Lebensmittel retten         ner jungen Kollegin oder eben mit A.,   durchsuchen, habe ich viel über den
die Befürworter des nächtlichen           wenn sie mich besucht. Natürlich ist    Umgang mit Lebensmitteln gelernt.
Treibens.                                 es uns wichtig, dabei nicht gesehen     Und ich finde es immer noch traurig,
                                          zu werden. Einmal, als plötzlich Leu-   dass perfekte Äpfel, Tomaten oder
Warum sie nachts in Tonnen kramt,         te unterwegs waren, lenkte A. sie mit   Joghurt in der Tonne landen müs-
erzählt Manuela M. dem KISS-Maga-         sportlichen Übungen ab, während ich     sen. Das Sortieren kostet mich immer
zin: Die Idee mit dem Containern be-      hinter der Tonne kauerte.               noch viel Zeit. Deshalb gehe ich auch
schäftigt mich schon lange Zeit. Ich          Wir nehmen nur Dinge mit, die wir   nur ein paar Mal im Monat los. Ich will
arbeite in der Landwirtschaft, des-       auch brauchen. Ich verarbeite und       ja nicht, dass das, was wir in der Nacht
halb weiß ich, wieviel Arbeit in der      esse jetzt viel mehr Obst und Gemü-     gerettet haben, ein paar Tage später
Nahrung steckt. Wenn ich mir vorstel-     se. Man sieht immer, was gerade Sai-    dann in meiner eigenen Mülltonne
le, dass davon ein großer Teil im Müll    son hat. Vor ein paar Wochen waren      landet.
landet, finde ich das traurig und et-     zum Beispiel viele Packungen mit            Wenn mein Vater das nächste Mal
was davon zu retten, wollte ich schon     Blaubeeren, davor Erdbeeren zu fin-     zu mir kommt, muss er mir unbedingt
immer mal ausprobieren. Nebenbei          den. Auch Schnittblumen haben wir       erklären, was ich mit dem Schwei-
spart man natürlich den einen oder        schon gerettet. Kurz vor Weihnachten    nebraten anstelle, der seit dem ers-
anderen Euro. Aber das ist nicht der      findet sich jede Menge Zimtgebäck.      ten Beutezug in meinem Gefrierfach
Grund, warum ich mich nach einem          Es gibt auch Superfunde, wie die vie-   wohnt.
Arbeitstag noch einmal auf den Weg        len Trinkpäckchen mit Saft oder die
mache.                                    große Menge an Schokoriegeln. Was
    Meine beste Freundin A. studiert      wir nicht selbst essen, verschenken
in einer großen Stadt und besucht         wir. Unsere Freunde wissen, woher
mich oft in meinem Dorf. Sie liebt Tie-   die Dinge kommen und haben kein
re, genau wie ich. Seit langem ernährt    Problem damit.
sie sich vegetarisch. Ich dagegen esse        Auch meinen Eltern und Ge-
gerne Fleisch und Wurst. Aber mir ist     schwistern habe ich von unseren
es wichtig, dass die Tiere ihr Leben      abendlichen Touren berichtet. Meine
artgerecht verbringen können.             Mutter hat natürlich etwas Angst um
    Als mich A. wieder einmal be-         mich, findet aber trotzdem gut, was
suchte und wir überlegten, was wir        wir machen. Und mein Vater ist der
am Abend machen wollen, kam uns           erste Ratgeber, wenn es darum geht,
der Gedanke, das Containern end-          Fleisch und Gemüse zu verarbeiten.
lich einmal auszuprobieren. Das ers-      Aber manchmal ist er auch ratlos,
te Mal waren wir sehr aufgeregt. Kurz     zum Beispiel bei dem vielen Porree,
vor Mitternacht fuhren wir endlich        den ich neulich gefunden habe.
los. Bei den ersten Märkten waren die         Ich habe mich von Anfang an
Tonnen verschlossen. Wir fuhren wei-      auch im Internet informiert. Folge
ter und weiter und fanden offene, in      einem Paar auf Instagram, das viele                               Fotos: Anonyma

                                                                                                                        9
Menschen

  Wenn Hilfe erst einmal abgelehnt wird
                      Als pflegende Angehörige im ständigen Widerspruchsmodus

