ORTHOPÄDIE TECHNIK - Cerebralparese - Orthopädie Technik
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ORTHOPÄDIE TECHNIK Cerebralparese Sonderausgabe 2022 Offizielles Fachorgan des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik Offizielles Fachorgan der ISPO Deutschland e. V.
m ittel Fach h H il f s and el/ Ver s o rg e r Beratung/Recht ww pie Wir sind DIE hera om .re hakind.c w in/T diz Me Stimme der Kinderreha Selbs thilfe Wenn Kinder und Jugendliche ein Hilfsmittel benötigen ist rehaKIND gefragt. rehaKIND – ein Netzwerk für alle! Mit aktuell 145 Mitgliedern vernetzen wir über alle Sparten hinweg Leistungserbringer und alle Akteure des Gesundheitsmarktes. Die Zusammenarbeit von Experten und Betroffenen auf Augenhöhe ist einzigartig und macht uns so erfolgreich. Wir sichern Versorgungsqualität! In unserem Netzwerk arbeiten alle Professionen gemeinsam an individuellen Versorgungslösungen, die dem Alltag und den Ressourcen des betroffenen Kindes entsprechen. Unsere politische Arbeit und Mitwirkung in Gremien schafft Öffentlichkeit und liefert Lösungen auf struktureller und fachlicher Ebene. Wir sind DIE Experten der Kinderreha! Reha- und OT-Techniker arbeiten bei rehaKIND mit Fachleuten aus Medizin und Therapie auf Augenhöhe. rehaKIND-Fortbildungen qualifizieren Versorgungsexperten. Unser anerkanntes Label rehaKIND-Fachberater ist Bestandteil von Kassenverträgen. Unsere Kongresse setzen Maßstäbe in der Branche und Medizin. rehaKIND e.V. | Lütgendortmunder Str. 153 | D - 44388 Dortmund Telefon +49 231 - 610 30 56 E-Mail: info@rehakind.com www.rehakind.com
Editorial Wenn die Ausnahme die Regel ist C erebralparese (CP) manifestiert sich im frühsten Kin- desalter. Eine „Kinderkrankheit“ ist die Bewegungs- störung dennoch nicht – oder besser gesagt nicht mehr. für die Weiterentwicklung des Hilfsmittelversorgungs- prozesses. Mehr dazu lesen Sie ab S. 8. Warum das wichtig ist, kann Hans Weißenborn aus Mittlerweile erreichen Mädchen und Jungen mit Cere- eigener Erfahrung bestätigen. Bei ihm wurde wenige bralparese in ca. 90 Prozent der Fälle das Erwachsenen- Monate nach der Geburt die Diagnose ICP gestellt. Mit alter. Haben sie geringe Störungen, gleicht ihre Lebens- 43 Jahren hat er die Grenze zum Erwachsenenalter längst erwartung der eines nicht Betroffenen. Die Gründe da- überschritten. Er lebt in seiner eigenen Wohnung, ist für liegen nicht zuletzt in den Fortschritten der Medizin. aber auf die Unterstützung einer Assistenz angewiesen. Das stellt Behandler:innen und Versorger:innen vor neue Im Gespräch mit der OT-Redaktion erklärt er (ab S. 12) die Herausforderungen, denn in jeder Lebensphase bringen Hintergründe und macht deutlich, dass eine gute Versor- die Patient:innen andere Bedürfnisse mit sich. Und: Sie gung von klein auf und ebenfalls jenseits des 18. Lebens- alle sind individuell. Symptome, die für viele gelten, gel- jahres von Bedeutung ist. ten noch lange nicht für alle. Und wer aus dem „typi- Neues aus der Branche, Wissen und Fakten, For- schen“ Raster fällt, ist kein Einzelfall. Bei Patient:innen schungsthemen und persönliche Geschichten – mit die- mit CP ist die Ausnahme die Regel. ser Sonderausgabe zeigen wir, das gesamte Verlagsteam, Prävention, frühzeitige Diagnosestellung und The- einmal mehr wofür wir stehen. Das wird auch auf der rapie: Das sind die Säulen der Versorgung – gestern wie OTWorld 2022 deutlich, wenn die Branche in Leipzig heute und morgen. Doch wie lässt sich Prävention er- zusammenkommt. Nach pandemiebedingter digitaler folgreich umsetzen? Welche Therapie ist die passende? Ausgabe in 2020 werden sich dann erneut „Welten ver- Welche Versorgung sichert den Patient:innen ein wei- binden“. Sie, liebe Leserinnen und Leser, arbeiten daran testgehend selbstständiges Leben? Antworten auf diese jeden Tag, indem Sie Patient:innen die bestmögliche Ver- und weitere Fragen gibt die OTWorld 2022 vom 10. bis sorgung und damit ein möglichst selbständiges Leben, 13. Mai in Leipzig – der international größte und wich- Mobilität und Teilhabe gewähren. Sie verbinden konven- tigste Treff der Branche. Mit der Versorgungswelt „Leben tionelle mit additiver Fertigung, Standardversorgungen mit CP“ zollt die Fachmesse der Behinderung besondere mit individuellen Lösungen und Sachverstand mit Herz- Aufmerksamkeit. Dabei tauchen die Besucher:innen in blut. Sie schaffen Freiheit, wo Barrieren unüberwindbar die verschiedenen Lebensphasen der Betroffenen ein – scheinen und bieten Lösungen für vermeintlich aus- vom Kleinkind bis zum Erwachsenenalter – und erfah- weglose Probleme. Sie verbinden Professionen, tauschen ren, welche Hilfsmittel und Therapiemöglichkeiten not- sich aus und bündeln Ihr Fachwissen. Immer im Blick: wendig oder sinnvoll sein können. Ein Instrument zur das gemeinsame Ziel, dem nur im Team begegnet werden Früherkennung stellt Dr. med. Daniel Herz, Oberarzt der kann. Vielleicht schafft diese Sonderausgabe Raum, um Klinik für Kinderorthopädie, Marienstift Arnstadt, nicht weitere Verbindungen einzugehen – zu Themen, die Sie nur in Leipzig, sondern auch in Kurzform in diesem Heft bewegen, Expert:innen, deren Fachwissen Sie schätzen (ab S. 10) vor. Die Wirbelsäulen-Ampel soll Ärzt:innen und Forschungsansätze, die zu neuen Ideen inspirieren. und Therapeut:innen dabei unterstützen, frühzeitig die passende Therapie zu beginnen und die Betroffenen zu geeigneten Fachärzt:innen weiterzuleiten. Vorsorge ist gut, Versorgung noch besser. Und hier sehen Eltern, Ärzt:innen, Therapeut:innen und Tech- niker:innen dringenden Handlungsbedarf – insbeson- Foto: Engelbrecht/BIV-OT dere in der pädiatrischen Versorgung. Vor diesem Hin- tergrund hat sich das „Aktionsbündnis für bedarfsge- rechte Hilfsmittelversorgung“ gegründet und Vorschläge zur Verbesserung der Hilfsmittelversorgung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung erarbeitet. Analoge Pia Engelbrecht, Probleme sehen die Aktiven ebenfalls bei erwachsenen Redakteurin Menschen. Auch hier fordert das Bündnis Regelungen Offizielles Fachorgan des Bundesinnungs- Offizielles Fachorgan der ISPO verbandes für Orthopädie-Technik Deutschland e. V. 3
