Sozial - Paritätischer SH

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Sozial - Paritätischer SH
sozial
       DIE MITGLIEDERZEITSCHRIFT DES
       PARITÄTISCHEN SCHLESWIG-HOLSTEIN #1/22

       Am 3. März 2022 demonstrierten in Kiel über 1000 Menschen gegen den Krieg in der Ukraine.

Schwerpunkt „Landespolitik“
Paritätische Perspektiven Seite 4
Suchthilfe in SH Seite 10
Rechte Angriffe gegen soziales Engagement Seite 28
Sozial - Paritätischer SH
Auszeichnung
                                                                                                                Editorial
Wir freuen uns über die Auszeichnung beim International
Creative Media Award: Aus 406 Arbeiten aus 21 Ländern
wurde das Magazin sozial – die Mitgliederzeitschrift
des PARITÄTISCHEN Schleswig-Holstein in der Kategorie
,,Magazine, Typographie/Layout‘‘ ausgewählt und mit
Bronze ausgezeichnet!
Danke an alle Beteiligten für die gute Zusammenarbeit!

                                                                                                                        Liebe Leser*innen,
                                                                                                                        seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs am 24. Februar stockt uns allen der Atem ob der
                                                                                                                schrecklichen Bilder und beunruhigenden Nachrichten, die uns fast stündlich von dort erreichen.
                                                                                                                Der Krieg ist nicht nur geografisch nah, sondern hat auch unmittelbare Auswirkungen auf
                                                                                                                unser Leben hier in Deutschland – und damit sind nicht ausschließlich die gestiegenen Energie-
                                                                                                                und Lebenshaltungskosten gemeint, die viele Menschen in unserer Gesellschaft in die Existenz-
                                                                                                                angst treiben.
                                                                                                                        Bundeskanzler Olaf Scholz sprach in seiner Regierungserklärung im Februar von einer
                                                                                                                ,,Zeitenwende‘‘ und kündigte gravierende Veränderungen für die deutsche Verteidigungs- und
                                                                                                                Energiepolitik an. Der Etat für die Bundeswehr wird durch ein Sondervermögen massiv aufge-
                                                                                                                stockt, rasch sollen zwei neue Terminals für Flüssiggas errichtet werden und im März reiste Wirt-
                                                                                                                schaftsminister Robert Habeck nach Katar, um die Türen für neue Energiegeschäfte zu öffnen –
                                                                                                                ob dies neben einer Unabhängigkeit von russischem Gas zu neuen Problemen führen wird,
                                                                                                                bleibt abzuwarten.
                                                                                                                        Was bei dieser Zeitenwende – man möchte schon zynisch sagen: wie gewohnt – fehlt, ist
                                                                                                                der Blick auf das Soziale. Zwar erleben wir in diesem Jahr erneut eine beispiellose Willkommens-
                                                                                                                kultur und Hilfsbereitschaft innerhalb der deutschen Bevölkerung gegenüber den Ukrainer*innen,
                                                                                                                doch wir werden den Migrations- und Fluchtbewegungen auf dieser Welt nicht allein mit freiwil-
                                                                                                                ligem Engagement, Turnhallen und gespendeter Kleidung begegnen können.
                                                                                                                        Laut UNHCR befinden sich derzeit 82,4 Millionen Menschen auf der Flucht, verantwortlich
                                                                                                                dafür sind der Klimawandel und Kriege. In Schleswig-Holstein wurden in den letzten zwei Jahren
                                                                                                                8.113 Geflüchtete aufgenommen; es ist davon auszugehen, dass in den kommenden Monaten
Bildverzeichnis                                            Impressum                                            mehrere Tausend Menschen aus der Ukraine hinzukommen werden.
                                                                                                                        Das ist für uns alle, für Land, Kommunen und Wohlfahrt, eine große Herausforderung, der
Titelfoto:		© Tim Kirchhof                                 Herausgeber                                          wir nur in gemeinsamer Verantwortung begegnen können. Alle Bereiche der Daseinsvorsorge und
Seite 3:		© Neumünster Medien e.V.                         Der PARITÄTISCHE Schleswig-Holstein e.V.             Sozialen Arbeit sind hier gefragt, neben den Migrationsfachdiensten insbesondere Kitas und die
Seite 13:		© ASB Landesverband Schleswig-Holstein e.V.     Geschäftsführender Vorstand: Michael Saitner         Kinder- und Jugendhilfe. Denn – und das wird in der öffentlichen Wahrnehmung leider oft verges-
Seite 23:		© ZEBRA e.V.                                    Zum Brook 4                                          sen – ein improvisierter Schlafplatz und regelmäßige Mahlzeiten reichen bei Weitem nicht aus.
Seite 26:		© KIBIS Flensburg                               24143 Kiel                                                   Zu uns kommen Familien, die Kita- und Schulplätze benötigen, psychosoziale Beratung,
Seite 31:		© Timo Wilke / Studentenwerk SH                 https://paritaet-sh.org                              Sprachkurse, gesundheitliche Versorgung, bedarfsgerechten Wohnraum – all das, was man für
Alle weiteren Fotos & Abbildungen: © PARITÄTISCHER SH                                                           ein menschenwürdiges Dasein braucht. Dies gilt auch für die vielen geflüchteten Menschen, die
                                                           Redaktion & Lektorat                                 bereits seit 2015 in Schleswig-Holstein leben. Manche von ihnen konnten die Gemeinschafts-
Kein Exemplar mehr bekommen?                               Julia Bousboa, bousboa@paritaet-sh.org               unterkünfte noch immer nicht verlassen, bei vielen stockt pandemiebedingt die Integration in
Ein Download der sozial als PDF ist möglich unter:         Konzept & Gestaltung                                 den Arbeitsmarkt. Gleichzeitig harren in Belarus, in Griechenland und Kroatien Tausende Geflüch-
https://paritaet-sh.org/aktuelles/publikationen            Bucharchitektur \ Kathrin Schmuck, Kiel              tete aus, täglich sterben weiterhin Menschen im Mittelmeer – ihr Schicksal wird gerade durch
                                                           Mitarbeit: Paul Eichholtz                            die Coronapandemie und den Ukrainekrieg aus der medialen Berichterstattung verdrängt.
                                                           Korrektorat                                                  Die große Herausforderung: Die Geflüchteten treffen auf ein überlastetes System, auf Fach-
                                                           Miriam Seifert-Waibel, Hamburg                       kräftemangel in allen Bereichen der Sozialen Arbeit, auf knappen Wohnraum, auf Migrationsfach-
                                                           Lithografie                                          dienste, die alles allein über Projektfinanzierungen stemmen müssen. Es ist offensichtlich: Auch
                                                           Falk Messerschmidt, Leipzig                          hier ist eine Zeitenwende dringend notwendig!
                                                           Druck                                                        Deshalb zum Abschluss eine Bitte: Lassen Sie uns unsere Kräfte bündeln und in Schleswig-
                                                           Schmidt & Klaunig GmbH, Kiel                         Holstein eine Zeitenwende einführen, die nicht nur Energie und Verteidigung in den Blick nimmt,
                                                           Papier                                               sondern auch das Soziale nicht aus den Augen verliert. Und für eine Willkommenskultur, die ihren
                                                           Circle Volume White, 240 g/qm & 115 g/qm             Namen verdient, die nicht in gute und schlechte Geflüchtete unterscheidet und die immer die
Klimaneutrales Druckprodukt: Kompensation von Treibhaus-   FSC®-zertifiziert                                    Würde des Menschen ins Zentrum stellt – nur so kann Integration gelingen.                            Michael Saitner
gasemissionen durch zusätzliche Klimaschutzprojekte.                                                                                                                                                                 Geschäftsführender Vorstand
Der PARITÄTISCHE SH unterstützt mit ClimatePartner Auf-    ISSN 2700-0168                                                                                                                                            0431 56 02 – 10
forstung und Umbau deutscher Wälder.                       © Der PARITÄTISCHE Schleswig-Holstein e.V., 4/2022                                                                                                        vorstand@paritaet-sh.org
Sozial - Paritätischer SH
Inhaltsverzeichnis                                                                                                                                                                    Schwerpunkt: Landespolitik

     1   Editorial

                                              Neumünster Medien e.V. produziert Kurzfilme über aktuelle politische Themen für Neuzugewanderte in zehn Sprachen, aktuell auch auf Ukrainisch.
     3   Schwerpunkt: Landespolitik

    13   Gesellschaft
    14   Teilhabe & Pflege
    18   Kinder & Jugendliche
    20   Migration & Flucht
    22   Frauen & LSBTIQ*

    23   Engagement
    24   Freiwilligendienste
    26   EUTB & KIBIS
    27   Zivilgesellschaftliches Engagement
    30   Förderung