                                                 WIDERSPWIDERS
                                                        RUCH PRUCH

Pappesatt – dazu fällt mir wieder al-     beantragter Hilfen oder Pflegegrade,             mit einem Ausweis als gerichtlich be-
lerhand ein, was ich damit in Ver-        Fahrkostenerstattungen und so wei-               stellte Betreuerin, einer notariell be-
bindung bringen kann: Meine neu-          ter. Es entsteht durchaus der Eindruck,          glaubigten Urkunde und einer guten
erdings vor Pappe überquellende           dass Behörden erst einmal alles - oder           Rechtsschutzversicherung. Diese Din-
Mülltonne, ein Ende dieses Zustan-        wenigstens das meiste - ablehnen.                ge waren aber nur die eine Seite der
des ist nicht wirklich absehbar, aber     Gelegentlich verschwinden auch Un-               Medaille. Die andere: Ich investier-
damit kann ich gut leben; eine ge-        terlagen in einem großen schwarzen               te viel Zeit, Kraft, Nerven, Papier, Dru-
fühlt nicht enden wollende dunk-          Loch…                                            ckerpatronen, Porto, musste Gesetze
le Jahreszeit, die jetzt ja gerade mal         Wer sich da nicht wehren kann               lesen, Telefonate führen, bei Behörden
anfängt; Corona ohne Ende – die           oder will, hat schnell verloren. Ich habe        auf der Matte stehen und sagen „So
Aufzählung könnte ich noch um et-         mich im Namen meiner kranken Ange-               nicht“. Gut möglich, dass die Aufzäh-
liches weiterführen.                      hörigen immer gewehrt, ausgestattet              lung nicht vollständig ist. Die Zeit, die
                                                                                                      ich damit verbracht habe
Corona mal ausgenommen                                                                                Widersprüche zu schreiben
ist meine Aufzählung selbst                                                                           und Klagen einreichen zu
mit den hier nicht genann-                                                                            lassen, hätte ich viel lieber
ten Dingen nichts gegen                                                                               mit angenehmeren Dingen,
das, was man so als pfle-                                                                             vor allem mit meiner Familie
gender Angehöriger erlebt.                                                                            verbracht.
Mehr als zehn Jahre war ich                                                                               Aber manche Dinge
ununterbrochen in dieser                                                                              kann man sich nicht aus-
Situation und hatte eigent-                                                                           suchen und wenn man es
lich immer irgendwo einen                                                                             schleifen lässt, löst man
Widerspruch laufen, gele-                                                                             das Problem nicht. Also Är-
gentlich ein Klageverfah-                                                                             mel hochgekrempelt, tief
ren, manchmal auch bei-                                                                               Luft geholt und auf ein
des gleichzeitig. Habe ich                                                                            Neues! Nein, im Moment
ganz am Anfang noch ge-                                                                               muss ich auf der Schiene
dacht, das erlebe nur ich,                                                                            gerade nichts tun. Ich hof-
wurde ich durch Verwandte                                                                             fe, dass das so bleibt und
und Bekannte im Laufe der                                                                             wünsche allen, die jetzt
Zeit immer häufiger eines                                                                             in dieser Situation sind,
besseren belehrt. Haben wir                                                                           Mut, Kraft, Durchhaltever-
uns über die Pflege unserer                                                                           mögen und ja, gelegent-
Angehörigen unterhalten,                                                                              lich braucht man auch das
                               Statt ihre Zeit dem kranken Vater oder der hinfälligen Großmutter zu
ging es immer auch sehr        widmen, müssen sich pflegende Angehörige oft mit bürokratischen        notwendige         Kleingeld.
stark um die Ablehnung         Entscheidungen der Pflegkasse herumschlagen. Foto: Sabine Klemm        Brunhilde Spickermann

10
Thema

„Ach, Sie sind psychisch krank, na dann!“
                                 Ermüdende Berichte aus dem Alltag bei Ärzten