Wir bauen das OT News- Angebot für Sie aus! 360-ot.de Der wöchentliche OT-Newsletter geht mit noch mehr brandaktuellen Themen und News rund um die Orthopädie-Technik für Sie in eine neue Runde. Als Newsletterabonnent profitieren Sie von exklusiven Fachartikel-Highlights, die wir Ihnen im monatlich Jetzt anmelden! erscheinenden Themennewsletter – jeweils passend zum aktuellen ODER UNTER: Thema – kostenlos bereitstellen.* www.360-ot.de/ * Jeweils bis zur Veröffentlichung newsletteranmeldung des nächsten Themennewsletters. Mittwoch ist OT-Newsletter- Illustration: pch.vector/Freepik Tag! IMPRESSUM Orthopädie Technik: Verleger: Offizielles Fachorgan des Bundesinnungs- Verlag Orthopädie-Technik verbandes für Orthopädie-Technik und Postfach 10 06 51, 44006 Dortmund des ISPO Deutschland e. V. Reinoldistraße 7-9, 44135 Dortmund Phone +49 231 55 70 50-50, Fax -70 ISSN 0340-5591 info@biv-ot.org, www.verlag-ot.de Herausgeber: Bundesinnungsverband Verlagsleitung: Susanne Böttcher, für Orthopädie-Technik Michael Blatt (Leitung Verlagsprogramm) Postfach 10 06 51, 44006 Dortmund Reinoldistraße 7-9, 44135 Dortmund Redaktion: Phone +49 231 70 50-0, Fax -40 Pia Engelbrecht (Leitung), Irene Mechsner, www.biv-ot.org Heiko Cordes, Jana Sudhoff Geschäftsführung: Georg Blome Gestaltung: Alle Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats finden Miriam Klobes, Lena Gremm, Sie unter: verlag-ot.de/fachzeitschrift/beirat Sandra Kaufmann Verlag Orthopädie.Technik CEREBRALPARESE 04/22
Inhalt 12 Editorial Kinder-Reha 3 Wenn die Ausnahme die Regel ist 14 Was können Unterschenkelorthesen zur Verbesserung des Gangbildes bei Kindern Leben mit CP mit Zerebralparese leisten? H. Böhm et al. 6 OTWorld: Eine Reise durch die Versorgungs- welt „Leben mit CP“ 22 Orthopädietechnische Hilfsmittel zur Unter- stützung nach operativen Korrektureingriffen 8 Cerebralparese – eine Erkrankung mit und wachstumslenkenden Maßnahmen tausend Gesichtern im Bereich der unteren Extremität 8 Aktionsbündnis macht sich stark für bedarfs- D. Schreiner, F. Paulitsch gerechte Hilfsmittelversorgung 10 Ampelsystem zur Früherkennung von Kinderorthopädie neurogenen Wirbelsäulendeformitäten 30 2D-Bewegungsanalyse in der Kinderversorgung 11 Mustervertrag Kinder-Reha bei S. D’Souza Krankenkassen vorgestellt 12 Mit Unterstützung den Alltag selbstständig gestalten – Interview mit Hans Weißenborn 34 Abstracts Exopulse Suit. Reduziert Spastiken, aktiviert die Muskeln. Für Menschen mit neuronalen Erkrankungen, wie z.B. Zerebralparese, Multipler Sklerose, Schlaganfall oder Rückenmarksverletzungen kann der Exopulse Suit zur Verbesserung der Mobilität, des Gleichgewichts, der Blutzirkulation und der damit verbundenen Schmerzen beitragen. Der Anzug ist eine nicht invasive, medikamenten- freie Lösung – Spastiken können mit Hilfe gezielter elektrischer Impulse reduziert werden. Ottobock. The human empowerment company. www.ottobock.de/exopulsesuit 220304_OBO_Anz_Exopulse_210x148_01_DRUCK.indd 1 04.03.22 17:11
Leben mit CP OTWorld: Eine Reise durch die Versorgungswelt „Leben mit CP“ C erebralparese stellt nicht nur die häufigste motorische Behinderung im Kindesalter dar, sondern ist auch eine mit vielen Gesichtern. So individuell der Verlauf ist, Fünf Lebensabschnitte – fünf Stationen Startpunkt in der Versorgungswelt „Leben mit CP“ ist das so patientenorientiert muss auch die Versorgung erfolgen. Kleinkindalter (0–6 Jahre). In dieser Zeit wird die Diagnose Grund genug, der Erkrankung und deren interdisziplinä- CP in der Regel gestellt. Sicher möglich ist das oft erst nach ren Versorgungskonzepten einen besonderen Stellenwert circa acht Monaten, wenn die Eltern motorische, aber auch auf der OTWorld 2022 beizumessen: Raum dafür bietet die kognitive und Verhaltensauffälligkeiten bemerken und die Versorgungswelt „Leben mit CP“. Die Schirmherrschaft ersten Spezialist:innen konsultieren. Je nach Einschrän- hat der Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik kungsgrad sind zu Beginn sehr kleine, hochindividuelle (BIV-OT) inne, Konzeptpartner ist Rehakind, Internatio- orthopädietechnische Versorgungen wichtig. Dazu gehö- nale Fördergemeinschaft Kinder- und Jugendrehabilitati- ren Fuß-, Sprunggelenk- und Beinorthesen, bewegliche La- on e. V. In der Versorgungswelt werden die Besucher:innen gerungsorthesen für Tag und Nacht sowie leichte, flexible mit auf eine Reise durch die verschiedenen Lebensphasen Hand- und Armorthesen sowie später orthopädische Ein- der Patient:innen und Schweregrade der Behinderung (ge- lagen und Maßschuhe. Analog zur Entwicklung eines ge- mäß „Gross Motor Function Classification System“, kurz sunden Kindes mit mehr Aktionsradius und dem Besuch GMFCS) genommen. Welche Hilfsmittel sind in welcher Le- einer Kita kommen Rehawagen, Sitzschalen, Therapie- bensphase relevant? Das erfährt, wer dem Parcours Schritt stühle, Steh- und Gehtrainer, Pflegebetten, Rollstühle, Bad- für Schritt durch die Versorgungswelt folgt. Das Spektrum und WC-Hilfen sowie Autositze hinzu. der unterstützenden Hilfsmittel von Orthesen über Thera- piestühle bis hin zu Rollstühlen wird anhand der jeweili- gen Eigenschaften und technischen Daten vorgestellt sowie Schulalter anhand der dem Einsatz zugrunde liegenden Indikationen. Anschließend folgt der Übergang zum Schulalter (6–12 Zudem stehen die Patient:innen mit ihren Bedarfen und die Jahre) und für die Besucher:innen damit der Schritt zur gemeinsam mit den Fachleuten formulierten Versorgungs- nächsten Station. Deutlich wird hier: Die individuelle, dem ziele im Fokus, sowohl auf Körperfunktionsebene als auch Wachstum angepasste Orthesen- und Schuhversorgung auf Aktivitäts- sowie Partizipationsebene. Die Auswahl der bleibt in dieser Zeit elementar und notwendig, besonders Hilfsmittel ist dabei angelehnt an die Hilfsmittelmatrix des unter dem Aspekt der Teilhabe und der Inklusion in Schu- Netzwerkes Cerebralparese e. V. le und Alltag. Von GMFCS-Level III (unterstütztes Sitzen, Transfer, unterstützte selbstständige Fortbewegung) bis V (Aktivrollis bis hin zu Schiebe- und Elektrorollstühlen) wer- den rehatechnische Hilfsmittel, zum Teil auch zweifach für die Schule, lebensnotwendig – und das in multiprofessio- neller Abstimmung mit Fachärzt:innen, Therapeut:innen, Orthopädie- und Rehatechniker:innen. Die Mitwirkung (Compliance) der Familien und betroffenen Kinder bei al- len Versorgungen ist Grundlage des Erfolgs. Alle Lebensbe- reiche von Familienalltag bis Freizeitgestaltung sowie alle Arten von Mobilität müssen mit Hilfsmitteln intelligent Foto: brockschmidtvisuals.de und „lebensnah“ unterstützt werden. Die „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) und die Hilfsmittelrichtlinie sprechen hier von alltagsrelevanten Versorgungszielen unter Berück- sichtigung von Aktivitäten, Teilhabe und Umfeldfaktoren. Die Versorgungswelt „Leben mit CP“ auf der OTWorld 2022 Pubertät ist so aufgebaut, dass die Besucher:innen Schritt für Schritt Weiter geht es zum nächsten Lebensabschnitt: der Puber- durch die verschiedenen Lebensphasen von CP-Patient:innen tät (12–18 Jahre). Diese Phase ist durch zahlreiche persön- geleitet werden. liche, psychologische, physiologische und soziale Um- 6 CEREBRALPARESE 04/22