    31   Soziale Arbeit
    32   Digitalisierung
    34   Qualität & Fortbildung

    36   Neuigkeiten aus dem Verband

2
Sozial - Paritätischer SH
„Schlechte Arbeitsbedingungen und
                         Qualität passen nicht zusammen!“

                        Julia Bousboa sprach mit Prof. Dr. Melanie Groß,       ben bereits heute, dass insbesondere kleinere      JB | So heterogen der Verband ist und so unter-     Wartezeiten auf das Hochschulstudium dann
                        Vorsitzende des Verbandsrates, und Michael Saitner,    Einrichtungen im ländlichen Raum ihre Tätig-       schiedlich die Felder der Sozialen Arbeit sind –    immer häufiger durch den Besuch von Fach-
                        geschäftsführender Vorstand des PARITÄTISCHEN SH,      keiten nicht mehr umfassend ausüben können         beim Lesen fällt eine Problemlage sofort ins        schulen, blockieren dort die Plätze und stehen
                        über die Herausforderungen für Gesellschaft, Politik   oder Angebote gänzlich einstellen müssen; es       Auge: der Fachkräftemangel. Was erfahren Sie        dem Arbeitsmarkt danach als Erzieher*in auch
                        und Soziale Arbeit in den kommenden Jahren.            wird keine Nachfolge gefunden, weil die Rah-       diesbezüglich aus Ihrer Mitgliedschaft?             gar nicht zur Verfügung, weil sie direkt im An-
                                                                               menbedingungen so herausfordernd sind. Dies        MS | In der Pandemie stand und steht der Fach-      schluss an ihre Ausbildung an die Hochschulen
                                                                               zu verhindern und für eine Verbesserung der        kräftemangel in Pflege und Kita im öffentlichen     gehen, um dann Soziale Arbeit zu studieren. Es
                                                                               Situation zu kämpfen, wird in den kommenden        Fokus, Fakt ist jedoch, dass es mittlerweile in     gibt im Studiengang Soziale Arbeit immer we-
                                                                               Jahren unsere Hauptaufgabe als Spitzenver-         ausnahmslos allen Bereichen der Sozialen Ar-        niger Studienanfänger*innen, die direkt von
                                                                               band sein.                                         beit Schwierigkeiten bereitet, Stellen zu beset-    der Schule kommen – für das Studium kann das
                                                                                                                                  zen und Bedarfe abzudecken – und das aus den        durchaus ein Vorteil sein, schlussendlich verlän-
                                                                               JB | Der Verband hat im Dezember erstmalig ein     vielfältigsten Gründen: Insbesondere in ländli-     gert es aber die Ausbildungszeiten enorm und
                                                                               Impulspapier mit dem Titel „Gemeinsam weiter-      chen Räumen ist es schwer, qualifiziertes Per-      ist hinsichtlich der Frage des Fachkräftemangels
                                                                               gehen – Paritätische Perspektiven für Schleswig-   sonal zu finden; in vielen Organisationen steht     geradezu kontraproduktiv. Die Hochschulen
                                                                               Holstein“ veröffentlicht. Es zeigt die große       gerade ein Generationenwechsel ins Haus, mit        müssten ihre Kapazitäten deutlich erhöhen. Für
                                                                               Bandbreite, in der sich der Verband und seine      dem viel Fachwissen verloren geht; der psych-       den Arbeitsmarkt ist der aktuelle Zustand fatal.
                                                                               über 500 Mitgliedsorganisationen bewegen: Von      iatrische Bereich und die Suchtkrankenhilfe ha-
                                                                               Armut über Migration und Pflege bis hin zu Kita    ben Probleme, Ärzt*innen und Psycholog*innen
                                                                               und Wohnen werden für insgesamt 22 Felder der      zu finden. Hier muss dringend gegengesteuert               Was es braucht, ist eine umfas-
                        JB | Frau Groß, im November wurden Sie zur Ver-        Sozialen Arbeit Perspektiven entwickelt. Wie       werden, um dem Bedarf an Sozialer Arbeit, der              sende Fachkräftestrategie, die
                        bandsratsvorsitzenden gewählt. Zwei Jahre              sind diese entstanden?                             ja durch die pandemischen Bedingungen eher
                        Pandemie liegen momentan hinter uns und der            MS | Unsere Fachreferent*innen stehen seit je-     zu- als abnehmen wird, begegnen zu können.                 diesen Namen auch verdient.
                        Verband hat zahlreiche Aufgaben zu bewältigen –        her in einem sehr engen Austausch mit unseren      Dabei hilft eine rein sektorale Betrachtung nicht
                        was steht auf der Agenda des PARITÄTISCHEN SH?         Mitgliedern, sei es durch die Gespräche in der     mehr aus – was es braucht, ist eine umfassen-
                        MG | Momentan erleben wir eine unglaubliche            Fachberatung, Arbeitskreise oder gemeinsame        de Fachkräftestrategie, die diesen Namen auch       MS | Und die, die dann tatsächlich in dem Beruf
                        Beschleunigung von verschiedenen Phänome-              Projekte wie im Migrationsbereich. Trotz der       verdient.                                           arbeiten, stoßen auf sehr unattraktive Rahmen-
                        nen wie dem Auseinanderdriften der Gesell-             enormen Heterogenität des Verbandes – von der                                                          bedingungen: niedrige Gehälter, wenig Auf-
                        schaft und der Zunahme sozialer Ungerechtig-           eingruppigen, ehrenamtlich getragenen Kita                                                             stiegschancen, hohe Arbeitsbelastung. Ein*e Er-
                        keit. Als Verband nehmen wir diese Probleme            bis hin zum großen Komplexträger – konnten                Komplexer werdende recht-                    zieher*in zum Beispiel verweilt im Durchschnitt
                        wahr und versuchen, ihnen zu begegnen, indem           wir daraus die Herausforderungen, Probleme                liche Vorgaben hindern unsere                nur drei Jahre in diesem Beruf. Daran muss sich
                        wir auf sozialpolitische Weichenstellungen Ein-        und Bedarfe in „Gemeinsam weitergehen“ so-                                                             dringend etwas ändern.
                        fluss nehmen, um anwaltschaftlich an der Seite         zusagen destillieren. Denn bei all der Vielfalt           Mitgliedsorganisationen massiv               MG | Es sind einfach zu wenig Ressourcen und
                        unserer Nutzer*innen zu stehen. Gleichzeitig ar-       einen uns alle dieselben paritätischen Werte              daran, ihrer eigentlichen Auf-               zu wenig Personal im System, was zu einer
                        beiten wir weiterhin dafür, Professionalität und       sowie der Wunsch, bestmögliche Soziale Arbeit             gabe nachzukommen.                           überhöhten Belastung der Arbeitnehmer*innen
                        Qualität in der Sozialen Arbeit sicherzustellen.       für die Nutzer*innen zu erbringen.                                                                     führt. Das wiederum führt zu schlechter Quali-
                        Dabei haben wir es mit einer immer komplexer           MG | Dabei ist uns wichtig, in Zukunft unse-                                                           tät für die Klient*innen. Schlechte Arbeitsbedin-
                        werdenden Situation zu tun, sowohl im operati-         re Partizipationsformate weiterzuentwickeln        MG | Man kann auch nicht oft genug betonen,         gungen und gute Qualität passen einfach nicht
                        ven Geschäft als auch in den Bedarfen der Nut-         und langfristig zu etablieren. Das hat bei der     dass wir es hier auch mit einem hochschul- und      zusammen.                                           Melanie Gross
                        zer*innen und der Struktur der Sozialen Arbeit         gemeinsamen Arbeit an „Gemeinsam weiter-           bildungspolitischen Problem zu tun haben:                                                               gross@paritaet-sh.org
                        insgesamt.                                             gehen“ schon sehr gut funktioniert, sollte aber    Die Vernetzung zwischen Sozialwirtschaft und        JB | Was erwarten Sie von der nächsten Landes-
                        MS | Operativ blicken wir auf eine immer stärke-       stetig weiterentwickelt werden. Die aktuellen      Hochschule funktioniert nicht so, wie sie eigent-   regierung, um dem Fachkräftemangel entgegen-
                        re Regulierung diverser Leistungsbereiche, ins-        Zeiten fordern zudem schnellere Austauschfor-      lich müsste. Wir haben an den Hochschulen das       zuwirken?
                        besondere im SGB VIII und SGB IX . Komplexer           mate und sehr agile Kommunikationsformen.          Problem, dass wir einen enorm hohen NC von          MS | Allgemein gesprochen müssen die Berufs-
                        werdende rechtliche Vorgaben hindern unsere            Die Zeiten, in denen man sich für ein gemein-      meist 1,x in den Studiengängen der Sozialen Ar-     felder innerhalb der Sozialen Arbeit endlich die
                        Mitgliedsorganisationen massiv daran, ihrer            sam abgestimmtes Papier fünf Wochen Zeit           beit haben, weil wir deutlich mehr Bewerbun-        Wertschätzung und die Rahmenbedingungen
                        eigentlichen Aufgabe nachzukommen, näm-                lassen konnte, sind vorbei – eine immer schnel-    gen erhalten, als wir Plätze bieten können. Auf     erfahren, die sie verdienen. Das bedeutet auch,     Michael Saitner
                        lich eine vernünftige und an den Nutzer*innen          lere Kommunikation in öffentlichen Diskursen       einen Studienplatz gibt es derzeit etwa fünf Be-    dass sich die Politik einmal ganzheitlich mit       0431 56 02 – 10
                        orientierte Soziale Arbeit zu leisten. Wir erle-       erfordert schnelle Reaktionen.                     werbungen. Die jungen Leute überbrücken die         dem Thema beschäftigt. In der Pflege müssen         vorstand@paritaet-sh.org

