ORTHOPÄDIE TECHNIK - Cerebralparese - Orthopädie Technik

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ORTHOPÄDIE TECHNIK - Cerebralparese - Orthopädie Technik
ORTHOPÄDIE
                 TECHNIK

Cerebralparese                                                            Sonderausgabe 2022

Offizielles Fachorgan des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik
Offizielles Fachorgan der ISPO Deutschland e. V.
ORTHOPÄDIE TECHNIK - Cerebralparese - Orthopädie Technik
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                                                                                                                          h
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                                                                                             ww

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Wir sind DIE

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Stimme der Kinderreha                                                                                 Selbs
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ist einzigartig und macht uns so erfolgreich.

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individuellen Versorgungslösungen, die dem Alltag und den Ressourcen
des betroffenen Kindes entsprechen.
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Medizin und Therapie auf Augenhöhe. rehaKIND-Fortbildungen
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Telefon +49 231 - 610 30 56
E-Mail: info@rehakind.com   www.rehakind.com
ORTHOPÄDIE TECHNIK - Cerebralparese - Orthopädie Technik
Editorial

Wenn die Ausnahme die Regel ist
C    erebralparese (CP) manifestiert sich im frühsten Kin-
     desalter. Eine „Kinderkrankheit“ ist die Bewegungs-
störung dennoch nicht – oder besser gesagt nicht mehr.
                                                                     für die Weiterentwicklung des Hilfsmittelversorgungs-
                                                                     prozesses. Mehr dazu lesen Sie ab S. 8.
                                                                        Warum das wichtig ist, kann Hans Weißenborn aus
Mittlerweile erreichen Mädchen und Jungen mit Cere-                  eigener Erfahrung bestätigen. Bei ihm wurde wenige
bralparese in ca. 90 Prozent der Fälle das Erwachsenen-              Monate nach der Geburt die Diagnose ICP gestellt. Mit
alter. Haben sie geringe Störungen, gleicht ihre Lebens-             43 Jahren hat er die Grenze zum Erwachsenenalter längst
erwartung der eines nicht Betroffenen. Die Gründe da-                überschritten. Er lebt in seiner eigenen Wohnung, ist
für liegen nicht zuletzt in den Fortschritten der Medizin.           aber auf die Unterstützung einer Assistenz angewiesen.
Das stellt Behandler:innen und Versorger:innen vor neue              Im Gespräch mit der OT-Redaktion erklärt er (ab S. 12) die
Herausforderungen, denn in jeder Lebensphase bringen                 Hintergründe und macht deutlich, dass eine gute Versor-
die Patient:innen andere Bedürfnisse mit sich. Und: Sie              gung von klein auf und ebenfalls jenseits des 18. Lebens-
alle sind individuell. Symptome, die für viele gelten, gel-          jahres von Bedeutung ist.
ten noch lange nicht für alle. Und wer aus dem „typi-                   Neues aus der Branche, Wissen und Fakten, For-
schen“ Raster fällt, ist kein Einzelfall. Bei Patient:innen          schungsthemen und persönliche Geschichten – mit die-
mit CP ist die Ausnahme die Regel.                                   ser Sonderausgabe zeigen wir, das gesamte Verlagsteam,
   Prävention, frühzeitige Diagnosestellung und The-                 einmal mehr wofür wir stehen. Das wird auch auf der
rapie: Das sind die Säulen der Versorgung – gestern wie              OTWorld 2022 deutlich, wenn die Branche in Leipzig
heute und morgen. Doch wie lässt sich Prävention er-                 zusammenkommt. Nach pandemiebedingter digitaler
folgreich umsetzen? Welche Therapie ist die passende?                Ausgabe in 2020 werden sich dann erneut „Welten ver-
Welche Versorgung sichert den Patient:innen ein wei-                 binden“. Sie, liebe Leserinnen und Leser, arbeiten daran
testgehend selbstständiges Leben? Antworten auf diese                jeden Tag, indem Sie Patient:innen die bestmögliche Ver-
und weitere Fragen gibt die OTWorld 2022 vom 10. bis                 sorgung und damit ein möglichst selbständiges Leben,
13. Mai in Leipzig – der international größte und wich-              Mobilität und Teilhabe gewähren. Sie verbinden konven-
tigste Treff der Branche. Mit der Versorgungswelt „Leben             tionelle mit additiver Fertigung, Standardversorgungen
mit CP“ zollt die Fachmesse der Behinderung besondere                mit individuellen Lösungen und Sachverstand mit Herz-
Aufmerksamkeit. Dabei tauchen die Besucher:innen in                  blut. Sie schaffen Freiheit, wo Barrieren unüberwindbar
die verschiedenen Lebensphasen der Betroffenen ein –                 scheinen und bieten Lösungen für vermeintlich aus-
vom Kleinkind bis zum Erwachsenenalter – und erfah-                  weglose Probleme. Sie verbinden Professionen, tauschen
ren, welche Hilfsmittel und Therapiemöglichkeiten not-               sich aus und bündeln Ihr Fachwissen. Immer im Blick:
wendig oder sinnvoll sein können. Ein Instrument zur                 das gemeinsame Ziel, dem nur im Team begegnet werden
Früherkennung stellt Dr. med. Daniel Herz, Oberarzt der              kann. Vielleicht schafft diese Sonderausgabe Raum, um
Klinik für Kinderorthopädie, Marienstift Arnstadt, nicht             weitere Verbindungen einzugehen – zu Themen, die Sie
nur in Leipzig, sondern auch in Kurzform in diesem Heft              bewegen, Expert:innen, deren Fachwissen Sie schätzen
(ab S. 10) vor. Die Wirbelsäulen-Ampel soll Ärzt:innen               und Forschungsansätze, die zu neuen Ideen inspirieren.
und Therapeut:innen dabei unterstützen, frühzeitig die
passende Therapie zu beginnen und die Betroffenen zu
geeigneten Fachärzt:innen weiterzuleiten.
   Vorsorge ist gut, Versorgung noch besser. Und hier
sehen Eltern, Ärzt:innen, Therapeut:innen und Tech-
niker:innen dringenden Handlungsbedarf – insbeson-
                                                                                                                                  Foto: Engelbrecht/BIV-OT

dere in der pädiatrischen Versorgung. Vor diesem Hin-
tergrund hat sich das „Aktionsbündnis für bedarfsge-
rechte Hilfsmittelversorgung“ gegründet und Vorschläge
zur Verbesserung der Hilfsmittelversorgung für Kinder
und Jugendliche mit Behinderung erarbeitet. Analoge
                                                                                                Pia Engelbrecht,
Probleme sehen die Aktiven ebenfalls bei erwachsenen
                                                                                                     Redakteurin
Menschen. Auch hier fordert das Bündnis Regelungen

                    Offizielles Fachorgan des Bundesinnungs-   Offizielles Fachorgan der ISPO
                    verbandes für Orthopädie-Technik           Deutschland e. V.                                             3
ORTHOPÄDIE TECHNIK - Cerebralparese - Orthopädie Technik
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Illustration: pch.vector/Freepik
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                  IMPRESSUM
                  Orthopädie Technik:                                         Verleger:
                  Offizielles Fachorgan des Bundesinnungs-                    Verlag Orthopädie-Technik
                  verbandes für Orthopädie-Technik und                        Postfach 10 06 51, 44006 Dortmund
                  des ISPO Deutschland e. V.                                  Reinoldistraße 7-9, 44135 Dortmund
                                                                              Phone +49 231 55 70 50-50, Fax -70
                  ISSN 0340-5591
                                                                              info@biv-ot.org, www.verlag-ot.de
                  Herausgeber:
                  Bundesinnungsverband                                        Verlagsleitung: Susanne Böttcher,
                  für Orthopädie-Technik                                      Michael Blatt (Leitung Verlagsprogramm)
                  Postfach 10 06 51, 44006 Dortmund
                  Reinoldistraße 7-9, 44135 Dortmund                          Redaktion:
                  Phone +49 231 70 50-0, Fax -40                              Pia Engelbrecht (Leitung), Irene Mechsner,
                  www.biv-ot.org                                              Heiko Cordes, Jana Sudhoff
                  Geschäftsführung: Georg Blome
                                                                              Gestaltung:
                  Alle Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats finden       Miriam Klobes, Lena Gremm,
                  Sie unter: verlag-ot.de/fachzeitschrift/beirat              Sandra Kaufmann

                                                                                   Verlag
                                                                                   Orthopädie.Technik