Leben mit CP brüche gekennzeichnet und fordert selbst Familien mit „gesunden“ Kindern massiv: Jugendliche mit CP können kognitiv bereits in der Pubertät sein, körperlich jedoch noch nicht und umgekehrt. Umso herausfordernder und Foto: Rahm – Zentrum für Gesundheit Foto: Sana Kliniken Düsseldorf GmbH anspruchsvoller ist eine „akzeptierte“ Hilfsmittelversor- gung, die zur Teilhabe in Gruppen Gleichaltriger beiträgt. Gleichzeitig sind bei vielen Menschen mit CP bereits die ersten schweren Operationen aufgrund körperlicher Fol- geschäden an Füßen, Hüfte oder Wirbelsäule überstan- den. Die Erhaltung der Fortschritte und die Vermeidung von Verschlechterung sind der Hauptauftrag an Orthopä- die- und Reha-Technik. Wichtig sind komplexe Orthesen- lösungen, wie z. B. Korsetts für Tag und Nacht sowie erste elektronische Hilfen zur Kommunikation oder Assistenz, Thomas Becher (l.), Dipl.-Heilpädagoge und Facharzt für Kin- um selbstständige Mobilität zu Hause sowie in Schule und der- und Jugendmedizin, Sana-Klinik Düssseldorf-Gerresheim, Freizeit so gut es geht zu ermöglichen. Gleichzeitig müs- sowie Gunnar Kandel, Vertriebsleitung Pädiatrie, Rahm – Zen- sen das Stehen bzw. die Aufrichtung auch als Kreislauf- trum für Gesundheit, sind Referenten der „Interdisziplinären unterstützung trainiert werden. Die Grundsätze „Nicht Sprechstunde“ auf der OTWorld 2022. ohne uns über uns“, das heißt Bedarfsermittlung erfolgt gemeinsam mit den Nutzer:innen der Hilfsmittel, sowie „Hilfsmittel dürfen nicht (zusätzlich) behindern“ sind die sich: Ein gut versorgtes Kind wird ein möglichst selbststän- Basis jedes Klientengesprächs. diger und selbstbewusster Erwachsener. Dennoch wird das Leben ruhiger: Dekubitusprophylaxe bei Lagerung, Or- thesen und im Rollstuhl kennzeichnet diese Phase, eben- Übergang zum Erwachsenenalter so Pflegerollstühle, Assistenz und Umfeldkontrollsysteme. Nun steht der Übergang zum Erwachsenenalter (18–21 Durch muskuläre Schwächung oder orthopädische Proble- Jahre) an. In fast allen Lebensbereichen sind junge Men- me werden Kopfstützen notwendig, auch ein Kopfschutz- schen mit CP von jetzt an auf sich selbst gestellt: Die ver- helm bei Krampfanfällen und Epilepsie gehört dazu. Wer- traute Versorgung in Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) den die Atmung und der Kreislauf schwächer, müssen Lö- und bei lebenslang bekannten Ärzt:innen endet, vie- sungen für Mobilität gefunden werden, z. B. mit einem Be- le Dinge müssen alleinverantwortlich geregelt und be- atmungsgerät. antragt werden. Die Kostenträger sind deutlich weniger differenziert bei Hilfsmittelgenehmigungen. Als Reak- Vorträge, Führungen, tion auf diese Problematik und die dadurch häufige Ver- schlechterung des Gesamtzustandes der Betroffenen wer- Patientenvorstellungen den zunehmend Medizinische Zentren für Erwachsene Mit der fünften Station endet zunächst die Reise durch die mit Behinderung (MZEB) als Anlaufstellen gegründet. Lebensphasen von CP-Patient:innen und die interdiszipli- Spätestens ab diesem Alter ist auch chronischer Schmerz nären Versorgungskonzepte. Doch die Versorgungswelt durch Fehlstellungen ein Dauerthema. Viele junge Men- „Leben mit CP“ überzeugt mit weiteren Highlights: Vorträ- schen mit CP wollen oder können nicht mehr laufen, des- ge, moderierte Führungen und Patientenvorstellungen las- halb wird die Mobilitäts- und Sitzversorgung – im Zusam- sen verschiedene Zielgruppen erneut in die Thematik ein- menspiel mit Orthesen und Therapie – immer wichtiger. tauchen. Zahlreiche Angebote richten sich gezielt an Or- Dazu gehören Stehtraining und eventuell Therapieräder thopädie- und Rehatechniker:innen, andere sprechen Kos- sowie Elektrorollis mit Sondersteuerungen. Nur so kann tenträger an und nehmen insbesondere das Thema Präven- der selbstständige Alltag bewältigt werden. tion durch die Versorgung mit Hilfsmitteln in den Blick. Im Verlauf der OTWorld gewähren betroffene Patient:innen Einblicke in ihre persönlichen Erlebnisse mit CP. Im par- Erwachsenenalter allel stattfindenden Weltkongress findet die medizinische Der letzte Bereich in der Versorgungswelt widmet sich dem und wissenschaftliche Ergänzung zur Versorgungswelt Krankheitsbild und der Versorgung im Erwachsenenalter. statt. Dabei zeigen Protagonisten der beteiligten Fachrich- Menschen mit CP, vor allem wenn sie weniger stark betrof- tungen im Format der „Interdisziplinären Sprechstunde“ fen sind, haben eine annähernd normale Lebenserwar- die Vorteile der übergreifenden Versorgungsbereiche auf. tung. Spätestens im Erwachsenenalter rächen sich jedoch Die Jugend der Branche wird in Form einer speziell auf sie die Sünden von standardisierter, wenig individueller Hilfs- zugeschnittenen Führung mit dem Thema Cerebralparese mittelversorgung. Je länger diese Menschen bereits durch vertraut gemacht. präventive, vorausschauende, interdisziplinär abgestimm- Auf der OTWorld reichen sich alle Beteiligten die Hand, um te und alltagstaugliche Hilfsmittel ab dem Kleinkindalter den Versorgungsalltag und die -qualität mit jedem Tag ein in ihrer Entwicklung unterstützt werden, desto mehr zeigt Stück besser zu machen. 7 CEREBRALPARESE 04/22
Leben mit CP Cerebralparese – eine Erkrankung mit tausend Gesichtern Unter einer Cerebralparese versteht man eine Ge- mittelversorgung den Betroffenen Selbstständigkeit, hirnschädigung, die im frühen Kindesalter auftritt. Teilhabe und Mobilität. Sie kann vor, während oder kurz nach der Geburt Dank der Fortschritte in der medizinischen Versor- entstehen. Ursachen sind u. a. Sauerstoffmangel, gung ist auch die Lebenserwartung der Betroffenen ge- Unfälle, Infektionen und Hirnblutungen. Betrof- stiegen. Verbessert haben sich sowohl die Schwanger- fene können Mehrfachbehinderungen mit Störun- schafts- und geburtshilfliche Betreuung als auch die gen der gesamten Motorik, Wahrnehmung, Spra- Möglichkeiten der (intensiv-)medizinischen Behand- che, des Verhaltens und der kognitiven Funktionen lung der Neugeborenen. Dadurch können geburtsbe- sowie Epilepsie aufweisen. Am häufigsten sind Stö- dingte Komplikationen sowie angeborene Infektions- rungen der Motorik mit erhöhter Muskelspannung, krankheiten verringert werden. Deutlich mehr der sehr der Spastik, sowie mit abnormen Haltungs- und Be- früh geborenen Kinder mit niedrigem Geburtsgewicht wegungsmustern, die zur Einschränkung der Geh- überleben mit unterschiedlich schweren Einschrän- fähigkeit, der Handfunktion sowie des Sprechens kungen. Trotz der Fortschritte hat die Zahl der Betroffe- führen. nen in den vergangenen Jahrzehnten kaum abgenom- Nicht bei jedem Patienten und jeder Patientin lie- men. Cerebrale Bewegungsbehinderungen stellen mit gen die gleichen Symptome vor. Umso wichtiger sind 2 bis 2,8 auf 1.000 Geburten die häufigste motorische eine frühzeitige Diagnosestellung sowie ein indivi- Behinderung im Kindesalter dar. In Deutschland sind duelles Behandlungskonzept, das nur im Austausch etwa 2.000 Kinder pro Jahr neu betroffen. eines interdisziplinären Teams erfolgen kann. Die Anders als früher erreichen aber Kinder mit CP Schädigung des Gehirns kann zwar nicht therapiert heute in ca. 90 Prozent der Fälle das Erwachsenenalter. werden, jedoch