„Ich habe sehr viele gesundheit-            machen wir uns nichts vor, viele psy-      Wollpullover. Ohne Vorankündigung
liche Probleme seit sieben Jahren           chisch Kranke scheuen sich eher da-        „renkte“ er mich ein. In meiner Wahr-
und JEDES Mal muss ich rumdisku-            vor, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie      nehmung schmiss er sich mit voller
tieren und mich rechtfertigen, wäh-         sind gefangen im Denkmuster „Ich bin       Wucht auf mich. Es fühlte sich einfach
rend gleichzeitig sich mein Zustand         es nicht wert, dass man mir hilft.“ Hät-   erniedrigend an. Als ich mich wie-
drastisch verschlimmert.“                   te der diensthabende Notarzt schnel-       der hochrappelte, fragte er nach mei-
                                            ler reagiert, wären mir Bluttransfusio-    ner genauen Diagnose. Statt zu sagen,
So beschreibt Alice (Username) bei          nen und Beatmung erspart geblieben.        das tut hier nichts zur Sache, antwor-
Twitter ihre Situation als psychisch             Am eigenen Leib habe ich ein an-      tete ich wahrheitsgemäß: Posttrauma-
Kranke mit gleichzeitig körperlichen        deres ärztliches Desaster erlebt. Seit     tische Belastungsstörung. Er lächelte
Beeinträchtigungen. Eine andere Twit-       frühester Jugend bin ich wegen mei-        süffisant: „Das dachte ich mir schon.“
terin ergänzt: „Ich wäre eher für das       ner Wirbelsäule in Behandlung. Als             „Wie kommuniziert man physio-
positive Beispiel – meine Hausärztin        Studentin sagte mir ein Orthopäde:         logische Gesundheitsbeschwerden,
nimmt mich immer sehr ernst. In ei-         „Sie haben halt eine ungünstige Sta-       wenn bei jedem Versuch, das zu tun,
ner Klinik hingegen bekam ich selbst        tik“. Stimmt, schon in der Bibel stand     automatisch der Fokus auf psychische
bei Erkältung nur nach Diskussion Me-       „Eine lange Dürre wird kommen.“ Das        Gesundheitsbeschwerden           rutscht,
dikamente, und es sollte in der Grup-       bin ich. Seit meiner Studentenzeit sind    weil das eine das andere auslöst, aber
pentherapie besprochen werden, wie-         mehr als zwei Jahrzehnte ins Land ge-      nicht zwangsläufig bedingt? Ich versu-
so man erkältet ist und was es einem        gangen. Der Rücken möppert regel-          che das seit Tagen, und es ist wirklich
sagen soll.“
    An den Beispielen sieht man,
dass es von beiden Seiten Vorurtei-
le bzw. verfestigte Meinungen gibt.
                                                    „Viele psychisch Kranke
Als Mensch mit psychischen Erkran-
kungen muss man sich einfach immer
                                                 scheuen sich eher davor,
verteidigen.                                             Hilfe in Anspruch
    „Ich hatte mal eine starke Eisen-
mangelanämie. Jedoch wollte man                       zu nehmen.”
mir keine Eiseninfusionen geben, da
ich ja lediglich depressiv sei. Und das
alles, weil man leider meine Selbst-        mäßig, aber mich psychisch stabil zu       sehr schwierig. Fühle mich null Ernst
verletzungsvergangenheit beim Blut-         bekommen, stand jahrelang im Vor-          genommen... und das triggert wiede-
abnehmen erkennen kann.“ So be-             dergrund. Dann keimte der Gedanke          rum, weil es nie ernst genommen wur-
schreibt „Lucy“ ihre Erfahrungen. Ein       „Selbstfürsorge“ auf. Ja, ich habe Rü-     de, sobald es hier gravierende nicht
Twitterer antwortet ironisch: „Prakti-      ckenschmerzen, vielleicht kann sich da     psychische Erkrankungen gab. Wo ich
scherweise macht dich Selbstverlet-         jetzt jemand drum kümmern. Der Ter-        wieder bei ´Ich darf nicht krank sein!´
zung lebenslang immun gegen jegli-          min beim Facharzt war ernüchternd.         lande.“ So beschrieb eine weitere Use-
che schädlichen Einflüsse von außen. “          Ich wurde gefragt, was ich be-         rin unser Dilemma.
    Es ist ermüdend. Als Mensch mit         ruflich mache. Für einen Orthopä-               Mir geht es hier nicht um Ärztebas-
psychischen Erkrankungen fühlt man          den eine durchaus berechtigte Frage.       hing. Aber ich möchte denen, die Un-
sich schnell als Patient zweiter Wahl. In   Nachdem ich sagte, ich sei berentet        recht erfahren haben, eine Stimme
der letzten Ausgabe schrieb ich bereits     wegen psychischer Erkrankung, hat-         geben. Und generell an Ärzte und Ärz-
über meine Erfahrung in der Notauf-         te sich meine Weiterbehandlung erle-       tinnen appellieren, ihre Patient*innen
nahme. Ich wurde über Stunden nicht         digt. Ich wurde lediglich gefragt, wo es   als Ganzes zu sehen. Wir sind nicht „die
versorgt, weil ich irgendwie unter die      denn weh tue. Ich sollte mich bäuch-       eine“ Diagnose, sondern Menschen in
Kategorie „Hypochonder“ fiel. Aber          lings auf die Liege liegen, im dicken      all ihren Facetten.      Kirsten Sievert

                                                                                                                            11
Erfahrung

Diese Kühe genießen den Überfluss, auch wenn ihnen gern ein Anteil an der Klimaveränderung zugeschrieben wird.      Foto: Birgitt Hamm

                      Immer Mehr und Weiter so
             Gewinn-Maximierung ist schon fast ein Credo unserer westlichen Gesellschaft