                                                                                                                       CEREBRALPARESE 04/22
ORTHOPÄDIE TECHNIK - Cerebralparese - Orthopädie Technik
Inhalt
                                                                                   12
                    Editorial                                           Kinder-Reha
            3       Wenn die Ausnahme die Regel ist                14   Was können Unterschenkelorthesen zur
                                                                        Verbesserung des Gangbildes bei Kindern
                    Leben mit CP                                        mit Zerebralparese leisten?
                                                                        H. Böhm et al.
            6       OTWorld: Eine Reise durch die Versorgungs-
                    welt „Leben mit CP“                            22   Orthopädietechnische Hilfsmittel zur Unter-
                                                                        stützung nach operativen Korrektureingriffen
            8       Cerebralparese – eine Erkrankung mit
                                                                        und wachstumslenkenden Maßnahmen
                    tausend Gesichtern
                                                                        im Bereich der unteren Extremität
            8       Aktionsbündnis macht sich stark für bedarfs-        D. Schreiner, F. Paulitsch
                    gerechte Hilfsmittelversorgung
            10      Ampelsystem zur Früherkennung von                   Kinderorthopädie
                    neurogenen Wirbelsäulendeformitäten            30   2D-Bewegungsanalyse in der Kinderversorgung
            11      Mustervertrag Kinder-Reha bei                       S. D’Souza
                    Krankenkassen vorgestellt
            12      Mit Unterstützung den Alltag selbstständig
                    gestalten – Interview mit Hans Weißenborn      34   Abstracts

    Exopulse Suit.
    Reduziert Spastiken,
    aktiviert die Muskeln.
     Für Menschen mit neuronalen Erkrankungen,
     wie z.B. Zerebralparese, Multipler Sklerose,
     Schlaganfall oder Rückenmarksverletzungen
     kann der Exopulse Suit zur Verbesserung der
     Mobilität, des Gleichgewichts, der Blutzirkulation
     und der damit verbundenen Schmerzen beitragen.
     Der Anzug ist eine nicht invasive, medikamenten-
     freie Lösung – Spastiken können mit Hilfe
     gezielter elektrischer Impulse reduziert werden.
     Ottobock. The human empowerment company.

                www.ottobock.de/exopulsesuit

220304_OBO_Anz_Exopulse_210x148_01_DRUCK.indd 1                                                                        04.03.22 17:11
ORTHOPÄDIE TECHNIK - Cerebralparese - Orthopädie Technik
Leben mit CP

                               OTWorld: Eine Reise durch die Versorgungswelt
                               „Leben mit CP“

                               C   erebralparese stellt nicht nur die häufigste motorische
                                   Behinderung im Kindesalter dar, sondern ist auch
                               eine mit vielen Gesichtern. So individuell der Verlauf ist,
                                                                                               Fünf Lebensabschnitte – fünf Stationen
                                                                                               Startpunkt in der Versorgungswelt „Leben mit CP“ ist das
                               so patientenorientiert muss auch die Versorgung erfolgen.       Kleinkindalter (0–6 Jahre). In dieser Zeit wird die Diagnose
                               Grund genug, der Erkrankung und deren interdisziplinä-          CP in der Regel gestellt. Sicher möglich ist das oft erst nach
                               ren Versorgungskonzepten einen besonderen Stellenwert           circa acht Monaten, wenn die Eltern motorische, aber auch
                               auf der OTWorld 2022 beizumessen: Raum dafür bietet die         kognitive und Verhaltensauffälligkeiten bemerken und die
                               Versorgungswelt „Leben mit CP“. Die Schirmherrschaft            ersten Spezialist:innen konsultieren. Je nach Einschrän-
                               hat der Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik             kungsgrad sind zu Beginn sehr kleine, hochindividuelle
                               (BIV-OT) inne, Konzeptpartner ist Rehakind, Internatio-         orthopädietechnische Versorgungen wichtig. Dazu gehö-
                               nale Fördergemeinschaft Kinder- und Jugendrehabilitati-         ren Fuß-, Sprunggelenk- und Beinorthesen, bewegliche La-
                               on e. V. In der Versorgungswelt werden die Besucher:innen       gerungsorthesen für Tag und Nacht sowie leichte, flexible
                               mit auf eine Reise durch die verschiedenen Lebensphasen         Hand- und Armorthesen sowie später orthopädische Ein-
                               der Patient:innen und Schweregrade der Behinderung (ge-         lagen und Maßschuhe. Analog zur Entwicklung eines ge-
                               mäß „Gross Motor Function Classification System“, kurz          sunden Kindes mit mehr Aktionsradius und dem Besuch
                               GMFCS) genommen. Welche Hilfsmittel sind in welcher Le-         einer Kita kommen Rehawagen, Sitzschalen, Therapie-
                               bensphase relevant? Das erfährt, wer dem Parcours Schritt       stühle, Steh- und Gehtrainer, Pflegebetten, Rollstühle, Bad-
                               für Schritt durch die Versorgungswelt folgt. Das Spektrum       und WC-Hilfen sowie Autositze hinzu.
                               der unterstützenden Hilfsmittel von Orthesen über Thera-
                               piestühle bis hin zu Rollstühlen wird anhand der jeweili-
                               gen Eigenschaften und technischen Daten vorgestellt sowie
                                                                                               Schulalter
                               anhand der dem Einsatz zugrunde liegenden Indikationen.         Anschließend folgt der Übergang zum Schulalter (6–12
                               Zudem stehen die Patient:innen mit ihren Bedarfen und die       Jahre) und für die Besucher:innen damit der Schritt zur
                               gemeinsam mit den Fachleuten formulierten Versorgungs-          nächsten Station. Deutlich wird hier: Die individuelle, dem
                               ziele im Fokus, sowohl auf Körperfunktionsebene als auch        Wachstum angepasste Orthesen- und Schuhversorgung
                               auf Aktivitäts- sowie Partizipationsebene. Die Auswahl der      bleibt in dieser Zeit elementar und notwendig, besonders
                               Hilfsmittel ist dabei angelehnt an die Hilfsmittelmatrix des    unter dem Aspekt der Teilhabe und der Inklusion in Schu-
                               Netzwerkes Cerebralparese e. V.                                 le und Alltag. Von GMFCS-Level III (unterstütztes Sitzen,
                                                                                               Transfer, unterstützte selbstständige Fortbewegung) bis V
                                                                                               (Aktivrollis bis hin zu Schiebe- und Elektrorollstühlen) wer-
                                                                                               den rehatechnische Hilfsmittel, zum Teil auch zweifach für
                                                                                               die Schule, lebensnotwendig – und das in multiprofessio-
                                                                                               neller Abstimmung mit Fachärzt:innen, Therapeut:innen,
                                                                                               Orthopädie- und Rehatechniker:innen. Die Mitwirkung
                                                                                               (Compliance) der Familien und betroffenen Kinder bei al-
                                                                                               len Versorgungen ist Grundlage des Erfolgs. Alle Lebensbe-
                                                                                               reiche von Familienalltag bis Freizeitgestaltung sowie alle
                                                                                               Arten von Mobilität müssen mit Hilfsmitteln intelligent
Foto: brockschmidtvisuals.de

                                                                                               und „lebensnah“ unterstützt werden. Die „Internationale
                                                                                               Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und
                                                                                               Gesundheit“ (ICF) und die Hilfsmittelrichtlinie sprechen
                                                                                               hier von alltagsrelevanten Versorgungszielen unter Berück-
                                                                                               sichtigung von Aktivitäten, Teilhabe und Umfeldfaktoren.

                               Die Versorgungswelt „Leben mit CP“ auf der OTWorld 2022
                                                                                               Pubertät
                               ist so aufgebaut, dass die Besucher:innen Schritt für Schritt   Weiter geht es zum nächsten Lebensabschnitt: der Puber-
                               durch die verschiedenen Lebensphasen von CP-Patient:innen       tät (12–18 Jahre). Diese Phase ist durch zahlreiche persön-
                               geleitet werden.                                                liche, psychologische, physiologische und soziale Um-

                               6
                                                                                                                                         CEREBRALPARESE 04/22
ORTHOPÄDIE TECHNIK - Cerebralparese - Orthopädie Technik
Leben mit CP

brüche gekennzeichnet und fordert selbst Familien mit
„gesunden“ Kindern massiv: Jugendliche mit CP können
kognitiv bereits in der Pubertät sein, körperlich jedoch
noch nicht und umgekehrt. Umso herausfordernder und