ermöglichen eine Behandlung und Betroffene mit geringen Einschränkungen haben zu- Therapie sowie eine individuell abgestimmte Hilfs- dem eine nahezu „normale“ Lebenserwartung. Aktionsbündnis macht sich stark für bedarfsgerechte Hilfsmittelversorgung a V or dem Hintergrund der Petition „Stoppt die Blockade der Krankenkassen bei der Versorgung schwerbehin- derter Kinder/Erwachsener” an den Petitionsausschuss des • Er erfordert erhebliche Ressourcen bei den verordnen- den Ärzt:innen, den Medizinischen Diensten, den Sani- tätshäusern, den Krankenkassen und ggf. weiteren Leis- Bundestages hat sich 2021 das „Aktionsbündnis für be- tungsträgern. darfsgerechte Hilfsmittelversorgung“, bestehend aus pro- fessionellen und medizinischen Expert:innen, diversen Folgende Probleme können hinzu kommen: Berufsverbänden, Einzelpersonen und Selbsthilfevereinen • Begrenzung der Leistungserbringer, z. B. auf überregi- gegründet. Die Mitglieder haben den Hilfsmittelversor- onale Leistungserbringer durch vertragliche Vereinba- gungsprozess analysiert, strukturelle und wiederkehren- rungen mit den Krankenkassen, d. h. keine wohnort- de Probleme erkannt und Verbesserungsvorschläge formu- nahe Versorgung durch Techniker:innen, die die Kinder liert. Das Positionspapier bezieht sich auf die Versorgung schon länger kennen. mit Hilfsmitteln von Kindern und Jugendlichen mit Be- • Unzureichende Beachtung der Bestimmungen für die hinderungen. Analoge Probleme bestehen jedoch auch bei medizinische Rehabilitation nach dem SGB IX 1. Teil, erwachsenen Menschen mit Behinderungen. u. a. im Hinblick auf die Bedarfsermittlung, Teilhabepla- nung, Teilhabekonferenz, Fristen und Weiterleitung • Überlastung der Familien durch die Versorgung ihres Problemlage schwerkranken Kindes. Der komplexe Versorgungsprozess ist u. a. durch folgende • Der gesamte Hilfsmittelversorgungsprozess ist selbst für Probleme gekennzeichnet: Fachleute extrem komplex und kaum überschaubar. • Er dauert häufig zu lange, insbesondere durch lange Prüf- und Genehmigungsverfahren seitens der Kranken- Die Analyse des Hilfsmittelversorgungsprozesses bei kassen. schwer- oder mehrfachbehinderten Kindern und Jugend- • Er erfordert oft erhebliche bürokratische Aufwendungen lichen mit wichtigen Hilfsmitteln und die Berichte von der Eltern, um das Hilfsmittel überhaupt zu erhalten. Familien, Expert:innen und Institutionen zeigen, dass in • Er wird durch Leistungsentscheidungen seitens der vielen Fällen keine bedarfsgerechte Versorgung gewähr- Krankenkassen durch Gewährung nicht (hinreichend) leistet ist. Das bedeutet, dass Therapie- und Teilhabeziele geeigneter Hilfsmittel verzögert oder gar verhindert. nicht erreicht werden. Der lange Prozess von der Verord- s 8 CEREBRALPARESE 04/22
Leben mit CP nung bis zur Nutzung des Hilfsmittels kann die Entwick- • Einführung einer qualifizierten Verordnung für be- lung der Kinder erheblich beeinträchtigen – für die ge- stimmte Personengruppen und Hilfsmittelgruppen. samte Familie eine enorme zeitliche, organisatorische und • Verzicht auf eine Prüfung durch den Medizinischen psychische Belastung. Auch für Verordner, Assistenzkräfte Dienst (MD), wenn eine Bedarfsermittlung und eine und weitere Behandler:innen entstehen zusätzliche Belas- qualifizierte Verordnung durch eine spezialisierte er- tungen und Kosten. Dies gilt auch für die Krankenkassen. mächtigte Einrichtung, insbesondere Sozialpädiatrische Dieser Aufwand steht in keinem Verhältnis zu dem gerin- Zentren (SPZ), vorgelegt werden. gen Volumen der Versorgung von Kindern und Jugendli- • Verkürzung der Prüf- und Genehmigungszeiträume, chen mit Hilfsmitteln. auch durch Verpflichtung zur Kommunikation mit den Es ist deshalb dringend erforderlich, den Prozess der Verordnern. Hilfsmittelversorgung zu verbessern. Dazu sind systema- • Sicherstellung der fachlichen, spezifischen Qualifikati- tisch neue Wege zu gehen. Das Ziel muss sein, Therapie- on der Sachbearbeitung und des MD, hier insbesondere und Teilhabeziele für Kinder und Jugendliche entwick- Begutachtung durch einschlägige Fachärzt:innen. lungsgerecht zu erreichen, den Versorgungsprozess zu ver- • Die Versorgungsverträge der Kostenträger dürfen einer kürzen und nach Möglichkeit die ganzheitliche Hilfsmit- wohnortnahen Versorgung nicht entgegenstehen. telversorgung über einen längeren Zeitraum planbar zu • Transparenz des Versorgungsprozesses sowie zum Leis- machen. Für alle Beteiligten sind unnötige Belastungen zu tungsgeschehen insgesamt. vermeiden und gesetzliche Ansprüche zu erfüllen. Analoge Regelungen für die Versorgung nach Abschluss Optionen für die Weiterentwicklung des 18. Lebensjahres und für vergleichbar betroffene Er- wachsene (z. B. bei Betreuung in Medizinischen Zentren des Versorgungsprozesses für Erwachsene mit Behinderung oder Spezialambulan- • Es bedarf einer klaren Regelung für die frühzeitige Be- zen) sind erforderlich. Berufs- und Fachverbände werden darfsermittlung i. S. des SGB IX: Diese ist der ärztlichen in Vorschläge für Qualifizierungsmaßnahmen aller an der Verordnung und den Entscheidungen der Krankenkasse Hilfsmittelversorgung Beteiligten eingebunden. zugrunde zu legen. Hilfreich könnten ein Erhebungsfor- mular, analog Muster 61, und eine Verankerung in der Hilfsmittelrichtlinie sein. Aktionsbündnis für bedarfsgerechte Hilfsmittelversorgung activity chair. Einfach bewegend. neu Hi/Lo Untergestell kg max. 113 schuchmann.de 9 CEREBRALPARESE 04/22
Leben mit CP Ampelsystem zur Früherkennung von neurogenen Wirbelsäulendeformitäten W irbelsäulendeformitäten – insbesondere Skoliose – sind bei Patient:innen mit Cerebralparese keine Sel- tenheit. Dennoch steht der Bereich nur bedingt im Fokus deutig nachweisbar ist eine Abhängigkeit des Skolioserisi- kos vom Schweregrad der motorischen Beeinträchtigung ähnlich der Hüftluxation: Während Skoliosen bei GMFCS- der ärztlichen Aufmerksamkeit – mit teils schwerwiegen- Level 1 (Gross Motor Function Classification System) und den und vielfältigen Folgen, die zu einer erheblichen Be- 2 eher selten sind, liegt die Inzidenz bei Patient:innen mit einträchtigung der Lebensqualität führen können. Aus GMFCS-Level 4 und 5 über 70 Prozent [1]. diesem Grund haben die Mitglieder der Modulgruppe Neu- roorthopädie des Netzwerks Cerebralparese e. V. in Zusam- Standardisierte klinische Untersuchung menarbeit mit dem Arbeitskreis „Kindliche Wirbelsäule“ der Vereinigung für Kinderorthopädie (VKO) ein Instru- bei jeder ärztlichen Routinekontrolle ment zur Früherkennung entwickelt: die Wirbelsäulen- Die Wirbelsäulen-Ampel soll eine rechtzeitige Erkennung Ampel. In diesem Gastbeitrag erläutert Dr. med. Daniel von Wirbelsäulendeformitäten bei Kindern und Jugend- Herz, Oberarzt der Klinik für Kinderorthopädie, Marien- lichen, die durch eine neuromuskuläre Erkrankung beson- stift Arnstadt, die