4 | SCHWERPUNKT: LANDESPOLITIK                                                                                                                                                                                                                                       5
Sozial - Paritätischer SH
Vorstellung Verbandsrat

                          die Chancen der generalistischen Pflegeaus-         tungen der Sozialen Arbeit noch nicht flächen-
                          bildung genutzt und Anreize geschaffen wer-         deckend auf die Erfordernisse vorbereitet, die
                          den. Insbesondere muss in diesem Bereich die        sich aus den Änderungen des Personenstands-
                          Schnittstelle zwischen Eingliederungshilfe und      rechts oder der Istanbulkonvention ergeben. Bei
                          Pflege mit Ressourcen ausgestattet werden, da       all diesen Punkten könnte und müsste meines
                          Menschen mit Behinderung mittlerweile im-           Erachtens die Landesregierung auch Verände-
                          mer älter werden. Im Bereich Kita muss das Land     rungsprozesse unterstützen und anstoßen so-
                          dort einspringen, wo der Bund bisher versagt        wie Verantwortung für die Prozesse überneh-          Prof. Dr. Melanie Groß
                          hat, und die praxisintegrierte Ausbildung für Er-   men – das kann nicht alles nebenbei durch die        Verbandratsvorsitzende
                          zieher*innen etablieren. Und die Rahmenbedin-       einzelnen Organisationen erledigt werden.
                          gungen in den ländlichen Regionen Schleswig-
                          Holsteins müssen für Arbeitnehmer*innen at-
                          traktiver werden. Die Digitalisierung hat zwar             Ich fände es wichtig, dass
                          durch die Pandemie an Fahrt aufgenommen,                   jetzt endlich mal wieder die
                          aber mit Telemedizin allein ist das leider alles
                          nicht getan. Auch auf dem Land müssen Kin-                 Jugend gesehen wird.
                          der betreut werden, brauchen Jugendliche Frei-
                          zeitangebote, müssen zum Beispiel ungewollt                                                              Dr. Michaela Oesser            Detlev Wulff
                          Schwangere oder HIV-Infizierte eine Beratungs-      JB | Gibt es weitere Themen, die die neue Landes-    Stellvertretende Vorsitzende   Stellvertretender Vorsitzender
                          stelle aufsuchen können.                            regierung ganz oben auf die Agenda setzen sollte?
                                                                              MS | Die letzten Jahre standen ganz im Zeichen
                                                                              der Kita-Reform. Zu deren Gelingen konnten
                                 Die Rahmenbedingungen                        wir in zahlreichen Verhandlungen und Gesprä-
                                 in den ländlichen Regionen                   chen beitragen. Was jedoch nach wie vor sauer
                                                                              aufstößt, ist, dass Inklusion beim Thema Kita
                                 Schleswig-Holsteins müssen                   ausgeblendet beziehungsweise nur sehr halb-
                                 für Arbeitnehmer*innen                       herzig angegangen wird. Hier werden wir wei-
                                 attraktiver werden.                          ter darauf drängen, die Teilhabe aller Kinder zu     Heiko Frost                    Ernst Hillebrecht
                                                                              ermöglichen.
                                                                              MG | Ich fände es wichtig, dass jetzt endlich
                                                                              mal wieder die Jugend gesehen wird. Es gab
                          MG | Ich sehe da einige Punkte und greife nur       inzwischen zwei Kinder- und Jugendberich-
                          drei davon auf: Wie schon gesagt, müssen die        te der letzten beiden Bundesregierungen, die
                          Kapazitäten in den Hochschulen für die Sozia-       die Lebensphase Jugend endlich mal wieder in
                          le Arbeit deutlich ausgebaut werden, um dem         den Fokus genommen haben, doch in der Lan-
                          Fachkräftemangel begegnen zu können. Zu-            despolitik hat das leider keine Kraft entfaltet.
                          gleich müssen bei den vielen Erfordernissen in      Wenn man darüber hinaus auch noch Themen
                          der Praxis die Ressourcen passen, damit den         wie geschlechtliche Vielfalt, Inklusion, die enor-   Dr. Cebel Küçükkaraca          Katja Rathje-Hoffmann
                          inhaltlichen Veränderungen und der Zunahme          men psychischen Belastungen und sich ver-
                          der Komplexität der Arbeit auch auf qualitativ      schärfenden Bildungsungleichheiten durch die
                          hohem Niveau begegnet werden kann. Konkret          Pandemie sieht, haben wir viel zu tun. Momen-
                          sehe ich da etwa das neue Kinder- und Jugend-       tan ist es beispielsweise nicht einmal möglich,
                          stärkungsgesetz, das zu vielen Veränderungen        einen psychologischen Diagnostiktermin für
                          im System führt, von der Anerkennung ge-            Kinder und Jugendliche zu bekommen, so kata-                                                                         Kontaktieren Sie den Verbandsrat:
                          schlechtlicher Vielfalt bis zur systematischen      strophal ist die Versorgung inzwischen. Da liegt
Julia Bousboa             Integration der Inklusion, die jeweils konzepti-    viel brach und da sehe ich eine Landesregierung
0431 56 02 – 13           onelle, räumliche und operative Veränderungen       auch klar in der Verantwortung •
bousboa@paritaet-sh.org   nach sich ziehen. Des Weiteren sind die Einrich-                                                         Bettina Spechtmeyer-Högel      Eka von Kalben

6 | SCHWERPUNKT: LANDESPOLITIK                                                                                                                                                                                                    7
Sozial - Paritätischer SH
Gewalt? Schutz!                                                                                         Pflichtgemäße Anhörung
                           (Auch) Eine Frage der Gleichstellung                                                                    Selbstorganisationen von Migrant*innen werden selten gefragt

