Pappesatt - HILF DIR SELBST
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HILF DIR SELBST Journal der Schweriner Selbsthilfe Ausgabe 4 | 18. Jahrgang | Dezember 2020 bis Mai 2021 Thema: pappesatt
Editorial HILF DIR SELBST Liebe Leserin, Journal der Schweriner Selbsthilfe Ausgabe 4 | 18. Jahrgang | Dezember 2020 bis Mai 2021 lieber Leser, pappesatt – genau, passt zu Corona und Weihnachten. Gerade hatten wir uns in der KISS nach dem ersten Lock- down wieder eingespielt, Selbsthilfe- gruppen trafen sich, dankbar, unsere Räume nutzen zu dürfen. Für die an- stehenden Gruppengründungen hat- Thema: ten sich zahlreiche Interessierte ange- pappesatt meldet, viel Energie und Hoffnung auf Neustarts und dann – plong – zweiter Foto: Gudrun Schulze Lockdown, diesmal „light“. Aus einer neu gegründeten Selbst- Nachdem nun auch in MV wie in Bay- hilfegruppe erfahren wir, wie schwer Inhalt ern, Hamburg und Berlin die Selbsthil- der Kampf gegen Magersucht ist. Die fe als „systemrelevant“ eingestuft wird, SHG Zöliakie nimmt uns mit zu ihrem Titelbild Birgitt Hamm�������� 1 können seit Anfang Dezember wieder Projekttag im Luna-Lichtspielhaus Editorial Sabine Klemm�������� 2 Präsenztreffen der Selbsthilfegruppen Ludwigslust. In einem weiteren Be- Gastkolumne Peter Grosch����� 3 stattfinden. Einzelberatungen sind richt erzählt eine zart gebaute Frau, Umfrage Was macht uns pappesatt? 4 weiterhin möglich; die Antragsbera- wie sie als Kind schon immer mehr es- Erfahrung tungen für die Selbsthilfeförderung sen musste als sie wollte und sich „ge- Umspringen im Leben��������� 6 2021 können stattfinden. Dem liegt mästet“ fühlte. Pappesatt machen Vor- Projekt eine vernünftige Risikoabwägung zu- urteile gegenüber psychisch Kranken Freie Konsumkultur����������� 7 grunde: Rückfälle und Einsamkeit kön- und die Anstrengungen, die sie un- Thema Selbstbestimmt und Corona����� 8 nen vermieden werden. ternehmen müssen, um in ihren Be- Thema Nichtsdestotrotz sind Selbsthilfeakti- dürfnissen ernst genommen zu wer- Essen aus der Tonne���������� 9 ve gefragt auch andere Wege zu fin- den. Andere Erfahrungsberichte Menschen Bürokratie statt Pflege� 10 den, um untereinander Kontakt zu handeln vom Umgang mit sich selbst Thema Psychisch oder physisch?� 11 halten. Wir sind dabei, technische und den Schwierigkeiten, die eigenen Erfahrung Ausstattung für digitale Angebote in Bedürfnisse zu erkennen und für sich Immer mehr, immer weiter����� 12 der KISS zu installieren, auch wenn einzufordern. Thema Ein stinkendes Geschenk� 13 uns bewusst ist, dass das nicht für alle Weiterhin bekommen wir Einblicke Erfahrung Nutzer*innen eine echte Alternati- in den Alltag einer pflegenden Ange- Weihnachten in einer Nicht-Familie 14 ve zu persönlichen Begegnungen ist. hörigen, der geprägt ist vom Wider- Thema Zum essen gezwungen�� 15 Aber besser als nix. sprüche-Schreiben, um an das Recht Selbsthilfe Wir sind einfach pappesatt von auf Pflegemittel zu kommen. Feind Magersucht����������� 16 Überfluss, Umweltzerstörung und u.U. Für das Weihnachtsfest, das dies- Erfahrung Weniger ist mehr���� 17 krank machenden Arbeits- und Le- mal wohl besonders wird, erhalten wir Selbsthilfe Filmbrunch der Zölis� 18 bensbedingungen. Gleichzeitig sind Tipps: Was sind wirklich gute Geschen- Interview wir in der Welt privilegiert… Das fin- ke und wie kann Weihnachten in einer Drei Fragen an Kristina Timmermann 19 det auch Peter Grosch. In seiner Gast- echten Patchwork-Familie gestaltet Service KISS aktuell��������� 20 kolumne berichtet er von der wich- werden. Zu guter Letzt/Förderer������ 22 tigen Arbeit der Tafel. Wir lesen vom Für ein frohes Weihnachtsfest und So gesehen Lange vorher abzusehen������� 23 Containern, also dem heimlichen He- ein gutes 2021 wünschen wir Ihnen Impressum��������������� 24 rausnehmen von Lebensmitteln aus viel Geduld, Toleranz und Zuversicht – den Abfallcontainern von Supermärk- und bleiben Sie gesund! Die nächste Zeitschrift ten, um der tonnenweisen Lebens- erscheint im Juni 2021 mittelvernichtung etwas entgegenzu- zum Thema setzen. Ein hoffnungsvolles Projekt ist Ihre Sabine Klemm „30 Jahre Selbst bestimmt“. FKK, Freie Konsumkultur: ein mobiler unverpackt-Wagen mit Lebensmitteln und Rezepten in Schwerin. 2
Gastkolumne Ich hab‘ genug von Lebensmittel-Verschwendung Wer kennt das nicht? Immer, wenn Klar, Hunger bedeutet in Afrika Auch eine mobile Tafel bietet ihre man zu Gast bei Geburtstagsfeiern etwas ganz anderes als in Deutsch- Dienste für bedürftige Menschen an, und Jubiläen ist oder Einladungen land. Doch auch hier fällt es vielen die aus gesundheitlichen Gründen aller Art Folge leistet, taucht wäh- Menschen (es werden leider immer die Wohnung nicht verlassen können. rend oder nach dem Essen irgend- mehr) schwer, sich mit notwendi- wann die Frage auf: „Sind Sie / Bist gen Lebensmitteln zu versorgen. An- 25 Jahre Tafel: Ein Grund zum Fei- Du satt?“ Oder: „Möchten Sie / Willst dererseits landen in Deutschland je- ern ist dieses Jubiläum nicht. Die Tat- Du noch was?“ Wahrscheinlich haben des Jahr rund 18 Millionen Tonnen sache, dass es in Deutschland über- die meisten von uns auf diese Fragen Lebensmittel im Müll. In der Sum- haupt Tafeln gibt, ist eine Ohrfeige schon mal mit „Nein danke, ich bin me sind das jedes Jahr Lebensmittel für die Politik, eine Schande für eines pappesatt!“ geantwortet. Aber was im Wert von circa 20 Milliarden Euro. der reichsten Länder dieser Welt. Die ist damit gemeint? Eine unvorstellbare Zahl, die mich, Arbeit der Tafeln kann die Not nur ein ehrlich gesagt, „pappesatt“ macht. wenig lindern. Es besteht von Seiten „Pappesatt“ ist ein Synonym für der Politik endlich dringender Hand- „sehr satt“, „völlig satt“ oder „Ich hab‘ Die über 940 Tafeln in Deutsch- lungsbedarf, damit Menschen im rei- genug“. „Pappesatt“ ist also jemand, land sammeln einwandfreie über- chen Deutschland nicht mehr auf Le- der umgangssprachlich „vollgefres- schüssige Lebensmittel von Händlern bensmittelspenden angewiesen sind. sen“ und „kurz vorm Platzen“ ist. Es und Herstellern und verteilen diese passt kein Bissen mehr in ihn hinein. regelmäßig an 1,6 Millionen bedürf- Ich wünsche Ihnen bis dahin ein Dabei denkt in diesem Moment wohl tige Menschen im ganzen Land. Der frohes und besinnliches Weihnachts- niemand daran, in was für einer pri- Dachverband Tafel Deutschland mit fest, auch wenn wir bei dem, was wir vilegierten Situation er sich befindet. Sitz in Berlin besteht seit 25 Jahren. zurzeit erleben, dazu neigen, „pappe- 25 Jahre ist es auch her, dass in der satt“ zu sein. Laut dem am 13. Juli 2020 veröf- Landeshauptstadt Schwerin die Ta- fentlichten UN-Report „Die Situation fel gegründet wurde. Heute unter- der Nahrungssicherheit und Ernäh- hält die Tafel Schwerin e.V. Ausgabe- rung in der Welt“ leiden immer mehr stellen nicht nur in Schwerin, sondern Menschen an Hunger. Die Zahl chro- auch in Crivitz, Banzkow, Gadebusch, nisch unterernährter Menschen ist in Rehna, Ludwigslust, Hagenow, Wit- den