Hintergründe. ders gefährdet sind, gewährleisten und richtet sich primär Die Angaben zur Inzidenz von neurogenen Wirbelsäu- an Kinderärzt:innen und Therapeut:innen. Sie soll helfen, lendeformitäten schwanken in der Literatur erheblich und die zu detektieren, die eine zeitnahe fachorthopädische sind abhängig von Alter, Risikoprofil und Definition. Ein- Vorstellung unbedingt benötigen. Zudem soll das einfach und schnell anzuwendende Instrument gewährleisten, dass eine standardisierte klinische Untersuchung der Wir- belsäule bei jeder ärztlichen Routinekontrolle vorgenom- men wird und bei klinischer Auffälligkeit frühzeitig die Weiterleitung zum Orthopäden, im Idealfall zum Kinder- oder Wirbelsäulenorthopäden, erfolgt. Zuordnung erfolgt nach zwei Parametern Die Wirbelsäulen-Ampel basiert auf der Zuordnung der Patient:innen zu einem funktionellen Schweregrad nach der GMFCS-Klassifikation sowie einer einfachen klini- schen Untersuchung. Sie kann ab dem 4. Lebensjahr ange- wandt werden. Aufgrund dieser beiden Parameter ist eine Zuordnung zu den Ampelfarben möglich. Dabei bedeutet: • Rot: Es bestehen klinische Auffälligkeiten im Bereich der Wirbelsäule und/oder das Risiko ist per se durch Vorlie- gen eines GMFCS-Level von 4 oder 5 stark erhöht. Hier ist eine Vorstellung beim Kinder-, Neuro- oder Wirbelsäu- lenorthopäden zeitnah geboten. • Gelb: Es liegen keine klinischen Zeichen für eine Skolio- se vor, aber durch das erhöhte Risiko bei GMFCS-Level 3 sollte eine klinische Kontrolluntersuchung durch das be- treuende Behandlungsteam zwei Mal pro Jahr erfolgen. • Grün: Es liegen keine Risikofaktoren für die Entwick- lung einer Wirbelsäulendeformität vor. Eine klinische Kontrolluntersuchung durch das betreuende Behand- lungsteam sollte einmal pro Jahr erfolgen. Foto: Netzwerk Cerebralparese e. V. Neufassung seit 2019 nach Evaluation Nach umfangreicher Evaluation im Jahr 2018 unter Betei- ligung von 29 Zentren ist die Wirbelsäulen-Ampel durch die Modulgruppe Neuroorthopädie des Netzwerk Cerebral- parese e. V. einer kompletten Überarbeitung unterzogen worden und in einer Neufassung im Februar 2019 auf dem Die Wirbelsäulen-Ampel kann ab dem 4. Lebensjahr Kongress „Focus CP Rehakind“ in Fürstenfeldbruck vorge- angewandt werden. stellt worden. 10 CEREBRALPARESE 04/22
Leben mit CP Neben der Hüftampel hat sich die Wirbelsäulen-Am- pel als Screeninginstrument etabliert und ist mittlerwei- Literatur: le fester Bestandteil einer strukturierten Versorgung von [1] Willoughby KL, Ang SG, Thomason P, Rutz E, Shore Patient:innen mit Cerebralparese im Sozialpädiatrischen B, Buckland AJ, Johnson MB, Graham HK. Epidemiology Zentrum (SPZ) [2]. of scoliosis in cerebral palsy: A population-based study at Dr. med. Daniel Herz skeletal maturity. Journal of Paediatrics and Child Health, 2022; 58 (2): 295-301. doi: 10.1111/jpc.15707 Inhalte dieses Beitrags sind in ähnlicher Form bereits in der [2] Mall V et al. Qualitätssicherung bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Cerebralparese im SPZ. Ein Fachzeitschrift „Kinder- und Jugendarzt“ 12/2016 & 01/2017, Qualitätspapier der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädia- Hansisches Verlagskontor GmbH, Lübeck, unter dem Titel trie und Jugendmedizin in Kooperation mit der Vereinigung „Die Wirbelsäulen-Ampel – ein Instrument zur Früherken- für Kinderorthopädie und der Gesellschaft für Neuropädia- trie. Kinderärztliche Praxis, 2020; 91 (2): 136-141 nung von Wirbelsäulendeformitäten bei Cerebralparese (CP)“ erschienen. Mustervertrag Kinder-Reha bei Krankenkassen vorgestellt D er Kinder-Reha-Mustervertrag der Internationalen För- dergemeinschaft Kinder- und Jugendrehabilitation Re- hakind e. V. definiert transparent die Bedarfe und Anforde- Erprobung und zu ICF-Kontexten (International Classifica- tion of Functioning, Disability and Health) und viele De- tails ausführlich festgeschrieben, um den Patient:innen rungen bei der Versorgung von Kindern und Jugendlichen und Familien, den Therapeut:innen, aber auch den Kosten- mit Behinderungen in den relevanten Produktgruppen. trägern eine schnelle patientenzentrierte Versorgung der Hierzu hatte der Verein bereits vor der Coronapandemie jungen Menschen zu ermöglichen. einen Austausch mit rund 35 Kostenträgervertreter:innen. Inzwischen ist erstmalig gemeinsam mit allen Leistungs- Christiana Hennemann, Rehakind e. V. erbringergemeinschaften (Bundesinnungsverband für Or- thopädie-Technik, Rehavital, Sanitätshaus Aktuell, Reha- Service-Ring, EGROH) ein konsentierter Gesamtentwurf erstellt worden. Anzeige Dieser wurde bereits von den Aktiven bei der AOK Bay- ern, der IKK Classic und der Barmer persönlich vorgestellt, die KKH signalisierte in einem Video-Meeting sehr positi- ves Interesse und mit der AOK Rheinland/Hamburg waren im März 2022 Gespräche terminiert. Ergebnisse daraus flos- sen in verschiedene Verhandlungen ein. Für den Frühsom- mer 2022 stehen weitere „große“ Krankenkassen auf dem Programm, denn eine Standardisierung der Vertragsland- schaft in diesem Bereich würde alle Beteiligten entlasten. Definierte Qualitätsstandards erleichtern Beantragungsprozedere Ziel des Mustervertrages ist es, einen sehr komplexen und für die jungen Patient:innen „überlebenswichtigen“ Be- reich zu strukturieren und zu vereinheitlichen. Die fachli- che Bearbeitung von Hilfsmittelanträgen bedeutet auch für die Krankenkassen einen hohen zeitlichen und finanziellen Aufwand. Das notwendige Spezialwissen kann nicht voraus- gesetzt werden, um multidisziplinär erstellte Versorgungs- konzepte zu überprüfen und nachzuvollziehen. Hier kön- nen definierte Qualitätsstandards das Beantragungs- und Genehmigungsprozedere im Sinne der frühzeitigen Förde- rung von behinderten Kindern und Jugendlichen erheblich erleichtern. Wichtig ist für Rehakind die produktgruppen- übergreifende Festlegung einer Altersgrenze von 18 Jahren. Im Mustervertrag werden Versorgungsvoraussetzungen, besondere personelle Qualifikationen der Leistungserbrin- ger, transparente Dokumentation und Auswertungsmög- lichkeiten, produktgruppenabhängige Spezifikationen zur 11 CEREBRALPARESE 04/22