Auf der Münchner Sicherheitskon-               genannte Modell hoffen auf ein ge-             (und mittlerweile viele junge Medizi-
ferenz verkündete der US-Außen-                wisses Umdenken.                               ner, die sich organisieren) pappesatt.
minister Pompeo: „ Wir hier im Wes-               Noch zur Konkretisierung dessen             Es wäre staatliche Aufgabe, der Ma-
ten sind alle am gewinnen“; konform            was wir uns „leisten“, besser, was uns         ximierung der Umsätze entgegen zu
mit Trumps Äußerung: Wir werden so             aufgezwungen wird. Hier zwei Bei-              wirken.
viel gewinnen, dass wir vom Gewin-             spiele. 1. Recycling-Höfe haben das                Einen, wie ich finde, interessanten
nen müde werden!“ Als ob wir nicht             Problem mit einer stetig wachsenden            Aspekt zum grenzenlosen Wachstum
längst bei Weitem mehr als genug               Unmenge an Pappen. Das haben sie               fand ich in einem Bericht der Süd-
hätten – also pappesatt sein müssten!          natürlich buchstäblich pappesatt. Be-          deutschen Zeitung: Im Silicon-Val-
Die Mehrheit in unserer Gesellschaft           dingt ist das natürlich durch den hor-         ley denkt man selbstkritisch über die
folgt brav-trottend den Eseleien der           renden online-Verkehr.                         Folgen des Wachstumsdenkens nach
Wirtschaft, der Werbung, der Politik;             Fast ausschließlich Gewinnstre-             (hier: Digitalisierung). Der Mensch
ich habe das dicke oder eben pap-              ben ist sichtbar in der Privatisierung         ist kein digitales, er ist ein analoges
pesatt. Natürlich gibt es – und zwar           der Medizin. So „sind es in einem exis-        Wesen.
sogar zunehmend – neue Denk-Mo-                tenzbedrohenden         Verdrängungs-              Eine gebremste Digitalisierung
delle; z. B. Firmen, die das Gemein-           wettbewerb die Erlöse, die am Ende             und ein winziges Zurück zum Analo-
wohl über den Gewinn stellen; Ge-              über das Schicksal eines Kranken-              gen würde ich mir wünschen – denn
schäftslogik, die nicht vordergründig          hauses und auch über das der Pati-             allein das pausenlos zitierte Wort „Di-
den Börsenwert im Auge hat, son-               enten entscheiden“ (Zitat: Giovanni            gitalisierung“ (zusammen mit den un-
dern soziale und ökologische Interes-          Maio, Professor für Ethik). Diese Öko-         sozialen Medien) nervt mich, pappt
sen verfolgt. Immerhin lässt das eben          nomisierung der Medizin habe ich               mich satt.          Jürgen Friedmann

12
Thema

Das Buch
stinkt
Die besten Geschenke für
unsere Kinder

Zu Ostern 2020 – meinem ersten
Ostern in Schwerin ohne Familie –
dachte ich darüber nach, womit ich
meinen Enkelkindern eine Freude
machen könnte. Ich kenne meine En-
                                               Unmengen an Spielzeug oder Zeit schenken? Das fragen sich die Groß-
keltochter Emma mit ihren beson-               eltern oft, wenn sie ihren Enkeln eine Freude machen wollen.
deren Interessen und Vorlieben. Sie                                                               Foto: Birgitt Hamm
mag Bücher und lesen und ist sehr
wissbegierig und naturverbunden.
Und sie ist mir in ihrem Wesen sehr         Duftkinderbuch „Kräuterhexe Thymia-             lachte: „Und der Koboldpupsgeruch
ähnlich. Also wird sie auch lieben,         na beim Koboldkönig“ gekauft. Ich war           stinkt da wirklich.“
was ich liebe! Ich wollte ein „sinn-        sehr begeistert davon, dass man jetzt               Wütend antwortete meine Enkel-
volles und pädagogisch wertvolles“          selbst Düfte auf Papier konservieren            tochter: „Nein alles, das ganze Buch
