Video Arte Palazzo Castelmur

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Video Arte Palazzo Castelmur
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Video Arte Palazzo Castelmur
Video Arte Palazzo Castelmur, 2013

Eine Ausstellung im Palazzo Castelmur, Stampa-Coltura

Herausgegeben von Progetti d’arte in Val Bregaglia
und Céline Gaillard

                     Edition Luciano Fasciati · Chur
Video Arte Palazzo Castelmur
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Inhalt

		 al plöv, la galina la fa l’öv         		 Eric Lanz
 6 Luciano Fasciati                       43 «Tonal», 2013

		Vorwort                                		 Zilla Leutenegger
  8 Gian Andrea Walther                   47 «Schlafender Hund», 2013
		                                        51 «Castelmurrrr», 2013
		 Coltura – Palazzo Castelmur            54 «Champagner Brunnen», 2013
 12 Ludmila Seifert-Uherkovich
                                         		 Sissa Micheli
		 Werkbeschreibungen 15 – 65             57 «Fragments From A Possible Past –
		 Céline Gaillard                       		 46° 20' 33.23'' N / 9° 34' 57.2'' E», 2013

		 Judith Albert                         		 Christoph Rütimann
 15 «Reisende», 2013                      61 «Handlauf Piz Duan – Corrimano Piz
 19 «Projektion», 2013                   		 Duan», 2013

		 Karin Bühler                          		 Simone Zaugg
 20 «Ich sehe (was war)», 2013            65 «Berg und Beton», 2013

		 Evelina Cajacob                       		 Castelmur sehen – Strategien in Zeit
 23 «Incrésciar – LangeZeit», 2013       		 und Raum
                                          68 Dr. Katharina Ammann
		 frölicher | bietenhader
 25 «Gegenbild Oberfläche», 2013         		 Liebeserklärung an meine
 28 «Gegenbild Spiegel», 2013            		Tischnachbarin
 31 «Gegenbild Grundriss», 2013           99 Ursina Trautmann

		 Gabriela Gerber & Lukas Bardill       106 Autorinnen und Autoren
 34 «Alle meine Schafe I», 2013
 37 «Alle meine Schafe II», 2013         109 Impressum
 41 «Zuckerberg», 2013
Video Arte Palazzo Castelmur
Palazzo Castelmur
Video Arte Palazzo Castelmur
6                                                                                                   7

al plöv, la galina la fa                                    Ich habe diesen Reim und die damit ver-
                                                          bundene Angewohnheit über all die Jahre
                                                                                                       sich mit den vorgefundenen Gegebenhei-
                                                                                                       ten und der besonderen Situation ausei-
                                                                                                                                                            engagierte Zusammenarbeit. Der Ge­mein­
                                                                                                                                                            ­de Bergell für die Unterstützung und das

l’öv                                                      mitgetragen und bis heute beibehalten,
                                                          um diesen bei einsetzendem Regen aus
                                                                                                       nandersetzen. Mit unterschiedlichen visu-
                                                                                                       ellen Materialien arbeitend, machen sie
                                                                                                                                                            vertrauensvolle Überlassen des Palazzos.
                                                                                                                                                            Den beteiligten Künstlerinnen und Künst-
                                                          dem Fenster schauend stets wieder zu zi­-    die Historizität des Palasts, des Tals, seiner       lern für ihre hervorragenden Ausstellungs-
Luciano Fasciati                                          tieren. Denn eine der ersten Aufgaben        Geschichten und Besucherschaft auf viel-             beiträge, ihren Helferinnen und Helfern
                                                        während meiner Ferienaufenthalte in            fältige und eindrückliche Weise erfahrbar            für die Unterstützung. Giulio Vatrano für
  Der Reim «al plöv, la galina la fa l’öv»                Stampa – ich bin nicht im Bergell aufge-     und setzen neue Akzente.                             die Mithilfe beim Ausstellungsaufbau und
und die damit verbundenen Erinne-                        wachsen – galt dem morgendlichen Auf-           Diese Beispiele zeigen, dass Kunst sich            als ruhendem Pol in den hektischen Auf-
rungen – nicht nur an das Ei und den                      sperren des Hühnerstalls. Da sich dieser     durchaus auch an weniger bekannten                   bauzeiten.
Regen – verknüpfen sich in einprägends-                   auf der gegenüberliegenden Seite des         Orten, abseits der Kulturzentren und Me­
ter Weise mit meinen Bergeller Kindheits-                ­Hauses auf einer kleinen Anhöhe befand,      tropolen, entfalten kann und diese zu                  Dem Verein Progetti d’Arte in Val Brega­
erfahrungen. Zu übersetzen ist der Reim                   kon­nte das dafür vorhandene vertikal ver-   einem lebendigen Ort des künstlerischen              glia – dahinter stehen Marlene Fasciati,
im Bergeller Dialekt «Bargajot» mit: Es reg-              laufende Schiebetürchen jeweils von «mei-    Austauschs macht.                                    Davide Fogliada, Silvia Hofmann und
net, das Huhn legt das Ei. Seit der Refor-                nem» Schlafzimmer aus mit einer über                                                              Orlando Nigg – für die Begleitung des
mation, die um 1550 von Süden her Ein-                    eine Gas­se führenden Seilzugvorrichtung –      Die Ausstellung «Video Arte Palazzo               Projekts und die Mitherausgabe der
                                                                                                                                                            ­
zug ins Bergell gehalten hat, ist Italienisch             ohne das Haus verlassen zu müssen – ge­-     Castelmur» steht unter der Trägerschaft              Publikation.
die offizielle Amtssprache. Für die Bewoh-                öffnet und am Abend wieder geschlossen       des Vereins «Progetti d’arte in Val Bregag-
ner jedoch gilt das Bargajot, ein örtlicher             ­werden.                                       lia». Der Verein bezweckt die Förderung                All den Sponsoren, Institutionen, Stif-
Dialekt, als Muttersprache. Mit seinen ei­-                                                            und Durchführung von Ausstellungen,                  tungen und zahlreichen Privatpersonen,
genen Besonderheiten ähnelt das Bargajot                   Ausgangssituation und Motivation für        Projekten und Veranstaltungen zeitgenös-             welche das Ausstellungsprojekt und diese
dem romanischen, seine Grammatik eher                   ein weiteres Ausstellungsprojekt zur zeit-     sischer, aktueller und bildender Kunst im            Publikation überhaupt erst ermöglicht
dem lombardischen Dialekt. Der Dialekt                  genössischen Kunst im Bergell bilden der       Bergell.                                             haben.
unterscheidet sich von Ort zu Ort. Inner-               im Sommer 2008 erfolgreich durch eine
halb des Bergells haben Sopraporta (Obe-                Projektgruppe um Patrizia Guggenheim             Danken möchte ich meiner G   ­ rossmutter            Der Autorenschaft mit Katharina Am­­
res Bergell), Sottoporta (Unteres Bergell)              und Angelika Affentranger durchgeführte        Maria dafür, dass sie mir das Bergell, nebst         mann, Céline Gaillard, Ludmila Seifert-
und Soglio je ihren eigenen Unterdialekt.               Kunstparcours «Arte Bregaglia» und das         meinen Eltern, meiner Verwandschaft                  Uherkovich, Ursina Trautmann und Gian
  Meine Mutter stammt aus dem nord­                     2010 realisierte Ereignis «Arte Hotel Bre-     und weiteren persönlichen Begegnungen                Andrea Walther für die Textbeiträge. Ralph
italienischen Dorf Erbanno in der Provinz               gaglia», welches 2011, 2012 und 2013           in meiner Kindheit, auf unvergessliche               Feiner für die wunderbaren Fotografien
Brescia, wo der Bergeller Dialekt also dem-             eine Weiterführung erfahren hat. «Arte         und eindrückliche Weise näherbrachte.                und Olivier Chauliac für die sorgfältige
entsprechend gut verstanden wird. Und                   Bregaglia» und «Arte Hotel Bregaglia»          Mir sozusagen ein Türchen öffnete.                   Gestaltung der Publikation.
wohl auch zur Bekannschaft meiner Eltern,               haben die Gegenwartskunst ins Tal ge­    -
die sich in Chur – wo ich heute lebe und                bracht und haben anspruchsvolle Projekt-          Weiterer Dank gilt: Céline Gaillard, der            Der Bergeller Bevölkerung dafür, dass sie
arbeite – kennenlernten, beigetragen haben              ideen der zeitgenössischen Kunst vor Ort       Kuratorin der Ausstellung und Mitheraus-             uns und den Kunstprojekten stets wohl­
dürfte.                                                 Wurzeln schlagen lassen. Für «Video Arte       geberin der Publikation, für ihre unermüd-           wollend und herzlich begegnet ist. Meiner
  Unsere Nona (Grossmutter) väterlicher­                Palazzo Castelmur» entwickelten die betei-     liche Mitarbeit. Ivana Semadeni und Gian             Frau Marlene Fasciati für ihre Grosszügig-
seits pflegte es, «al plöv, la galina la fa l’öv»       ligten Kunstschaffenden ortsspezifische        Andrea Walther, den guten Seelen des                 keit und die stete Unterstützung.
jeweils bei Regen aufzusagen.                           Interventionen der Videokunst, welche          Palazzo Castelmur, für die freudvolle und
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Vorwort                                            sondern die ganze Talschaft. Gerade das
                                                   Medium Video ermöglicht es, die Vergan-
                                                   genheit und die Gegenwart darzustellen.
Gian Andrea Walther                                Der Betrachter wird in neue und unerwar-
                                                   tete Sichtweisen geführt: Man denke nur
  Der Palazzo Castelmur als Rahmen und             an den Migranten, der seinen Kopf verlo-
Bühne für die Realisierung von Video-              ren hat (Judith Albert); an die zum Nebel
kunst – das schien vermessen. Es war zu            aufsteigende Frau (Sissa Micheli); an die
erwarten, dass die vorgesehenen Arbeiten           halsbrecherische Abfahrt vom Berg hi­
mit den äusserst komplexen technischen             nunter zum Bach (Christoph Rütimann);
Mitteln, die verwendet werden sollten,             an die Schafherden (Gabriela Gerber &
diesen Rahmen sprengen würden. Es kam              Lukas Bardill); an den Wollknäuel (Evelina
anders: Die unterschiedlichen Stile des            Cajacob); an die Figur im Inneren der
Baus sowie die Vielfalt der Einrichtungen,         Mauer (Simone Zaugg); an das mutmassli-
aus denen das Patrizierhaus / der Palazzo          che Leben im Palazzo (Zilla Leutenegger);
entstanden ist, haben die Künstlerinnen            an die Zeugnisse der Bewohner vergange-
und Künstler auf verschiedenen Ebenen              ner Zeiten (Karin Bühler); an die Licht-
zu stimulieren vermocht – ihr Blick blieb          spiele, welche die ursprünglichen Tapeten
dabei nicht auf den Palazzo beschränkt, er         zu neuem, überraschendem Leben erwe-
be­rücksichtigte weitere wichtige Aspekte,         cken (frölicher | bietenhader); an die Farb-
welche die ganze Talschaft miteinbeziehen.         und Formexperimente «Tonal» (Eric Lanz).