Leben mit CP Mit Unterstützung den Alltag selbstständig gestalten Infantile Cerebralparese (ICP) – die Diagnose war früh gestellt. Was die Behinderung tatsächlich bedeutet, wurde Hans Weißenborn aber erst im jungen Erwach- senenalter bewusst. Heute kommt der 43-Jährige damit gut zurecht. Hilfsmittel und eine persönliche Teilassis- Ist Hans Weißenborn tenz unterstützen ihn im Alltag und gleichen körperliche unterwegs, nutzt er und geistige Defizite so gut es geht aus. Im Gespräch einen Blindenlang- Foto: Weißenborn mit der OT-Redaktion gibt Weißenborn einen Einblick stock oder – je nach in seine Behinderung und verrät, was er sich für die Zu- Tagesform – einen kunft wünscht. Rollator oder Unter- armgehstützen. OT: Wann wurde die Diagnose gestellt? Hans Weißenborn: Bei mir wurde die ICP wenige Monate terschiedlich. Dementsprechend sind auch die Fähigkei- nach der Geburt festgestellt. Es gab Komplikationen. Meine ten sehr unterschiedlich. Man muss – auch als Angehöriger Mutter hatte, als sie im achten Monat schwanger war, eine – aufpassen, dass man die Betroffenen nicht zu sehr unter schwere Lungenentzündung und deswegen eine Frühge- Druck setzt, aber gleichzeitig auch nicht zu schnell aufgibt. burt. Oder die Ärzte haben sich nicht richtig herangetraut Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die meisten wissen, und mich zu spät geholt. Man weiß es nicht genau. Ich den- was sie können und was nicht. ke, das war für meine Mutter sehr belastend – ist es bis heute. OT: Welche Hilfsmittel und Therapien nehmen Sie OT: Wie äußert sich die ICP bei Ihnen? in Anspruch? Weißenborn: Es ist sehr vielseitig. Ich habe eine Tetraspas- Weißenborn: Ich habe früh Vojta-Gymnastik bekommen, tik, eine hochgradige Sehbehinderung und leichte kogni- was damals noch nicht selbstverständlich war. Mit Vojta tive Probleme, also Teilleistungsschwächen. Ich habe auch habe ich laufen gelernt. Ich sitze heute nicht im Rollstuhl – Probleme mit dem Tastsinn. Ich kann nicht mit der Hand Gott sei Dank nicht. Mit meinen zusätzlichen Erkrankun- schreiben, das könnte keiner lesen (lacht). Ich kann mich gen durch die ICP (Sehbehinderung) würde ich dann eine zwar mündlich wunderbar ausdrücken, schwer fällt mir ständige Assistenz benötigen. Wenn ich zu Fuß unterwegs aber die Rechtschreibung, wenn Wörter nicht lauttreu sind. bin, habe ich einen Blindenlangstock oder je nach Tages- Ich habe eine gute Handlungsplanung, aber bei der Umset- form benutze ich manchmal einen Rollator oder Unter- zung bleibe ich oft hängen oder werfe Schritte durcheinan- armgehstützen. der. Um ein Bespiel zu nennen: Ich war mal ambulant in ei- ner Reha-Klinik und sollte ein einfaches Gericht kochen. Ich OT: Haben Sie Unterstützung im Alltag? habe dem Ergotherapeuten alles super erklärt. Aber als es um die Ausführung ging, war es ein totales Chaos. Man darf aber Weißenborn: Ja, ich wohne in meiner eigenen Wohnung, nicht vergessen: ICP ist eine Behinderung mit vielen Gesich- habe aber eine persönliche Teilassistenz, die um die zwölf tern. Das ist in der Öffentlichkeit nicht genug bekannt. Stunden pro Tag da ist oder auch länger. Das ist tagesform- abhängig. Sie hilft bei der Grundpflege, beim Haushalt, OT: Was heißt das genau? Einkaufen und bei Außenterminen. Man darf mich nicht vergleichen mit jemandem, der „nur“ sehbehindert ist. Der Weißenborn: Oft haben Menschen entweder ein sehr ne- hat eine viel bessere Körperwahrnehmung und auch nicht gatives Bild von Menschen mit ICP, so nach dem Motto: die Wahrnehmungsstörungen, die ich zusätzlich habe. Es Die können gar nichts. Die haben alle eine geistige Behin- kann mir passieren, dass ich, wenn ich mich wasche, an derung. Was es auch gibt, aber eben nicht auf alle zutrifft. einer Stelle bleibe. Da muss man mich dann drauf hinwei- Oder es heißt: Wir kennen auch jemanden mit ICP, der stu- sen (lacht). Wenn etwas nicht so gelingt, und daran arbeite diert dieses oder jenes oder der ist Rechtsanwalt. Also wenn ich auch, neigt man schnell dazu, sich zu viel von der As- der das schafft, dann schafft das meine Tochter auch. Das sistenz abnehmen zu lassen. Aber das ist gar nicht gut. Weil ist Quatsch. Die Schädigung ist bei jedem Menschen un- man so Dinge wieder verlernen kann. 12 CEREBRALPARESE 04/22
Leben mit CP OT: Fühlen Sie sich gut versorgt? rüber gemacht, wie es nach der Schule weitergeht. Und diese Zukunftssorgen haben sich im Nachhinein teilweise Weißenborn: Teils, teils. Man muss gucken in welche Pra- auch bestätigt. Ich habe den Einstieg ins Berufsleben und xen man reinkommt. Als komplexer ICP-Fall wird einem in ein selbstständiges Leben nur bedingt geschafft. Auch nicht gerade die Tür geöffnet. Sehr viel läuft über „Vitamin teilweise aufgrund von Barrieren, die durch Behörden und B“, man ist auf private Kontakte angewiesen. Mit Herstel- Einrichtungen gelegt wurden. Bei mir wurde damals eine lern von Hilfsmitteln habe ich sehr gute Erfahrungen ge- schwere Depression diagnostiziert. Heute geht es mir aber macht. Zum Beispiel habe ich über einen Hersteller privat ganz gut. Ich habe – auch durch Psychotherapie – gelernt, einen Rollator gekauft. Was viele nicht wissen: Man be- mit der Behinderung besser umzugehen. Aber das ist ein kommt von den Kassen nur einen Festzuschuss für einen laufender, ein lebenslanger Prozess. günstigen Rollator. Und der ist auf Dauer einfach nichts. Der Hersteller wusste, dass ich nicht so viel Geld habe und OT: Was wünschen Sie sich für die Zukunft? hat mir ein Messegerät verkauft, das deutlich günstiger war als ein neues. Da muss ich mich bei der Firma bedanken. Weißenborn: Mein Wunsch ist, dass es flächendeckend Das ist nicht selbstverständlich. Was die Krankenkassen ICP-Ambulanzen gibt, gerade für Ältere. Viele behandeln angeht, habe ich unterschiedliche Erfahrungen gemacht. nur Patienten bis 18 Jahre. Ich wünsche mir, dass Menschen Es kommt immer darauf an, mit welcher man zu tun hat mit ICP in sinnvolle Beschäftigung kommen und nicht nur und was man erstreiten will. Meist kann man mit denen in Behindertenwerkstätten unterkommen. Es sollte mehr gut reden. Aber oft muss man auch kämpfen und das ist er- Rücksicht auf die Individualität der Personen genommen müdend. Ich habe auch schon die Erfahrung gemacht, dass werden. Ja, für manche ist eine Werkstatt eine Chance und Hilfsmittel, die notwendig sind, verwehrt oder zu spät ge- Fördermöglichkeit. Aber eben nicht für jeden und nicht nehmigt wurden. jede Werkstatt ist gleich gut. Ich will keine Beschäftigungs- therapie machen, sondern daran wachsen und mich wei- OT: Wie geht es Ihnen aktuell mit der Behinderung? terentwickeln. Für Rollstuhlfahrer wünsche ich mir, dass sie frei reisen können. Züge und Bahnhöfe sind oft nicht Weißenborn: Mit 16, 17 Jahren wurde mir klar, was die barrierefrei. Das sollte gesetzlich garantiert werden. Behinderung eigentlich bedeutet. Da bin ich zum ersten Mal in ein tiefes Loch gefallen, habe mir viele Sorgen da- Die Fragen stellte Pia Engelbrecht. Die Fachmesse für mehr Lebensqualität 23.- 25. Juni 2022 NEU! Veranstalter: rehab-karlsruhe.com 13 CEREBRALPARESE 04/22