Geschenk machen, über das sie sich          konnte. Nur kurz rubbeln – und schon            stinkt ekelhaft“ und hielt sich dabei die
freuen sollte.                              wurde der Geruchssinn angesprochen.             Nase zu.
                                            Und die Verknüpfung von sehen, hö-                  Oh je! Ich, war für einen Moment
In meiner Kindheit habe ich zu allen        ren und riechen garantiert eine nach-           sprachlos – und stotterte fast entschul-
Geschenken höflich „Danke“ gesagt,          haltigen Lerneffekt. Einfach genial! Und        digend für mein erneutes Buchge-
obwohl ich mit manchen Dingen nichts        eine unterhaltsame Geschichte noch              schenk: „Nein, dieses Mal sind keine Ge-
anfangen konnte.Weil ich eben schon         obendrein! Schweren Herzens trenn-              rüche dabei.“
da spezielle Interessen hatte, anders als   te ich mich von diesem Lieblingsbuch                Was ich daraus gelernt habe?
andere. Obwohl es früher wohl einfa-        und schickte ich es liebevoll verpackt              Es ist in der heutigen Zeit der Über-
cher gewesen sein muss, dem Kinde ei-       per Post zu meiner Enkeltochter.                fülle und des Überangebotes zwar fast
nen Herzenswunsch zu erfüllen, da wir           Und erhielt auch ein liebevoll ge-          wie im Schlaraffenland. Doch Vorsicht
ja im Mangel und nicht in der Fülle leb-    sprochenes „Dankeschön Oma Iris“                mit Geschenken! Es ist vielleicht doch
ten. Meistens gab es praktische Sachen.     über Whats App Video zurück. Alles in           besser vorher nach den Wünschen zu
Die man eben gut gebrauchen konnte.         Ordnung, dachte ich und freute mich             fragen, um derartige Überraschun-
    So glaubte ich als erfahrene Oma        noch einmal. Schenken ist eben etwas            gen in Zukunft zu vermeiden. Und
und pädagogische Fachfrau genau den         Schönes.                                        Kinder sind heute anders, ehrlich und
richtigen Treffer bei meiner Enkeltoch-         Es vergingen vier Monate, bis ich           unverblümt und auch manchmal un-
ter zu landen.                              meiner Enkeltochter bei der Schulein-           verschämt – und wehe, wenn sie losge-
    Ich selbst liebe Kinderbücher und       führung ihres Cousins in Jena begegne-          lassen…! Bei der alltäglichen Reizüber-
die darin verpackten Lerninhalte über       te. Im ausgelassenen Kinderspiel und            flutung mit Informationen und Dingen
das Leben sehr. Schön illustriert ver-      der Wiedersehensfreude aller Enkel              stelle ich auch bei Kindern schon eine
steht mein inneres Kind viel mehr von       wollte ich ihr erneut ein sehr schönes          Sättigung und Unzufriedenheit fest.
dem, was manchmal in den Erwachse-          und lehrreiches Kinderbuch schenken –               Ich frage mich: „Worüber können
nenbüchern in ausschließlich schwar-        mit Rezepten drin zum Selbermachen.             sich Kinder heute wirklich freuen?“
zen Buchstaben gedruckt steht. Und              Doch sie zog die Mundwinkel nach                Meine Antwort: Gemeinsam Zeit
da ich mich ganz speziell für Natur-        unten und fragte: „Ist das wieder so            verbringen. Das Rezeptebuch werde
medizin interessiere und dafür, wie         ein stinkendes Buch?“ Ich musste kurz           ich mit Emma gemeinsam ausprobie-
man sich alternativ zur Schulmedizin        überlegen. „Ah ja, du meinst die schö-          ren – und wir werden dabei viel Spaß
selbst helfen kann mit allerlei Kräutern    nen Kräuterdüfte, die man riechen               haben.
und Gewürzen, hatte ich für mich das        kann beim Lesen?“ gab ich zurück und                                           Iris Hesse