                           Beim Thema Gewalt herrscht meist große Ei-         Ressource betrachtet wird, dann ist das ein so-      Auch im neuen Koalitionsvertrag der Am-           Innen- und Rechtsausschuss des Landtags
                           nigkeit: Jeder Mensch hat unabhängig von           lides Fundament auf dem es Unterdrückung,            pel-Koalition werden Organisationen von           außer den üblichen Institutionen auch eine
                           Herkunft, Alter, sozialem oder biologischem Ge-    Machtmissbrauch und Gewalt schwerer haben,           Migrant*innen wieder gelobt und wertge-           Reihe von Organisationen von Migrant*in-
                           schlecht, Hautfarbe, Beeinträchtigung, sexueller   zu gedeihen.                                         schätzt: Es soll ein Partizipationsgesetz ge-     nen zur Anhörung lud, die erst eine schrift-
                           Orientierung, Religionszugehörigkeit oder so-      Neben einem bedarfsgerecht und barrierefrei          schaffen werden, dabei sollen die Organisati-     liche Stellungnahme abgaben, dann in einer
                           zialem Status das Recht auf Schutz vor Gewalt.     ausgestatteten Gewaltschutzsystem, zielgrup-         onen „beteiligt“ werden. Und es soll ein Rat,     ganztägigen Ausschusssitzung ihre Kritik
                           Untermauert wird das im Grundgesetz verbrief-      penübergreifenden und niedrigschwelligen Be-         eine Art runder Tisch, auf Bundesebene eta-       und Vorschläge vortrugen. Die Diskussion da-
                           te Recht durch Abkommen für verschiedene Be-       ratungs- und Interventionsangeboten braucht          bliert werden.                                    nach spielte sich allerdings wieder intern ab,
                           völkerungsgruppen.                                 es Information und Prävention. Es bedarf eines                                                         diesmal innerhalb der Regierungsfraktionen,
                           Gewalt hat viele Formen, noch mehr Gesichter       breiten Verständnisses von Gewaltdynamiken                                                             die 15 Monate lang berieten und kaum Ände-
                           und kann überall zuhause sein. Wenn von Ge-        und teils generationenübergreifenden Gewalt-               In Schleswig-Holstein haben                 rungsvorschläge übernahmen. Übrigens soll-
                           walt gesprochen wird, ist häufig körperliche       kreisläufen. Betroffene müssen rasch und un-               wir in der Entstehungsge-                   te nach Inkrafttreten des Gesetzes im Mai
                           oder sexualisierte Gewalt gemeint, doch auch       kompliziert Unterstützung und Hilfe erfahren                                                           2021 ein Integrationsrat auf Landesebene
                           psychische, emotionale, digitale oder ökonomi-     – unabhängig davon, mit wem der Erstkontakt                schichte des „Integrations- und             eingerichtet werden. Es ist unwahrscheinlich,
                           sche Gewalt gehören dazu. Häufig überschnei-       stattfindet: Justiz, Polizei, Beratungsstelle oder         Teilhabegesetzes“ erlebt, wie               dass das bis Mai 2022 noch klappen wird.
                           den sich die Formen. Charakteristisch ist der      Institution. Wer Gewalt erfahren hat, mehrfach             lückenhaft die Beteiligung                  Und die fehlenden Proteste von Vereinen und
                           Machtmissbrauch – Gewalt kennt keine Augen-        sein Anliegen vortragen muss und weiterver-                                                            Verbänden zeigen auch, dass die Hoffnungen
                           höhe. Und: Gewalt kann Betroffene krank ma-        wiesen wird, schweigt irgendwann.                          ausfällt.                                   auf eine Umsetzung eher gering waren.
                           chen und das Armutsrisiko erhöhen, etwa wenn       In vielen Bereichen der Sozialen Arbeit sind
                           nach einer Gewalttat der Beruf nicht mehr aus-     gelebte Gewaltschutzkonzepte längst Teil der
                           geübt werden kann oder aufgrund von Stalking       beruflichen Praxis, auch das neue Schulgesetz        Wie und wann man startet, ist noch unklar.              Die fehlenden Proteste von
                           häufige Wohnortwechsel nötig sind.                 sieht diese Konzepte für Schulträger vor. Ande-      Insbesondere Putins Krieg gegen die Ukrai-              Vereinen und Verbänden
                                                                              re, insbesondere öffentlich geförderte Bereiche      ne hat alle Planungen umgeworfen. Aber die
                                                                              sollten diesem Beispiel folgen. Diese Prozesse       bisherigen Erfahrungen der Selbstorganisa-              zeigen auch, dass die Hoff-
                                  Zielgruppenübergreifende                    müssen fachlich gut begleitet werden – das           tionen sagen: Papier ist geduldig, die Betei-           nungen auf eine Umsetzung
                                  Prävention kostet und scheint               Know-how ist durch unsere Mitgliedsorgani-           ligung von Migrant*innen an der Ausgestal-              eher gering waren.
                                                                              sationen im Land vorhanden, die Ressourcen           tung solcher Vorhaben wird oft zugesagt. Die
                                  manchmal wenig attraktiv,                   jedoch müssen angemessen zur Verfügung               Realität sieht anders aus.
                                  weil sich der Effekt häufig nicht           gestellt werden. Gender-Mainstreaming und            In Schleswig-Holstein haben wir in der Ent-       Auf Bundesebene ist eine Beteiligung schwe-
                                  unmittelbar zeigt, ist jedoch               -Budgeting können als politische Richtschnur         stehungsgeschichte des „Integrations- und         rer, schon weil viele Vereine gar nicht die
                                                                              dienen, indem jede politische Maßnahme da-           Teilhabegesetzes“ erlebt, wie lückenhaft die      Kapazitäten haben, sich auf eine Anhörung
                                  eine lohnende Investition.                  raufhin überprüft wird, inwieweit Frauen und         Beteiligung ausfällt. Nach der Auftaktveran-      in Berlin vorzubereiten und daran teilzuneh-
                                                                              Männer davon profitieren. Nicht zuletzt muss         staltung zum Diskussionsprozess sollte es         men. Das können nur einige bundesweit ar-
                                                                              die Stimme der Betroffenen gehört werden.            eine Plattform im Internet geben, dort sollten    beitende Organisationen. Insofern: Der gute      Reinhard Pohl
                           Was aber hat das alles mit Gleichstellung zu       Zielgruppenübergreifende Prävention kostet           alle Vereine und Verbände, aber auch Einzel-      Wille wird gerne zur Kenntnis genommen.          (aktiv im Vorstand vom Einwande-
                           tun? Hier geht es um die Dimension der struktu-    und scheint manchmal wenig attraktiv, weil           personen ihre Vorschläge und ihre Kritik an       Dass es eine echte Beteiligung geben wird,       rerbund e.V. und ZBBS e.V.)
                           rellen Gewalt, der alltäglichen Ungleichbehand-    sich der Effekt häufig nicht unmittelbar zeigt,      Regierungsentwürfen vorbringen können.            ist eher unwahrscheinlich. Da macht schon
                           lung aufgrund von tradierten Zuschreibungen        ist jedoch eine lohnende Investition, die sich für   Erst danach sollte es einen Gesetzentwurf         mehr Hoffnung, dass deutlich mehr Abgeord-       Einwandererbund e.V.
                           und der sozialen Geschlechtszugehörigkeit in       uns alle vielfach auszahlt. Der Schutz vor Gewalt    des Innenministeriums geben. Der Einwan-          nete im Ausland geboren und irgendwann           Feldstraße 3, 25335 Elmshorn
                           einer Gesellschaft. Wenn Frauen weniger ver-       ist hoheitliche Aufgabe des Staates und für alle     dererbund e.V., der eigentlich beteiligt werden   nach Deutschland eingewandert sind, bevor        04121 64010 – 60
                           dienen als Männer, Steuerlasten und Sorgear-       Menschen rechtebasiert. Dies muss auf allen po-      wollte, lud während der ministeriumsinter-        sie eingebürgert und gewählt wurden. Und:        info@ewbund.de
                           beit ungleich verteilt sind oder „typisch weib-    litischen Ebenen, in Bund, Land, Kommune, um-        nen Beratungen den Staatssekretär zu einer        Sie sind in allen Parteien. •                    www.ewbund.de
                           liche“ Berufe schlechter vergütet werden, ist      gesetzt sowie bedarfsgerecht finanziert werden       Infoveranstaltung ein, und tatsächlich hatte
                           das ein Gradmesser für Gleichstellung in einer     und darf nicht vom ehrenamtlichen Engage-            der schon einen Vorentwurf in der Tasche,                                                          ZBBS e.V.
                           Gesellschaft. Umgekehrt schützt echte Gleich-      ment einzelner Personen abhängig sein. •             den er auch kurz zeigte.                                                                           Sophienblatt 64/64a, 24114 Kiel
Ivy Wollandt               stellung zu einem guten Teil vor Gewalt: Wenn                                                           Kurz gesagt: Das Beteiligungsverfahren wur-                                                        0431 200 11 50
0431 56 02 – 64            alle von Kindesbeinen an das Gegenüber als                                                              de überschlagen, der Entwurf kam direkt. Die                                                       info@zbbs-sh.de
wollandt@paritaet-sh.org   gleichwertig sehen, wenn Verschiedenheit als                                                            Beteiligung bestand letztlich darin, dass der                                                      www.zbbs-sh.de

8 | SCHWERPUNKT: LANDESPOLITIK                                                                                                                                                                                                                                          9
Sozial - Paritätischer SH
„Wenn wir über Sucht sprechen,
                               müssen wir über Sucht sprechen!“