  Die Idee, zeitgenössische Kunst ins Ber-           Die Technologien erdrücken das Mu­  -
gell zu bringen, geht ins Jahr 2008 zurück.        seum Palazzo Castelmur in keiner Weise.
Damals wurde mit dem Projekt «Arte Bre-            Vielmehr wird der Palazzo aufgewertet
gaglia» zwischen Maloja und Chiavenna              und auch neu zur Diskussion gestellt.
ein «Kunstparcours» geschaffen mit ver-
schiedenartigen Installationen, darunter             Es war äusserst spannend, die Künstlerin­
auch Videoarbeiten. Zwei Jahre später              nen und Künstler zu beobachten und mit-
stellte der Churer Galerist Luciano Fasciati       zuerleben, wie sie sich dem Palazzo Castel-
künstlerische Arbeiten im Hotel Bre­gaglia         mur näherten. Ihre Leidenschaft und ihr
in Promontogno vor. Das Projekt nennt              Wille, mehr über die Geschichte des Palaz-
sich «Arte Hotel Bregaglia» und erlebt             zos und auch der Talschaft zu erfahren,
heuer die vierte Auflage. Daraus entstand          waren beeindruckend. Ebenso setzte ihre
die Idee des diesjährigen «Video Arte              Bereitschaft und Fähigkeit, sich neuen
Palazzo Castelmur 2013».                           Ideen auszusetzen, starke Signale, die
                                                   zweifellos die künftige Entwicklung des
 Wie bereits erwähnt, umfasst die The-             Palazzo Castelmur beeinflussen werden.
matik nicht nur den eigentlichen Palazzo,
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Palazzo Castelmur
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Coltura – Palazzo                                     tationsarchitektur im Falle Giovanni Cas-
                                                      telmurs auch als eine Reverenz an die
                                                                                                      Maira, welche von der Kantonsstrasse in
                                                                                                      eine seitlich ans Castelmur’sche Grund-

Castelmur                                             ­eigenen illustren Vorfahren zu verstehen,
                                                       die als bischöfliche Lehensträger die lang­
                                                                                                      stück führende Rosskastanienallee überlei-
                                                                                                      tet, wurde 1897 errichtet.
                                                      zeitige Machtstellung des Geschlechts im
Ludmila Seifert-Uherkovich                            Bergell begründen halfen. Dass er an die          1963 vom Kreis Bergell samt Inventar
                                                      glorreiche Vergangenheit seiner Fa­     milie   er­
                                                                                                      ­ worben, gibt der heute öffentlich zu­­
1723, massgebliche Erweiterung von                    anzuknüpfen gedachte, hatte Castelmur           gäng­ liche Palazzo mit seinen barocken
Giovanni Crassi Marliani 1850–1854                    schon 1839 mit dem Kauf der symbol-             Felderdecken und der prunkvollen histo-
                                                      trächtigen Ruinen auf dem Felsriegel ob         ristischen Ausstattung mit virtuosen
   Gleichsam zwei Gesichter hat der Pa­      -        Promontogno angedeutet. Das Geld, mit           Trompe-l’Oeil-Malereien Einblick in die
lazzo am westlichen Rand von Coltura,                  dem Giovanni Castelmur seine Bergeller         ge­hobene Wohnkultur des 18. und 19.
der um die Mitte des 19. Jahrhunderts                 Unternehmungen finanzierte, stam­        mte    Jahrhunderts.
durch Giovanni Castelmur (1800–1871)                  aus Frankreich, so auch der Baron­titel, mit
zu seiner heutigen Grösse ausgebaut wur­               dem er sich ab 1840 schmückte. Sein Vater      Architekturrundgang Bergell (Architekturrund-
de. Dem Dorf zugewandt die mächtige                   Antonio, einer von vielen gewerblichen          gänge in Graubünden). Hrsg. vom Bündner Hei-
Giebelfront, deren glatte, ungegliederte              Emigranten des Bergells, hatte in Marseille     matschutz, Chur 2012

Fläche mit der architektonischen Haustein­            als Cafétier den Grundstein des erfolgrei-
umrahmung den herrschaftlichen Barock-                 chen Familienunternehmens ge­legt. Steht
bau noch erkennen lässt, aus dem das                   das neugotische Schloss in Coltura auch
Gebäude herausgewachsen ist; auf die um                einzigartig da, so manifestiert sich in ihm
1840 angelegte Talstrasse orientiert die               doch eine Haltung, wie sie tendenziell bei
jüngere Doppelturmfassade, deren physi-               allen Rückwanderern zu beobachten war:
sche Abgewandtheit vom Dorfgeschehen                   die Vorliebe, den ­sozialen Aufstieg durch
eine Parallele findet in ihrer provokanten            repräsentative Bauten zum Ausdruck zu
Negierung örtlicher Baugewohnheiten.                  bringen, wie auch die Zurschaustellung
Die nach venezianisch-neugotischer Art                 der Weltgewandtheit durch den Rekurs auf
mit spitzbogigen Fenstern, Wehrhaftigkeit             ausländische Modelle. Der weiträumig in
simulierendem Pechnasenkranz, Schwal-                  die Landschaft eingreifende Palazzo Cas-
benschwanzzinnen, imitierten Marmor­                  telmur wird ergänzt durch einen ausge-
inkrustationen gestaltete Schaufront re­     -         dehnten Park, der jenes eklektizistische
flektiert – als frühestes Bündner Beispiel –          Nebeneinander von Architektur- und
die romantische Mittelalter-Sehnsucht der             Landschaftsgarten zeigt, wie es sich später
Zeit. Doch ist der Rückgriff auf das stilisti-        in der Umgebungsgestaltung von Hotel-
sche Vokabular feudalzeitlicher Repräsen-             bauten wiederfindet. Die Brücke über die
Video Arte Palazzo Castelmur
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                                                                                             Judith Albert                                        tragen hatte, bevor er mit Ansehen ins
                                                                                                                                                  Bergell zurückkehrte.
                                                                                             (*1969) · www.judithalbert.ch                           Das auf die Wand projizierte Video zeigt
                                                                                                                                                  einen mit Meringues gefüllten Holzteller,
                                                                                             «Reisende», 2013                                     der einer orientalisch und reich gekleide-
                                                                                                                                                  ten Figur mit dunkler Hautfarbe und roten
                                                                                               Die Bergeller Kultur wurde unter ande-             Stiefeln als Floss dient. Der Blick in die
                                                                                             rem durch die grosse, sich im 19. Jahrhun-           Zukunft – ob es die Ferne oder das Zuhause
                                                                                             dert vollziehende Auswanderungswelle                 ist –, ist aufgrund des fehlenden Kopfes
                                                                                             geprägt. Aufgrund des Mangels an Ver-                nicht sichtbar. Der Teller treibt auf ver-
                                                                                             dienstmöglichkeiten im Tal zogen viele               schiedenen Gewässern, die mal ruhig, mal
                                                                                             Bergeller in die Ferne, die ihnen Aussicht           wilder und gefahrenvoller sind, wohl hin
                                                                                             auf Lohn und Brot verhiess. Sie begründe-            zum Meer. Vor wechselnden Landschaften
                                                                                             ten ihre Unternehmen, Cafés und Kondi-               und Wetterstimmungen zeigen sich Sze-
                                                                                             toreien, in ganz Europa.                             nen wie aus einem Märchen, in dem
                                                                                               Längst nicht alle kamen aber auf einen             schwierige, fast unmögliche Prüfungen
                                                                                             grünen Zweig. Und bevor die Lehrzeit und             bestanden werden müssen. Als Betrach-
                                                                                             die Ausübung des Berufs überhaupt began-             ter fühlt man unweigerlich mit: Wird der
                                                                                             nen, stand erst mal die kostspielige Reise           Wächter der süssen Fracht die Reise
                                                                                             bevor. In den überlieferten Briefen wird             bestehen?
                                                                                             meist nur über den Ausgang einer Reise                  Im Videobild eingefangen und festge-
                                                                                             berichtet, nicht aber über ihren Verlauf.            halten findet sich das Geschehen in einer
                                                                                             Im grosszügigen, mit eindrucksvollen Ta­-            durch das Medium bedingten Zeitschlaufe
                                                                                             peten und Deckenmalereien ausgestatte-               wieder – der wohlig runde Bauch des Kopf-
                                                                                             ten Ballsaal nimmt Judith Albert das                 losen ist mit einem Zifferblatt versehen,
                                                                                             Thema des Reisens auf. Der Blick aus den             das stets dieselbe Uhrzeit anzeigt. So tanzt
                                                                                             Fenstern des Saals geht in Richtung Maira,           die Figur auf den Meringues durch Zeit
                                                                                             dem Fluss, der durch das Bergell bis ins             und Raum. Damit knüpft Judith Albert
                                                                                             Adriatische Meer fliesst. Es ist der Raum, in        auch an heute an und denkt ausgehend
                                                                                             dem die Opulenz des aus dem Vermögen                 von den sogenannten «boatpeople» an
                                                                                             des Barons Giovanni de Castelmur errich-             Flüchtlinge aller Weltregionen, welche auf
                                                                                             teten Anbaus kulminiert. Einem Vermö-                überladenen und ungeeigneten Booten
                                                                                             gen, das der Baron, wie bereits sein Vater,          ein verheissungsvolles Land zu erreichen
                                                                                             als erfolgreicher Geschäftsmann unter                versuchen. Céline Gaillard
                                                                                             anderem auch in Marseille zusammenge-