letzten fünf Jahren rapide ange- tenburg, Lübtheen und Boizenburg. stiegen. Gleichzeitig ist die Bevölke- Insgesamt werden in Westmecklen- rung vieler Länder von unterschied- burg etwa 700 Haushalte mit mehr lichen Formen von Mangelernährung als 2.500 Personen durch die Tafel un- betroffen. Weltweit leiden heute rund terstützt. In Schwerin können sich Be- Foto: Fotostudio Warsakis 690 Millionen Menschen an Hunger. dürftige Lebensmittel in der Petrus- Bei einer Weltbevölkerung von 7,5 gemeinde im Stadtteil Mueßer Holz Milliarden bedeutet das: Jeder neun- und im Sozialkaufhaus im Stadtteil te Mensch hat nicht genug zu es- Lankow abholen. Zudem gibt es in sen. Während Fortschritte im Kampf der Landeshauptstadt zwei Suppen- gegen den Hunger stagnieren, ver- küchen, die sich im Lankower So- schärft zusätzlich die Covid-19-Pan- zialkaufhaus und in der Ferdinand- demie die Lage. Noch ist es zu früh, Schultz-Straße in der Werdervorstadt um die Auswirkungen vollständig be- befinden, sowie eine Kindertafel in Peter Grosch urteilen zu können. der Hegelstraße im Mueßer Holz. Vorsitzender Tafel Schwerin e.V. 3
Umfrage Angst oder Zuk u n f t g e s t a l t e n Irene Strauch- Beddies, KISS Schwerin Ich bin verantwortlich, für unsere Gruppe „Sturzprävention“ die Anwesenheits- listen zu führen. Ende des Monats müssten die Formulare da sein. Ich kriege aber keine und muss immer improvisieren. Darüber ärgere ich mich besonders, wenn andere mich dafür auch noch kritisieren. Weil sie denken, dass ich über- fordert bin. Aber ich sehe nicht ein, dass ich für etwas kritisiert werde, wofür ich nichts kann. Klaus Dieter Weber, Gadebusch Ich bin pappesatt von dem leidigen Thema Corona. Ich bin zwar nicht davon be- troffen und die Familie auch nicht. Aber ich habe Angst, was jetzt noch kommt. Und ob ich das Grab meiner Eltern noch versorgen kann. Denn ich muss dahin weit fahren. Die Beschulung meiner Enkelkinder zu Hause in den vergangenen Monaten fand ich auch nicht so gut. Denn die jungen Leute wollen ja weiter kommen im Leben und brauchen richtigen Unterricht. Ich hab Angst, dass die es nicht schaffen. Ramona Spies-Tolksdorf, Schwerin (Ohne Foto) Ich arbeite am Theater, kümmere mich um die Märchenspiele. Das ist alles zur Zeit sehr schwierig. Und wir wissen auch nicht, ob die Märchenaufführungen überhaupt stattfinden können. Lydia Appau, Schwerin (Ohne Foto) Ich bin von einer Schweriner Familie adoptiert worden. Ich lebe hier mit meinen zwei Kindern, 3 und 5 Jahre alt. Meine Mutter und mein Sohn leben in Ghana. Dort gibt es nicht so viele Dinge wie hier. Ich habe zu Weihnachten das erste Mal Überfluss erlebt. Das war schön. Ich möchte hier bleiben. Ich arbeite auch am Theater. Heinrich Schliemann – Pfaffenteich Schwerin Eigentlich gibt es immer zu viel Hundekacke in der Stadt. Aber ich fühle mich im wahrsten Sinne des Wortes beschissen von den Möwen. Davon bin ich pappesatt. Leider kann ich überhaupt nichts dagegen tun. Marita Rusch, Schwerin In diesem Jahr ging bei mir alles bergab, nichts hat mehr funktioniert. Meine Wohnung habe ich verloren, wohne bei Freunden. Ich war an meinem tiefsten Punkt angekommen. Das war der Kipp- Punkt. Geholfen hat mir innere Arbeit, Selbstmanagement, das Integrieren meiner Schattenseiten. Und die Dinge bedingungslos so anzunehmen wie sie sind. Ich war lange im Rückzug. Jetzt geht es wieder bergauf. Ich habe ein Jobangebot bekommen. 4
Umfrage ug hat von n ic ht s m eh r ge ht, wenn er gen Mensch, wenn in: Pappesatt ist ein ic ht en . W ir fr agten in Schwer Nachr t, von schlechten Essen, von Arbei W ie ge he n Sie damit um? ie ge n u g? Wovon haben S Sven Jentzen, Ltur Schwerin Ich habe den schönsten Beruf und das Reisebüro hat sich wieder stabili- siert. Mein Unternehmen nutzt die Pandemie, um durch Digitalisierung fit für die Zukunft zu werden. Das macht Mut. Pappesatt macht mich eher der Staat. In Flugzeugen und Hotels sind nachweislich nur sehr wenige Infektionen aufgetreten sind, trotzdem wurde Reisen wieder verboten. Und die Parlamente trauen sich nicht zu regieren. Sie sollten das endlich tun. Es gibt zwei Wege mit der Pandemie umzugehen: Angst oder Zukunft gestalten! Ich bleibe im Kontakt mit Politikern und engagiere mich. Dirk Ulbrich, Niedersachsen Mich belastet Corona. Ganz besonders, dass die Politik sich nur um die aktuellen Sachen kümmert, um die Einschränkungen. Aber nicht dar- um, was wir in Zukunft machen. Darüber bin ich pappesatt! Wir werden uns trotzdem mit der Familie an Weihnachten treffen. Andrea Rang, Hannover, Fußpflegerin Ich habe das Gefühl, die Politiker haben nichts aus dem ersten Lockdown ge- lernt. 1,50 Meter Abstand lässt sich in der Fußpflege nicht realisieren. Also wird sie verboten. Gerade die Menschen in Pflegeeinrichtungen leiden darunter, denn das Pflegepersonal darf es nicht machen. Aber die Fußnägel wachsen... Und die Zuwendungen, die Selbständige vom Staat erhalten, müssen sie als Einnahmen versteuern. Darüber ärgere ich mich. Karola Friedrich, Schwerin Pappesatt passt ja zur Weihnachtszeit. Ich komme aus einer 14-köpfigen Fami- lie, da musste man alles essen, was auf den Tisch kam. Ich musste lernen, recht- zeitig aufzuhören, bevor ich zu viel esse. Auch wenn mal ein Löffel übrig bleibt. Angebote wie Ente satt verstehe ich nicht. Da stopft man sich voll, nur um den Preis richtig „abzuessen“. Das ist doch nicht gesund. Julie, Gneven Nassfutter rechts, trockenes links – ich kann mich nicht entscheiden. Am liebs- ten mag ich sowieso das gute, frisch gekochte Essen von Frauchen. Und zwi- schendurch natürlich gern auch ein paar Leckerlis. Fotos: Hesse, Hamm 5
Erfahrung Vom Umspringen und Abspringen Mein langer Weg zu mir Unzählige Male war ich in meinem wohnte unter dem Dach des Kindsva- machen und vor allem besser auf mich Leben pappesatt. Voll von überzoge- ters und weiß bis heute nicht, wie ich achten. Pappesatt machte ich jetzt nen Anforderungen an mich selbst es schaffte, an eine eigene Wohnung mein Umfeld, das ich mit all meinen und solchen, die von außen kom- zu kommen. Ich entwickelte eine Urti- gesammelten Lebensweisheiten per- men. Wenn es darum ging, etwas gut karia, hatte Angst-Panik-Attacken und manent fütterte. Mich selbst fütterte zu machen, hing meine Anspruchs- war permanent satt. Doch anschei- ich mit Seminaren und Weiterbildun- latte immer zu hoch. nend war ich noch immer nicht pappe- gen, die auch immer Selbstfindung satt. Da ging noch was. Da sie den An- zum Inhalt hatten. Ich lernte „Nein“ sa- „Wenn Du Dir nur ein bisschen mehr sprüchen der Großeltern nicht gerecht gen nur langsam und verband mich Mühe gibst, schaffst Du das schon“ und geworden waren, wurden meine Zwil- einmal mehr mit einem nicht zu mir „Aufgeben gilt nicht“ waren zwei von linge zu mir zurück geschickt. Mit ei- passenden Partner. Obwohl ich begrif- vielen Glaubenssätzen, die mein Eltern- nem Sack voller neuer Probleme, die fen hatte, dass ich mich von narziss- haus mir mit Nachdruck auf den Weg auch nicht