                               Julia Bousboa sprach mit Kai Sachs (Landesstelle     auch weiterhin geben. Die Politik macht es sich      sen. Jahrelang haben wir bei Alkohol dafür ge-       bis harm reduction politisch diskutieren können.
                               für Suchtfragen Schleswig-Holstein e.V.) und Sonja   zu einfach, wenn ihr nur Entkriminalisierung         kämpft, dass man nach dem Verursacherprinzip         Deutlich verschlechtert hat sich allerdings die
                               Steinbach (PARITÄTISCHER SH) über die Legalisie-     und sauberer Stoff wichtig sind. Welchen Stel-       diejenigen an den Kosten beteiligt, die die Prob-    Situation der ambulanten Suchtkrankenhilfe:
                               rung von Cannabis, die Haltung der Gesellschaft zu   lenwert Sucht in der Gesellschaft hat, wird auf      leme verursachen. Schon in den 1990ern galt in       Sie ist kommunal verankert und eine in der
                               Alkohol und Nikotin und die Situation der Sucht-     politischer Ebene nicht diskutiert – außer, er       Finnland, dass Alko, die staatliche Alkohol-Mo-      Höhe freiwillige Leistung. Wenn in einem Sozial-
                               krankenhilfe in Schleswig-Holstein.                  fällt volkswirtschaftlich oder sozial auf. Solange   nopolgesellschaft, einen Teil ihres Gewinns in       ausschuss Politiker*innen sitzen, die sich das
                                                                                    Suchtkranke nicht besonders auffallen, werden        die Suchtarbeit stecken muss. In Helsinki stand      Thema auf die Fahne geschrieben haben, kann
                               JB | Durch die Koalition im Bund ist das Thema       eher keine Maßnahmen ergriffen.                      dadurch die größte Bibliothek der Welt zum           man gute Projekte entwickeln wie in Rends-
                               Legalisierung von Cannabis wieder sehr präsent.      SS | Was ich an dieser Debatte spannend finde,       Thema Sucht. Es kann nicht sein, dass die einen      burg-Eckernförde. Bei anderen steht im Zuwen-
                               Dabei stellt sich sofort die Frage, warum manche     ist die Sonderstellung Schleswig-Holsteins. In       Gewinn machen und die anderen die Folgen             dungsbescheid Prävention, diese wird jedoch
                               Drogen illegal sind und andere nicht – Alkohol       den 2000ern war es eines der progressivsten          tragen. Die Suchthilfe ist ohnehin schon am          nicht mit Mitteln ausgestattet und muss neben-
                               gilt nahezu als „erwünscht“ in der Gesellschaft.     Länder, zum Beispiel in der Substitutionsbe-         Limit, da kann jetzt nicht noch was obendrauf        bei erfolgen. Wenn die Politik Prävention ernst-
                               Welche Meinungen gibt es derzeit in den Fach-        handlung. Doch seitdem hat es sich eher in die       kommen, weil die Politik Cannabis freigibt und       nehmen würde, müsste sie von der Kita bis zum
                               kreisen?                                             andere Richtung entwickelt. Aus anderen Bun-         sich um die Folgen nicht ausreichend kümmert.        Altenheim Präventionsangebote finanzieren.
                               KS | Wir haben kulturhistorisch eine Veranke-        desländern hört man gerade „Endlich Legali-
                               rung bestimmter Suchtmittel in unserer Ge-           sierung von Cannabis!“, doch hier ist man eher                                                            JB | Was muss in SH dringend angegangen werden?
                               sellschaft. Alkohol, Nikotin, Medikamente und        verhalten.                                                  Wenn die Politik Prävention                   KS | Wir haben hier die Möglichkeit, offen mit
                               Glücksspiel gehören dazu. Der Verkauf von Al-                                                                    ernstnehmen würde, müsste                     der Politik sprechen zu können, doch das hat lei-
                               kohol wird in Deutschland extrem gering be-                                                                                                                    der nicht zur Folge, dass wir in eine kontinuier-
                               steuert und die Preise sind weltweit betrachtet             Es gibt ganz offensichtlich                          sie von der Kita bis zum Alten-               liche Refinanzierung der Arbeit kommen. Aus
                               im untersten Bereich. Einer möglichen Verän-                ein Bedürfnis nach Rausch.                           heim Präventionsangebote                      dem Glücksspielstaatsvertrag müsste viel mehr
                               derung steht eine einflussreiche Industrielobby                                                                  finanzieren.                                  Geld in die Suchtkrankenhilfe fließen. Das The-
                               entgegen. Die Erfahrungen mit Prohibition ha-                                                                                                                  ma muss in den Lehrplänen verankert werden.
                               ben gezeigt, dass dies eher illegale Strukturen                                                                                                                Die Kommunen müssten im Rahmen ihrer Da-
                               stärkt. Als sich in den 1960er Jahren die Gesetz-    JB: Was spricht für eine Legalisierung von                                                                seinsvorsorge Leitlinien und Strategien für den
                               gebung mit den damals neuen Suchtmitteln             Cannabis?                                            Wenn sich diese Gesellschaft nicht darüber im        Umgang mit Sucht entwickeln.
                               beschäftigen musste, sah die Regierung keine         SS | Wer Cannabis konsumieren will, tut es. Ich      Klaren ist, wie sie mit dem Thema Sucht um-          SS | Ich habe die Hoffnung, dass das Thema mit
                               andere Möglichkeit, als alles zu verbieten.          kann uns, ohne weitere Kenntnis, innerhalb           gehen will, wird man immer wieder scheitern,         der neuen Bundesregierung und dem neuen
                               Durch eine reine Verbotsstrategie erreicht man       einer Stunde jede Droge besorgen: auf jedem          schon im Kleinen: Papa diskutiert bei Feier-         Bundesdrogenbeauftragten in die Länder getra-
                               keine ausreichende Verhinderung. Wirkungs-           Schulhof, in jedem Stadtteil. Doch das heutige       abendbier und Zigarette mit seiner Tochter, dass     gen wird und hoffentlich auch in die Kommu-
                               voller ist ein Zusammenspiel von Begrenzung          Cannabis hat nichts mehr mit dem Gras zu tun,        sie nicht kiffen darf. Damit will ich nicht die      nen.
                               des Verkaufs durch Verteuerung sowie Redu-           das manche vielleicht von früher kennen. Es ist      Legalisierung von Cannabis untermauern, son-         KS | Das Land könnte den eingeschränkten Alko-
                               zierung der Konsummöglichkeiten und Werbe-           von der Potenz vierfach so hoch und insbeson-        dern möchte nur sagen: Wenn wir über Sucht           holverkauf sowie ein Werbeverbot durchsetzen.
                               verboten. Die Strategie, wie sie im Kontext mit      dere die künstlichen Cannabinoide sind eine          sprechen, müssen wir über Sucht sprechen –           Es gäbe zum Beispiel die Möglichkeit, Sportver-
                               Nikotin gefahren wurde – Dezimierung von             große Gefahr. Dieses Problem lässt sich offen-       und da ist es völlig egal, welche es ist.            einen, die Bierwerbung platzieren, die Landes-
                               Verkauf und Werbung, allgemeines Rauchver-           sichtlich nicht mit Prohibition bekämpfen. Mit       SS | Es ist eine Haltungsfrage. In unserer Gesell-   förderung zu streichen. Außer Lobbyist*innen
                               bot – hat dazu geführt, dass der Konsum von          einer Legalisierung – nicht mit einer Freigabe –     schaft gibt es nicht nur Suchtkranke, sondern        hätte damit niemand ein Problem. Es ist, wie        Julia Bousboa
                               Nikotin deutlich zurückgegangen ist.                 könnte man so etwas wie Verbraucherschutz            auch Menschen, die Drogen als Genussmittel           gesagt, alles eine Frage der Haltung.               0431 56 02 – 13
                               Die Diskussion um Freigabe von Cannabis wird         installieren. Dann wäre klar, welche Stoffe ver-     konsumieren. Abstinenz ist illusorisch, es gibt      SS | Durch die Legalisierungsdebatte, die wir       bousboa@paritaet-sh.org
Kai Sachs                      zu eindimensional geführt. Hier müssten wir          kauft werden und der Staat könnte daran ver-         ganz offensichtlich ein Bedürfnis nach Rausch.       übrigens am 9. September auf einem Fachtag
Landesstelle für Suchtfragen   über eine Bandbreite von Fragen sprechen: Wel-       dienen und mit dem Geld Prävention massiv            Das Ziel ist harm reduction: dass Menschen also      von möglichst vielen Seiten beleuchten, rücken
Schleswig-Holstein e.V.        cher Stoff wird in welcher Intensität verkauft?      fördern.                                             möglichst wenig Stoff konsumieren und sich so        auch die anderen Suchtstoffe hoffentlich wie-
Schreberweg 10                 Wer wird es verkaufen? Wie wird tatsächlich          KS | Es gibt viele Aspekte zu bedenken, die der      wenig wie möglich selbst schädigen.                  der stärker in den Fokus. Die Landesregierung
24119 Kronshagen               kontrolliert? Wie soll der Umgang im Straßen-        Staat regeln muss. Wir haben immer eine kriti-                                                            wird sich zwangsläufig damit auseinanderset-
0431 65 73 94 – 44             verkehr geregelt werden? Hirnphysiologisch           sche Position gegenüber einer bedingungslosen        JB | Wie ist die momentane Situation der Sucht-      zen müssen. Dass das Thema gerade in jedem
01522 46 39 026                müssten wir sagen: Männer dürfen erst ab 25,         Freigabe von Cannabis formuliert. Eine Freigabe      krankenhilfe in Schleswig-Holstein?                  Wohnzimmer diskutiert wird, ist ein guter An-       Sonja Steinbach
kai.sachs@lssh.de              Frauen ab 21 konsumieren – aber das ginge na-        wird zum Beispiel Folgen für den Suchtbereich        KS | Positiv zu bewerten ist, dass wir heutzuta-     lass, um jetzt umfassend suchtpolitisch aktiv zu    0431 56 02 – 28
www.lssh.de                    türlich nicht. Und einen Schwarzmarkt wird es        haben, die personell abgedeckt werden müs-           ge die ganze Bandbreite von völliger Abstinenz       werden! •                                           steinbach@paritaet-sh.org