Kinder-Reha H. Böhm, L. Döderlein, D. Lewens, C. U. Dussa Was können Unterschenkel- orthesen zur Verbesserung des Gangbildes bei Kindern mit Zerebralparese leisten? How Can Ankle-Foot Orthoses Improve the Gait Pattern in Children with Cerebral Palsy? Unterschenkelorthesen sind bei Kin- of affected children is quite variable den Bereich der willkürlichen Mo- dern mit Zerebralparese die am häu- and is determined by the interaction torik und der Gehfähigkeit in unter- figsten verordneten Orthesen. Das of spasticity, muscle contractures, schiedlichem Ausmaß ein [2]. Somit Gangbild der betroffenen Kinder weakness, compensation mecha- sind betroffene Kinder und Jugend- ist sehr variabel und wird durch das nisms and changes in bones due to liche mit ICP in ihren Alltagsaktivi- Zusammenspiel von Spastik, Mus- growth. These underlying patholo- täten, ihrer Teilhabe und im sozialen kelverkürzungen, Schwäche, Kom- gies must be taken into considera- Leben mehr oder wenige stark limi- pensationsmechanismen und An- tion with respect to the alignment tiert [3]. Funktionsorthesen werden passungen des Skeletts durch das and mode of action of the orthosis. bei Personen mit ICP eingesetzt, um Wachstum bestimmt. Die zugrunde- This article explains the biomechan- deren Körperhaltung und -funktion liegenden Gangpathologien müssen ics of three common gait problems und somit die Aktivität im Alltag zu bezüglich Aufbau und Wirkweise in cerebral palsy – crouch, equinus verbessern. Bei Kindern mit ICP sind der Orthese berücksichtigt werden. and foot drop – and presents the Unterschenkelorthesen mit 51 % die In diesem Beitrag wird die Biome- appropriate orthosis for each condi- am häufigsten verordneten Orthesen- chanik von drei häufigen Gangstö- tion. To achieve the optimal effect typen [4]. Therapieziele sind hierbei rungen bei Zerebralparese – Kauer- of an ankle-foot orthosis on gait, for die Verbesserung der Funktion (19 %), gang, Spitzfußgang und Fallfuß – crouch gait, it must be noted that the des Bewegungsausmaßes (22 %) oder erläutert und die jeweils indizierte increased knee flexion results primar- beides (59 %). Prinzipiell sollte bei ei- Orthesenversorgung vorgestellt. Um ily from the foot and calf muscles, ner Verordnung das Therapieziel der eine optimale Wirkung von Unter- not from contractures or weakness of Orthesen in Bezug auf die individu- schenkelorthesen auf das Gangbild the proximal joints. In equinus gait, elle Gangpathologie formuliert wer- zu erhalten, ist beim Kauergang da- consistently wearing the orthosis den [5]. Die häufigsten Gangstörungs- rauf zu achten, dass die Ursache der can also lead to improvement when muster, die durch Unterschenkelor- Kniebeugestellung hauptsächlich walking without the orthosis. For thesen positiv beeinflusst werden kön- aus dem Fuß und der Wadenmus- drop foot, the effect of the orthosis nen, sind Kauergang, Spitzfußgang kulatur resultiert, nicht aus Kon- stiffness on the proximal joints must und Fallfuß (Abb. 1). Davon stellt der trakturen und/oder einer Schwäche also be taken into consideration. Kauergang die häufigste Gangstörung der proximalen Gelenkkette. Beim dar, die bei 72 % der bilateralen Pati- Spitzfußgang kann mit einer konse- Key words: ankle-foot orthosis, cerebral enten anzutreffen ist [6]. Bei Patien- quenten Tragezeit auch eine Verbes- palsy, ICP, gait analysis, gait pathology, ten mit unilateraler Pathologie ist der serung beim Gehen ohne Orthesen crouch gait, equinus, foot drop Kauergang mit 37 % zwar seltener, da- erreicht werden. Beim Fallfuß ist die für besteht aber häufiger, nämlich bei Steifigkeit der Orthese in ihrer Wir- 64 % der Patienten, ein Fallfuß beim kung auf die proximalen Gelenke zu Einleitung Gehen [7]. Diese drei beschriebenen berücksichtigen. Die Infantile Zerebralparese („infan- Gangstörungen können einzeln, aber tile cerebral palsy“, ICP) ist eine Be- auch in Kombination auftreten. Schlüsselwörter: Unterschenkelorthese, wegungsstörung aufgrund einer früh- Im ersten Abschnitt des Artikels Zerebralparese, ICP, Ganganalyse, kindlichen Hirnschädigung, die mit werden die klinische Relevanz, die Bio- Gangpathologie, Kauergang, Spitz- einer Gesamtprävalenz von 2–3/1.000 mechanik und die zugrundeliegenden fußgang, Fallfuß Lebendgeburten [1] auftritt. Die da- Ursachen der drei genannten Gangstö- durch hervorgerufene Behinderung rungen (Kauergang, Spitzfußgang Ankle-foot orthoses are the most ist charakterisiert durch primäre Stö- und Fallfuß) erläutert. Im zweiten Ab- frequently used type of orthosis in rungen des Nervensystems und se- schnitt wird die Wirkung der entspre- children with cerebral palsy. The gait kundär der Muskulatur; sie schränkt chenden Orthesen für die Änderung 14 Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 01/20, S. 20
Kinder-Reha lität im Mittelfuß vorliegt oder wenn a. b. c. der Fuß relativ zur Gangrichtung bzw. zur Knieachse stark nach innen oder außen verdreht ist. Spitzfußgang Beim Spitzfußgang liegt eine dau- erhafte Plantarflexion des Sprung- gelenkes in der Standphase vor. Auf- grund der betonten Vorfußbelastung wird dieses Gangbild auch als „Ze- hengang“ bezeichnet. Dieser Begriff ist allerdings irreführend, da betrof- Abb. 1 Die drei häufigsten Gangstörungsmuster bei Zerebralparese: (a) Kauer- fene Patienten zwar mit dem Vorfuß gang, (b) Spitzfußgang, (c) Fallfuß. auftreten, aber die Zehen dabei flach auf dem Boden liegen. Außerdem kann die Ferse durchaus belastet wer- der Gangstörung anhand der Literatur Vor allem die Hackenfüßigkeit ist ei- den, wenn das Knie überstreckt wird. und eigener Daten vorgestellt, und es ner Korrektur durch Unterschenkel- Diese Knieüberstreckung ist aber wird auf die individuelle Indikations- orthesen zugänglich. Die Hacken- beim Gehen eher selten zu beobach- stellung eingegangen. fußstellung in der Standphase wird ten und fällt vor allem beim Stehen vor allem durch eine Wadenmuskel- auf (Abb. 3). Die Abbildung verdeut- schwäche verursacht. Diese kann pri- licht zudem, dass Patienten mit Spitz- Kauergang mär bestehen oder iatrogen nach un- fuß Probleme haben, aufrecht zu ste- Der Kauergang wird charakterisiert nötiger oder übermäßiger Achilles- hen. Zudem verringert sich durch die durch das Gehen mit gebeugten Hüft- sehnenverlängerung auftreten [8]. In verkleinerte Unterstützungsfläche und Kniegelenken [8], exemplarisch der Mitte der Standphase kann wegen die Stabilität. Durch die betonte Vor- dargestellt in Abbildung 1a. Dieses der Insuffizienz der Wade die Unter- fußbelastung beim Gehen kommt Gangmuster führt zu einem höheren schenkelvorneigung nicht kontrol- es sekundär zu einer übermäßigen Energieverbrauch und geht mit einer liert werden, und so entsteht ein Kau- Biegebelastung des Mittelfußes [11]. vermehrten Belastung der Kniege- ergang. Mechanisch wandert somit Gibt der Fuß dann in der Sagittal- lenke einher [9]. Ein Kauergang bei der Kraftvektor hinter die Knieachse ebene nach, spricht man von seinem ICP kann vielfältige Ursachen haben, und verliert seine kniestreckende Wir- „Durchbrechen“ [12]. Gleicherma- die meist in Kombinationen auftre- kung. Die Positionen der Kraftvekto- ßen kann auch der o. g. Kauergang ten; von distal nach proximal: ren beim normalen Gangablauf und zu einer überwiegenden Vorfußbe- beim Kauergang sind in