verschwanden, als sie in die tischen Persönlichkeiten fern halten gab. Ich sagte zwar immer: „Ich hab die Lehre gingen. Meine Anstellung in ei- sollte, konnte ich es nicht. Hier lock- Nase voll“, doch funktionierte bestens ner Arztpraxis wurde nach sechs Mo- te endlich eine Atempause von Exis- weiter. Wirklich sprach mein Magen naten einvernehmlich beendet und ich tenzangst und anderen Nöten. Die mit mir. Das heißt, er sprach eben nicht mehr mit mir. Oft waren schon drei Hap- pen zu viel, weil ich nichts mehr runter bekam. Pappesatt eben! Das ging oft „Wenn ich heute pappesatt wochenlang so und ich schmiss mal schwuppdiwupp eine bis zwei Kleider- bin, dann höchstens von größen ab. Am Körper rank und schlank zu viel Lieblingsschokolade.” und im Gesicht müde und fahl, fand ich ersteres attraktiv und letzteres wurde überschminkt. Da ich nicht in der Lage musste mich arbeitslos melden. Mein stetig wachsende Müdigkeit, das ewi- war dieses Muster zu erkennen, über- erstes Mal und völlig inakzeptabel. Ich ge Durchhalten – das schien mit dieser forderte ich mich mit den Jahren im- erkämpfte eine Umschulung. Die schei- Wahl kompensiert. mer mehr. Ja, ich war eine Kämpferin, terte an einer längeren Krankschrei- Wunschdenken! Im Frühjahr 2015 aufgeben keine Option. Und wirklich bung. Da ich über 20 Jahre das Pap- kippte alles. Ich war unendlich müde, gute Erkenntnisse aus der Selbstreflexi- pesatt-Sein nicht wahr haben wollte, Tränen liefen bei jeder Kleinigkeit; die on wurden nur minimalistisch in die Tat meldete sich mein Rücken dazu. Eine Welt war nur noch grau. Pappesatt war umgesetzt. Bandscheibe hatte sich auf den Weg ich schon lange, doch nun konnte ich Mit Ende 30 war ich an einem Tief- gemacht, mich immer dann zu quälen, dieses Gefühl nicht länger ertragen. punkt angekommen. Abgemagert und wenn ich hätte innehalten sollen. Doch So sprang ich ohne Sicherungsseil und mit allen Symptomen einer Depression stattdessen machte ich mich mit einem ohne Plan in eine ungewisse Zukunft. hatte ich einen völlig verzerrten Blick Secondhand selbständig - überschau- Mit der Angst, völlig die Kontrolle über auf mich. Ich hatte es geschafft, den bare Miete, Ware auf Kommission, prä- mein Leben zu verlieren, mobilisierte Vater meiner jüngsten Tochter zu ver- sentiert in selbstgebastelter Ladenein- ich meine letzten Reserven und ging in lassen, mit nichts als meinem Hausrat, richtung. Ständig war ich am Tun und eine lange Krankschreibung. einer Waschmaschine und einem al- Machen und nährte so meinen fragilen Es hat vier Jahre und viele schmerz- ten Kleiderschrank. Meine pubertieren- Selbstwert. Mein Appetit nahm Fahrt hafte Momente gedauert, mein Leben den Zwillinge waren zu den Großeltern auf. Und beim neuen Partner dachte mit neuer Kraft neu durchzustarten. abgewandert und mein Selbstwert als ich, diesmal besser gewählt zu haben. Wenn ich heute pappesatt bin, dann Mutter schien irreparabel zerrüttet. Ich Mit 45 dann die Bandscheiben- höchstens von zu viel Lieblingsschoko- hatte keinen Job, kein Einkommen, OP. Aber nun wollte ich alles besser lade. Evelyn Eichbaum 6
Projekt FKK – eine Idee bekommt Räder Zwei Schwerinerinnen gründen einen mobilen Unverpackt-Laden Mit seinen zwei Jahren ist der klei- ne Almar eigentlich zu jung für sein Hobby. Trotzdem betreibt er es mit großer Begeisterung. Am liebsten steht der Junge in seiner Spielzeug- küche und schwingt die Pfanne. Mama Genevieve füllt sie mit Nüs- sen oder anderen ungefährlichen, aber gesunden Lebensmitteln. Von ihr hat er es gelernt, dass am bes- ten schmeckt, was man selbst zuberei- tet hat. Als die Schwerinerin mit 15 Jah- Im November begann das Crowdfunding für Schwerins ersten Unverpackt-Laden. ren zu Hause ausgezogen ist, hat sie Genevieve Braune (r.) und Susanne Meletzki. Foto: Genevieve Braune genau das getan: selbst gekocht. Und nicht nur für sich und ihre Schwester, die Familie es, den Verbrauch von Plas- beschreibt die Gründerin das Prinzip. auch im damaligen Café Kunterbunt, tetüten von vier auf eine im Monat zu „100 bis 150 Produkte können wir an- zu Lesungen, Konzerten. „Kultur und reduzieren. Das Prinzip ist nicht, kei- bieten. Abgefüllt werden sie in mitge- Kochen“, findet sie, „passt doch ideal.“ nen Müll mehr zu produzieren, son- brachte Flaschen, Gläser oder Dosen.“ Die junge Mutter von inzwischen zwei dern less waste, also weniger. Um das Projekt zu finanzieren, starte- Jungs hat Kulturwissenschaft und Vor einigen Jahren hatte sie ge- ten die beiden Frauen im November französische Philologie studiert, dabei meinsam mit einer Freundin einen das Crowdfundig. Wer die mobile Freie ihren ersten Sohn großgezogen. Und Gedanken, aus dem sich eine Ge- Konsumkultur unterstützen möchte, für andere Menschen gekocht. „Klar, schäftsidee entwickelte: in Schwerin kann das über startnext.com tun. dass ich immer zu wenig Zeit und Geld den ersten Unverpackt-Laden zu er- Wer mit Genevieve Braune spricht, hatte“, sagt sie. Trotzdem wollte sie öffnen. Mit FFK – Freie Konsumkul- bekommt garantiert auch Koch- und nie auf gute Lebensmittel verzichten. tur beteiligten sich die jungen Frau- Haushaltstipps serviert. Diese Erfah- „Öko ist vielen Menschen ja zu teuer, en am IHK-Gründerwettbewerb 2017 rungen hat sie in ein Projekt mit der sie finden, Umweltbewusstsein könne und siegten. Eine Umfrage ergab, dass Schweriner BUND-Jugend gesteckt. man sich nicht leisten,“ so ihre Erfah- die meisten Schwerin sich Einkaufs- Sie bietet Kochkurse an Schulen an. rung. „Doch das stimmt nicht, denn es alternativen zu den Supermärkten Auch Erwachsene können von ihr ler- ist ja nicht nur ein Zugewinn für mich wünschen. Trotzdem gibt es den La- nen bei Veranstaltungen unter dem allein, sondern für unsere ganze Um- den noch nicht – die Umsetzung war Motto „Das kann ich selbst“ im Schwe- welt.“ An die Stelle ständiger Ersatzbe- nicht zu finanzieren, die Freundin zog riner co-working-Café Tisch. Haupt- friedigung durch Einkaufen setzt sie weg. Doch mit ihrer neuen Geschäfts- beruflich engagiert sie sich für Kul- den bewussten Konsum. Das ist nach- partnerin Susanne Meletzki will Gene- tur im Schleswig-Holstein-Haus. Ihre haltig und günstig. vieve ihn nun umsetzen. Etwas modi- Rostrocker Freundin Christin Waters- Den größten Verzicht übt Gene- fiziert, denn es wird einen FKK-Laden trat, eine begnadete Grafikerin, unter- vieve Braune bei den Verpackungen, auf Rädern geben, der auf Märkten stützt sie beim Kunstprojekt, das diese denn „dieser Plastikmüll störte mich und in Dörfern Station machen soll. in Schwerin aufbauen möchte... schon immer. Ich kaufe fast alle Dinge „Wenn Sie auf dem Markt frische Wa- „Manchmal“, gesteht die junge inzwischen unverpackt.“ Das sei leicht ren einkaufe, müssen Sie oft danach Frau, „bin ich pappesatt, überfordert bei Obst und Gemüse; für Backwaren noch in den Supermarkt für Mehl, Öl, mit Familie, Arbeit und meinen Pro- hat sie immer einen Beutel dabei und Reis, Pasta, Erbsen, Putzmittel. Das jekten. Da muss ich lernen Maß zu fürs Fleisch reicht eine hauchdünne wird nicht mehr nötig sein, denn das halten.“ Folie. Mit dieser Umstellung schaffte bekommen Sie dann alles bei uns,“ Birgitt Hamm 7