                                                                                                                         Foto: Rahm – Zentrum für Gesundheit
                                                               Foto: Sana Kliniken Düsseldorf GmbH
anspruchsvoller ist eine „akzeptierte“ Hilfsmittelversor-
gung, die zur Teilhabe in Gruppen Gleichaltriger beiträgt.
Gleichzeitig sind bei vielen Menschen mit CP bereits die
ersten schweren Operationen aufgrund körperlicher Fol-
geschäden an Füßen, Hüfte oder Wirbelsäule überstan-
den. Die Erhaltung der Fortschritte und die Vermeidung
von Verschlechterung sind der Hauptauftrag an Orthopä-
die- und Reha-Technik. Wichtig sind komplexe Orthesen-
lösungen, wie z. B. Korsetts für Tag und Nacht sowie erste
elektronische Hilfen zur Kommunikation oder Assistenz,         Thomas Becher (l.), Dipl.-Heilpädagoge und Facharzt für Kin-
um selbstständige Mobilität zu Hause sowie in Schule und       der- und Jugendmedizin, Sana-Klinik Düssseldorf-Gerresheim,
Freizeit so gut es geht zu ermöglichen. Gleichzeitig müs-      sowie Gunnar Kandel, Vertriebsleitung Pädiatrie, Rahm – Zen-
sen das Stehen bzw. die Aufrichtung auch als Kreislauf-        trum für Gesundheit, sind Referenten der „Interdisziplinären
unterstützung trainiert werden. Die Grundsätze „Nicht          Sprechstunde“ auf der OTWorld 2022.
ohne uns über uns“, das heißt Bedarfsermittlung erfolgt
gemeinsam mit den Nutzer:innen der Hilfsmittel, sowie
„Hilfsmittel dürfen nicht (zusätzlich) behindern“ sind die     sich: Ein gut versorgtes Kind wird ein möglichst selbststän-
Basis jedes Klientengesprächs.                                 diger und selbstbewusster Erwachsener. Dennoch wird das
                                                               Leben ruhiger: Dekubitusprophylaxe bei Lagerung, Or-
                                                               thesen und im Rollstuhl kennzeichnet diese Phase, eben-
Übergang zum Erwachsenenalter                                  so Pflegerollstühle, Assistenz und Umfeldkontrollsysteme.
Nun steht der Übergang zum Erwachsenenalter (18–21             Durch muskuläre Schwächung oder orthopädische Proble-
Jahre) an. In fast allen Lebensbereichen sind junge Men-       me werden Kopfstützen notwendig, auch ein Kopfschutz-
schen mit CP von jetzt an auf sich selbst gestellt: Die ver-   helm bei Krampfanfällen und Epilepsie gehört dazu. Wer-
traute Versorgung in Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ)         den die Atmung und der Kreislauf schwächer, müssen Lö-
und bei lebenslang bekannten Ärzt:innen endet, vie-            sungen für Mobilität gefunden werden, z. B. mit einem Be-
le Dinge müssen alleinverantwortlich geregelt und be-          atmungsgerät.
antragt werden. Die Kostenträger sind deutlich weniger
differenziert bei Hilfsmittelgenehmigungen. Als Reak-          Vorträge, Führungen,
tion auf diese Problematik und die dadurch häufige Ver-
schlechterung des Gesamtzustandes der Betroffenen wer-
                                                               Patientenvorstellungen
den zunehmend Medizinische Zentren für Erwachsene              Mit der fünften Station endet zunächst die Reise durch die
mit Behinderung (MZEB) als Anlaufstellen gegründet.            Lebensphasen von CP-Patient:innen und die interdiszipli-
Spätestens ab diesem Alter ist auch chronischer Schmerz        nären Versorgungskonzepte. Doch die Versorgungswelt
durch Fehlstellungen ein Dauerthema. Viele junge Men-          „Leben mit CP“ überzeugt mit weiteren Highlights: Vorträ-
schen mit CP wollen oder können nicht mehr laufen, des-        ge, moderierte Führungen und Patientenvorstellungen las-
halb wird die Mobilitäts- und Sitzversorgung – im Zusam-       sen verschiedene Zielgruppen erneut in die Thematik ein-
menspiel mit Orthesen und Therapie – immer wichtiger.          tauchen. Zahlreiche Angebote richten sich gezielt an Or-
Dazu gehören Stehtraining und eventuell Therapieräder          thopädie- und Rehatechniker:innen, andere sprechen Kos-
sowie Elektrorollis mit Sondersteuerungen. Nur so kann         tenträger an und nehmen insbesondere das Thema Präven-
der selbstständige Alltag bewältigt werden.                    tion durch die Versorgung mit Hilfsmitteln in den Blick. Im
                                                               Verlauf der OTWorld gewähren betroffene Patient:innen
                                                               Einblicke in ihre persönlichen Erlebnisse mit CP. Im par-
Erwachsenenalter                                               allel stattfindenden Weltkongress findet die medizinische
Der letzte Bereich in der Versorgungswelt widmet sich dem      und wissenschaftliche Ergänzung zur Versorgungswelt
Krankheitsbild und der Versorgung im Erwachsenenalter.         statt. Dabei zeigen Protagonisten der beteiligten Fachrich-
Menschen mit CP, vor allem wenn sie weniger stark betrof-      tungen im Format der „Interdisziplinären Sprechstunde“
fen sind, haben eine annähernd normale Lebenserwar-            die Vorteile der übergreifenden Versorgungsbereiche auf.
tung. Spätestens im Erwachsenenalter rächen sich jedoch        Die Jugend der Branche wird in Form einer speziell auf sie
die Sünden von standardisierter, wenig individueller Hilfs-    zugeschnittenen Führung mit dem Thema Cerebralparese
mittelversorgung. Je länger diese Menschen bereits durch       vertraut gemacht.
präventive, vorausschauende, interdisziplinär abgestimm-       Auf der OTWorld reichen sich alle Beteiligten die Hand, um
te und alltagstaugliche Hilfsmittel ab dem Kleinkindalter      den Versorgungsalltag und die -qualität mit jedem Tag ein
in ihrer Entwicklung unterstützt werden, desto mehr zeigt      Stück besser zu machen.

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CEREBRALPARESE 04/22
ORTHOPÄDIE TECHNIK - Cerebralparese - Orthopädie Technik
Leben mit CP

      Cerebralparese – eine Erkrankung mit tausend Gesichtern
      Unter einer Cerebralparese versteht man eine Ge-        mittelversorgung den Betroffenen Selbstständigkeit,
      hirnschädigung, die im frühen Kindesalter auftritt.     Teilhabe und Mobilität.
      Sie kann vor, während oder kurz nach der Geburt            Dank der Fortschritte in der medizinischen Versor-
      entstehen. Ursachen sind u. a. Sauerstoffmangel,        gung ist auch die Lebenserwartung der Betroffenen ge-
      Unfälle, Infektionen und Hirnblutungen. Betrof-         stiegen. Verbessert haben sich sowohl die Schwanger-
      fene können Mehrfachbehinderungen mit Störun-           schafts- und geburtshilfliche Betreuung als auch die
      gen der gesamten Motorik, Wahrnehmung, Spra-            Möglichkeiten der (intensiv-)medizinischen Behand-
      che, des Verhaltens und der kognitiven Funktionen       lung der Neugeborenen. Dadurch können geburtsbe-
      sowie Epilepsie aufweisen. Am häufigsten sind Stö-      dingte Komplikationen sowie angeborene Infektions-
      rungen der Motorik mit erhöhter Muskelspannung,         krankheiten verringert werden. Deutlich mehr der sehr
      der Spastik, sowie mit abnormen Haltungs- und Be-       früh geborenen Kinder mit niedrigem Geburtsgewicht
      wegungsmustern, die zur Einschränkung der Geh-          überleben mit unterschiedlich schweren Einschrän-
      fähigkeit, der Handfunktion sowie des Sprechens         kungen. Trotz der Fortschritte hat die Zahl der Betroffe-
      führen.                                                 nen in den vergangenen Jahrzehnten kaum abgenom-
         Nicht bei jedem Patienten und jeder Patientin lie-   men. Cerebrale Bewegungsbehinderungen stellen mit
      gen die gleichen Symptome vor. Umso wichtiger sind      2 bis 2,8 auf 1.000 Geburten die häufigste motorische
      eine frühzeitige Diagnosestellung sowie ein indivi-     Behinderung im Kindesalter dar. In Deutschland sind
      duelles Behandlungskonzept, das nur im Austausch        etwa 2.000 Kinder pro Jahr neu betroffen.
      eines interdisziplinären Teams erfolgen kann. Die          Anders als früher erreichen aber Kinder mit CP
      Schädigung des Gehirns kann zwar nicht therapiert       heute in ca. 90 Prozent der Fälle das Erwachsenenalter.
      werden, jedoch ermöglichen eine Behandlung und          Betroffene mit geringen Einschränkungen haben zu-
      Therapie sowie eine individuell abgestimmte Hilfs-      dem eine nahezu „normale“ Lebenserwartung.