10 | SCHWERPUNKT: LANDESPOLITIK                                                                                                                                                                                                                                               11
Sozial - Paritätischer SH
Perspektive Wohnen                                                                                                                                                                                                               Gesellschaft
                           Schaffung von passgenauen Zugangswegen

                                                                                                                                  Mit Hilfe des Wünschewagens konnte die 31-jährige Frau P. gemeinsam mit ihrem Mann Abschied von der Insel Amrum nehmen.
                           Wohnen ist ein Menschenrecht und existenziell       indes noch nicht ausreichend oft berücksichtigt.
                           wichtiges Gut der Daseinsvorsorge. Wohnen ist       Beteiligungsprozesse bei der Quartiersentwick-
                           aber auch seit Jahren Luxusgut und Mangelwa-        lung sind häufig exklusiv gestaltet, das Wissen
                           re. Der Wohnungsmarkt in Schleswig-Holstein         um Teilnahmemöglichkeiten hängt nicht selten
                           ist am Hamburger Rand wie auch in kleinen bis       auch vom Bildungsgrad und sozialen Status ab,
                           mittleren Ballungszentren angespannt. In be-        Expert*innen in eigener Sache werden nur sel-
                           liebten Stadtteilen sind Verdrängungsprozesse       ten partizipativ miteinbezogen.
                           zu beobachten, Zielgruppen der Sozialen Arbeit      Die Sicherung von vorhandenem Wohnraum
                           wie Alleinerziehende, Straffällige, Senior*innen,   und Schaffung von passgenauen Zugangswe-
                           Menschen mit Behinderungen, wohnungslose            gen zum Wohnungsmarkt für Zielgruppen
                           Personen, gewaltbetroffene Frauen, psychisch        der Sozialen Arbeit sind heute ebenso wichtig
                           oder chronisch Erkrankte, Care-Leaver, Geflüch-     wie die Entwicklung und Realisation von Mo-
                           tete oder kinderreiche Familien konkurrieren        dellprojekten wie Frauen_Wohnen. Aus dem
                           auf dem Wohnungsmarkt um bezahlbare Woh-            Projekt heraus, das erfolgreich gewaltbetroffe-
                           nungen. Kaum ein Beratungssetting, das nicht        ne Frauen und ihre Kinder in eigenen Wohn-
                           an irgendeinem Punkt das Thema Wohnen               raum vermittelt, wurde das Instrument der
                           streift; an verschiedenen Stellen werden Träger     Belegungsbindung in Schleswig-Holstein neu
                           Sozialer Arbeit durch gestiegene Mieten in exis-    belebt. Das landesweite Netzwerk und die Ko-
                           tenzielle Notlagen gebracht.                        operationen mit der Wohnungswirtschaft so-
                                                                               wie die gesamte Projektstruktur könnten als
                                                                               Blaupause für sämtliche Zielgruppen der So-
                                  Beteiligungsprozesse bei der                 zialen Arbeit dienen, um Wege in Wohnraum
                                  Quartiersentwicklung sind                    zu erschließen. Auch neue Formen der Zusam-
                                                                               menarbeit zwischen Kommunen und Sozialen
                                  häufig exklusiv gestaltet, das               Trägern, beispielsweise bei der Bewirtschaftung
                                  Wissen um Teilnahmemöglich-                  von Wohnraum, sollten erprobt werden kön-
                                  keiten hängt nicht selten                    nen. Der Paritätische Gesamtverband fordert
                                                                               seit Langem eine neue Wohngemeinnützigkeit,
                                  auch vom Bildungsgrad und                    um bei Wohnungsbau und Sozialbindung eine
                                  sozialen Status ab.                          langfristige Verlässlichkeit und Planbarkeit zu
                                                                               gewährleisten. Wir begrüßen diesen Punkt im
                                                                               Koalitionsvertrag der Ampelregierung, der dazu
                           So wertvoll und unverzichtbar sie sind: Sozialer    beitragen soll, Menschen, die über geringe und
                           Wohnungsbau und entsprechende Anreizpro-            mittlere Einkommen verfügen, mit Wohnraum
                           gramme allein können den Wohnraummangel             zu versorgen.
                           nicht beheben. Die vom Land aufgelegte Förder-      Angelehnt an das im Vertrag ebenfalls erwähn-
                           richtlinie „Wohnen für besondere Bedarfsgrup-       te „Bündnis bezahlbarer Wohnraum“ wünschen
                           pen“ ist beispielhaft, stärkt Soziale Träger als    wir uns für Schleswig-Holstein einen interdiszi-
                           Bauherren und fördert „Housing First“ als zeit-     plinären und ressortübergreifenden „Pakt Woh-
                           gemäße Methodik Sozialer Arbeit. Es braucht         nen“ der alle Ministerien, Vertreter*innen der
                           jedoch darüber hinaus eine Vielfalt der Ansätze,    Wohnungswirtschaft, Wohlfahrtsverbände und
                           kleine und größere Bausteine, Ideen, Kreativität    relevanten Akteur*innen zusammenbringt. Nur
                           und Konzepte, um dem gesamtgesellschaftli-          gemeinsam können passgenaue, bedarfsge-
                           chen Thema zu begegnen. Bei allen Herange-          rechte Lösungsansätze entwickelt und realisiert
                           hensweisen muss Wohnen ganzheitlich und in-         werden. Das Thema Wohnen braucht die soziale
Ivy Wollandt               klusiv gedacht werden – von der Planung bis zur     Perspektive – wir bringen sie gerne ein! •
0431 56 02 – 64            Umsetzung. Das Mitdenken der sozialen Pers-
wollandt@paritaet-sh.org   pektive ist von Beginn an unverzichtbar, wird

12 | SCHWERPUNKT: LANDESPOLITIK
Lots*innen zum Schulabschluss                                                                          „Der Beratungsbedarf der Studieren-
                                   Peer-to-Peer-Begleitung für autistische Schüler*innen                                                  den ist so hoch wie nie zuvor“
                                                                                                                                          Psychosoziale Beratung im Studentenwerk SH