Thema Pappensatt, wieder fremdbestimmt zu sein Corona nutzen und Dinge überdenken Ich bin im Sozialismus groß geworden. In der Schule wurde ich gelobt, wenn ich mich an die Regeln hielt. Einmal je- doch bekam ich einen Tadel. Nur weil ich neugierig das Schulgelände 50 Fremdbestimmt Foto: Henriette Fotografie Meter weit verließ, um eine liegenge- bliebene Straßenbahn anzugucken. Ich verstand mit meinen damals acht Jahren nicht, was daran so schlimm sei, dass ich vor der ganzen Schule auf Eine eigene Meinung zu entwickeln. verstehen, Abstand zu halten und eine dem Fahnenappell getadelt werden Kritisch auf alles zu gucken. Ich wur- Maske für eine gewisse Zeit zu tragen. musste. Ich habe mich sehr klein und de unbequem. In Firmen, in denen ich Aber alles zu verbieten, was Leben be- schuldig gefühlt. Um diese unange- arbeitete, machte ich den Mund auf, deutet, ist doch etwas zu viel verlangt. nehme Erfahrung nicht noch einmal wenn mir Arbeitsabläufe unproduktiv Das erinnert mich an diese Schauspie- erleben zu müssen, lernte ich schnell erschienen. Das stieß nicht auf Beifall lerin, die sich die Brüste entfernen ließ artig zu sein. Ich befolgte die Regeln, und so musste ich oft Spießrutenlau- um keinen Brustkrebs zu bekommen. egal wie sinnlos oder erniedrigend sie fen oder wurde gemobbt. Das wiede- Unser Leben einschränken vertreibt manchmal waren. Jede autoritäre Per- rum brachte die nächsten Burn outs. vielleicht Corona, aber es werden wei- son hatte uneingeschränkte Macht Am Ende wählte ich die Selbstständig- tere Krankheiten kommen, die uns da- über mich. Bewundert habe ich die keit. Wie heilsam, sich nicht mehr von rauf hinweisen werden, dass es eine Schüler, die sich dem widersetzten mit Menschen traktieren zu lassen, die oft- Ursache für diese Entgleisungen auf allen Konsequenzen. Sie waren die He- mals keine Ahnung hatten. Dies koste- der Welt gibt. Und das ist der Mensch ros in meinen Augen. te mich einige Beziehungen – alles hat selbst, der verlernt hat auf sich zu hö- Je älter ich wurde, desto mehr ent- seinen Preis im Leben. Die Freiheit, das ren und im Einklang mit Mutter Natur fernte ich mich von mir selbst. Es allen zu tun was ich möchte, ist wunderbar. zu leben. Jeder sollte hinterfragen, ob recht zu machen, bedeutet am Ende Gerade habe ich es schätzen gelernt, er weitestgehend im Einklang mit der ein gehöriges Maß an Selbstaufgabe. da kommt Vater Staat und will mich Natur lebt und seinen vorbestimmten Das wiederum schwächt den Selbst- wieder einschränken. Das macht mich Platz ausfüllt. Als Konsumenten ha- wert. Die Wende kam und die Anfor- pappensatt. ben wir Macht. Jeder sollte sich Fragen derungen stiegen. Ich versuchte nach Corona. Diese Krankheit hat weni- stellen. Zum Beispiel: Brauche ich eine wie vor den Erwartungen der Men- ger dahingerafft als die Grippe. Doch neue Hose, bevor die alte kaputt ist? schen um mich herum und der neuen wird sie so dramatisiert, dass die Angst Habe ich genug Geld um mich biolo- Gesellschaftsordnung zu entsprechen. umgeht. Angst macht eng im Denken gisch zu ernähren? Muss ich jedes Mal Buckeln bis zum Umfallen. Alleinerzie- und verführt zu unüberlegten Hand- eine Tüte für Obst und Gemüse neh- hend, Schichtdienst, vom Arbeitgeber lungen. Manche Menschen, die keine men? Muss ich das kleine Stück mit vorgegebene Ziele, die unerreichbar Maske tragen, werden von anderen dem Auto fahren? Bewege ich mich waren. Resultat war mein erstes Burn verprügelt. Ich halte mich zum Glück genug? Geh ich einer sinnvollen Ar- out. Es sollte nicht das letzte sein in an die Regeln. Habe jedoch weniger beit nach? Damit wäre der Erde schon meinem Leben. Ich brauchte diese Kri- Angst vor Corona als vor Vater Staat. viel geholfen. sen. Sie halfen mir zu erkennen, dass Ich frage mich: „Was ist das eigentliche Na, vielleicht bringt Corona we- ich auf mich hören sollte, egal wie sehr Ziel dieser Maßnahme?“ Wovon soll nigstens eines: Zeit viele Dinge zu mich andere dafür tadeln. uns diese übersteigerte Panikmache überdenken und nicht alles hinzuneh- Step by Step fing ich an, alles zu hin- ablenken? Ich fühle mich mehr einge- men. terfragen. Nicht alles hinzunehmen. schränkt als zu DDR-Zeiten Ich kann Ihre Flora Earth 8
Thema Diebe oder Lebensmittelretter? Eine junge Frau erzählt vom „Containern“ Lange nach Ladenschluss machen denen ich nach Verwertbarem such- Tipps weiter gibt. Die Beiden haben sich zwei junge Frauen in einem te. Mit Joghurt, Bananen, Sandwich auch schon Selbstversuche gemacht, kleinen Dorf Mecklenburg-Vor- broten und anderen genießbaren mit wie wenig Geld sie auskommen, pommerns auf dem Weg, um aus Dingen fuhren wir nach Hause. Seit- wenn sie regelmäßig auf Tour gehen. den Abfalltonnen von Supermärk- dem bin ich mit dem Containervi- Es ist interessant zu sehen, wie es die ten Lebensmittel zu holen. „Con- rus infiziert. Zwei-, dreimal im Mo- Anderen machen! tainern“ ist das gebräuchliche Wort nat mache ich mich nun auf den Weg. Seit meinem ersten Mal, als ich mit dafür. Diebstahl nennen es die Ge- Manchmal allein, manchmal mit mei- A. loszog, um fremde Mülltonnen zu setzestreuen, Lebensmittel retten ner jungen Kollegin oder eben mit A., durchsuchen, habe ich viel über den die Befürworter des nächtlichen wenn sie mich besucht. Natürlich ist Umgang mit Lebensmitteln gelernt. Treibens. es uns wichtig, dabei nicht gesehen Und ich finde es immer noch traurig, zu werden. Einmal, als plötzlich Leu- dass perfekte Äpfel, Tomaten oder Warum sie nachts in Tonnen kramt, te unterwegs waren, lenkte A. sie mit Joghurt in der Tonne landen müs- erzählt Manuela M. dem KISS-Maga- sportlichen Übungen ab, während ich sen. Das Sortieren kostet mich immer zin: Die Idee mit dem Containern be- hinter der Tonne kauerte. noch viel Zeit. Deshalb gehe ich auch schäftigt mich schon lange Zeit. Ich Wir nehmen nur Dinge mit, die wir nur ein paar Mal im Monat los. Ich will arbeite in der Landwirtschaft, des- auch brauchen. Ich verarbeite und ja nicht, dass das, was wir in der Nacht halb weiß ich, wieviel Arbeit in der esse jetzt viel mehr Obst und Gemü- gerettet haben, ein paar Tage später Nahrung steckt. Wenn ich mir vorstel- se. Man sieht immer, was gerade Sai- dann in meiner eigenen Mülltonne le, dass davon ein großer Teil im Müll son hat. Vor ein paar Wochen waren landet. landet, finde ich das traurig und et- zum Beispiel viele Packungen mit Wenn mein Vater das nächste Mal was davon zu retten, wollte ich schon Blaubeeren, davor Erdbeeren zu fin- zu mir kommt, muss er mir unbedingt immer mal ausprobieren. Nebenbei den. Auch Schnittblumen haben wir erklären, was ich mit dem Schwei- spart man natürlich den einen oder schon gerettet. Kurz vor Weihnachten nebraten anstelle, der seit dem ers- anderen Euro. Aber das ist nicht der findet sich jede Menge Zimtgebäck. ten