Abbildung 2a lastung beim Gehen führen. Zur Ver- – am Fuß eine Hackenfüßigkeit, und b illustriert. Dieser Mechanis- deutlichung kann ein Selbstversuch – am Kniegelenk eine Knieflexions- mus wird im Englischen als „plantar helfen: Geht man aus dem Stand tief kontraktur und/oder eine Verkür- flexion knee extension coupling“ be- in die Hocke, verlieren i. d. R. die zung der Kniebeuger, eine Schwäche zeichnet [10]. Eine ursächlich fußbe- Fersen den Kontakt zum Boden. Des- und Überlänge der Kniestrecker und dingte Pathogenese des Kauergangs halb kann man bei einem Vorfußkon- – am Hüftgelenk eine Flexionskontrak- besteht auch dann, wenn eine extre- takt beim Gehen nicht generell auf ei- tur [8]. me Spitzfußstellung oder eine Instabi- nen Spitzfußgang schließen, sondern Abb. 2 a. b. Abb. 3 Abb. 2 Position der Kraftvek- toren beim normalen Gangab- lauf (a) und beim Kauergang (b). Abb. 3 Patientin mit Spitzfuß beidseits mit Problemen beim aufrechten Stehen. Im linken Bein wird hierzu das Knie über- streckt und im rechten Bein ge- beugt gehalten. 15 Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 01/20, S. 21
Kinder-Reha man sollte bei den Überlegungen im- manuell bestimmten Schwäche der kniestreckend wirkt. Der Korrektur- mer auch die Stellung des Kniegelen- Fußhebemuskulatur ist es daher wich- effekt der Orthesen kann u. U. bei kes mitberücksichtigen. tig, neben dem Schuhverschleiß auch ICP-Patienten durchaus begrenzt die Fußhebung in der Schwungphase sein, da Spastizität, Kontrakturen so- des Ganges zu beurteilen. Bei redu- wie die Schwäche der proximalen Ge- Fallfuß beim Gehen zierter Selektivität der Fußhebemus- lenkkette hinzukommen [15, 16]. In Beim Fallfußgang ist die Fußhebung kulatur kann es durchaus vorkom- der Literatur wurde die Wirkung knie- in der Schwungphase reduziert oder men, dass die manuelle Fußhebung streckender Orthesen in vier Studi- fehlt. Dies führt beim nachfolgenden im Sitzen nur oder besser in gleichzei- en an unterschiedlich schwer betrof- Fußaufsatz oft zu einem Vorfuß- an- tiger Hüft- und Kniebeugung ausge- fenen Patienten mit ICP untersucht stelle eines normalen Fersenerstkon- führt werden kann; dieses Phänomen [15–18]. Bei der Zusammenschau fällt taktes. Durch die reduzierte Boden- wird als „confusion test“ bezeichnet auf, dass die Aufrichtung im Kniege- freiheit in der Schwungphase erhöht [14]. Trotz der differenzierenden kli- lenk bei schlechteren Gehern mit ge- sich die Stolpergefahr. Bei einseitig nischen Testung mit dem „confu- ringerer Gehgeschwindigkeit besser betroffenen Patienten können kom- sion test“ lässt sich die tatsächliche wirkt. Nach der Datenlage kann bei ei- pensatorische Ausgleichsbewegun- Fußhebung beim Gehen bei ICP da- nem Patienten mit GMFCS III im Mit- gen der Gegenseite zu Überbelastun- mit nicht vorhersagen [14]. Es konnte tel eine um 17° verbesserte Kniestre- gen führen. Die erschwerte Fußhe- auch gezeigt werden, dass sich beim ckung erwartet werden, bei besseren bung lässt sich oft am Verschleiß der Rennen gegenüber dem Gehen die Gehern mit GMFCS II sind es im Mit- Schuhspitze ablesen. Allerdings muss Dorsalextension des Fußes deutlich tel nur 4° [16], siehe das Patientenbei- ein erhöhter Schuhverschleiß nicht verbessern lässt [7]. spiel in Abbildung 5. Mehrere Grün- immer durch einen Fallfuß bedingt de könnten als Erklärung zusammen- sein, sondern kann bei einem „steif“ Orthetische Versorgung kommen: anmutenden Gangbild auch durch die unzureichende Kniebeugung in bei Kauergang – Erstens hatten die schlechten Ge- der Schwungphase verursacht sein Das funktionelle Therapieziel einer her in der Studie signifikant weniger [6]. Die reduzierte Fußhebung in der Orthesenversorgung in diesem Fall Plantarflexionskraft, zeigten einen Schwungphase ist dabei meist auch besteht in einer verbesserten Auf- Außenrotationsgang und Hinwei- durch eine Fußheberschwäche be- richtung aus dem Kauergang. Insbe- se auf einen dekompensierten Mit- dingt. Bei Kindern mit ICP lässt sich al- sondere bei Patienten mit schwachen telfuß. Diese Pathologien tragen zu lerdings kein direkter Zusammenhang Plantarflexoren kann eine sogenann- einem Kauergang bei und können mit der Fußheberschwäche erkennen, te Bodenreaktionsorthese die schwa- durch eine suffiziente unterschen- da auch die Spastizität der Waden- che Wadenmuskulatur unterstützen. kellange Orthesenversorgung poten- muskulatur mit evtl. vorhandenen Mit einer Bodenreaktionsorthese, im ziell sehr gut ausgeglichen werden. Kontrakturen zu einer reduzierten Englischen „floor reaction ankle foot – Zweitens zeigten schlechtere Geher Dorsalflexion in der Schwungphase orthosis“ (FRAFO), wird zum einen eine vermehrte Kniebeugung beim beiträgt [13]. Auch eine kräftige Fuß- die passive Dorsalextension limitiert. Gehen in der Standphase; trotz einer hebermuskulatur kann den Fuß nur Die über eine steife Fußplatte aufge- mittleren Aufrichtung um 17° wur- so weit anheben, wie es die Kontrak- brachten Kräfte werden über eine ven- de die vollständige Kniestreckung tur der Wadenmuskulatur zulässt. Bei trale Anlage auf den Unterschenkel nicht erreicht. Bei guten Gehern mit ausgeprägten Kontrakturen der Wade übertragen (Abb. 4). Somit wird die GMFCS I und II stellen Hüft- und handelt es sich dann aber um den Vorwärtsbewegung des Unterschen- Kniebeugekontrakturen über 15° ein zuvor beschriebenen Spitzfußgang, kels gegenüber dem Fuß beim Gehen Ausschlusskriterium für eine Orthe- der sowohl die Stand- als auch die kontrolliert und der Kraftvektor nach senversorgung dar, da eine vollstän- Schwungphase dominiert. Bei einer vorne verlagert, sodass er vermehrt dige Aufrichtung orthetisch nicht erreicht werden kann [15]. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass eine Bodenreaktionsor- these bei einer insuffizienten Waden- muskulatur und einem ungünstigen Fußhebel gute Effekte in der Kniestre- Abb. 4 Bodenreaktionsorthese mit ringförmiger ckung erreichen kann, die allerdings Fußfassung. Die roten Pfeile verdeutlichen die nur so weit streckend wirken, wie es Wirkung der Bodenreaktionskräfte auf den Unter- die individuellen Kontrakturen zulas- schenkel. Die Freigabe des Gelenkes ergibt sich aus sen. Darüber hinaus könnte mit knie- der Fußpathologie: Bei Spitzfuß wird die Plantar- übergreifenden Nachtlagerungsschie- flexion gesperrt und die Dorsalflexion um 5° frei- nen die passive Kniestreckung ver- gegeben. Bei Hackenfuß wird die Dorsalflexion ge- bessert werden. Sollte diese Lagerung sperrt und die Plantarflexion um 10° freigegeben. über Nacht nicht akzeptiert werden In Kombination mit dem Orthesenschuh wird beim und/oder keine Verbesserung ergeben, Gehen eine Vorlage von 12° angestrebt. kann eine operative knöcherne Kor- 16 Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 01/20, S. 22
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