                                   Dem Inklusionsgedanken folgend, dass jeder          jugendliche Begleiter*in wird von dem*der          Ob finanzielle oder psychische Probleme – die         Normalität schwer. „Durch das Hin und Her zwi-
                                   Mensch, so wie er ist, Teil der Gemeinschaft sein   Schüler*in gern akzeptiert und nicht selten als    Coronapandemie bringt für die Studierenden in         schen Präsenz- und Online-Lehre herrscht mitt-
                                   darf, stellt sich die Frage: Wie kann dies gelin-   Rollenvorbild und auch als Gesprächspartner*in     Schleswig-Holstein zahlreiche Belastungen mit         lerweile Frustration und Resignation“, so López.
                                   gen? Wie kann eine notwendige Unterstüt-            für allgemeine Fragen der eigenen Jugendlich-      sich. Die Nachfrage nach den psychosozialen           „Die jungen Leute fühlen sich um ihre Studien-
                                   zung Adressat*innen erreichen – wenn diese          keit gesehen. Im Kontext des Klassenverbandes      Beratungsangeboten des Studentenwerks SH              und Lebenszeit betrogen.“ Eine wichtige Unter-
                                   sich darüber hinaus auch noch in der Pubertät       erfahren die Peer-to-Peer-Schulbegleiter*innen     ist seit Pandemiebeginn deutlich gestiegen.           stützung in dieser schwierigen Zeit bietet die
                                   befinden? Denn hierbei geht es ja um die sich       eine große Akzeptanz und werden als Ältere der     „Als den Studierenden plötzlich die Nebenjobs         Beratung des Studentenwerks, die inzwischen
                                   jedem Jugendlichen stellende Entwicklungs-          eigenen Peergroup häufig bewundert. Dadurch        weggebrochen sind, war ihre finanzielle Not           nicht nur in Präsenz oder telefonisch, sondern
                                   aufgabe von Autonomie, Eigenständigkeit und         gelingt es ihnen, Brücken zu bauen und für         groß“, berichtet Ramona López, Sozialberaterin        auch per Video angeboten wird. So können noch
                                   die Ablösung von der Welt der Elterngeneration.     den*die jugendliche*n Autist*in einen Zugang       im Studentenwerk SH. Gemeinsam mit ihren              mehr Studierende erreicht werden.
                                   Vor allem aber geht es um die Orientierung an       zur Peergroup zu ermöglichen.                      fünf Kolleginnen bietet sie Studierenden in
                                   der Gleichaltrigengruppe und den dort stattfin-     Dass die Peer-Schulbegleiter*innen als Langzeit-   ganz Schleswig-Holstein Hilfestellung bei viel-
                                   denden Austausch um die wichtigen Fragen des        praktikant*innen nach einem Jahr wechseln,         fältigen Fragen und Anliegen rund ums Studi-                 Zu Beginn der Pandemie
                                   Lebens.                                             klingt zunächst nicht kompatibel mit dem The-      um. Die drei Top-Themen in den Coronajahren                  kamen die Studierenden vor
                                                                                       ma Autismus, entpuppt sich jedoch als eigent-      2020 und 2021: Kredite/Darlehen, Sozialleistun-
                                                                                       licher Clou des Ganzen. Die autistischen Schü-     gen und Jobben.                                              allem mit depressiven Symp-
                                          Eine Schulbegleitung auf                     ler*innen erfahren Sicherheit nicht über die       Pandemiebedingt gehe es in der Sozialberatung                tomen, Ängsten und Gefühlen
                                          Augenhöhe, ein Mensch aus                    womöglich jahrelange Beziehung zu einer Per-       außerdem wesentlich häufiger als üblich um                   von Einsamkeit in die psycho-
                                                                                       son, sondern in der Struktur wiederkehrender       psychosoziale Themen wie Angst oder Stress.
                                          der Gleichaltrigengruppe,                    Abläufe. Indem sie sich selbst in jedem weite-     Besonders auffällig ist laut López, dass der An-             logische Beratung. Später
                                          der zudem unmittelbar aus                    ren Jahr neu durch die aktuelle Schulbegleitung    teil der ratsuchenden internationalen Studie-                fiel ihnen das Zurückfinden
                                          dem eigenen schulischen                      erfahren, wächst mit ihrem Erfahrungszuwachs       renden gestiegen sei. „Diese Gruppe fühlt sich               aus der sozialen Isolation in
                                                                                       zugleich die Kenntnis ihrer Fähigkeiten und        beim Ankommen im neuen Land besonders
                                          Kontext herausgewachsen ist,                 Kompetenzen enorm – und dient als Schlüssel        stark auf sich allein gestellt und leidet erheblich          die Normalität schwer.
                                          kann eine gute Lösung sein.                  für Zutrauen, Selbstbewusstsein und neue, eige-    unter den Pandemiebedingungen.“ Ebenso die
                                                                                       ne Wege.                                           Studierenden mit Kind: Aufgrund von Gruppen-
                                                                                       Die Schulbegleiter*innen wiederum haben im         schließungen in Kitas muss der Nachwuchs im-          „Wir glauben, dass wir noch lange mit den Fol-
                                   Dies stellt für Menschen aus dem Autismusspek-      Laufe eines Jahres an der Seite eines*einer ju-    mer wieder zeitweise zuhause betreut werden.          gen der Pandemie zu tun haben werden“, lautet
                                   trum, deren wesentliche Einschränkung in der        gendlichen Autist*in, angeleitet und begleitet     Dadurch verzögert sich das Studium. Zudem             das Fazit von Ramona López. Umso erfreulicher:
                                   Gestaltung von Kommunikation und sozialer           durch erfahrene Autismuspädagog*innen, viel        können die Kosten für das Mittagessen oder            Das Land Schleswig-Holstein hat Ende letzten
                                   Interaktion liegt, eine große Herausforderung       gelernt über andere Wahrnehmungswelten,            die Beschäftigung der Kinder nur schwer aufge-        Jahres beschlossen, den Ausbau der psychologi-
                                   dar. Die Notwendigkeit einer Schulbegleitung,       über Autismus und wie sehr Verschiedenheit         bracht werden.                                        schen Beratung finanziell zu fördern. Seit dem
                                   um im Schulalltag bestehen zu können, wird          unser aller Welt bereichert. Ihnen wird in ihrem   Neben der Sozialberatung bietet das Studenten-        1. April stehen fast doppelt so viele Personal-
                                   zusätzlich von den Jugendlichen als Makel emp-      Leben gewiss auch weiterhin Inklusion gut ge-      werk SH auch eine psychologische Beratung an.         stunden wie vorher zur Verfügung. „Dafür sind
                                   funden.                                             lingen.                                            Landesweit stehen mehrere Psycholog*innen             wir und sicher auch die Studierenden sehr
                                   Eine Schulbegleitung auf Augenhöhe, ein             Für weitere Informationen schauen Sie gerne        Studierenden bei persönlichen Konflikten und          dankbar.“ •
                                   Mensch aus der Gleichaltrigengruppe, der zu-        auf unserer Website www.konfettiimdialog.de        Problemen zur Seite. „Der Beratungsbedarf bei
                                   dem unmittelbar aus dem eigenen schulischen         vorbei. Dort findet sich auch ein Link zu einem    den Kolleg*innen der psychologischen Beratung
                                   Kontext herausgewachsen ist, kann hier eine         unbedingt hörenswerten Radiofeature zum            ist so hoch wie nie zuvor“, erzählt Ramona López.
                                   gute Lösung sein. Diesem Grundgedanken              Peer-to-Peer-Konzept. •                            Lag die Wartezeit auf einen Erstgesprächster-         Das Studentenwerk SH ist landesweit für zehn
                                   folgend, haben wir das Peer-to-Peer-Konzept                                                            min 2019 zu Spitzenzeiten noch bei etwa sechs         Hochschulen und über 60.000 Studierende als
Gesa Herold                        ,,Schulbegleitung für autistische Schüler*innen“                                                       Wochen, so waren es 2020 zehn und 2021 sogar          wichtiger Dienstleister verantwortlich. 560 Mit-
Konfetti im Dialog gGmbH           entwickelt. Wie sich zeigt, mit großem Erfolg.                                                         über 14 Wochen.                                       arbeiter*innen setzen sich in den Bereichen        Studentenwerk SH
Viktoriastraße 15, 25524 Itzehoe   Durch die unmittelbare Nähe zur eigenen Schul-                                                         Zu Beginn der Pandemie kamen die Studieren-           Hochschulgastronomie, Wohnen, BAföG, Soziales      Ramona López
0152 54151201                      zeit gelingt es den jungen Schulbegleiter*innen                                                        den vor allem mit depressiven Symptomen,              und Kultur für das Wohl der Studierenden ein. In   Sozialberaterin
04822 34 29 116                    erheblich besser, die anstehende Übersetzungs-                                                         Ängsten und Gefühlen von Einsamkeit in die            der psychosozialen Beratung wurden im Jahr 2021    0431 8816 – 113
g.herold@itz-dialog.de             leistung des Unterrichtsstoffes von „neuro-                                                            psychologische Beratung. Später fiel ihnen das        über 4500 Beratungsgespräche mit Studierenden      ramona.lopez@studentenwerk.sh
www.konfettiimdialog.de            typisch“ auf „autistisch“ zu leisten. Der*die                                                          Zurückfinden aus der sozialen Isolation in die        geführt.                                           www.studentenwerk.sh

14 | GESELLSCHAFT | TEILHABE & PFLEGE                                                                                                                                                                                                                                          15
JA zum Leben                                                                                              Zwischen Sorge und Sekt
                                 Aber eben auch zum Sterben                                                                                Der Versuch, den assistierten Suizid in unsere Fachlichkeit zu integrieren