«Reisende», 2013 · HD-Video, 16:9, Farbe, kein Ton, Loop 23' · © 2013, ProLitteris, Zurich
Video Arte Palazzo Castelmur
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Judith Albert                                             Für den Hintergrund liess sich Judith
                                                       Albert von den paradiesisch anmutenden
                                                       Wandmalereien in einem der Turmzimmer
«Projektion», 2013                                     inspirieren. Überhaupt faszinierten sie die
                                                       Trompe-l’Oeil-Malereien im Palazzo – be­-
   In der Intervention «Reisende» von                  schäftigt sie sich doch in ihrem künstleri-
Judith Albert im Ballsaal erfolgt eine                 schen Schaffen immer wieder mit Themen
Durchmischung von Raum und Zeit. Die-                  wie Simulation, Aneignung und Illusion.
ser gesellt sich aber auch das Spiel mit                  So wirkt auch ihre Arbeit «Projektion»
Fremdem und Bekanntem hinzu. So fin-                   wie ein Trugbild: Die Künstlerin verwan-
den wir diese Gegensätze nicht nur im                  delt sich durch die Projektion auf ihren
Thema der Reise, sondern auch darin, dass              Körper in die Kaminuhrfigur. Die Realität
die Originalfigur des Mohren auf dem                   ist durch die stattfindenden Überlagerun-
Floss eine fast halbmeterhohe, mechani-                gen schwer auszumachen. Ein Kippmo-
sche Kaminuhr aus Gusseisen aus dem                    ment entsteht und spitzt die Thematik des
Bestand des Palazzo Castelmur ist. Da ihre             Illusionistischen zu. Die dunkle Hautfarbe
Entstehung in der Mitte des 19. Jahrhun-               der in die Hüften gestemmten Arme wird
derts datiert ist und sie wahrscheinlich aus           weiss. Und der Kopf von Judith Albert
Frankreich stammt, scheint es gut mög-                 wird mithilfe eines weissen Tuchs ausge-
lich, dass der Baron de Castelmur sie der-             blendet. Im Gegensatz zur statischen Figur
einst aus Marseille auf seiner Rückreise               mit Uhr fällt es der Künstlerin schwer, in
heimgebracht hatte …                                   Passivität zu versinken, und jede noch so
   Die faszinierende Figur, deren Kopf ver-            kleine Bewegung und Veränderung der
loren gegangen ist, kommt auch in einer                Pose haucht der Skulptur Leben ein. Der
weiteren Intervention von Judith Albert                weisse Schleier lässt den Gedanken auf-
vor. Es handelt sich um ein Bild, das die              kommen, ein Geist wäre in die Figur ge­-
bereits bekannte Kaminuhrfigur unter                   schlüpft. – Ein Schlossgeist, der die Wände
einem Rankenbogen auf dem originalen                   und Gegenstände des Palazzos in neue Be­-
Figurensockel erhöht zeigt, sodass sie nun             ziehungen zueinander setzt und sie durch­
wie eine Allegoriendarstellung der Renais-             dringt. Céline Gaillard
sance wirkt.

«Projektion», 2013 · HD-Video, 16:9, Farbe, kein Ton, 5' 50'' · © 2013, ProLitteris, Zurich
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Karin Bühler                                          lazzo gewohnt hatten, und befragte sie
                                                      nach deren Erinnerungen an das Leben im
(*1974) · www.karinbuehler.ch                         Palazzo. Es sind die Kinder des damaligen
                                                     Verwalters sowie der Urururneffe der Ba­-
«Ich sehe (was war)», 2013                            ronin, welche von ihren u ­ nterschiedlichen
                                                      Erinnerungen an den Palazzo berichten.
    Die historischen Räume des Palazzo Cas-          Aus dem gesammelten Material wählte die
 telmur unterliegen einem musealen Kon-               Künstlerin, die in ihren Arbeiten immer
 zept, das dem Nacherleben der Zeit der               andere sprechen lässt, die griffigsten Be­-
 Palazzo-Erschaffer dient. In den Wohn­               schreibungen in Form von Bild- und
 räumen aber lebten in seiner Vergangen-             ­Textsequenzen. Den ungegenständlichen,
 heit nicht nur der Baron und die B
                                  ­ aronessa          nicht fassbaren Erinnerungen gibt Karin
 de Castelmur und ihre Nachfahren. 1961,              Bühler in ihrer künstlerischen Umsetzung
 als der Palazzo von der Ortsgemeinde er­-            mit digitalen Bilderrahmen Gestalt. Diese
 worben und als Museum für die Öffent-                ersetzen auf der edlen Kommode im be­-
 lichkeit zugänglich gemacht wurde, zog               zaubernden grünen Schlafzimmer mit sei-
 der Verwalter mit seiner Familie in den              ner illusionistischen Deckenmalerei viel-
 Palast ein. Dabei wurden Museumsbetrieb              leicht dereinst dort platzierte Fotorahmen.
 und Wohn­   raum bestimmt und funktio-                 Das Schlafzimmer ist der Raum der
 nierten parallel.                                    Träume. So werden die gesammelten Erin-
    Karin Bühler entlarvt den prunkvollen             nerungen Tagträumen gleich abgespielt.
 Palazzo-Anbau als Scheinschloss. Die re­   -        Wie aus einer Musikdose ertönt sanfte
 präsentativen Räume wurden im Alltag                 Musik – es sind die heute umgesetzten
 nicht benutzt. Die museale Wohnsitua-                Noten, zu denen der Baron Verse geschrie-
 tion vergleicht die Künstlerin mit einer             ben hatte, sowie der Gesang nach den Ver-
 Zeitblase, der sie mit ihrer Intervention            sen. Die leicht entrückten Klänge rühren
«Ich sehe (was war)» Lebensgeist ein-                 vom antiken, längst nicht mehr benutzten
 haucht.                                              Tafelklavier aus Nîmes, das das Musikzim-
    Der Titel lehnt sich an das Medium                mer des Erdgeschosses ziert.
Video an. Video – lat. ich sehe – bietet die            Die Intervention vermag den Betrachter
 Möglichkeit, das Geschehen einzufangen               in den Bann dieser anfänglich beschriebe-
 und das Aufgenommene, das aus der                    nen Zeitblase zu ziehen. Die bei den Erzäh-
­Vergangenheit stammt, immer wieder zu                lungen und ihrer Übersetzung entstan-
 sehen; Zeit und Raum werden verrückbar.              dene Intimität ist das Resultat eines sehr
    In aufwendigen Recherchen machte die              sensiblen Zugangs sowie der eingehenden
Appenzeller Künstlerin sämtliche leben-               Recherche der Künstlerin. Céline Gaillard
 den Personen ausfindig, die einst im Pa­-