Beutezug in meinem Gefrierfach Grund, warum ich mich nach einem Es gibt auch Superfunde, wie die vie- wohnt. Arbeitstag noch einmal auf den Weg len Trinkpäckchen mit Saft oder die mache. große Menge an Schokoriegeln. Was Meine beste Freundin A. studiert wir nicht selbst essen, verschenken in einer großen Stadt und besucht wir. Unsere Freunde wissen, woher mich oft in meinem Dorf. Sie liebt Tie- die Dinge kommen und haben kein re, genau wie ich. Seit langem ernährt Problem damit. sie sich vegetarisch. Ich dagegen esse Auch meinen Eltern und Ge- gerne Fleisch und Wurst. Aber mir ist schwistern habe ich von unseren es wichtig, dass die Tiere ihr Leben abendlichen Touren berichtet. Meine artgerecht verbringen können. Mutter hat natürlich etwas Angst um Als mich A. wieder einmal be- mich, findet aber trotzdem gut, was suchte und wir überlegten, was wir wir machen. Und mein Vater ist der am Abend machen wollen, kam uns erste Ratgeber, wenn es darum geht, der Gedanke, das Containern end- Fleisch und Gemüse zu verarbeiten. lich einmal auszuprobieren. Das ers- Aber manchmal ist er auch ratlos, te Mal waren wir sehr aufgeregt. Kurz zum Beispiel bei dem vielen Porree, vor Mitternacht fuhren wir endlich den ich neulich gefunden habe. los. Bei den ersten Märkten waren die Ich habe mich von Anfang an Tonnen verschlossen. Wir fuhren wei- auch im Internet informiert. Folge ter und weiter und fanden offene, in einem Paar auf Instagram, das viele Fotos: Anonyma 9
Menschen Wenn Hilfe erst einmal abgelehnt wird Als pflegende Angehörige im ständigen Widerspruchsmodus WIDERSPWIDERS RUCH PRUCH Pappesatt – dazu fällt mir wieder al- beantragter Hilfen oder Pflegegrade, mit einem Ausweis als gerichtlich be- lerhand ein, was ich damit in Ver- Fahrkostenerstattungen und so wei- stellte Betreuerin, einer notariell be- bindung bringen kann: Meine neu- ter. Es entsteht durchaus der Eindruck, glaubigten Urkunde und einer guten erdings vor Pappe überquellende dass Behörden erst einmal alles - oder Rechtsschutzversicherung. Diese Din- Mülltonne, ein Ende dieses Zustan- wenigstens das meiste - ablehnen. ge waren aber nur die eine Seite der des ist nicht wirklich absehbar, aber Gelegentlich verschwinden auch Un- Medaille. Die andere: Ich investier- damit kann ich gut leben; eine ge- terlagen in einem großen schwarzen te viel Zeit, Kraft, Nerven, Papier, Dru- fühlt nicht enden wollende dunk- Loch… ckerpatronen, Porto, musste Gesetze le Jahreszeit, die jetzt ja gerade mal Wer sich da nicht wehren kann lesen, Telefonate führen, bei Behörden anfängt; Corona ohne Ende – die oder will, hat schnell verloren. Ich habe auf der Matte stehen und sagen „So Aufzählung könnte ich noch um et- mich im Namen meiner kranken Ange- nicht“. Gut möglich, dass die Aufzäh- liches weiterführen. hörigen immer gewehrt, ausgestattet lung nicht vollständig ist. Die Zeit, die ich damit verbracht habe Corona mal ausgenommen Widersprüche zu schreiben ist meine Aufzählung selbst und Klagen einreichen zu mit den hier nicht genann- lassen, hätte ich viel lieber ten Dingen nichts gegen mit angenehmeren Dingen, das, was man so als pfle- vor allem mit meiner Familie gender Angehöriger erlebt. verbracht. Mehr als zehn Jahre war ich Aber manche Dinge ununterbrochen in dieser kann man sich nicht aus- Situation und hatte eigent- suchen und wenn man es lich immer irgendwo einen schleifen lässt, löst man Widerspruch laufen, gele- das Problem nicht. Also Är- gentlich ein Klageverfah- mel hochgekrempelt, tief ren, manchmal auch bei- Luft geholt und auf ein des gleichzeitig. Habe ich Neues! Nein, im Moment ganz am Anfang noch ge- muss ich auf der Schiene dacht, das erlebe nur ich, gerade nichts tun. Ich hof- wurde ich durch Verwandte fe, dass das so bleibt und und Bekannte im Laufe der wünsche allen, die jetzt Zeit immer häufiger eines in dieser Situation sind, besseren belehrt. Haben wir Mut, Kraft, Durchhaltever- uns über die Pflege unserer mögen und ja, gelegent- Angehörigen unterhalten, lich braucht man auch das Statt ihre Zeit dem kranken Vater oder der hinfälligen Großmutter zu ging es immer auch sehr widmen, müssen sich pflegende Angehörige oft mit bürokratischen notwendige Kleingeld. stark um die Ablehnung Entscheidungen der Pflegkasse herumschlagen. Foto: Sabine Klemm Brunhilde Spickermann 10
Thema „Ach, Sie sind psychisch krank, na dann!“ Ermüdende Berichte aus dem Alltag bei Ärzten „Ich habe sehr viele gesundheit- machen wir uns nichts vor, viele psy- Wollpullover. Ohne Vorankündigung liche Probleme seit sieben Jahren chisch Kranke scheuen sich eher da- „renkte“ er mich ein. In meiner Wahr- und JEDES Mal muss ich rumdisku- vor, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie nehmung schmiss er sich mit voller tieren und mich rechtfertigen, wäh- sind gefangen im Denkmuster „Ich bin Wucht auf mich. Es fühlte sich einfach rend gleichzeitig sich mein Zustand es nicht wert, dass man mir hilft.“ Hät- erniedrigend an. Als ich mich wie- drastisch verschlimmert.“ te der diensthabende Notarzt schnel- der hochrappelte, fragte er nach mei- ler reagiert, wären mir Bluttransfusio- ner genauen Diagnose. Statt zu sagen, So beschreibt Alice (Username) bei nen und Beatmung erspart geblieben. das tut hier nichts zur Sache, antwor- Twitter ihre Situation als psychisch Am eigenen Leib habe ich ein an- tete ich wahrheitsgemäß: Posttrauma- Kranke mit gleichzeitig körperlichen deres ärztliches Desaster erlebt. Seit tische Belastungsstörung. Er lächelte Beeinträchtigungen. Eine andere Twit- frühester Jugend bin ich wegen mei- süffisant: „Das dachte ich mir schon.“ terin ergänzt: „Ich wäre eher für das ner Wirbelsäule in Behandlung. Als „Wie kommuniziert man physio- positive Beispiel – meine Hausärztin Studentin sagte mir ein Orthopäde: logische Gesundheitsbeschwerden, nimmt mich immer sehr ernst. In ei- „Sie haben halt eine ungünstige Sta- wenn bei jedem Versuch, das zu tun, ner Klinik hingegen bekam ich selbst tik“. Stimmt, schon in der Bibel stand automatisch der Fokus auf psychische bei Erkältung nur nach Diskussion Me- „Eine lange Dürre wird kommen.“ Das Gesundheitsbeschwerden rutscht, dikamente, und es sollte in der Grup- bin ich. Seit meiner Studentenzeit sind weil das eine das andere auslöst, aber pentherapie besprochen werden, wie- mehr als zwei Jahrzehnte ins Land ge- nicht zwangsläufig bedingt? Ich versu- so man erkältet ist und was es einem gangen. Der Rücken möppert regel- che das seit Tagen, und es ist wirklich sagen soll.“ An den Beispielen sieht man, dass es von beiden Seiten Vorurtei- le bzw. verfestigte Meinungen gibt. „Viele psychisch Kranke Als Mensch mit psychischen Erkran- kungen muss man sich einfach immer scheuen sich eher davor, verteidigen. Hilfe in Anspruch „Ich hatte mal eine starke Eisen- mangelanämie. Jedoch wollte man zu nehmen.” mir keine Eiseninfusionen geben, da ich ja lediglich depressiv sei. Und das alles, weil man leider meine Selbst- mäßig, aber mich psychisch stabil zu sehr schwierig. Fühle mich null Ernst verletzungsvergangenheit beim Blut- bekommen, stand jahrelang im Vor- genommen... und das triggert wiede- abnehmen erkennen kann.