                                 Der Tod gehört nun mal zum Leben. Ein Satz, der       zinisch überwacht und pflegerisch betreut wird      Am Morgen nach dem Urteil des Bundesverfas-             Die gute Nachricht: Nach und nach haben wir
                                 flott über die Lippen geht – vor allem, wenn das      für die Fahrgäste also Unmögliches wahr: Am         sungsgerichts, welches das Recht auf einen as-          erkannt, dass es egal ist, wie wir persönlich dazu
                                 eigene Lebensende weit weg erscheint. Zwar ist        Deich noch einmal ein Fischbrötchen essen, mit      sistieren Suizid für alle, also wirklich ALLE , nicht   stehen. Wenn – ja, wenn – wir bei unserer Hal-
                                 in den letzten Jahrzehnten eine beeindruckende        der Familie noch einmal am Kaffeetisch sitzen,      nur für unsere hospizlich Begleiteten, dokumen-         tung der Absichtslosigkeit bleiben. Ohne Bewer-
                                 Entwicklung hospizlich-palliativer Versorgungs-       bei der Hochzeit des Enkelkindes dabei sein, dem    tierte, haben wir uns als Team wie häufig bei ei-       tung, ohne Nachbessern-Wollen und Besser-
                                 angebote entstanden, die sich die Worte der           Lieblingsstar einmal ganz nahe kommen, einen        nem Kaffee im Seminarraum zusammengefun-                Wissen. Wir scheuen das Thema nicht. Die
                                 englischen Krankenschwester Cicely Saunders           besonderen Ort der eigenen Lebensgeschichte         den. Das ging damals noch, vor Corona.                  Menschen, die sich mit ihm melden, sind will-
                                 (1918–2005) zu eigen machen: „Es geht nicht           wiedersehen oder aber auch die letzten Kräfte       Wie wir das finden? „Die Welt wird kälter wer-          kommen. Wir kennen die Antwort nicht. Wir
                                 darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern          für den immer erträumten, aber nie verwirklich-     den“, sagte eine, das war genau genommen ich.            müssen sie auch nicht wissen. Wir dürfen ein
                                 den Tagen mehr Leben.“ Sterbende Menschen             ten Fallschirmsprung bündeln – all das hat der      „Wir machen einen Sekt auf“, sagte meine wun-           kleines Stück mit nach ihr suchen. Wir bleiben
                                 sollen ein gutes, nicht künstlich verlängertes        Wünschewagen bereits möglich gemacht.               derbare Kollegin Dunja. Wir waren und sind              innerlich die, die wir sind. Und alle anderen sol-
                                 Leben bis zuletzt haben, meinte die Begründerin                                                           immer ein wenig stolz darauf, dass wir den plu-         len das auch bleiben dürfen, mit ein wenig Un-
                                 der modernen Hospizbewegung und Palliativ-                                                                ralistischen Diskurs schätzen. Wir können ruhig         terstützung, wenn es geht, bei einer so drama-
                                 medizin damit. Dennoch findet das Sterben sehr               Es geht nicht darum,                         unterschiedlicher Meinung sein. Manchmal ge-            tischen Entscheidung. Und so tun wir es auch.
                                 oft abseits des gesellschaftlichen Lebens statt, in          dem Leben mehr Tage                          raten wir in Diskussionen, öfter lassen wir sie         Einmal kam ein Paar, der Mann hatte ganz
                                 Krankenhäusern und Heimen, teils recht ano-                                                               aus, weil wir unterschiedlicher Meinung sein            frisch eine schwere Krebsdiagnose. Er hatte
                                 nym. Umso wichtiger, darüber zu sprechen und                 zu geben, sondern                            können, ohne dass die Arbeit beeinträchtigt             das Krankenhaus wütend verlassen: Das wolle
                                 – mehr noch – den Tod und das Sterben in der                 den Tagen mehr Leben.                        wird. Dann ist eine Diskussion, die womöglich           er nicht mitmachen, die Abhängigkeit, das Lei-
                                 Öffentlichkeit sichtbarer zu machen.                                                                      trennend ausgeht, nicht nötig.                          den. Seine Freundin hielt ihm die Hand. Eine
                                 Der Arbeiter-Samariter-Bund Landesverband                                                                                                                         großartige mutige Liebesgeschichte. Und dann
                                 Schleswig-Holstein e.V. (ASB) hat sich diese Auf-     „Was kann man sich denn hier wünschen?“                                                                     fehlten allerdings noch Informationen: Würde
                                 gabe in zweifacher Mission zu eigen gemacht.          Sehr oft hören die Wunscherfüller*innen die-               Widerspricht die Aufmerksam-                     eine weitere Diagnostik die Entscheidungen be-
                                 Zum einen erfüllt er mit seinem Projekt Wün-          se Frage, wenn sie mit dem Wünschewagen in                 keit für diese Frage unserem An-                 einflussen? Welche Angebote hält das Gesund-
                                 schewagen todkranken Menschen letzte Wün-             der Öffentlichkeit stehen. Und sehr oft sehen sie                                                           heits- und Pflegesystem bereit? Gibt es noch
                                 sche, und dies zumeist mitten drin im prallen Le-     dann betretene Gesichter, wenn sie zu erzählen             liegen, das Leben bis zuletzt wert-              Wünsche oder wichtige Dinge zu erledigen? Wo
                                 ben. Zum anderen hat er zu Beginn dieses Jahres       anfangen. „Wir haben Frau M. an Bord, sie wird             zuschätzen und zu schützen?                      ist ein Medikament zu bekommen? Einige Zeit
                                 in Itzehoe das deutschlandweite erste ASB-Hos-        bald sterben und wollte hier noch einmal einen                                                              später kam seine Freundin noch einmal allein.
                                 piz eröffnet, das dank angeschlossenem Veran-         Kaffee trinken.“ Von „Ach, wie traurig“ bis „Nix                                                            Ihr Partner ist trotz vorhandenen Mittels ohne
                                 staltungsort in einer ehemaligen katholischen         wie weg“ reichen die Reaktionen. Doch nicht                                                                 Suizid, gut begleitet, verstorben. Jetzt ging es
                                 Kirche Kultur und Lebendigkeit dorthin bringen        wenige werden neugierig und fragen nach und         Diese hier war nötig. Es geht um unsere Arbeit,         noch einmal um den gemeinsamen Prozess und
                                 soll, wo der Tod Alltag ist.                          erfahren dann staunend, wie fröhlich und aus-       unsere Haltung, gewissermaßen um unser Mar-             um die Trauer, mit der sie nun allein war.
                                 Menschen mit äußerst begrenzter Lebenserwar-          gelassen die Stimmung bei den allermeisten          kenzeichen als Fachleute für diese Grenzlinie           Andere unserer Gesprächspartner*innen haben
                                 tung an ein Wunschziel ihrer Wahl zu bringen          Wunschfahrten ist; wie sehr das Leben gefeiert      zwischen Leben und Tod.                                 sich anders entschieden und oft wissen wir es
                                 – das ist die Aufgabe des ASB-Wünschewagens.          und in Erinnerungen geschwelgt wird. Und ja,        In den nächsten Monaten haben wir uns – dann            auch nicht. Ein kleines Puzzleteil in der Suchbe-
                                 Dank Spenden und des Engagements ehren-               wie viel leichter den Fahrgästen dann schließ-      unter Coronabedingungen häufig per Zoom –               wegung – wenn wir das sein können: super! •
                                 amtlicher Wunscherfüller*innen ist das An-            lich der Abschied vom Leben fällt.                  getroffen und diskutiert, unter den Hauptamt-
                                 gebot kostenlos. Circa 300 letzte Wünsche hat         „Frau M. ist wenige Tage nach ihrem Ausflug         lichen, mit dem Vorstand, mit etlichen Gruppen
                                 der Schleswig-Holsteiner Wünschewagen – Be-           friedlich und zufrieden eingeschlafen.“ Wenn        von Ehrenamtlichen, mit dem Team der am-                Das Wichtigste aus den Leitsätzen der hospiz-initi-
                                 standteil eines deutschlandweiten Netzwerks –         das Team des Wünschewagens wieder einmal            bulanten Ethikberatung: Was löst das Thema              ative kiel zur Frage des assistierten Suizids:
                                 in den gut sechs Jahren seines Bestehens erfüllt,     eine solche Nachricht erhält, von Hospiz-Mit-       in uns aus? Widerspricht die Aufmerksamkeit             • Die Sorge für gute Bedingungen zur
                                 die allermeisten von erstaunlich bescheidener         arbeitenden oder von Angehörigen, dann fühlt        für diese schwere Frage unserem Anliegen, das               Gestaltung des Lebensendes ist eine gesell-
Annette Peters                   Natur.                                                sich wieder alles gut und richtig an beim Projekt   Leben bis zuletzt wertzuschätzen und zu schüt-              schaftliche Aufgabe
ASB LV Schleswig-Holstein e.V.   Für viele Schleswig-Holsteiner*innen ist das          Wünschewagen. Es sagt JA zum Leben – aber           zen? Was bedeuten für uns Autonomie und Le-             • Sterbe- und Suizidwünsche sind zulässig
Kieler Straße 20a                Meer der Sehnsuchtsort schlechthin. Oft sind          eben auch zum Sterben. Beidem gleichberech-         bensqualität, wenn es – mit Blick auf die Men-          • Offen für Gespräche über Suizidwünsche              Regina Barthel
24143 Kiel                       es nur wenige Kilometer dorthin, für einen            tigt seinen Platz zu geben, lautet die Herausfor-   schen, die wir so gerne begleiten – kaum generell       • Beratung über Alternativen zum Suizid               Waitzstraße 17, 24105 Kiel
0431 70694 31                    schwerstkranken Menschen, in der letzten Pha-         derung. •                                           die materielle körperliche Selbstständigkeit            • Schutz vor Fremdbestimmung                          0431 22 03 35-0
a.peters@asb-sh.de               se seines Lebens angekommen, ist dies jedoch                                                              sein kann? Was brauchen wir, um Menschen                • Kein Angebot zur Beihilfe                           barthel@hospiz-initiative-kiel.de
www.asb-sh.de                    oftmals ein unüberwindbares Hindernis. Medi-                                                              mit diesem Anliegen wirklich zu akzeptieren?            • Begleitung bis zuletzt                              www.hospiz-initiative-kiel.de

16 | GESELLSCHAFT | TEILHABE & PFLEGE                                                                                                                                                                                                                                                        17
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