          «Ich sehe (was war)», 2013 · digitale Bilderrahmen (jpg und wav), längste Sequenz: 12' 30''
                                                                         © 2013, ProLitteris, Zurich
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Evelina Cajacob                                        fältig gehen die Hände der Künstlerin bei
                                                       dieser Arbeit vor. Wie der Titel der Inter-
(*1961) · www.evelinacajacob.ch                       vention verlautet, geht es dabei um eine
                                                      lange Zeit. Bis die gesamten 1,5 Kilo-
«Incrésciar – LangeZeit», 2013                         gramm der Wolle aufgerollt sind, verge-
                                                      hen 83 Minuten. Die Hände verrichten die
   Der Nordteil des Palazzos stammt aus               Arbeit jedoch stets in derselben Gleich-
dem Jahr 1723. Das Gebäude wurde da­-                  mässigkeit und mit Geduld.
mals als Patrizierhaus der Familie Redolfi                Evelina Cajacob interessiert sich für re­-
errichtet. Im Nordtrakt sind eher kleine               petitive Momente und macht in ihren
Zimmer zu finden, die zu einem grossen                Arbeiten die Schönheit alltäglicher Hand-
Teil eine Täferung aus Arvenholz aufwei-              lungen sichtbar. In der präzisen Aufmerk-
sen. Für die «Bergeller Stube» hat Evelina             samkeit, die sie den sich wiederholenden
Cajacob ein Werk realisiert, für welches sie           und monotonen Handlungen zukommen
als zentrales Arbeitsmaterial ein örtliches           lässt, zieht sie den Betrachter in den Sog
Erzeugungsgut verwendete und das dem                   einer starken Ausdruckskraft dieser alltäg-
Raum eine anziehungsvolle Aura von                    lichen Vorgänge.
Ruhe und Konzentration verleiht.                          In der Bergeller Stube weckt die Projek-
   In «Incrésciar – LangeZeit» wird auf den            tion auf die getäfelte Wand nicht nur
Ausschnitt der Hände der Künstlerin fo­     -         Wehmütigkeit hinsichtlich vergangener
kussiert. Wie in ihren anderen Videoarbei-            Zeiten, die lange her scheinen. Die Länge
ten sind diese mit einer Tätigkeit beschäf-            der Wolle sowie der Zeit, die es braucht,
tigt, welche der Hausarbeit verschrieben               um sie aufzuwickeln, stehen auch für die
ist: Sorgfältig wickelt die Künstlerin, von            grosse Distanz zwischen den nach ganz
der vor dunkelgrauem Hintergrund nur                  Europa ausgewanderten Bergellern und
ein Teil ihrer schwarzen Kleidung sichtbar             ihren daheim gebliebenen Frauen. Mit
ist, einen Wollfaden auf. Und zwar bis der            «Incrésciar – LangeZeit» – Incrésciar bedeu-
so wachsende Knäuel bildfüllend wird.                  tet Heimweh, lange Zeit nach jemandem
Beim Material handelt es sich um eine ori-             haben, jemanden vermissen – macht Eve-
ginale Bergeller Wolle: von Bergeller Scha-            lina Cajacob die lange Zeit, in welcher die
fen stammend und gesponnen von einer                  «Zucker­bäckersfrauen» alleine waren, und
Wollspinnerin aus Coltura. Eine Tonspur                ihre gleichsam wie der Knäuel wohl stetig
gibt der Arbeit ihren eigenen Akzent und              wach­senden wehmütigen Gefühle auf sinn­
den Rhythmus der Tätigkeit wieder. Weder              ­liche Weise nachfühlbar. Céline Gaillard
hastig noch langsam, aber stetig und sorg-

«Incrésciar – LangeZeit», 2013 · HD-Videoinstallation, 16:9, Farbe · Bild: Margarit Lehmann
Ton: Martin Hofstetter, 1 h 23'
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                                            frölicher | bietenhader                            dem Licht von den übrigen Stücken im
                                                                                               Zimmer ab. Der Gobelin erhält nun eine
                                            beide *1985 · www.froelicherbietenhader.ch         digitale Überlagerung, seine Rasterung ist
                                                                                               aber durch seinen Stoff gegeben und nicht
                                            «Gegenbild Oberfläche», 2013                       etwa durch digitale Pixel. Es resultiert ein
                                                                                               Spiel mit dem Ineinandergreifen von alten
                                              Fasziniert sind frölicher | bietenhader          und neuen Medien. Die Projektion inten-
                                            von der Vielseitigkeit der Wände und De­-          siviert die Farbigkeit und Erzählkraft des
                                            cken des Palazzo Castelmur. Bunte, gemus-          Gobelins. Vom Holz des Ofens umrahmt
                                            terte Tapeten beherrschen die Raumwir-             wirkt die Abdeckung nun wie die Sicht aus
                                            kungen einzelner Zimmer, andere werden             einem Fenster.
                                            von ihren meisterhaften Wand- und De­-                Nochmals gesteigert wird diese intensi-
                                            ckenmalereien bestimmt. Dabei ist jede             vierte Bildwirkung durch die Projektionen
                                            Tapete wie jede Malerei einzigartig und hat        mit demselben Prinzip auf die an den
                                            ihren eigenen Charakter. Das junge Künst-          Ofen anliegenden Wände. So wird auch
                                            lerduo macht in drei Interventionen auf            auf die Tapete ihr eigenes Muster projiziert.
                                            diese innere Vielseitigkeit aufmerksam.            Dieses generiert eine optische Täuschung
                                              Das sogenannte Empire-Zimmer ist mit             und erzeugt eine dreidimensionale Wir-
                                            rot und beige gemusterten Tapeten ver-             kung. frölicher | bietenhader schaffen eine
                                            ziert, in seiner Gesamtausstattung wirkt es        illusionistische Rauminszenierung, die
                                            dennoch weniger prunkvoll als andere               durch die Hervorhebung und Steigerung
                                            Räume. In der Ecke steht ein Cheminée,             der vorherrschenden räumlichen Gege-
                                            das mit einem Gobelin abgedeckt ist. Sein          benheiten dem Raum mehr Kitsch ver-
                                            Stickbild zeigt eine kitschige Landschaft          leiht, sodass er nun ähnlich prunkvoll
                                            mit einem Schloss oder einem edlen Land-           erscheint wie die anderen Räume. Indem
                                            haus.                                              sie Altmodisches medial bewegen, schaf-
                                              Mit einer Projektion werfen frölicher |          fen sie neue Trompe-l’Oeil-Effekte.
                                            bietenhader dasselbe Bild auf den Gobelin          Céline Gaillard
                                            und heben es durch die Verdoppelung mit

«Gegenbild Oberfläche», 2013 · Projektion
28

frölicher | bietenhader                           Kreis. Der blaue Hintergrund wird von
                                                  blauen Farbpigmenten gebildet, welche
                                                  zusammen mit der goldenen Kugel auf die
«Gegenbild Spiegel», 2013                         farbliche Bemalung des Raums verweisen.
                                                  Bei der Kugel handelt es sich – so wird der
   Das Turmzimmer im ersten Oberge-               Betrachter merken, sobald er den Kopf
schoss mit den blau und golden bemalten           hebt – um die Imitation der gespiegelten
Wänden trumpft mit einer liebevoll ausge-         kugelförmigen Spitze, in welcher alle Bal-
führten illusionistischen Deckenmalerei            dachine zusammenlaufen und die sich
auf. Sie täuscht eine goldene Deckenarchi-        genau über der Kugel im Video befindet.
tektur vor, welche den realen Raum mit               Bei ihrem Videoloop gehen frölicher |
virtuos in den Himmelsraum weiterge-              bietenhader von ihrer Feststellung aus,
führten architektonischen Elementen aus-           dass der unbekannte Künstler der Decken-
weitet. Allegorien, welche der Schwerkraft        malerei bei der Ausführung der Baldachin-
der irdischen Welt trotzen, stehen in             Schatten einen Kompromiss eingehen
einem imaginären Luftraum. Diese wer-             musste: Zwei der Schatten stimmen nicht.
den mit Baldachinen prunkvoll überdacht.          In ihrer Intervention greifen sie somit
Die vier Baldachine kommen in der Mitte           nicht nur die Farbigkeit des Raums auf,
zusammen, an jenem Punkt, der durch die           sondern auch das Thema der Realität vor-
illusionistische Malerei getäuscht am             täuschenden Malerei, und erfüllen im
höchsten erscheint.                               Medium des Videos die Kriterien, an
   frölicher | bietenhader haben in die            denen die Malerei scheiterte.
Mitte des Raumes einen Monitor hinge-                Der Monitor wurde so im Raum aus­
stellt, dessen Display nach oben zeigt,           gerichtet, dass man beim Betrachten des
sodass der Betrachter gezwungen ist, nahe         Videos wahrscheinlich die Position mit
an ihn heranzutreten und auf ihn herun­            dem Rücken zum Fenster wählen wird.
terzuschauen, um das darin abgespielte            Schaut man danach wieder auf, wird
Video zu sehen.                                    der Blick automatisch im eindrücklichen
   Das Videobild zeigt ein Beet aus blauem         und grossen Spiegel zurückgeworfen, so­-
Grund, auf welchem eine goldene Kugel              dass eine weitere Spiegelung im Raum
ruht. Langsam und endlos wandert der              ­stattfindet. Céline Gaillard
Schatten der stark beleuchteten Kugel im