“ So be- dergrund. Dann keimte der Gedanke rum, weil es nie ernst genommen wur- schreibt „Lucy“ ihre Erfahrungen. Ein „Selbstfürsorge“ auf. Ja, ich habe Rü- de, sobald es hier gravierende nicht Twitterer antwortet ironisch: „Prakti- ckenschmerzen, vielleicht kann sich da psychische Erkrankungen gab. Wo ich scherweise macht dich Selbstverlet- jetzt jemand drum kümmern. Der Ter- wieder bei ´Ich darf nicht krank sein!´ zung lebenslang immun gegen jegli- min beim Facharzt war ernüchternd. lande.“ So beschrieb eine weitere Use- che schädlichen Einflüsse von außen. “ Ich wurde gefragt, was ich be- rin unser Dilemma. Es ist ermüdend. Als Mensch mit ruflich mache. Für einen Orthopä- Mir geht es hier nicht um Ärztebas- psychischen Erkrankungen fühlt man den eine durchaus berechtigte Frage. hing. Aber ich möchte denen, die Un- sich schnell als Patient zweiter Wahl. In Nachdem ich sagte, ich sei berentet recht erfahren haben, eine Stimme der letzten Ausgabe schrieb ich bereits wegen psychischer Erkrankung, hat- geben. Und generell an Ärzte und Ärz- über meine Erfahrung in der Notauf- te sich meine Weiterbehandlung erle- tinnen appellieren, ihre Patient*innen nahme. Ich wurde über Stunden nicht digt. Ich wurde lediglich gefragt, wo es als Ganzes zu sehen. Wir sind nicht „die versorgt, weil ich irgendwie unter die denn weh tue. Ich sollte mich bäuch- eine“ Diagnose, sondern Menschen in Kategorie „Hypochonder“ fiel. Aber lings auf die Liege liegen, im dicken all ihren Facetten. Kirsten Sievert 11
Erfahrung Diese Kühe genießen den Überfluss, auch wenn ihnen gern ein Anteil an der Klimaveränderung zugeschrieben wird. Foto: Birgitt Hamm Immer Mehr und Weiter so Gewinn-Maximierung ist schon fast ein Credo unserer westlichen Gesellschaft Auf der Münchner Sicherheitskon- genannte Modell hoffen auf ein ge- (und mittlerweile viele junge Medizi- ferenz verkündete der US-Außen- wisses Umdenken. ner, die sich organisieren) pappesatt. minister Pompeo: „ Wir hier im Wes- Noch zur Konkretisierung dessen Es wäre staatliche Aufgabe, der Ma- ten sind alle am gewinnen“; konform was wir uns „leisten“, besser, was uns ximierung der Umsätze entgegen zu mit Trumps Äußerung: Wir werden so aufgezwungen wird. Hier zwei Bei- wirken. viel gewinnen, dass wir vom Gewin- spiele. 1. Recycling-Höfe haben das Einen, wie ich finde, interessanten nen müde werden!“ Als ob wir nicht Problem mit einer stetig wachsenden Aspekt zum grenzenlosen Wachstum längst bei Weitem mehr als genug Unmenge an Pappen. Das haben sie fand ich in einem Bericht der Süd- hätten – also pappesatt sein müssten! natürlich buchstäblich pappesatt. Be- deutschen Zeitung: Im Silicon-Val- Die Mehrheit in unserer Gesellschaft dingt ist das natürlich durch den hor- ley denkt man selbstkritisch über die folgt brav-trottend den Eseleien der renden online-Verkehr. Folgen des Wachstumsdenkens nach Wirtschaft, der Werbung, der Politik; Fast ausschließlich Gewinnstre- (hier: Digitalisierung). Der Mensch ich habe das dicke oder eben pap- ben ist sichtbar in der Privatisierung ist kein digitales, er ist ein analoges pesatt. Natürlich gibt es – und zwar der Medizin. So „sind es in einem exis- Wesen. sogar zunehmend – neue Denk-Mo- tenzbedrohenden Verdrängungs- Eine gebremste Digitalisierung delle; z. B. Firmen, die das Gemein- wettbewerb die Erlöse, die am Ende und ein winziges Zurück zum Analo- wohl über den Gewinn stellen; Ge- über das Schicksal eines Kranken- gen würde ich mir wünschen – denn schäftslogik, die nicht vordergründig hauses und auch über das der Pati- allein das pausenlos zitierte Wort „Di- den Börsenwert im Auge hat, son- enten entscheiden“ (Zitat: Giovanni gitalisierung“ (zusammen mit den un- dern soziale und ökologische Interes- Maio, Professor für Ethik). Diese Öko- sozialen Medien) nervt mich, pappt sen verfolgt. Immerhin lässt das eben nomisierung der Medizin habe ich mich satt. Jürgen Friedmann 12
Thema Das Buch stinkt Die besten Geschenke für unsere Kinder Zu Ostern 2020 – meinem ersten Ostern in Schwerin ohne Familie – dachte ich darüber nach, womit ich meinen Enkelkindern eine Freude machen könnte. Ich kenne meine En- Unmengen an Spielzeug oder Zeit schenken? Das fragen sich die Groß- keltochter Emma mit ihren beson- eltern oft, wenn sie ihren Enkeln eine Freude machen wollen. deren Interessen und Vorlieben. Sie Foto: Birgitt Hamm mag Bücher und lesen und ist sehr wissbegierig und naturverbunden. Und sie ist mir in ihrem Wesen sehr Duftkinderbuch „Kräuterhexe Thymia- lachte: „Und der Koboldpupsgeruch ähnlich. Also wird sie auch lieben, na beim Koboldkönig“ gekauft. Ich war stinkt da wirklich.“ was ich liebe! Ich wollte ein „sinn- sehr begeistert davon, dass man jetzt Wütend antwortete meine Enkel- volles und pädagogisch wertvolles“ selbst Düfte auf Papier konservieren tochter: „Nein alles, das ganze Buch Geschenk machen, über das sie sich konnte. Nur kurz rubbeln – und schon stinkt ekelhaft“ und hielt sich dabei die freuen sollte. wurde der Geruchssinn angesprochen. Nase zu. Und die Verknüpfung von sehen, hö- Oh je! Ich, war für einen Moment In meiner Kindheit habe ich zu allen ren und riechen garantiert eine nach- sprachlos – und stotterte fast entschul- Geschenken höflich „Danke“ gesagt, haltigen Lerneffekt. Einfach genial! Und digend für mein erneutes Buchge- obwohl ich mit manchen Dingen nichts eine unterhaltsame Geschichte noch schenk: „Nein, dieses Mal sind keine Ge- anfangen konnte.Weil ich eben schon obendrein! Schweren Herzens trenn- rüche dabei.“ da spezielle Interessen hatte, anders als te ich mich von diesem Lieblingsbuch Was ich daraus gelernt habe? andere. Obwohl es früher wohl einfa- und schickte ich es liebevoll verpackt Es ist in der heutigen Zeit der Über- cher gewesen sein muss, dem Kinde ei- per Post zu meiner Enkeltochter. fülle und des Überangebotes zwar fast nen Herzenswunsch zu erfüllen, da wir Und erhielt auch ein liebevoll ge- wie im Schlaraffenland. Doch Vorsicht ja im Mangel und nicht in der Fülle leb- sprochenes „Dankeschön Oma Iris“ mit Geschenken! Es ist vielleicht doch ten. Meistens gab es praktische Sachen. über Whats App Video zurück. Alles in besser vorher nach den Wünschen zu Die man eben gut gebrauchen konnte. Ordnung, dachte ich und freute mich fragen, um derartige Überraschun- So glaubte ich als erfahrene Oma noch einmal. Schenken ist eben etwas gen in Zukunft zu vermeiden. Und und pädagogische Fachfrau genau den Schönes. Kinder sind heute anders, ehrlich und richtigen Treffer bei meiner Enkeltoch- Es vergingen vier Monate, bis ich unverblümt und auch manchmal un- ter zu landen. meiner Enkeltochter bei der Schulein- verschämt – und wehe, wenn sie losge- Ich selbst liebe Kinderbücher und führung ihres Cousins in Jena begegne- lassen…! Bei der alltäglichen Reizüber- die darin verpackten Lerninhalte über te. Im ausgelassenen Kinderspiel und flutung mit Informationen und Dingen das Leben sehr. Schön illustriert ver- der Wiedersehensfreude aller Enkel stelle ich auch bei Kindern schon eine steht mein inneres Kind viel mehr von wollte ich ihr erneut ein sehr schönes Sättigung und Unzufriedenheit fest. dem, was manchmal in den Erwachse- und lehrreiches Kinderbuch schenken – Ich frage mich: „Worüber können nenbüchern in ausschließlich schwar- mit Rezepten drin zum Selbermachen. sich Kinder heute wirklich freuen?