                                                                                                                                  13
Erfahrung

      Heilig Abend in einer Nicht-Familie
                                                                                     In „Blühen wie es meinen Wurzeln ent-
Das Weihnachtsfest mit der Familie                                                   spricht“ erzählt die in Pinnow lebende Han-
zu verbringen, macht manche Men-                                                     na Strack ihre Lebensgeschichte, mit der
schen pappesatt – zu viele Geschen-                                                  sie Mut machen möchte zum eigenen Sein.
                                                                                     Das Buch ist in der AT Edition erschienen
ke, zu viel Essen, zu viel Stress. Wie es                                            (ISBN978-3-89781-271-0).
anders geht, beschreibt die Autorin
Hanna Strack in ihrem autobiografi-
schen Buch „Blühen, wie es meinen
Wurzeln entspricht“:                                                                 will die Rede eines Freundes zitieren,
                                                                                     der über seine sexuellen Erfahrungen
Wolfgang kommt gegen 15 Uhr und                                                      gesprochen hatte. Flapsige Bemer-
bringt zwei Gitarren. „Vielleicht kommt                                              kungen von allen Seiten. Liebe, Lie-
noch ein Kurskamerad, Peter, dem das                                                 be und Angst. Weihnachtsthema also
Fest zuhause zuwider ist, ich hab ihm                                                doch.
gesagt, bevor du dich vor die S-Bahn                                                 Selleriesuppe. Volker singt mit meiner
wirfst, komm zu uns.“                                                                Begleitung aus dem Schemellischen
Jochen kommt. Er hackt die Walnüsse                                                  Gesangbuch: „Ich steh an deiner Krip-
für den Obstsalat. Er erzählt, was seine                                             pe hier.“ Sabine singt mit.
WG-Mitbewohner über Gottesdiens-                                                     Hauptgericht, Pute. Christian kommt,
te denken. Sie können sich nicht vor-       heute. Sie haben die afrikanischen       mein Neffe, Student. Ob er nachher sei-
stellen, dass dort getanzt wird. Ich bin    Trommeln vergessen, die sie mitbrin-     ne Mutter in Finnland anrufen kann?
Pfarrerin und halte gelegentlich Got-       gen wollten. Wir holen sie. Es läutet.   Die Pute reicht für alle. Lob für den
tesdienst in Vertretung des Pfarrers,       Der angekündigte Kurskamerad steht       Koch. Sabine will eine Weihnachtsge-
bei denen ich ihn nicht nach der Litur-     vor der Tür. Gut, dass er angekündigt    schichte von Theodor Storm vorlesen.
gie, sondern nach dem biblischen Text       war. Wir heißen ihn willkommen, rich-    Sie empfindet die als echt weihnacht-
gestalte. Da kommen dann auch me-           ten ein elftes Gesteck.                  lich anrührend. Wir lauschen.
ditative Tänze vor.                         Wir proben „Süßer die Glocken nie        Obstsalat. Afrikanische Trommeln,
Volker kommt. Er war Skifahren in           klingen“, mehrstimmig, Gitarrenbe-       Andrea und Sonja beginnen mit dem
Hochfügen mit seinen Freunden. Ihm          gleitung. Dann Anruf bei der bettläg-    Grundrhythmus, alle improvisieren.
ist überhaupt nicht nach Feier. Da er       rigen Tante in Lübeck, wir bringen ihr   Für den Espresso habe ich mich selbst
im Hause wohnt, kann er sich immer          das Ständchen, ihr Lieblingslied, seit   eingeteilt, so konnte ich bis jetzt alles
mal zurückziehen. Er hatte die Menü-        Jahren ihr schönstes Weihnachtsge-       sehr genießen.
karte geschrieben.                          schenk. Sie ist vor 60 Jahren aus der    Lichtertanz. Wir haben keinen Weih-
Ich bin geschieden. Mein Freund, in         Kirche ausgetreten. Ständchen für        nachtsbaum, Geschenke sind auch ab-
dessen Haus ich lebe, ist Witwer. Beide     die Großmutter im Pflegeheim im          geschafft. So ist Platz zum Tanzen. Es
haben wir je drei erwachsene Kinder,        Schwarzwald.                             ist gegen 22 Uhr. In Kanada warten
alle noch unverheiratet. Mein Freund        Verabredet ist: Jeder übernimmt ei-      die Großeltern auf das Ständchen. Wir
kocht. Ich decke den Tisch, diesmal mit     nen Menügang auf- und abzutragen.        proben „Lobt Gott ihr Christen“ vier-
Kerzen in Äpfeln für jeden Platz.           Das entkrampft. Und zwischen den         stimmig. Dann der Anruf.
Christine kommt. Sie ist eine Freundin      Gängen kann jeder und jede etwas         Volker wird jetzt in seinem Zimmer
von mir. Sie wäre allein dieses Jahr. Sie   vortragen.                               seine Sport-Freunde einladen. Fritz,
bringt den Aperitif mit, geht in die Kü-    Aperitif. Ich lese aus dem Kriminalro-   Christine, mein Freund und ich fah-
che zum Mixen.                              man von Tony Hillermannn „Das Tabu       ren zur Christmette. Peter setzen wir
Sabine kommt. Sie ist die älteste           der Höllengeister“ den Aus-Segen der     dort ab, wo sein Fahrrad steht. Wolf-
Tochter meines Freundes. Den Tag            Navajo-Indianer, Wolfgang und Jo-        gang wird die Nacht durch seine Party
über hat sie noch in zwei Geschäften        chen improvisieren auf den afrikani-     feiern, Andrea und Sonja tanzen noch
ausgeholfen.                                schen Trommeln.                          ein wenig im Wohnzimmer, mein Nef-
Andrea und ihre Freundin Sonja              Vorspeise, geräucherte Forellen.         fe wird bei uns übernachten.
kommen. Sie tragen immer zerrisse-          Dann die Rede von Wolfgang, die wir      Wir hatten ein fröhliches Weihnach-
ne Jeans, Pullis mit Löchern. So auch       jedes Jahr genießen. Enttäuschung: Er    ten. (gekürzt)           Hanna Strack

14
Thema

                                                                                      Vom üppig gefüllten Adventskalender bis
                                                                                         zur fetten Gans – während die meisten
                                                                                     ­Menschen nach Weihnachten nur noch ans
                                                                                    Abspecken denken, verliert unsere Autorin
                                                                                   in dieser Zeit stets ein bis zwei Kilo Gewicht.
                                                                                                                 Foto: Adobe Stock

                                    Essen nach Plan
                             Von Einer, die zur Weihnachtszeit Gewicht verliert