                                                    «Gegenbild Spiegel», 2013 · Videoloop, 2' 54''
31

                                                     frölicher | bietenhader                            dem Auto wurde zu drei verschiedenen
                                                                                                        Tageszeiten vorgenommen, sodass das
                                                                                                        Sonnenlicht je nach Standort im Film
                                                     «Gegenbild Grundriss», 2013                        wandert.
                                                                                                        Durch die Bildqualität der Funkkamera
                                                        Die drei Interventionen des Künstler-           und die Bewegung wirken die Aufnahmen
                                                     duos frölicher | bietenhader bespielen ver-        nervös und die reelle Farbigkeit neckig
                                                     schiedene Räume des ersten Obergeschos-            überspielt, sodass sie gar grob und unrein
                                                     ses. Mit einem ferngesteuerten, mit einer          erscheint. Mit «Gegenbild Grundriss» über­-
                                                     Funkkamera ausgerüsteten Auto führten              steigern frölicher | bietenhader die vielsei-
                                                     sie eine Sondierung durch diese Räumlich-          tige Farbigkeit des Gebäudeinneren in ein
                                                     keiten durch. Die Fahrt beginnt im Gang            Extremum und navigieren den Besucher
                                                     und führt durch den Ballsaal in den                mit illusionistischen Manipulationen in
                                                     blau-golden bemalten kleinen Raum und              den Räumen.
                                                     auf dem gleichen Weg zurück wieder in                Die Installationen des Künstlerduos bie-
                                                     den Gang, dann ins Empire-Zimmer und               ten stets ganzheitliche Erlebnisse. Sie re­-
                                                     durch Gang und Ballsaal schliesslich in            sultieren aus einer seriösen und bewussten
                                                     das Rote Zimmer.                                   Auseinandersetzung mit dem Ort, in den
                                                        Hier wird auf eine massive Holzwand,            sie in einem inszenatorischen Umgang
                                                     die fast aggressiv quer durch den Raum             künstlerisch eingreifen. Der Einbezug von
                                                     positioniert wurde, dieselbe Kamerafahrt           vielseitigen, modernen wie antiquarischen
                                                     projiziert. Laut und aggressiv klingt auch         Filmmaterialien sowie langjährige Entwick­
                                                     der Ton, der direkt von der Autofahrt              lung von Techniken zeichnen ihre Arbei-
                                                     stammt und die Rauminszenierung akus-              ten aus. Céline Gaillard
                                                     tisch erfahrbar macht. Die Sondierung mit

«Gegenbild Grundriss», 2013 · Video, Ton, 11' 11''
34

Gabriela Gerber &                                    heutigen Zeit. Die Videoarbeit «Alle meine
                                                     Schafe I» ist in einem Schlafzimmer im

Lukas Bardill                                        ersten Obergeschoss installiert, wo das
                                                     Licht gedämpft ist.
(*1970) & (*1968) · www.bardillgerber.ch               In drei an den Zimmerwänden montier-
                                                     ten Flachbildschirmen ist eine Landschaft
«Alle meine Schafe I», 2013                          mit Wiese und ausgetrocknetem Bachbett
                                                     in Dämmerstimmung zu sehen. In die Sze-
  Die Bergeller galten als Volk von Zucker-          nerie drängen sich jeweils in einem Moni-
bäckern. Weniger bekannt ist, dass in der            tor helle Schafe hinein. Eine Herde mit
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch             250 Tieren durchzieht dem Willen von
Amerika als Auswanderungsdestination                 zwei Hunden und dem Hirten folgend
anzog. Anders als in den europäischen                zügigen Schrittes die Alpweide. Kurzzeitig
Ländern, in denen sich die Bergeller haupt­          unterbricht Gebimmel und Geblök die
sächlich in der Zuckerbäckerbranche betä-            Gebirgsruhe. Bald übernehmen wieder
tigten, wiesen sie sich in Amerika in der            Stille und Düsternis die Regie der Szenerie,
Landwirtschaft aus. Graubünden war be­-              bevor die Herde nach geraumem Zeitab-
reits zu jener Zeit stark landwirtschaftlich         stand im nächsten Monitor die Landschaft
geprägt, doch in den Bergtälern erwiesen             durchquert. Dem Betrachter bietet sich
sich die kargen Böden für den Ackerbau               vom einen Monitor zum nächsten eine
als schwierig.                                       Erzählfolge, als würde er das Geschehen
  Diesen schwierigen, in der Natur begrün-           aus Fenstern heraus beobachten.
deten Bedingungen zum Trotz wurde aber                 Obwohl die romantische Naturszenerie
auch im Bergell Landwirtschaft betrieben.            von einer Schafherde durchschritten wird,
So hatte sich auch Antonio Castelmur                 nimmt der Betrachter den Alpabzug nicht
(1771–1834), der Vater des Barons, in der            als fremde Störung wahr. Sie wird als Teil
Landwirtschaft und im Fuhrwesen betä-                der Landschaft dekodiert. Ausgehend von
tigt, bevor er nach Marseille auswanderte.           einer Kulturlandschaft, die längst nicht
Heute leistet die Landwirtschaft neben der           mehr einer natürlichen entspricht, geht es
Bauwirtschaft und dem Handel einen wich­             Gabriela Gerber & Lukas Bardill darum,
tigen wirtschaftlichen Beitrag im Tal.               die Brüche, die durch Landschaft und un­-
  Auf diesen Branchenzweig machen                    sere Vorstellungen von ihr gehen, aufzu-
gleich drei Interventionen von Gabriela              zeigen und dem ästhetischen Gehalt von
Gerber & Lukas Bardill aufmerksam. In sei-           voralpinen Landschaftsräumen und ihrer
nem künstlerischen Schaffen befragt das              wirtschaftlichen Nutzung nachzugehen.
Künstlerpaar den Begriff und das Ver-                Céline Gaillard
ständnis von Natur und Landschaft in der

    «Alle meine Schafe I», 2013 · 3-Kanal-Videoinstallation, HD-Video 16:9, Farbe, Ton, 3 Loops à 8'
                                                                        © 2013, ProLitteris, Zurich
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                                                                                               Gabriela Gerber &                                   als ob die Schafe in die Enge des Korri­-
                                                                                                                                                   dors hinein- oder aus ihr herausgezwängt

                                                                                               Lukas Bardill                                      ­würden.
                                                                                                                                                     Um die hochträchtigen Schafe von der
                                                                                                                                                   übrigen Herde zu trennen, hat der Hirt
                                                                                               «Alle meine Schafe II», 2013                        alle Tiere in ein Gehege getrieben. Die
                                                                                                                                                   zahlreichen Schafe versuchen in der Enge
                                                                                                 Auch in «Alle meine Schafe II» geht es            des Platzes Raum für sich zu gewinnen.
                                                                                               Gabriela Gerber & Lukas Bardill um die             Wenn auch die in der Realität stattge­
                                                                                               Beziehung zwischen Mensch und Natur.                fundenen Videosequenzen nicht einer
                                                                                               Die beiden Videos, welche unter demsel-             klassischen, schönen Darstellung von
                                                                                               ben Titel in der Ausstellung zu sehen sind,         Landschaft entsprechen, so assoziiert der
                                                                                               zeigen aufeinanderfolgende Szenen eines             Be­trachter die Schafherde eben doch mit
                                                                                               Alpabzugs auf der Alp Ijes.                         Landschaft.
                                                                                                 Der Titel, der als Bezeichnung eines                Sowohl was wir mit Landschaft verbin-
                                                                                               Schafhirten, der seine Tiere schützt und            den als auch das, was wir als schön emp-
                                                                                               abends in warme Gefilde bringt, gilt, ist           finden, wird durch unsere kulturelle Erzie-
                                                                                               ein Ausdruck von Aneignung. Das Künst-              hung geprägt. Nicht nur ästhetische Mo­-
                                                                                               lerpaar befragt den Begriff und das Ver-            tive spielen eine Rolle, sondern die Emp-
                                                                                               ständnis von Natur und Landschaft in vor-           findung wird zusätzlich dadurch geprägt,
                                                                                               alpinen Gegenden der heutigen Zeit, in             was in der Landschaft geschieht. Wahrge-
                                                                                               der nicht mehr eine klassische Vorstellung          nommen werden Konstrukte: Man lernt,
                                                                                               von unberührter Naturlandschaft herrscht.           gewisse Elemente hinzuzuzählen und an­-
                                                                                               Treffender kann sie, vom Menschen ange-             dere davon auszunehmen. Der Frage, was
                                                                                               eignet, als Kulturlandschaft beschrieben            Landschaft heute bedeutet, gehen Gabriela
                                                                                               werden.                                            Gerber & Lukas Bardill daher nach, indem
                                                                                                 Von der Küche zum heutigen Office gibt            sie sie konstruieren – sei es mit landwirt-
                                                                                               es eine Durchreiche. Die enge Öffnung bil-          schaftlichen Geräten oder mit dem Aus-
                                                                                               det aufgrund des dicken Mauerwerks im               zug einer landwirtschaftlichen Tätigkeit.
                                                                                               alten Gebäudeteil einen kleinen Miniatur-           Die Isolation von Motiven, Freistellung,
                                                                                               korridor. Der darin installierte Monitor           Zentrierung und Wiederholung gehören
                                                                                               zeigt Videobilder mit einer grossen An­   -         dabei zu ihrem strategischen Repertoire.
                                                                                               sammlung von unruhig wartenden Scha-                  Als Künstler erfinden Gabriela Gerber &
                                                                                               fen, die bisweilen von inspizierenden Bau-          Lukas Bardill, wie es Kathleen Bühler for-
                                                                                               ern aufgescheucht werden. Der «Miniatur-            mulierte, neue Landschaftsbilder.
                                                                                               korridor» wird durch den formatfüllenden           Céline Gaillard
                                                                                               Monitor abgeschlossen, sodass es scheint,