“ zen Buchstaben gedruckt steht. Und Doch sie zog die Mundwinkel nach Meine Antwort: Gemeinsam Zeit da ich mich ganz speziell für Natur- unten und fragte: „Ist das wieder so verbringen. Das Rezeptebuch werde medizin interessiere und dafür, wie ein stinkendes Buch?“ Ich musste kurz ich mit Emma gemeinsam ausprobie- man sich alternativ zur Schulmedizin überlegen. „Ah ja, du meinst die schö- ren – und wir werden dabei viel Spaß selbst helfen kann mit allerlei Kräutern nen Kräuterdüfte, die man riechen haben. und Gewürzen, hatte ich für mich das kann beim Lesen?“ gab ich zurück und Iris Hesse 13
Erfahrung Heilig Abend in einer Nicht-Familie In „Blühen wie es meinen Wurzeln ent- Das Weihnachtsfest mit der Familie spricht“ erzählt die in Pinnow lebende Han- zu verbringen, macht manche Men- na Strack ihre Lebensgeschichte, mit der schen pappesatt – zu viele Geschen- sie Mut machen möchte zum eigenen Sein. Das Buch ist in der AT Edition erschienen ke, zu viel Essen, zu viel Stress. Wie es (ISBN978-3-89781-271-0). anders geht, beschreibt die Autorin Hanna Strack in ihrem autobiografi- schen Buch „Blühen, wie es meinen Wurzeln entspricht“: will die Rede eines Freundes zitieren, der über seine sexuellen Erfahrungen Wolfgang kommt gegen 15 Uhr und gesprochen hatte. Flapsige Bemer- bringt zwei Gitarren. „Vielleicht kommt kungen von allen Seiten. Liebe, Lie- noch ein Kurskamerad, Peter, dem das be und Angst. Weihnachtsthema also Fest zuhause zuwider ist, ich hab ihm doch. gesagt, bevor du dich vor die S-Bahn Selleriesuppe. Volker singt mit meiner wirfst, komm zu uns.“ Begleitung aus dem Schemellischen Jochen kommt. Er hackt die Walnüsse Gesangbuch: „Ich steh an deiner Krip- für den Obstsalat. Er erzählt, was seine pe hier.“ Sabine singt mit. WG-Mitbewohner über Gottesdiens- Hauptgericht, Pute. Christian kommt, te denken. Sie können sich nicht vor- heute. Sie haben die afrikanischen mein Neffe, Student. Ob er nachher sei- stellen, dass dort getanzt wird. Ich bin Trommeln vergessen, die sie mitbrin- ne Mutter in Finnland anrufen kann? Pfarrerin und halte gelegentlich Got- gen wollten. Wir holen sie. Es läutet. Die Pute reicht für alle. Lob für den tesdienst in Vertretung des Pfarrers, Der angekündigte Kurskamerad steht Koch. Sabine will eine Weihnachtsge- bei denen ich ihn nicht nach der Litur- vor der Tür. Gut, dass er angekündigt schichte von Theodor Storm vorlesen. gie, sondern nach dem biblischen Text war. Wir heißen ihn willkommen, rich- Sie empfindet die als echt weihnacht- gestalte. Da kommen dann auch me- ten ein elftes Gesteck. lich anrührend. Wir lauschen. ditative Tänze vor. Wir proben „Süßer die Glocken nie Obstsalat. Afrikanische Trommeln, Volker kommt. Er war Skifahren in klingen“, mehrstimmig, Gitarrenbe- Andrea und Sonja beginnen mit dem Hochfügen mit seinen Freunden. Ihm gleitung. Dann Anruf bei der bettläg- Grundrhythmus, alle improvisieren. ist überhaupt nicht nach Feier. Da er rigen Tante in Lübeck, wir bringen ihr Für den Espresso habe ich mich selbst im Hause wohnt, kann er sich immer das Ständchen, ihr Lieblingslied, seit eingeteilt, so konnte ich bis jetzt alles mal zurückziehen. Er hatte die Menü- Jahren ihr schönstes Weihnachtsge- sehr genießen. karte geschrieben. schenk. Sie ist vor 60 Jahren aus der Lichtertanz. Wir haben keinen Weih- Ich bin geschieden. Mein Freund, in Kirche ausgetreten. Ständchen für nachtsbaum, Geschenke sind auch ab- dessen Haus ich lebe, ist Witwer. Beide die Großmutter im Pflegeheim im geschafft. So ist Platz zum Tanzen. Es haben wir je drei erwachsene Kinder, Schwarzwald. ist gegen 22 Uhr. In Kanada warten alle noch unverheiratet. Mein Freund Verabredet ist: Jeder übernimmt ei- die Großeltern auf das Ständchen. Wir kocht. Ich decke den Tisch, diesmal mit nen Menügang auf- und abzutragen. proben „Lobt Gott ihr Christen“ vier- Kerzen in Äpfeln für jeden Platz. Das entkrampft. Und zwischen den stimmig. Dann der Anruf. Christine kommt. Sie ist eine Freundin Gängen kann jeder und jede etwas Volker wird jetzt in seinem Zimmer von mir. Sie wäre allein dieses Jahr. Sie vortragen. seine Sport-Freunde einladen. Fritz, bringt den Aperitif mit, geht in die Kü- Aperitif. Ich lese aus dem Kriminalro- Christine, mein Freund und ich fah- che zum Mixen. man von Tony Hillermannn „Das Tabu ren zur Christmette. Peter setzen wir Sabine kommt. Sie ist die älteste der Höllengeister“ den Aus-Segen der dort ab, wo sein Fahrrad steht. Wolf- Tochter meines Freundes. Den Tag Navajo-Indianer, Wolfgang und Jo- gang wird die Nacht durch seine Party über hat sie noch in zwei Geschäften chen improvisieren auf den afrikani- feiern, Andrea und Sonja tanzen noch ausgeholfen. schen Trommeln. ein wenig im Wohnzimmer, mein Nef- Andrea und ihre Freundin Sonja Vorspeise, geräucherte Forellen. fe wird bei uns übernachten. kommen. Sie tragen immer zerrisse- Dann die Rede von Wolfgang, die wir Wir hatten ein fröhliches Weihnach- ne Jeans, Pullis mit Löchern. So auch jedes Jahr genießen. Enttäuschung: Er ten. (gekürzt) Hanna Strack 14
Thema Vom üppig gefüllten Adventskalender bis zur fetten Gans – während die meisten Menschen nach Weihnachten nur noch ans Abspecken denken, verliert unsere Autorin in dieser Zeit stets ein bis zwei Kilo Gewicht. Foto: Adobe Stock Essen nach Plan Von Einer, die zur Weihnachtszeit Gewicht verliert Ich gehöre zu den wenigen Men- Mein Problem ist, dass ich nach dem Besuch bei den Großeltern und da schen, die darauf achten müssen, Frühstück, auch wenn es mal größer ein Spaziergang oder Kirchenbesuch. genug zu essen. Das klingt womög- ausfällt, ca. zwei Stunden später eine Wenn die Familie schon mal zusam- lich wie ein Leben im Schlaraffen- ordentliche Portion Mittagessen brau- menkommt, verplant man den ganzen land, aber so ganz perfekt ist es lei- che. Ansonsten sinkt mein Blutzucker Tag, um besonders viel Zeit gemein- der nicht. ziemlich schnell ab. Das kann bei mir sam zu verbringen. Ich halte mich an zu Flackern in den Augen, Zittern in diesen Tagen mit Bananen, belegten Ich hatte schon immer Untergewicht. den Händen oder Übelkeit führen. Das Broten oder Süßigkeiten „über Was- Bei 154 cm wiege ich ca. 41,5 Kilo- geschieht ungefähr in einem Zeitraum ser“. Allerdings reicht das nicht aus. gramm. Das könnte womöglich an von 15 Minuten. Nach fünf Tagen Weihnachtszeit in Fa- meiner Herzerkrankung liegen, aber Bis jetzt hab ich es fast immer ge- milie habe ich ein bis zwei Kilo runter. ich denke, auch die Gene sind nicht schafft, es gar nicht