Ich gehöre zu den wenigen Men-           Mein Problem ist, dass ich nach dem       Besuch bei den Großeltern und da
schen, die darauf achten müssen,         Frühstück, auch wenn es mal größer        ein Spaziergang oder Kirchenbesuch.
genug zu essen. Das klingt womög-        ausfällt, ca. zwei Stunden später eine    Wenn die Familie schon mal zusam-
lich wie ein Leben im Schlaraffen-       ordentliche Portion Mittagessen brau-     menkommt, verplant man den ganzen
land, aber so ganz perfekt ist es lei-   che. Ansonsten sinkt mein Blutzucker      Tag, um besonders viel Zeit gemein-
der nicht.                               ziemlich schnell ab. Das kann bei mir     sam zu verbringen. Ich halte mich an
                                         zu Flackern in den Augen, Zittern in      diesen Tagen mit Bananen, belegten
Ich hatte schon immer Untergewicht.      den Händen oder Übelkeit führen. Das      Broten oder Süßigkeiten „über Was-
Bei 154 cm wiege ich ca. 41,5 Kilo-      geschieht ungefähr in einem Zeitraum      ser“. Allerdings reicht das nicht aus.
gramm. Das könnte womöglich an           von 15 Minuten.                           Nach fünf Tagen Weihnachtszeit in Fa-
meiner Herzerkrankung liegen, aber           Bis jetzt hab ich es fast immer ge-   milie habe ich ein bis zwei Kilo runter.
ich denke, auch die Gene sind nicht      schafft, es gar nicht erst soweit kom-        Da ich sowieso schon Unterge-
ganz unschuldig daran. Meine Mutter      men zu lassen oder schnell zu einem       wicht habe, ist das sehr ungünstig. Als
war in ihrer Jugend auch sehr schlank.   Snack zu greifen. Bananen oder ein        ich einmal eine Gastritis hatte, habe
    Schon früher bekam ich Essen vor-    Toast sind hilfreich. Zur Not geht auch   ich mir vorgenommen eine „Diät“ zu
gesetzt, das besonders kalorienhaltig    ein Glas von einem süßen Getränk.         machen. Ich verzichtete auf säurehal-
war. Ich kann mich an den einen oder     Zittrige Hände durch sinkenden Blut-      tige Lebensmittel und Getränke, Alko-
anderen Kakaodrink erinnern, den es      zucker bekomme ich ca. alle zwei Wo-      hol, Kaffee und zu viel Fett. Nach einer
heute noch in Apotheken gibt. Diesen     chen. Auch, wenn ich versuche gut zu      Woche gingen die Magenschmerzen
musste ich in besonders „schlanken“      planen und pünktlich zu essen, kann       weg, aber auch die Kilos. Von 42 Kilo
Zeiten regelmäßig trinken. Es gibt na-   auch das schiefgehen. Wenn ich zu         ging es runter auf 37,9 Kilo. Ich war sel-
türlich Schlimmeres, aber nach der       spät anfange zu kochen, ein Ausflug       ber ganz überrascht. Ich habe zwar
zehnten Flasche schmeckt es einem        ohne Proviant zu lange dauert oder        normale Portionen gegessen, aber Al-
auch nicht mehr.                         ich zu wenig Essen mithabe, kann es       kohol und Süßgetränke mit Kohlen-
    Heute ist mein größtes Problem,      schon mal etwas schwierig werden.         säure scheinen doch ziemlich viel aus-
dass ich besonders auf ein gutes Mit-    Zwischen Mittagessen und Abendes-         zumachen. Vor allem Süßgetränke
tagessen achten muss. Ich bin kein       sen habe ich das Problem aber nicht.      habe ich täglich viel getrunken.
großer Frühstücksfreund, esse nicht          Ich gehöre auch zu den Menschen,          Weil ich allerdings auf meinen
besonders viel. Vielleicht einen Toast   die an Feiertagen eher ab- als zuneh-     Rhythmus achte und anderen oft auf
oder eine Schüssel Cornflakes. Da geht   men. Da meine gesamte Familie reich-      den Geist gehe mit „ich muss unbe-
es vielen Leuten um mich herum an-       lich Frühstück isst und gern auf das      dingt noch was essen, wir können erst
ders. Sie essen viel zum Frühstück und   Mittagessen verzichtet, um abends         später los“, komme ich damit ganz gut
lassen oft das Mittagessen weg. Was      ordentlich zu schlemmen, habe ich         klar. Zur Zeit halte ich mein Gewicht.
ich mir gar nicht vorstellen könnte.     oft keine Zeit zum Kochen. Hier ein                                             SU

                                                                                                                             15
Selbsthilfe

Mein Kampf mit Essen,
                                                                                           der Gewichtszunahme, das Annehmen
                                                                                           und Lieben-lernen meines Körpers be-
                                                                                           gleiten mich täglich. Es ist nicht einfach,