«Alle meine Schafe II», 2013 · 1-Kanal-Videoinstallation, PAL 16:9, Farbe, Ton, Loop 3' 37''
© 2013, ProLitteris, Zurich
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Gabriela Gerber &                                     ein Volk von Zuckerbäckern?» auf die Spu-
                                                      ren der Bündner «Zuckerbäcker»-Auswan-

Lukas Bardill                                         derung machen können, werden jedoch
                                                      auch Assoziationen an einen Berg aus
                                                      Zucker nahegelegt.
«Zuckerberg», 2013                                    In der Tat will die Projektion «Zuckerberg»
                                                      beides evozieren: Sie täuscht dem Betrach-
   In der die Wand eines leeren Raumes                ter ein Naturereignis vor, während der
­füllenden Projektion sehen wir vor schwar-           Berg in Wirklichkeit aus Puderzucker be­-
zem Hintergrund ein weisses Gebirge. All-             steht und durch sein Abfallen somit eben-
 mählich wird Material dieses Berges weg-             falls Bezüge zu wirtschaftlichen As­pekten,
gefegt, seine weissen, abgetragenen Be­    -          ja gar Einstürzen, rund um den Zucker
 standteile werden in der Luft aufgewirbelt,          zulässt.
 sodass sich ein wohl langsames, aber dy­-              Was ist künstlich, was ist natürlich? Mit
 namisches Szenario in den Tönen Schwarz              ihrer Videoprojektion zeigen Gabriela Ger-
 und Weiss abspielt. Es scheint, als würde            ber & Lukas Bardill das Potenzial der Täu-
 eine Winderosion ihre Kräfte ausüben und             schung in der (Kultur-)Landschaft auf und
 die Elemente des Berges wegfegen – so las-           führen vor Augen, was ihr ästhetisch abzu-
 sen die weisse Reinheit und die prekäre              gewinnen ist. Umgekehrt werfen sie die
Fragilität des abfallenden Berges glauben             Frage nach der Authentizität auf, die Land-
machen.                                               schaft für uns haben sollte, und kurbeln
   Situiert in einem Raum im zweiten Ober-            so die Reflexion über unsere Vorstellungen
geschoss, wo sich die Besucher des Palazzo            von Landschaft und deren wirtschaftliche
Castelmur in der Dauerausstellung «Fast               Nutzung an. Céline Gaillard

«Zuckerberg», 2013 · 1-Kanal-Videoinstallation, s/w, kein Ton, HD-Videoprojektion
© 2013, ProLitteris, Zurich
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                                                                  Eric Lanz                                           orientieren versuchend eröffnen sich dem
                                                                                                                      Betrachter Assoziationen zur Landschaft.
                                                                  (*1962) · www.ericlanz.net                          So denken wir in geologischer Ausdeutung
                                                                                                                      vielleicht an Schichtung von Sedimenten
                                                                  «Tonal», 2013                                       oder Verschiebung und Faltung durch
                                                                                                                      Spannkräfte, in meteorologischer Anleh-
                                                                     Einige Wände im Palazzo Castelmur wei­           nung an die Bedeckung durch Eis, Schnee,
                                                                  sen Bemalungen aus unterschiedlichen                Erde oder Wasser. Schliesslich handelt es
                                                                  Epochen auf. Die aus verschiedenen Zei-             sich bei manchen der abgebildeten Kräfte
                                                                  ten stammende Malfarbe wurde dabei                  um dieselben physikalischen Erscheinun-
                                                                  übereinandergeschichtet. Dieser Beobach-            gen, wie sie in der Natur vorkommen.
                                                                  tung folgend hat Eric Lanz für seine Inter-           Die Assoziationen an Landschaften, die
                                                                  vention im Kleinen Saal im ersten Oberge-           angesichts der Sichtbarmachung der Kräfte
                                                                  schoss ebenfalls unterschiedliche Deck-             in den Vermischungsprozessen eröffnet
                                                                  und Trägermaterialien eine Verbindung               werden, werden an diesem Ort, umgeben
                                                                  eingehen lassen, die er in einer Video-             von der hohen Gebirgswelt, besonders
                                                                  arbeit visualisierte.                               spürbar. Mit Wasser, Temperafarbe und
                                                                     In «Tonal» lässt der Künstler mit flüssi-        Papier wählte Eric Lanz bewusst Stoffe, die
                                                                  ger Temperafarbe, die sich auf eine hori-           von traditionellen künstlerischen Medien
                                                                  zontale, mal schwarze, mal weisse Papier-           her bekannt sind. In «Tonal» werden
                                                                  fläche verteilt und sie zudeckt, dem Farb-          Landschaftsbilder gezeichnet, die auf den-
                                                                  verlauf freien Lauf. Unter dem Einfluss der         selben Materialien beruhen, doch in wel-
                                                                  Feuchtigkeit wölbt sich das Papier in un­-          che die Faktoren Zeit und Veränderung
                                                                  vorhersehbaren Formen. Die dabei resul-             hineinspielen. Die Schichtung und das
                                                                  tierenden Bilder entstehen ohne direkten            Ineinandergreifen der unterschiedlich
                                                                  Eingriff des Künstlers, «malen» sich selbst.        alten Malfarben kulminiert durch die Pro-
                                                                     Durch die technischen Mittel des Videos          jektion als zeitgenössisches Medium auf
                                                                  werden diese Verläufe zeitlich gedehnt.             die historische Wand – im dunklen Raum
                                                                  Während die Farbe auf dem Papier trock-             scheinen Videobild und Träger teilweise
                                                                  net oder das Papier mit der entgegenge-             gar ineinander zu verschmelzen. Die Inter-
                                                                  setzten Farbe wieder bedeckt wird, wird             vention zeugt vom Interesse des Künstlers
                                                                  der zeitliche Prozess in eine manchmal              für die Verbindung von zeitlosen visuellen
                                                                  echte, manchmal vorgetäuschte Schich-               Techniken und unserem Zeitalter entstam-
                                                                  tung überführt. Sich in den Verläufen zu            menden Kulturerzeugnissen. Céline Gaillard