Aktionsbündnis macht sich stark für
bedarfsgerechte Hilfsmittelversorgung
                                                                                                                               a
V   or dem Hintergrund der Petition „Stoppt die Blockade
    der Krankenkassen bei der Versorgung schwerbehin-
derter Kinder/Erwachsener” an den Petitionsausschuss des
                                                              • Er erfordert erhebliche Ressourcen bei den verordnen-
                                                                den Ärzt:innen, den Medizinischen Diensten, den Sani-
                                                                tätshäusern, den Krankenkassen und ggf. weiteren Leis-
Bundestages hat sich 2021 das „Aktionsbündnis für be-           tungsträgern.
darfsgerechte Hilfsmittelversorgung“, bestehend aus pro-
fessionellen und medizinischen Expert:innen, diversen         Folgende Probleme können hinzu kommen:
Berufsverbänden, Einzelpersonen und Selbsthilfevereinen       • Begrenzung der Leistungserbringer, z. B. auf überregi-
gegründet. Die Mitglieder haben den Hilfsmittelversor-          onale Leistungserbringer durch vertragliche Vereinba-
gungsprozess analysiert, strukturelle und wiederkehren-         rungen mit den Krankenkassen, d. h. keine wohnort-
de Probleme erkannt und Verbesserungsvorschläge formu-          nahe Versorgung durch Techniker:innen, die die Kinder
liert. Das Positionspapier bezieht sich auf die Versorgung      schon länger kennen.
mit Hilfsmitteln von Kindern und Jugendlichen mit Be-         • Unzureichende Beachtung der Bestimmungen für die
hinderungen. Analoge Probleme bestehen jedoch auch bei          medizinische Rehabilitation nach dem SGB IX 1. Teil,
erwachsenen Menschen mit Behinderungen.                         u. a. im Hinblick auf die Bedarfsermittlung, Teilhabepla-
                                                                nung, Teilhabekonferenz, Fristen und Weiterleitung
                                                              • Überlastung der Familien durch die Versorgung ihres
Problemlage                                                     schwerkranken Kindes.
Der komplexe Versorgungsprozess ist u. a. durch folgende      • Der gesamte Hilfsmittelversorgungsprozess ist selbst für
Probleme gekennzeichnet:                                        Fachleute extrem komplex und kaum überschaubar.
• Er dauert häufig zu lange, insbesondere durch lange
  Prüf- und Genehmigungsverfahren seitens der Kranken-           Die Analyse des Hilfsmittelversorgungsprozesses bei
  kassen.                                                     schwer- oder mehrfachbehinderten Kindern und Jugend-
• Er erfordert oft erhebliche bürokratische Aufwendungen      lichen mit wichtigen Hilfsmitteln und die Berichte von
  der Eltern, um das Hilfsmittel überhaupt zu erhalten.       Familien, Expert:innen und Institutionen zeigen, dass in
• Er wird durch Leistungsentscheidungen seitens der           vielen Fällen keine bedarfsgerechte Versorgung gewähr-
  Krankenkassen durch Gewährung nicht (hinreichend)           leistet ist. Das bedeutet, dass Therapie- und Teilhabeziele
  geeigneter Hilfsmittel verzögert oder gar verhindert.       nicht erreicht werden. Der lange Prozess von der Verord-

                                                                                                                               s
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Leben mit CP

    nung bis zur Nutzung des Hilfsmittels kann die Entwick-        • Einführung einer qualifizierten Verordnung für be-
    lung der Kinder erheblich beeinträchtigen – für die ge-          stimmte Personengruppen und Hilfsmittelgruppen.
    samte Familie eine enorme zeitliche, organisatorische und      • Verzicht auf eine Prüfung durch den Medizinischen
    psychische Belastung. Auch für Verordner, Assistenzkräfte        Dienst (MD), wenn eine Bedarfsermittlung und eine
    und weitere Behandler:innen entstehen zusätzliche Belas-         qualifizierte Verordnung durch eine spezialisierte er-
    tungen und Kosten. Dies gilt auch für die Krankenkassen.         mächtigte Einrichtung, insbesondere Sozialpädiatrische
    Dieser Aufwand steht in keinem Verhältnis zu dem gerin-          Zentren (SPZ), vorgelegt werden.
    gen Volumen der Versorgung von Kindern und Jugendli-           • Verkürzung der Prüf- und Genehmigungszeiträume,
    chen mit Hilfsmitteln.                                           auch durch Verpflichtung zur Kommunikation mit den
       Es ist deshalb dringend erforderlich, den Prozess der         Verordnern.
    Hilfsmittelversorgung zu verbessern. Dazu sind systema-        • Sicherstellung der fachlichen, spezifischen Qualifikati-
    tisch neue Wege zu gehen. Das Ziel muss sein, Therapie-          on der Sachbearbeitung und des MD, hier insbesondere
    und Teilhabeziele für Kinder und Jugendliche entwick-            Begutachtung durch einschlägige Fachärzt:innen.
    lungsgerecht zu erreichen, den Versorgungsprozess zu ver-      • Die Versorgungsverträge der Kostenträger dürfen einer
    kürzen und nach Möglichkeit die ganzheitliche Hilfsmit-          wohnortnahen Versorgung nicht entgegenstehen.
    telversorgung über einen längeren Zeitraum planbar zu          • Transparenz des Versorgungsprozesses sowie zum Leis-
    machen. Für alle Beteiligten sind unnötige Belastungen zu        tungsgeschehen insgesamt.
    vermeiden und gesetzliche Ansprüche zu erfüllen.
                                                                      Analoge Regelungen für die Versorgung nach Abschluss
    Optionen für die Weiterentwicklung                             des 18. Lebensjahres und für vergleichbar betroffene Er-
                                                                   wachsene (z. B. bei Betreuung in Medizinischen Zentren
    des Versorgungsprozesses                                       für Erwachsene mit Behinderung oder Spezialambulan-
    • Es bedarf einer klaren Regelung für die frühzeitige Be-      zen) sind erforderlich. Berufs- und Fachverbände werden
      darfsermittlung i. S. des SGB IX: Diese ist der ärztlichen   in Vorschläge für Qualifizierungsmaßnahmen aller an der
      Verordnung und den Entscheidungen der Krankenkasse           Hilfsmittelversorgung Beteiligten eingebunden.
      zugrunde zu legen. Hilfreich könnten ein Erhebungsfor-
      mular, analog Muster 61, und eine Verankerung in der
      Hilfsmittelrichtlinie sein.                                        Aktionsbündnis für bedarfsgerechte Hilfsmittelversorgung

activity chair.                      Einfach bewegend.

                                                       neu
                                                       Hi/Lo
                                                    Untergestell

                                                                        kg

                                                                     max. 113

schuchmann.de
                                                                                                                              9
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Leben mit CP

                                      Ampelsystem zur Früherkennung von neurogenen
                                      Wirbelsäulendeformitäten

                                      W      irbelsäulendeformitäten – insbesondere Skoliose –
                                             sind bei Patient:innen mit Cerebralparese keine Sel-
                                      tenheit. Dennoch steht der Bereich nur bedingt im Fokus
                                                                                                    deutig nachweisbar ist eine Abhängigkeit des Skolioserisi-
                                                                                                    kos vom Schweregrad der motorischen Beeinträchtigung
                                                                                                    ähnlich der Hüftluxation: Während Skoliosen bei GMFCS-
                                      der ärztlichen Aufmerksamkeit – mit teils schwerwiegen-       Level 1 (Gross Motor Function Classification System) und
                                      den und vielfältigen Folgen, die zu einer erheblichen Be-     2 eher selten sind, liegt die Inzidenz bei Patient:innen mit
                                      einträchtigung der Lebensqualität führen können. Aus          GMFCS-Level 4 und 5 über 70 Prozent [1].
                                      diesem Grund haben die Mitglieder der Modulgruppe Neu-
                                      roorthopädie des Netzwerks Cerebralparese e. V. in Zusam-     Standardisierte klinische Untersuchung
                                      menarbeit mit dem Arbeitskreis „Kindliche Wirbelsäule“
                                      der Vereinigung für Kinderorthopädie (VKO) ein Instru-
                                                                                                    bei jeder ärztlichen Routinekontrolle
                                      ment zur Früherkennung entwickelt: die Wirbelsäulen-          Die Wirbelsäulen-Ampel soll eine rechtzeitige Erkennung
                                      Ampel. In diesem Gastbeitrag erläutert Dr. med. Daniel        von Wirbelsäulendeformitäten bei Kindern und Jugend-
                                      Herz, Oberarzt der Klinik für Kinderorthopädie, Marien-       lichen, die durch eine neuromuskuläre Erkrankung beson-
                                      stift Arnstadt, die Hintergründe.                             ders gefährdet sind, gewährleisten und richtet sich primär
                                         Die Angaben zur Inzidenz von neurogenen Wirbelsäu-         an Kinderärzt:innen und Therapeut:innen. Sie soll helfen,
                                      lendeformitäten schwanken in der Literatur erheblich und      die zu detektieren, die eine zeitnahe fachorthopädische
                                      sind abhängig von Alter, Risikoprofil und Definition. Ein-    Vorstellung unbedingt benötigen. Zudem soll das einfach
                                                                                                    und schnell anzuwendende Instrument gewährleisten,
                                                                                                    dass eine standardisierte klinische Untersuchung der Wir-
                                                                                                    belsäule bei jeder ärztlichen Routinekontrolle vorgenom-
                                                                                                    men wird und bei klinischer Auffälligkeit frühzeitig die
                                                                                                    Weiterleitung zum Orthopäden, im Idealfall zum Kinder-
                                                                                                    oder Wirbelsäulenorthopäden, erfolgt.