Kalorien und Gewicht
                                                                                           aber ich will gesund werden und wie-
                                                                                           der leben. Es sind Tage und Wochen,
                                                                                           ja auch manchmal Monate des harten
                                                                                           Kampfes und harten Arbeit, der Tränen
                                                                                           und Verzweiflung. Aber ich möchte an
Eine Betroffene berichtet von ihrem Feind, der Magersucht                                  Lebensqualität zurück gewinnen. Ein
                                                                                           Aufgeben darf es nicht geben.
                                                                                               Was war eigentlich die Ursache?
Ich heiße Silke und möchte über mei-        Gedanken, das eigene Ich. Wie soll ich         War es der Unfall, den ich 1996 erlitt?
ne psychische Erkrankung „MAGER-            mit diesen Veränderungen umgehen,              Durch den Unfall hatte ich meine ge-
SUCHT“ berichten, da es in der heu-         wie lerne ich es zu akzeptieren? Ich           samte Identität verloren und war bei
tigen Zeit ein großes Tabuthema ist.        glaube, es hilft nur eines, sich selber lie-   der Genesung auf der Suche nach ei-
Zum jetzigen Zeitpunkt kämpfe ich           ben zu lernen und sich selbst mit Lie-         ner neuen. Ich hatte über nichts mehr
mit aller Kraft darum, diese Erkran-        be, Achtung und Respekt zu begegnen.           Kontrolle, alles verloren. Die einzi-
kung zu heilen und mich von der                 Es stellten sich Fressattacken und         ge Kontrolle, die ich noch hatte, war
„SUCHT“ zu befreien. Aber erst ein-         Unwohlsein ein. Obwohl mir die Ess-            mein Körper. So begann ich nur mit ei-
mal vorab zu meiner Geschichte.             störung bewusst ist, habe ich große            ner einfachen Ernährungsumstellung,
                                            Angst, meine alten Gewohnheiten ein-           kein Fett, kein Fleisch und Light- Pro-
    Durch die Magersucht habe ich           fach über Bord zu werfen, die mir seit         dukte. Auch spielt der große Schlank-
mich auf 38 kg, bei einer Größe von         über 20 Jahren ein Überleben und den           heitswahn in den Medien eine große
1,63 cm herunter gehungert. Es gab für      Erhalt meiner Funktionsfähigkeiten er-         Rolle. Jede*r Betroffene hat seine/ihre
mich nichts anderes mehr. In meinem         möglichen. Zurzeit entwickelt sich             eigenen Ursachen. Um mich richtig mit
Kopf drehte es sich nur noch um das         mein Denken, die Krankheit bewusst             der Krankheit auseinander zu setzen,
Essen, Kalorien und Gewicht. Kein In-       wahrzunehmen und zu entschärfen.               schrieb ich vor lauter Wut und Enttäu-
teresse mehr für Familie, Kultur, Natur,    Auch versuche ich, mit meinen unter-           schung von mir selbst, einem Brief an
usw. Nichts um mich herum nahm ich          drückten Gefühlen in Kontakt zu treten,        meinem Begleiter, die „MAGERSUCHT“.
noch wahr. Es ist ein reines Hofkino. Ich   mit ihnen zu reden und sie aus dem Ge-         Hier ein Auszug daraus:
empfand und empfinde kein Glück, kei-       fängnis wieder zu befreien. Ich zwinge
ne Liebe und Freude mehr.                   mich, jeden Tag drei Mahlzeiten zu mir         Liebe Magersucht (Mein Feind!)
    Dann kam der Wendepunkt. Ich            zu nehmen und werde während der                Du hast mich jahrelang begleitet, hast
brach zusammen. Es vergingen 20 Jah-        Genesung auch von mehreren Fressat-            es mir schwer gemacht, mich ande-
re, bis die Erkrankung anerkannt wur-       tacken überfallen. Die große Angst vor         ren anzupassen. Durch Dich habe ich
de und ich zur Einsicht kam und mir                                                        Konzentrationsstörungen, Schlafpro-
auch eingestand, dass ich magersüch-                                                       bleme und friere ständig. Durch Dich
tig bin. Ich musste etwas ändern, wenn                                                     weiß ich nicht mehr, was Freude, Liebe
ich weiter am Leben bleiben will. So be-                                                   und Glück ist. Durch Dich kann ich nicht
gann ich zu kämpfen, um mich von den                                                       mehr lachen, usw. …
Fesseln zu befreien; ich forschte und re-                                                  In Wut und Zorn Deine Silke
cherchierte nach Lösungen und such-
te mir Hilfe. Nun bin ich in psycholo-                                                     Ich möchte allen Betroffenen Mut ma-
gischer Behandlung, lese Bücher und                                                        chen, habe das Gefühl, es zu 60 Prozent
suche die Hilfe auch bei Hypnotiseu-                                                       geschafft zu haben. Ich kämpfe weiter.
ren, bei Suchthotlines usw. Ich setze                                                      Meine tägliche Arbeit lautet, die Ma-
mich mit anderen Betroffenen in Ver-                                                       gersucht überwinden, und das 24 Stun-
bindung, um mich auszutauschen. Re-                                                        den am Tag. Es ist nicht leicht, aber ich
den hilft. Man fühlt sich verstanden. Es                                                   weiß aus meinen ersten Erfahrungen,
bedarf viel Kraft und eines starken Wil-                                                   es lohnt sich.                     Silke
lens. Es kostet so viel Kraft und Stär-
ke, dass ich manchmal total erschöpft                                                      PS: Die Selbsthilfegruppe trifft sich
und verzweifelt bin. Jetzt, wo ich seit                                                    immer am ersten Montag im Monat
längerem wieder versuche normal zu          Wenn das Maßband übers Wohlbefinden ent-       um 18 Uhr in der KISS in Schwerin.
essen, verändern sich der Körper, die       scheidet.                   Foto: privat      Betroffene sind herzlich eingeladen.

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