«Tonal», 2013 · Tempera auf Papier auf Video auf Wand, Loop 10'
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                                                                                                      Zilla Leutenegger                                     begraben. Nachdem ihr Mann verstorben
                                                                                                                                                            war, liess die Baronessa noch das Haus
                                                                                                      (*1968) · www.zilla.ch                                neben der Kirche für den Wächter sowie
                                                                                                                                                           1897 – mit einem ihrer Vermächtnisse –
                                                                                                      «Schlafender Hund», 2013                              die Verbindungsbrücke vom Tal nach
                                                                                                                                                           ­Coltura erbauen. Mit dem Überschuss der
                                                                                                        Zilla Leutenegger haucht mit ihren Ar­-             zur Verfügung gestellten Summe konnte
                                                                                                      beiten dem Palazzo Lebensgeist ein. Die               die Bergeller Viehversicherung gegründet
                                                                                                      Künstlerin, welche in ihren Installationen            werden.
                                                                                                      Zeichnung und Projektion vereint, fokus-                Viel ist über den Baron und die Baronin
                                                                                                      siert häufig auf Banalitäten des Alltags. So          nicht bekannt. Gar nichts jedoch ist über
                                                                                                      sind ihre Gedanken bei der Frage, wie sich            Haustiere überliefert. Die Vermutung, dass
                                                                                                      das Leben im Palazzo wohl in der zweiten              sie Hunde gehalten haben, tut sich ange-
                                                                                                      Hälfte des 19. Jahrhunderts gestaltet hatte,          sichts der beiden Hundebetten im Gang
                                                                                                      ebenfalls um den Alltag gekreist. Dabei               auf. Womöglich gehören aber auch die
                                                                                                      stellte sie sich die Einsamkeit der Baro­             Hundebetten – genauso wie die vielen
                                                                                                      nessa vor, war deren Mann doch häufig im              prunkvoll ausgestatten Zimmer – nur zum
                                                                                                      Ausland geschäftlich unterwegs; zudem                 Schein des grossen Palazzo, von welchem
                                                                                                      überlebte sie ihn um mehr als zwanzig                 das Baronenpaar nur einige Zimmer im
                                                                                                      Jahre.                                                Kernbau bewohnten? Mit ihrer Videopro-
                                                                                                        Annetta de Castelmur, die Baronin, lebte            jektion «Schlafender Hund» lässt Zilla
                                                                                                      von 1813 bis 1892. Sie gehörte wie ihr                Leutenegger jedenfalls einen Hund im
                                                                                                      Mann Giovanni de Castelmur dem Ge­          -         Bettchen schlafen und füllt den Palazzo so
                                                                                                      schlecht der Castelmur an und war seine               mit einer Präsenz, die als treue Begleitung
                                                                                                      Cousine ersten Grades. Es heisst, dass sie            der Menschen gilt.
                                                                                                      stets besonnen handelte. Sie und ihr                    Der comichaft gezeichnete und proji-
                                                                                                      Mann waren in der Talgemeinschaft für                 zierte Hundebauch bewegt sich lebhaft
                                                                                                      ihre Wohltätigkeiten sehr geschätzt. Den              leicht auf und ab. Konturbetonung und
                                                                                                      Hügel, der den Grenzort von Sotto- und               Unvollständigkeit in Zilla Leuteneggers
                                                                                                      Sopraporta bildet, hat der Baron schon vor            Zeichnungen lassen Zwischenstellen offen
                                                                                                      der Erweiterung des Palazzo Castelmur                 und schaffen ihrerseits Raum für eigenes
                                                                                                      erworben und liess dort den mittelalterli-           Weiterdenken. So schöpfen ihre Arbeiten
                                                                                                      chen Kirchturm und die Kirche Santa                   Kraft aus dem Nebeneinander von Wahr-
                                                                                                      Maria instand stellen. Im eigens errichte-            nehmbarem und Fantasie. Die Künstlerin
                                                                                                      ten Familienmausoleum liegen das Bar-                 arbeitet stets in den Raum hinein.
                                                                                                      onenpaar und der Bruder des Barons                   Céline Gaillard

«Schlafender Hund», 2013 · Videoinstallation mit einem Hundebett, 1 Projektion, s/w, kein Ton, Loop
Courtesy the artist and Galerie Peter Kilchmann, Zürich
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                                                                              Zilla Leutenegger                                   Endbetonung – wohl auch im Sinne seiner
                                                                                                                                  Etymologie – als die dicken Schlossmau-
                                                                                                                                  ern, welche die nachempfundene Einsam-
                                                                              «Castelmurrrr», 2013                                keit der Baronin einschlossen.
                                                                                                                                     Bei den von unsichtbarer Hand an die
                                                                                Die Intervention im Musikzimmer ist               Wand geschriebenen Worten mag der eine
                                                                              schlicht, und doch vermag sie den Betrach-          oder andere auch an den Mahnruf Mene-
                                                                              ter auf eine intensive Art und Weise zu             tekel, der als Inbegriff drohenden, letzt-
                                                                              ergreifen. Wie von Geisterhand wird an              lich nicht abwendbaren Unheils gilt, den-
                                                                              eine Wand immer wieder das Wort «Cas-               ken. Das Buch Daniel des Alten Testa-
                                                                              telmurrrr» geschrieben. Das Wort wirkt              ments erzählt die Geschichte des König
                                                                              geheimnisvoll. Immer wieder macht es                Belšazar, dem eine geisterhafte Hand, wel-
                                                                              den Betrachter zwanghaft darauf aufmerk-            che die Worte mene mene tekel an die
                                                                              sam, dass er sich im Palazzo Castelmur              Wand schrieb, während eines masslos ge­-
                                                                              befindet. Oder will es an den Namen der             feierten Fests das Ende seiner Herrschaft
                                                                              Familie aus Coltura erinnern? Der Buch-             ankündigte. Die biblische Geschichte wur­
                                                                              stabe «r» wird dabei mehrere Male wieder-           de von Künstlern des Barocks aufgegriffen,
                                                                              holt, sodass das Wort eine barsche, ja gar          so unter anderem durch Rembrandt im
                                                                              penetrante Endbetonung erhält. Diese                Gemälde «Das Gastmahl des Belšazar»
                                                                              Buchstaben sehen in ihrer Wiederholung              (1635).
                                                                              in der Schnürchenschrift aus wie die For-              In ihrer Ausführung erinnert die Schrift
                                                                              men von Turmzacken.                                 aber vielmehr an die Arbeit «My Name as
                                                                                Die Südfassade des Palazzos wird von              Though It Where Written on the Surface
                                                                              zwei von maurisch-gotischer Architektur             of the Moon» (1968) des amerikanischen
                                                                              inspirierten Türmen flankiert. Sie weist            Künstlers Bruce Nauman, in welcher er sei-
                                                                              zudem schlanke, in die Höhe strebende               nen eigenen Namen durch Wiederholung
                                                                              Zinnen auf, die den Bau betonen. Zilla              der einzelnen Buchstaben in die Länge
                                                                              Leutenegger stellt sich vor, dass die Grösse        zog. Die ebenfalls kursiven Buchstaben
                                                                              des leeren Schlosses die Baronessa de Cas-          gehören zu einer Installation mit Neon-
                                                                              telmur in Zeiten, in denen sie allein war,          röhren. Der Schriftzug «Castelmurrrr» von
                                                                              an den Rand des Wahnsinns bringen                   Zilla Leutenegger besteht ebenfalls aus
                                                                              musste. So deutet sie das sich fast aggres-         Licht, doch wendet die Zeichnerin die
                                                                              siv ins Gehirn schreibende Wort mit sei-            Technik der Videoprojektion an, um das
                                                                              ner strapaziösen oder auch zänkerischen             Wortbild zu animieren. Céline Gaillard

«Castelmurrrr», 2013 · ortsspezifische Videoprojektion, s/w, kein Ton, Loop
Courtesy the artist and Galerie Peter Kilchmann, Zürich
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Zilla Leutenegger                                   Zilla Leutenegger den Palazzo Castelmur
                                                    als Ort der feineren Gesellschaft und in
                                                    Momenten der Festlichkeiten, die in Ab­-
«Champagner Brunnen», 2013                          wechslung zur Einsamkeit der Baronessa
                                                    stehen oder den Wunsch nach Gästen
  Das grosse Esszimmer mit seinen De­      -        erahnen lassen.
ckenmalereien mit Früchten hatte sich im              Zilla Leuteneggers Animationen spielen
19. Jahrhundert sicherlich als Raum für             Realitätseffekte in Räume ein. Meist sind
den Empfang von Gästen geeignet. Zilla              es dabei weibliche, mit präzisen Szenen
Leutenegger hat in diesem Vorzeigeraum              des Alltags beschäftigte Personen, häufig
eine Projektion realisiert, welche die Asso-        ihre eigene Kunstfigur, die in einer ge­  -
ziation an eine Festgesellschaft weckt.             zeichneten Raumkulisse als Projektion in
  Auf dem länglichen Tisch erbaute sie              Erscheinung treten. Beim Nachspüren
eine Glaspyramide aus vierzehn Gläsern.             einer längst vergangenen Lebenszeit im
Vom Beamer auf einem Tischchen wird ein             Palazzo Castelmur unterlässt es die Künst-
Video projiziert, dessen Bilder eines Cham-         lerin konsequent, eine weibliche Person
pagnerbrunnens auf die Gläser und auf die           aufleben zu lassen. Stattdessen haucht sie
gegenüberliegende Tapete treffen. In den            Objekten eine bewegte Präsenz ein, Wän-
auf der Innenseite mit Sandstein beschich-          den und Gläsern, oder zeigt die lebhaften
teten, matten Kelchen ergibt sich ein gold-         Konturen eines Hundes, dessen Lebenszei-
farbenes Lichtspiel, während auf die Ta­-           ten undatiert, frei denkbar oder gar erfun-
pete ihre Schattenrisse geworfen werden,            den sind. Ihre Bewegungen sind klein ge­-
über die der Champagner gleichermassen              fasst, sodass sich die Geschichten zurück-
rauschend läuft.                                    nehmen. Es sind freie Vorstellungen, wel-
  Das Füllen der Gläser geschieht in über-          che in den Freistellen, die das Medium
schwänglicher Manier und in verschwen-              Zeichnung, die den Videoarbeiten zugrun-
derischen Massen. Das Rauschen hört nie             de liegt, bietet, Zwischenräume offen las-
auf, der Champagner fliesst in Überfülle            sen und einen Versuch darstellen, eine
endlos auf den Boden. Mit der Interven-             bestimmte Atmosphäre zu schaffen.
tion «Champagner Brunnen» thematisiert              Céline Gaillard