erst soweit kom- Da ich sowieso schon Unterge- ganz unschuldig daran. Meine Mutter men zu lassen oder schnell zu einem wicht habe, ist das sehr ungünstig. Als war in ihrer Jugend auch sehr schlank. Snack zu greifen. Bananen oder ein ich einmal eine Gastritis hatte, habe Schon früher bekam ich Essen vor- Toast sind hilfreich. Zur Not geht auch ich mir vorgenommen eine „Diät“ zu gesetzt, das besonders kalorienhaltig ein Glas von einem süßen Getränk. machen. Ich verzichtete auf säurehal- war. Ich kann mich an den einen oder Zittrige Hände durch sinkenden Blut- tige Lebensmittel und Getränke, Alko- anderen Kakaodrink erinnern, den es zucker bekomme ich ca. alle zwei Wo- hol, Kaffee und zu viel Fett. Nach einer heute noch in Apotheken gibt. Diesen chen. Auch, wenn ich versuche gut zu Woche gingen die Magenschmerzen musste ich in besonders „schlanken“ planen und pünktlich zu essen, kann weg, aber auch die Kilos. Von 42 Kilo Zeiten regelmäßig trinken. Es gibt na- auch das schiefgehen. Wenn ich zu ging es runter auf 37,9 Kilo. Ich war sel- türlich Schlimmeres, aber nach der spät anfange zu kochen, ein Ausflug ber ganz überrascht. Ich habe zwar zehnten Flasche schmeckt es einem ohne Proviant zu lange dauert oder normale Portionen gegessen, aber Al- auch nicht mehr. ich zu wenig Essen mithabe, kann es kohol und Süßgetränke mit Kohlen- Heute ist mein größtes Problem, schon mal etwas schwierig werden. säure scheinen doch ziemlich viel aus- dass ich besonders auf ein gutes Mit- Zwischen Mittagessen und Abendes- zumachen. Vor allem Süßgetränke tagessen achten muss. Ich bin kein sen habe ich das Problem aber nicht. habe ich täglich viel getrunken. großer Frühstücksfreund, esse nicht Ich gehöre auch zu den Menschen, Weil ich allerdings auf meinen besonders viel. Vielleicht einen Toast die an Feiertagen eher ab- als zuneh- Rhythmus achte und anderen oft auf oder eine Schüssel Cornflakes. Da geht men. Da meine gesamte Familie reich- den Geist gehe mit „ich muss unbe- es vielen Leuten um mich herum an- lich Frühstück isst und gern auf das dingt noch was essen, wir können erst ders. Sie essen viel zum Frühstück und Mittagessen verzichtet, um abends später los“, komme ich damit ganz gut lassen oft das Mittagessen weg. Was ordentlich zu schlemmen, habe ich klar. Zur Zeit halte ich mein Gewicht. ich mir gar nicht vorstellen könnte. oft keine Zeit zum Kochen. Hier ein SU 15
Selbsthilfe Mein Kampf mit Essen, der Gewichtszunahme, das Annehmen und Lieben-lernen meines Körpers be- gleiten mich täglich. Es ist nicht einfach, Kalorien und Gewicht aber ich will gesund werden und wie- der leben. Es sind Tage und Wochen, ja auch manchmal Monate des harten Kampfes und harten Arbeit, der Tränen und Verzweiflung. Aber ich möchte an Eine Betroffene berichtet von ihrem Feind, der Magersucht Lebensqualität zurück gewinnen. Ein Aufgeben darf es nicht geben. Was war eigentlich die Ursache? Ich heiße Silke und möchte über mei- Gedanken, das eigene Ich. Wie soll ich War es der Unfall, den ich 1996 erlitt? ne psychische Erkrankung „MAGER- mit diesen Veränderungen umgehen, Durch den Unfall hatte ich meine ge- SUCHT“ berichten, da es in der heu- wie lerne ich es zu akzeptieren? Ich samte Identität verloren und war bei tigen Zeit ein großes Tabuthema ist. glaube, es hilft nur eines, sich selber lie- der Genesung auf der Suche nach ei- Zum jetzigen Zeitpunkt kämpfe ich ben zu lernen und sich selbst mit Lie- ner neuen. Ich hatte über nichts mehr mit aller Kraft darum, diese Erkran- be, Achtung und Respekt zu begegnen. Kontrolle, alles verloren. Die einzi- kung zu heilen und mich von der Es stellten sich Fressattacken und ge Kontrolle, die ich noch hatte, war „SUCHT“ zu befreien. Aber erst ein- Unwohlsein ein. Obwohl mir die Ess- mein Körper. So begann ich nur mit ei- mal vorab zu meiner Geschichte. störung bewusst ist, habe ich große ner einfachen Ernährungsumstellung, Angst, meine alten Gewohnheiten ein- kein Fett, kein Fleisch und Light- Pro- Durch die Magersucht habe ich fach über Bord zu werfen, die mir seit dukte. Auch spielt der große Schlank- mich auf 38 kg, bei einer Größe von über 20 Jahren ein Überleben und den heitswahn in den Medien eine große 1,63 cm herunter gehungert. Es gab für Erhalt meiner Funktionsfähigkeiten er- Rolle. Jede*r Betroffene hat seine/ihre mich nichts anderes mehr. In meinem möglichen. Zurzeit entwickelt sich eigenen Ursachen. Um mich richtig mit Kopf drehte es sich nur noch um das mein Denken, die Krankheit bewusst der Krankheit auseinander zu setzen, Essen, Kalorien und Gewicht. Kein In- wahrzunehmen und zu entschärfen. schrieb ich vor lauter Wut und Enttäu- teresse mehr für Familie, Kultur, Natur, Auch versuche ich, mit meinen unter- schung von mir selbst, einem Brief an usw. Nichts um mich herum nahm ich drückten Gefühlen in Kontakt zu treten, meinem Begleiter, die „MAGERSUCHT“. noch wahr. Es ist ein reines Hofkino. Ich mit ihnen zu reden und sie aus dem Ge- Hier ein Auszug daraus: empfand und empfinde kein Glück, kei- fängnis wieder zu befreien. Ich zwinge ne Liebe und Freude mehr. mich, jeden Tag drei Mahlzeiten zu mir Liebe Magersucht (Mein Feind!) Dann kam der Wendepunkt. Ich zu nehmen und werde während der Du hast mich jahrelang begleitet, hast brach zusammen. Es vergingen 20 Jah- Genesung auch von mehreren Fressat- es mir schwer gemacht, mich ande- re, bis die Erkrankung anerkannt wur- tacken überfallen. Die große Angst vor ren anzupassen. Durch Dich habe ich de und ich zur Einsicht kam und mir Konzentrationsstörungen, Schlafpro- auch eingestand, dass ich magersüch- bleme und friere ständig. Durch Dich tig bin. Ich musste etwas ändern, wenn weiß ich nicht mehr, was Freude, Liebe ich weiter am Leben bleiben will. So be- und Glück ist. Durch Dich kann ich nicht gann ich zu kämpfen, um mich von den mehr lachen, usw. … Fesseln zu befreien; ich forschte und re- In Wut und Zorn Deine Silke cherchierte nach Lösungen und such- te mir Hilfe. Nun bin ich in psycholo- Ich möchte allen Betroffenen Mut ma- gischer Behandlung, lese Bücher und chen, habe das Gefühl, es zu 60 Prozent suche die Hilfe auch bei Hypnotiseu- geschafft zu haben. Ich kämpfe weiter. ren, bei Suchthotlines usw. Ich setze Meine tägliche Arbeit lautet, die Ma- mich mit anderen Betroffenen in Ver- gersucht überwinden, und das 24 Stun- bindung, um mich auszutauschen. Re- den am Tag. Es ist nicht leicht, aber ich den hilft. Man fühlt sich verstanden. Es weiß aus meinen ersten Erfahrungen, bedarf viel Kraft und eines starken Wil- es lohnt sich. Silke lens. Es kostet so viel Kraft und Stär- ke, dass ich manchmal total erschöpft PS: Die Selbsthilfegruppe trifft sich und verzweifelt bin. Jetzt, wo ich seit immer am ersten Montag im Monat längerem wieder versuche normal zu Wenn das Maßband übers Wohlbefinden ent- um 18 Uhr in der KISS in Schwerin. essen, verändern sich der Körper, die scheidet. Foto: privat Betroffene sind herzlich eingeladen. 16
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