                                                                                                    Zuordnung erfolgt nach
                                                                                                    zwei Parametern
                                                                                                    Die Wirbelsäulen-Ampel basiert auf der Zuordnung der
                                                                                                    Patient:innen zu einem funktionellen Schweregrad nach
                                                                                                    der GMFCS-Klassifikation sowie einer einfachen klini-
                                                                                                    schen Untersuchung. Sie kann ab dem 4. Lebensjahr ange-
                                                                                                    wandt werden. Aufgrund dieser beiden Parameter ist eine
                                                                                                    Zuordnung zu den Ampelfarben möglich. Dabei bedeutet:
                                                                                                    • Rot: Es bestehen klinische Auffälligkeiten im Bereich der
                                                                                                      Wirbelsäule und/oder das Risiko ist per se durch Vorlie-
                                                                                                      gen eines GMFCS-Level von 4 oder 5 stark erhöht. Hier ist
                                                                                                      eine Vorstellung beim Kinder-, Neuro- oder Wirbelsäu-
                                                                                                      lenorthopäden zeitnah geboten.
                                                                                                    • Gelb: Es liegen keine klinischen Zeichen für eine Skolio-
                                                                                                      se vor, aber durch das erhöhte Risiko bei GMFCS-Level 3
                                                                                                      sollte eine klinische Kontrolluntersuchung durch das be-
                                                                                                      treuende Behandlungsteam zwei Mal pro Jahr erfolgen.
                                                                                                    • Grün: Es liegen keine Risikofaktoren für die Entwick-
                                                                                                      lung einer Wirbelsäulendeformität vor. Eine klinische
                                                                                                      Kontrolluntersuchung durch das betreuende Behand-
                                                                                                      lungsteam sollte einmal pro Jahr erfolgen.
Foto: Netzwerk Cerebralparese e. V.

                                                                                                    Neufassung seit 2019 nach Evaluation
                                                                                                    Nach umfangreicher Evaluation im Jahr 2018 unter Betei-
                                                                                                    ligung von 29 Zentren ist die Wirbelsäulen-Ampel durch
                                                                                                    die Modulgruppe Neuroorthopädie des Netzwerk Cerebral-
                                                                                                    parese e. V. einer kompletten Überarbeitung unterzogen
                                                                                                    worden und in einer Neufassung im Februar 2019 auf dem
                                      Die Wirbelsäulen-Ampel kann ab dem 4. Lebensjahr              Kongress „Focus CP Rehakind“ in Fürstenfeldbruck vorge-
                                      angewandt werden.                                             stellt worden.

                                      10
                                                                                                                                             CEREBRALPARESE 04/22
Leben mit CP

   Neben der Hüftampel hat sich die Wirbelsäulen-Am-
pel als Screeninginstrument etabliert und ist mittlerwei-           Literatur:
le fester Bestandteil einer strukturierten Versorgung von
                                                                    [1] Willoughby KL, Ang SG, Thomason P, Rutz E, Shore
Patient:innen mit Cerebralparese im Sozialpädiatrischen             B, Buckland AJ, Johnson MB, Graham HK. Epidemiology
Zentrum (SPZ) [2].                                                  of scoliosis in cerebral palsy: A population-based study at
                                        Dr. med. Daniel Herz        skeletal maturity. Journal of Paediatrics and Child Health,
                                                                    2022; 58 (2): 295-301. doi: 10.1111/jpc.15707

Inhalte dieses Beitrags sind in ähnlicher Form bereits in der       [2] Mall V et al. Qualitätssicherung bei der Behandlung von
                                                                    Kindern und Jugendlichen mit Cerebralparese im SPZ. Ein
Fachzeitschrift „Kinder- und Jugendarzt“ 12/2016 & 01/2017,         Qualitätspapier der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädia-
Hansisches Verlagskontor GmbH, Lübeck, unter dem Titel              trie und Jugendmedizin in Kooperation mit der Vereinigung
„Die Wirbelsäulen-Ampel – ein Instrument zur Früherken-             für Kinderorthopädie und der Gesellschaft für Neuropädia-
                                                                    trie. Kinderärztliche Praxis, 2020; 91 (2): 136-141
nung von Wirbelsäulendeformitäten bei Cerebralparese (CP)“
erschienen.

Mustervertrag Kinder-Reha bei Krankenkassen vorgestellt

D   er Kinder-Reha-Mustervertrag der Internationalen För-
    dergemeinschaft Kinder- und Jugendrehabilitation Re-
hakind e. V. definiert transparent die Bedarfe und Anforde-
                                                                Erprobung und zu ICF-Kontexten (International Classifica-
                                                                tion of Functioning, Disability and Health) und viele De-
                                                                tails ausführlich festgeschrieben, um den Patient:innen
rungen bei der Versorgung von Kindern und Jugendlichen          und Familien, den Therapeut:innen, aber auch den Kosten-
mit Behinderungen in den relevanten Produktgruppen.             trägern eine schnelle patientenzentrierte Versorgung der
Hierzu hatte der Verein bereits vor der Coronapandemie          jungen Menschen zu ermöglichen.
einen Austausch mit rund 35 Kostenträgervertreter:innen.
Inzwischen ist erstmalig gemeinsam mit allen Leistungs-                                   Christiana Hennemann, Rehakind e. V.
erbringergemeinschaften (Bundesinnungsverband für Or-
thopädie-Technik, Rehavital, Sanitätshaus Aktuell, Reha-
Service-Ring, EGROH) ein konsentierter Gesamtentwurf
erstellt worden.                                                Anzeige
   Dieser wurde bereits von den Aktiven bei der AOK Bay-
ern, der IKK Classic und der Barmer persönlich vorgestellt,
die KKH signalisierte in einem Video-Meeting sehr positi-
ves Interesse und mit der AOK Rheinland/Hamburg waren
im März 2022 Gespräche terminiert. Ergebnisse daraus flos-
sen in verschiedene Verhandlungen ein. Für den Frühsom-
mer 2022 stehen weitere „große“ Krankenkassen auf dem
Programm, denn eine Standardisierung der Vertragsland-
schaft in diesem Bereich würde alle Beteiligten entlasten.

Definierte Qualitätsstandards
erleichtern Beantragungsprozedere
Ziel des Mustervertrages ist es, einen sehr komplexen und
für die jungen Patient:innen „überlebenswichtigen“ Be-
reich zu strukturieren und zu vereinheitlichen. Die fachli-
che Bearbeitung von Hilfsmittelanträgen bedeutet auch für
die Krankenkassen einen hohen zeitlichen und finanziellen
Aufwand. Das notwendige Spezialwissen kann nicht voraus-
gesetzt werden, um multidisziplinär erstellte Versorgungs-
konzepte zu überprüfen und nachzuvollziehen. Hier kön-
nen definierte Qualitätsstandards das Beantragungs- und
Genehmigungsprozedere im Sinne der frühzeitigen Förde-
rung von behinderten Kindern und Jugendlichen erheblich
erleichtern. Wichtig ist für Rehakind die produktgruppen-
übergreifende Festlegung einer Altersgrenze von 18 Jahren.
   Im Mustervertrag werden Versorgungsvoraussetzungen,
besondere personelle Qualifikationen der Leistungserbrin-
ger, transparente Dokumentation und Auswertungsmög-
lichkeiten, produktgruppenabhängige Spezifikationen zur

                                                                                                                                  11
CEREBRALPARESE 04/22
Leben mit CP

Mit Unterstützung den Alltag
selbstständig gestalten

Infantile Cerebralparese (ICP) – die Diagnose war früh
gestellt. Was die Behinderung tatsächlich bedeutet,
wurde Hans Weißenborn aber erst im jungen Erwach-
senenalter bewusst. Heute kommt der 43-Jährige damit
gut zurecht. Hilfsmittel und eine persönliche Teilassis-          Ist Hans Weißenborn
tenz unterstützen ihn im Alltag und gleichen körperliche          unterwegs, nutzt er
und geistige Defizite so gut es geht aus. Im Gespräch             einen Blindenlang-

                                                                                                                                  Foto: Weißenborn
mit der OT-Redaktion gibt Weißenborn einen Einblick               stock oder – je nach
in seine Behinderung und verrät, was er sich für die Zu-          Tagesform – einen
kunft wünscht.                                                    Rollator oder Unter-
                                                                  armgehstützen.
OT: Wann wurde die Diagnose gestellt?