                                 «Champagner Brunnen», 2013 · Videoinstallation mit Objekten
                   (14 Champagnergläser, sandgestrahlt), 1 Projektion, Farbe, kein Ton, Loop 2' 15''
                                           Courtesy the artist and Galerie Peter Kilchmann, Zürich
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                                                                               Sissa Micheli                                       z­entralen Werke der deutschen Frühro-
                                                                                                                                    mantik gilt, ein Tableau vivant. Die Künst-
                                                                               (*1975) · www.sissamicheli.net                      lerin verschmilzt mit der Natur. Während
                                                                                                                                    ihre historischen Gewänder – ein schwar-
                                                                               «Fragments From A Possible Past –
                                                                                                                                    zes Kleid und ein waldgrüner Männer-
                                                                               46° 20' 33.23'' N / 9° 34' 57.2'' E»,                mantel – aus dem Palazzo stammen, löst
                                                                               2013                                                 der schwarze BMW einen Bruch mit der
                                                                                                                                   Zeit aus. Der Blick in die Ferne mag ein
                                                                               «Cara amica siamo molto lontane una dell’al-        Ausdruck der Nostalgie angesichts der
                                                                               tra ma pazienza la separazione non avrà a           Gedanken an die im Ausland weilenden
                                                                               sciogliere il legame della nostra amicizia.»        Bergeller sein.
                                                                               (Brief von Anna Pasini von Orléans an die              In einer weiteren Projektion gleiten aus
                                                                               Freundin in Bondo, 10. August 1874)                  dem Bestand des Palazzo Castelmur stam-
                                                                                                                                    mende Tauf- und Frauenhauben wie Fall-
                                                                                  Ausgehend von historischem Material               schirme vom von Laubkränzen umgebe-
                                                                               aus den Archiven des Palazzos hat sich               nen Himmel, der durch die Trompe-l’Oeil-
                                                                               Sissa Micheli mit der Rolle der Frau ausei-         Malerei im Turmsaal gegeben ist. Vor dem
                                                                               nandergesetzt. Fiktiv setzt die Foto- und           Hintergrund der imitierten Natur lassen
                                                                               Videokünstlerin verschiedene Briefe von              die Hauben Verbindungen zu Geburten
                                                                               Frauen aus dem 19. Jahrhundert aus dem               und zum Kreislauf des Lebens aufkommen.
                                                                               Archiv in Szene. Zwei eigenständige Auf-            In «Fragments From A Possible Past – 46°
                                                                               nahmen vereint sie zu einer überraschen-            20' 33.23'' N / 9° 34' 57.2'' E» thematisiert
                                                                               den Umsetzung des historischen Ausgangs­             die Künstlerin Schicksale von Frauen aus
                                                                               materials.                                           dem Bergell und schafft eine Zwischen-
                                                                                  Während eine Stimme aus dem Off ver-             welt. Sie vereint Requisiten aus dem
                                                                               schiedene Passagen aus den Briefen vor-             19. Jahrhundert aus dem Palazzo Castel-
                                                                               liest, erscheint in einer Projektion eine            mur mit Symbolen aus unserer Zeit, betritt
                                                                               Aufnahme von der Künstlerin im histori-              den Zwischenraum auch selbst. Eine Zwi-
                                                                               schen Gewand vor einer romantischen                  schenwelt, die durch Video produziert
                                                                               Bergeller Kulisse mit einem modernen                wird, eignet sich das Medium doch wie
                                                                               Auto. In der Szene stellt die Künstlerin die        kaum ein anderes dafür, in die Geschichte
                                                                               Pose des Caspar David Friedrich aus sei-             einzudringen. So gestaltet Sissa Micheli,
                                                                               nem berühmten Selbstporträt «Der Wan-                die in ihren Arbeiten häufig selbst als Pro-
                                                                               derer über dem Nebelmeer» von 1818                  tagonistin agiert, anhand einer spezifi-
                                                                               nach. Die Aufnahme greift zurück auf vor-            schen Bildsprache, welche Inhalte aus
                                                                               fotografische Zeiten und macht aus dem               unserem kulturellen Erbe integriert, neue
                                                                               statischen Gemälde, das als eines der               Bilder von Weiblichkeit. Céline Gaillard

«Fragments From A Possible Past – 46° 20' 33.23'' N / 9° 34' 57.2'' E», 2013
HD-Video 16:9, Farbe, Ton, 5' 12''
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                                                                                              Christoph Rütimann                                       Die Aktion und somit das Video beginnt
                                                                                                                                                     unterhalb des Gipfels auf 2300 m. ü. M.,
                                                                                              (*1955) · www.mai36.com                                wo ein Rohr aus dem Berg entspringt, an
                                                                                                                                                     dem die Kamera entlangfährt. In einer
                                                                                              «Handlauf Piz Duan – Corrimano
                                                                                                                                                     absolut aufwendigen Realisierung wurde
                                                                                              Piz Duan», 2013                                        Rohr um Rohr im steil abfallenden Ge­     -
                                                                                                                                                     lände verlegt. Die spektakulären Bahnen
                                                                                                Die Ortschaft Castelmur liegt am Fuss                führen durch Eis, Schnee, gebirgige Felsen,
                                                                                              des Piz Duan (3131 m. ü. M.) und exakt in              Wiesen, durch Maiensässe zum Fluss Valèr,
                                                                                              der Falllinie von Norden nach Süden. In                gar durch die Häuser von Coltura, um
                                                                                              einer spektakulären Aktion hat Christoph               schliesslich den Palazzo Castelmur zu
                                                                                              Rütimann einen Handlauf vom Piz Duan                   durch­queren und das Ziel, die Maira, zu
                                                                                              durch den Palazzo Castelmur bis zum Fluss              erreichen. 1325 Höhenmeter wurden über­
                                                                                              Maira realisiert.                                      wunden. Die Unterbrüche sind zugleich
                                                                                                Rütimanns Handläufe existieren auf der               die Filmschnitte und die Felsen, Maien-
                                                                                              ganzen Welt und werden durch den Künst-                sässe, Bäume und andere Hindernisse, die
                                                                                              ler unter den Übertitel «Geh-Länder» ge­-              mit den verschieden langen Rohren den
                                                                                              stellt. Es handelt sich dabei um eine Werk-            über­raschenden Filmrhythmus ­bestimmen.
                                                                                              gruppe, die der Künstler in den 1990er-                  Der grosse Korridor gilt als typisches
                                                                                              Jahren, ausgehend von seiner Beschäfti-                Merkmal eines Bergeller Hauses. Der
                                                                                              gung mit der Linie, begonnen hat. An                   «Handlauf Piz Duan – Corrimano Piz
                                                                                              Handläufen, Rohren oder sonstigen Linien               Duan» führt zum Schluss durch den viel-
                                                                                              führt er die Kamera mit der Hand entlang               seitigen Korridor mit seiner besonderen
                                                                                              und generiert dabei eine ungewöhnliche                 Raumgestaltung, die dem ausgeprägten
                                                                                              Perspektive – jene von der Hand aus. Der               Willen nach Monumentalität des Bau-
                                                                                              Künstler beschreibt die Arbeit an der Serie,           herrn entspricht. Die Möbel italienischen
                                                                                              als würde er einen Filmstreifen auf dem                Ursprungs, die Rüstungen aus Süddeutsch-
                                                                                              Geländer abrollen. Das laute Rattern der               land und die Gemälde zählen zur bewun-
                                                                                              an die Kamera geschraubten Rädchen cha-                dernswerten Sammlung des Barons. Die
                                                                                              rakterisiert die Filme, auf denen auch                 Installation mit drei Monitoren und den
                                                                                              immer die beständig nach vorne ziehende                benutzten Rohren als Bestandteil eines
                                                                                              Linie zu sehen ist. Der Fluchtpunkt, der               durch den Korridor führenden Geländers
                                                                                              sich nach jedem Filmschnitt nach hinten                vergegenwärtigt die Entstehung des Films.
                                                                                              verschiebt, führt im «Handlauf Piz Duan –              Céline Gaillard
                                                                                              Corrimano Piz Duan» durch atemberau-
                                                                                              bende Landschaften.

                                                                                              Für die Assistenz und Hilfe bei der Realisierung des Handlaufs danken der Künstler und das Projekt­
«Handlauf Piz Duan – Corrimano Piz Duan» · 2013, dreiteilige Videoinstallation mit Geländer   team: Corsin Bischof, Andreas Fasciati, Davide Fogliada, Peter Giacomelli, Helibernina, Marcello
Handlauf Piz Duan, Tag 1: 11' 52'' · Handlauf Piz Duan, Tag 2: 9' 15''                        Negrini, Romano Salis, Vittorio Scartazzini, videocompany.ch und allen, die ihr Haus für die Filmauf-
Handlauf Piz Duan, Tag 3: 4' 45'' · © 2013, ProLitteris, Zurich                               nahmen geöffnet haben.
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