Hans Weißenborn: Bei mir wurde die ICP wenige Monate              terschiedlich. Dementsprechend sind auch die Fähigkei-
nach der Geburt festgestellt. Es gab Komplikationen. Meine        ten sehr unterschiedlich. Man muss – auch als Angehöriger
Mutter hatte, als sie im achten Monat schwanger war, eine         – aufpassen, dass man die Betroffenen nicht zu sehr unter
schwere Lungenentzündung und deswegen eine Frühge-                Druck setzt, aber gleichzeitig auch nicht zu schnell aufgibt.
burt. Oder die Ärzte haben sich nicht richtig herangetraut        Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die meisten wissen,
und mich zu spät geholt. Man weiß es nicht genau. Ich den-        was sie können und was nicht.
ke, das war für meine Mutter sehr belastend – ist es bis heute.
                                                                  OT: Welche Hilfsmittel und Therapien nehmen Sie
OT: Wie äußert sich die ICP bei Ihnen?                            in Anspruch?

Weißenborn: Es ist sehr vielseitig. Ich habe eine Tetraspas-      Weißenborn: Ich habe früh Vojta-Gymnastik bekommen,
tik, eine hochgradige Sehbehinderung und leichte kogni-           was damals noch nicht selbstverständlich war. Mit Vojta
tive Probleme, also Teilleistungsschwächen. Ich habe auch         habe ich laufen gelernt. Ich sitze heute nicht im Rollstuhl –
Probleme mit dem Tastsinn. Ich kann nicht mit der Hand            Gott sei Dank nicht. Mit meinen zusätzlichen Erkrankun-
schreiben, das könnte keiner lesen (lacht). Ich kann mich         gen durch die ICP (Sehbehinderung) würde ich dann eine
zwar mündlich wunderbar ausdrücken, schwer fällt mir              ständige Assistenz benötigen. Wenn ich zu Fuß unterwegs
aber die Rechtschreibung, wenn Wörter nicht lauttreu sind.        bin, habe ich einen Blindenlangstock oder je nach Tages-
Ich habe eine gute Handlungsplanung, aber bei der Umset-          form benutze ich manchmal einen Rollator oder Unter-
zung bleibe ich oft hängen oder werfe Schritte durcheinan-        armgehstützen.
der. Um ein Bespiel zu nennen: Ich war mal ambulant in ei-
ner Reha-Klinik und sollte ein einfaches Gericht kochen. Ich      OT: Haben Sie Unterstützung im Alltag?
habe dem Ergotherapeuten alles super erklärt. Aber als es um
die Ausführung ging, war es ein totales Chaos. Man darf aber      Weißenborn: Ja, ich wohne in meiner eigenen Wohnung,
nicht vergessen: ICP ist eine Behinderung mit vielen Gesich-      habe aber eine persönliche Teilassistenz, die um die zwölf
tern. Das ist in der Öffentlichkeit nicht genug bekannt.          Stunden pro Tag da ist oder auch länger. Das ist tagesform-
                                                                  abhängig. Sie hilft bei der Grundpflege, beim Haushalt,
OT: Was heißt das genau?                                          Einkaufen und bei Außenterminen. Man darf mich nicht
                                                                  vergleichen mit jemandem, der „nur“ sehbehindert ist. Der
Weißenborn: Oft haben Menschen entweder ein sehr ne-              hat eine viel bessere Körperwahrnehmung und auch nicht
gatives Bild von Menschen mit ICP, so nach dem Motto:             die Wahrnehmungsstörungen, die ich zusätzlich habe. Es
Die können gar nichts. Die haben alle eine geistige Behin-        kann mir passieren, dass ich, wenn ich mich wasche, an
derung. Was es auch gibt, aber eben nicht auf alle zutrifft.      einer Stelle bleibe. Da muss man mich dann drauf hinwei-
Oder es heißt: Wir kennen auch jemanden mit ICP, der stu-         sen (lacht). Wenn etwas nicht so gelingt, und daran arbeite
diert dieses oder jenes oder der ist Rechtsanwalt. Also wenn      ich auch, neigt man schnell dazu, sich zu viel von der As-
der das schafft, dann schafft das meine Tochter auch. Das         sistenz abnehmen zu lassen. Aber das ist gar nicht gut. Weil
ist Quatsch. Die Schädigung ist bei jedem Menschen un-            man so Dinge wieder verlernen kann.

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                                                                                                           CEREBRALPARESE 04/22
Leben mit CP

     OT: Fühlen Sie sich gut versorgt?                              rüber gemacht, wie es nach der Schule weitergeht. Und
                                                                    diese Zukunftssorgen haben sich im Nachhinein teilweise
     Weißenborn: Teils, teils. Man muss gucken in welche Pra-       auch bestätigt. Ich habe den Einstieg ins Berufsleben und
     xen man reinkommt. Als komplexer ICP-Fall wird einem           in ein selbstständiges Leben nur bedingt geschafft. Auch
     nicht gerade die Tür geöffnet. Sehr viel läuft über „Vitamin   teilweise aufgrund von Barrieren, die durch Behörden und
     B“, man ist auf private Kontakte angewiesen. Mit Herstel-      Einrichtungen gelegt wurden. Bei mir wurde damals eine
     lern von Hilfsmitteln habe ich sehr gute Erfahrungen ge-       schwere Depression diagnostiziert. Heute geht es mir aber
     macht. Zum Beispiel habe ich über einen Hersteller privat      ganz gut. Ich habe – auch durch Psychotherapie – gelernt,
     einen Rollator gekauft. Was viele nicht wissen: Man be-        mit der Behinderung besser umzugehen. Aber das ist ein
     kommt von den Kassen nur einen Festzuschuss für einen          laufender, ein lebenslanger Prozess.
     günstigen Rollator. Und der ist auf Dauer einfach nichts.
     Der Hersteller wusste, dass ich nicht so viel Geld habe und    OT: Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
     hat mir ein Messegerät verkauft, das deutlich günstiger war
     als ein neues. Da muss ich mich bei der Firma bedanken.        Weißenborn: Mein Wunsch ist, dass es flächendeckend
     Das ist nicht selbstverständlich. Was die Krankenkassen        ICP-Ambulanzen gibt, gerade für Ältere. Viele behandeln
     angeht, habe ich unterschiedliche Erfahrungen gemacht.         nur Patienten bis 18 Jahre. Ich wünsche mir, dass Menschen
     Es kommt immer darauf an, mit welcher man zu tun hat           mit ICP in sinnvolle Beschäftigung kommen und nicht nur
     und was man erstreiten will. Meist kann man mit denen          in Behindertenwerkstätten unterkommen. Es sollte mehr
     gut reden. Aber oft muss man auch kämpfen und das ist er-      Rücksicht auf die Individualität der Personen genommen
     müdend. Ich habe auch schon die Erfahrung gemacht, dass        werden. Ja, für manche ist eine Werkstatt eine Chance und
     Hilfsmittel, die notwendig sind, verwehrt oder zu spät ge-     Fördermöglichkeit. Aber eben nicht für jeden und nicht
     nehmigt wurden.                                                jede Werkstatt ist gleich gut. Ich will keine Beschäftigungs-
                                                                    therapie machen, sondern daran wachsen und mich wei-
     OT: Wie geht es Ihnen aktuell mit der Behinderung?             terentwickeln. Für Rollstuhlfahrer wünsche ich mir, dass
                                                                    sie frei reisen können. Züge und Bahnhöfe sind oft nicht
     Weißenborn: Mit 16, 17 Jahren wurde mir klar, was die          barrierefrei. Das sollte gesetzlich garantiert werden.
     Behinderung eigentlich bedeutet. Da bin ich zum ersten
     Mal in ein tiefes Loch gefallen, habe mir viele Sorgen da-                                 Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.

                                 Die Fachmesse für mehr Lebensqualität

                                                                             23.- 25. Juni 2022
                                                          NEU!                                                                Veranstalter:

rehab-karlsruhe.com                                                                                                               13
     CEREBRALPARESE 04/22
Kinder-Reha                              H. Böhm, L. Döderlein, D. Lewens, C. U. Dussa

                                         Was können Unterschenkel-
                                         orthesen zur Verbesserung des
                                         Gangbildes bei Kindern mit
                                         Zerebralparese leisten?
                                         How Can Ankle-Foot Orthoses Improve the Gait Pattern in
                                         Children with Cerebral Palsy?

Unterschenkelorthesen sind bei Kin-      of affected children is quite variable        den Bereich der willkürlichen Mo-
dern mit Zerebralparese die am häu-      and is determined by the interaction          torik und der Gehfähigkeit in unter-
figsten verordneten Orthesen. Das        of spasticity, muscle contractures,           schiedlichem Ausmaß ein [2]. Somit
Gangbild der betroffenen Kinder          weakness, compensation mecha-                 sind betroffene Kinder und Jugend-
ist sehr variabel und wird durch das     nisms and changes in bones due to             liche mit ICP in ihren Alltagsaktivi-
Zusammenspiel von Spastik, Mus-          growth. These underlying patholo-             täten, ihrer Teilhabe und im sozialen
kelverkürzungen, Schwäche, Kom-          gies must be taken into considera-            Leben mehr oder wenige stark limi-
pensationsmechanismen und An-            tion with respect to the alignment            tiert [3]. Funktionsorthesen werden
passungen des Skeletts durch das         and mode of action of the orthosis.           bei Personen mit ICP eingesetzt, um
Wachstum bestimmt. Die zugrunde-         This article explains the biomechan-          deren Körperhaltung und -funktion
liegenden Gangpathologien müssen         ics of three common gait problems             und somit die Aktivität im Alltag zu
bezüglich Aufbau und Wirkweise           in cerebral palsy – crouch, equinus           verbessern. Bei Kindern mit ICP sind
der Orthese berücksichtigt werden.       and foot drop – and presents the              Unterschenkelorthesen mit 51 % die
In diesem Beitrag wird die Biome-        appropriate orthosis for each condi-          am häufigsten verordneten Orthesen-
chanik von drei häufigen Gangstö-        tion. To achieve the optimal effect           typen [4]. Therapieziele sind hierbei
rungen bei Zerebralparese – Kauer-       of an ankle-foot orthosis on gait, for        die Verbesserung der Funktion (19 %),
gang, Spitzfußgang und Fallfuß –         crouch gait, it must be noted that the        des Bewegungsausmaßes (22 %) oder
erläutert und die jeweils indizierte     increased knee flexion results primar-        beides (59 %). Prinzipiell sollte bei ei-
Orthesenversorgung vorgestellt. Um       ily from the foot and calf muscles,           ner Verordnung das Therapieziel der
eine optimale Wirkung von Unter-         not from contractures or weakness of          Orthesen in Bezug auf die individu-
schenkelorthesen auf das Gangbild        the proximal joints. In equinus gait,         elle Gangpathologie formuliert wer-
zu erhalten, ist beim Kauergang da-      consistently wearing the orthosis             den [5]. Die häufigsten Gangstörungs-
rauf zu achten, dass die Ursache der     can also lead to improvement when             muster, die durch Unterschenkelor-
Kniebeugestellung      hauptsächlich     walking without the orthosis. For             thesen positiv beeinflusst werden kön-
aus dem Fuß und der Wadenmus-            drop foot, the effect of the orthosis         nen, sind Kauergang, Spitzfußgang
kulatur resultiert, nicht aus Kon-       stiffness on the proximal joints must         und Fallfuß (Abb. 1). Davon stellt der
trakturen und/oder einer Schwäche        also be taken into consideration.             Kauergang die häufigste Gangstörung
der proximalen Gelenkkette. Beim                                                       dar, die bei 72 % der bilateralen Pati-
Spitzfußgang kann mit einer konse-       Key words: ankle-foot orthosis, cerebral      enten anzutreffen ist [6]. Bei Patien-
quenten Tragezeit auch eine Verbes-      palsy, ICP, gait analysis, gait pathology,    ten mit unilateraler Pathologie ist der
serung beim Gehen ohne Orthesen          crouch gait, equinus, foot drop               Kauergang mit 37 % zwar seltener, da-
erreicht werden. Beim Fallfuß ist die                                                  für besteht aber häufiger, nämlich bei
Steifigkeit der Orthese in ihrer Wir-                                                  64 % der Patienten, ein Fallfuß beim
kung auf die proximalen Gelenke zu
                                         Einleitung                                    Gehen [7]. Diese drei beschriebenen
berücksichtigen.                         Die Infantile Zerebralparese („infan-         Gangstörungen können einzeln, aber
                                         tile cerebral palsy“, ICP) ist eine Be-       auch in Kombination auftreten.
Schlüsselwörter: Unterschenkelorthese,   wegungsstörung aufgrund einer früh-              Im ersten Abschnitt des Artikels
Zerebralparese, ICP, Ganganalyse,        kindlichen Hirnschädigung, die mit            werden die klinische Relevanz, die Bio-
Gangpathologie, Kauergang, Spitz-        einer Gesamtprävalenz von 2–3/1.000           mechanik und die zugrundeliegenden
fußgang, Fallfuß                         Lebendgeburten [1] auftritt. Die da-          Ursachen der drei genannten Gangstö-
                                         durch hervorgerufene Behinderung              rungen (Kauergang, Spitzfußgang
Ankle-foot orthoses are the most         ist charakterisiert durch primäre Stö-        und Fallfuß) erläutert. Im zweiten Ab-
frequently used type of orthosis in      rungen des Nervensystems und se-              schnitt wird die Wirkung der entspre-
children with cerebral palsy. The gait   kundär der Muskulatur; sie schränkt           chenden Orthesen für die Änderung

14
                                                                                      Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 01/20, S. 20
Kinder-Reha

                                                                                          lität im Mittelfuß vorliegt oder wenn
                            a.                        b.                    c.            der Fuß relativ zur Gangrichtung bzw.
                                                                                          zur Knieachse stark nach innen oder
                                                                                          außen verdreht ist.

                                                                                          Spitzfußgang
                                                                                          Beim Spitzfußgang liegt eine dau-
                                                                                          erhafte Plantarflexion des Sprung-
                                                                                          gelenkes in der Standphase vor. Auf-
                                                                                          grund der betonten Vorfußbelastung
                                                                                          wird dieses Gangbild auch als „Ze-
                                                                                          hengang“ bezeichnet. Dieser Begriff
                                                                                          ist allerdings irreführend, da betrof-
Abb. 1 Die drei häufigsten Gangstörungsmuster bei Zerebralparese: (a) Kauer-              fene Patienten zwar mit dem Vorfuß
gang, (b) Spitzfußgang, (c) Fallfuß.                                                      auftreten, aber die Zehen dabei flach
                                                                                          auf dem Boden liegen. Außerdem
                                                                                          kann die Ferse durchaus belastet wer-
der Gangstörung anhand der Literatur             Vor allem die Hackenfüßigkeit ist ei-    den, wenn das Knie überstreckt wird.
und eigener Daten vorgestellt, und es            ner Korrektur durch Unterschenkel-       Diese Knieüberstreckung ist aber
wird auf die individuelle Indikations-           orthesen zugänglich. Die Hacken-         beim Gehen eher selten zu beobach-
stellung eingegangen.                            fußstellung in der Standphase wird       ten und fällt vor allem beim Stehen
                                                 vor allem durch eine Wadenmuskel-        auf (Abb. 3). Die Abbildung verdeut-
                                                 schwäche verursacht. Diese kann pri-     licht zudem, dass Patienten mit Spitz-
Kauergang                                        mär bestehen oder iatrogen nach un-      fuß Probleme haben, aufrecht zu ste-
Der Kauergang wird charakterisiert               nötiger oder übermäßiger Achilles-       hen. Zudem verringert sich durch die
durch das Gehen mit gebeugten Hüft-              sehnenverlängerung auftreten [8]. In     verkleinerte Unterstützungsfläche
und Kniegelenken [8], exemplarisch               der Mitte der Standphase kann wegen      die Stabilität. Durch die betonte Vor-
dargestellt in Abbildung 1a. Dieses              der Insuffizienz der Wade die Unter-     fußbelastung beim Gehen kommt
Gangmuster führt zu einem höheren                schenkelvorneigung nicht kontrol-        es sekundär zu einer übermäßigen
Energieverbrauch und geht mit einer              liert werden, und so entsteht ein Kau-   Biegebelastung des Mittelfußes [11].
vermehrten Belastung der Kniege-                 ergang. Mechanisch wandert somit         Gibt der Fuß dann in der Sagittal-
lenke einher [9]. Ein Kauergang bei              der Kraftvektor hinter die Knieachse     ebene nach, spricht man von seinem
ICP kann vielfältige Ursachen haben,             und verliert seine kniestreckende Wir-   „Durchbrechen“ [12]. Gleicherma-
die meist in Kombinationen auftre-               kung. Die Positionen der Kraftvekto-     ßen kann auch der o. g. Kauergang
ten; von distal nach proximal:                   ren beim normalen Gangablauf und         zu einer überwiegenden Vorfußbe-
                                                 beim Kauergang sind in Abbildung 2a      lastung beim Gehen führen. Zur Ver-
– am Fuß eine Hackenfüßigkeit,                   und b illustriert. Dieser Mechanis-      deutlichung kann ein Selbstversuch
– am Kniegelenk eine Knieflexions-               mus wird im Englischen als „plantar      helfen: Geht man aus dem Stand tief
  kontraktur und/oder eine Verkür-               flexion knee extension coupling“ be-     in die Hocke, verlieren i. d. R. die
  zung der Kniebeuger, eine Schwäche             zeichnet [10]. Eine ursächlich fußbe-    Fersen den Kontakt zum Boden. Des-
  und Überlänge der Kniestrecker und             dingte Pathogenese des Kauergangs        halb kann man bei einem Vorfußkon-
– am Hüftgelenk eine Flexionskontrak-            besteht auch dann, wenn eine extre-      takt beim Gehen nicht generell auf ei-
  tur [8].                                       me Spitzfußstellung oder eine Instabi-   nen Spitzfußgang schließen, sondern

Abb. 2                           a.   b.                                  Abb. 3

                                                                                                 Abb. 2 Position der Kraftvek-
                                                                                                 toren beim normalen Gangab-
                                                                                                 lauf (a) und beim Kauergang (b).

                                                                                                 Abb. 3 Patientin mit Spitzfuß
                                                                                                 beidseits mit Problemen beim
                                                                                                 aufrechten Stehen. Im linken
                                                                                                 Bein wird hierzu das Knie über-
                                                                                                 streckt und im rechten Bein ge-
                                                                                                 beugt gehalten.

                                                                                                                               15
Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 01/20, S. 21
Kinder-Reha

man sollte bei den Überlegungen im-         manuell bestimmten Schwäche der            kniestreckend wirkt. Der Korrektur-
mer auch die Stellung des Kniegelen-        Fußhebemuskulatur ist es daher wich-       effekt der Orthesen kann u. U. bei
kes mitberücksichtigen.                     tig, neben dem Schuhverschleiß auch        ICP-Patienten durchaus begrenzt
                                            die Fußhebung in der Schwungphase          sein, da Spastizität, Kontrakturen so-
                                            des Ganges zu beurteilen. Bei redu-        wie die Schwäche der proximalen Ge-
Fallfuß beim Gehen                          zierter Selektivität der Fußhebemus-       lenkkette hinzukommen [15, 16]. In
Beim Fallfußgang ist die Fußhebung          kulatur kann es durchaus vorkom-           der Literatur wurde die Wirkung knie-
in der Schwungphase reduziert oder          men, dass die manuelle Fußhebung           streckender Orthesen in vier Studi-
fehlt. Dies führt beim nachfolgenden        im Sitzen nur oder besser in gleichzei-    en an unterschiedlich schwer betrof-
Fußaufsatz oft zu einem Vorfuß- an-         tiger Hüft- und Kniebeugung ausge-         fenen Patienten mit ICP untersucht
stelle eines normalen Fersenerstkon-        führt werden kann; dieses Phänomen         [15–18]. Bei der Zusammenschau fällt
taktes. Durch die reduzierte Boden-         wird als „confusion test“ bezeichnet       auf, dass die Aufrichtung im Kniege-
freiheit in der Schwungphase erhöht         [14]. Trotz der differenzierenden kli-     lenk bei schlechteren Gehern mit ge-
sich die Stolpergefahr. Bei einseitig       nischen Testung mit dem „confu-            ringerer Gehgeschwindigkeit besser
betroffenen Patienten können kom-           sion test“ lässt sich die tatsächliche     wirkt. Nach der Datenlage kann bei ei-
pensatorische     Ausgleichsbewegun-        Fußhebung beim Gehen bei ICP da-           nem Patienten mit GMFCS III im Mit-
gen der Gegenseite zu Überbelastun-         mit nicht vorhersagen [14]. Es konnte      tel eine um 17° verbesserte Kniestre-
gen führen. Die erschwerte Fußhe-           auch gezeigt werden, dass sich beim        ckung erwartet werden, bei besseren
bung lässt sich oft am Verschleiß der       Rennen gegenüber dem Gehen die             Gehern mit GMFCS II sind es im Mit-
Schuhspitze ablesen. Allerdings muss        Dorsalextension des Fußes deutlich         tel nur 4° [16], siehe das Patientenbei-
ein erhöhter Schuhverschleiß nicht          verbessern lässt [7].                      spiel in Abbildung 5. Mehrere Grün-
immer durch einen Fallfuß bedingt                                                      de könnten als Erklärung zusammen-
sein, sondern kann bei einem „steif“        Orthetische Versorgung                     kommen:
anmutenden Gangbild auch durch
die unzureichende Kniebeugung in
                                            bei Kauergang                              – Erstens hatten die schlechten Ge-
der Schwungphase verursacht sein            Das funktionelle Therapieziel einer          her in der Studie signifikant weniger
[6]. Die reduzierte Fußhebung in der        Orthesenversorgung in diesem Fall            Plantarflexionskraft, zeigten einen
Schwungphase ist dabei meist auch           besteht in einer verbesserten Auf-           Außenrotationsgang und Hinwei-
durch eine Fußheberschwäche be-             richtung aus dem Kauergang. Insbe-           se auf einen dekompensierten Mit-
dingt. Bei Kindern mit ICP lässt sich al-   sondere bei Patienten mit schwachen          telfuß. Diese Pathologien tragen zu
lerdings kein direkter Zusammenhang         Plantarflexoren kann eine sogenann-          einem Kauergang bei und können
mit der Fußheberschwäche erkennen,          te Bodenreaktionsorthese die schwa-          durch eine suffiziente unterschen-
da auch die Spastizität der Waden-          che Wadenmuskulatur unterstützen.            kellange Orthesenversorgung poten-
muskulatur mit evtl. vorhandenen            Mit einer Bodenreaktionsorthese, im          ziell sehr gut ausgeglichen werden.
Kontrakturen zu einer reduzierten           Englischen „floor reaction ankle foot      – Zweitens zeigten schlechtere Geher
Dorsalflexion in der Schwungphase           orthosis“ (FRAFO), wird zum einen            eine vermehrte Kniebeugung beim
beiträgt [13]. Auch eine kräftige Fuß-      die passive Dorsalextension limitiert.       Gehen in der Standphase; trotz einer
hebermuskulatur kann den Fuß nur            Die über eine steife Fußplatte aufge-        mittleren Aufrichtung um 17° wur-
so weit anheben, wie es die Kontrak-        brachten Kräfte werden über eine ven-        de die vollständige Kniestreckung
tur der Wadenmuskulatur zulässt. Bei        trale Anlage auf den Unterschenkel           nicht erreicht. Bei guten Gehern mit
ausgeprägten Kontrakturen der Wade          übertragen (Abb. 4). Somit wird die          GMFCS I und II stellen Hüft- und
handelt es sich dann aber um den            Vorwärtsbewegung des Unterschen-             Kniebeugekontrakturen über 15° ein
zuvor beschriebenen Spitzfußgang,           kels gegenüber dem Fuß beim Gehen            Ausschlusskriterium für eine Orthe-
der sowohl die Stand- als auch die          kontrolliert und der Kraftvektor nach        senversorgung dar, da eine vollstän-
Schwungphase dominiert. Bei einer           vorne verlagert, sodass er vermehrt          dige Aufrichtung orthetisch nicht
                                                                                         erreicht werden kann [15].

                                                                                       Zusammenfassend kann festgestellt
                                                                                       werden, dass eine Bodenreaktionsor-
                                                                                       these bei einer insuffizienten Waden-
                                                                                       muskulatur und einem ungünstigen
                                                                                       Fußhebel gute Effekte in der Kniestre-
                                Abb. 4 Bodenreaktionsorthese mit ringförmiger          ckung erreichen kann, die allerdings
                                Fußfassung. Die roten Pfeile verdeutlichen die         nur so weit streckend wirken, wie es
                                Wirkung der Bodenreaktionskräfte auf den Unter-        die individuellen Kontrakturen zulas-
                                schenkel. Die Freigabe des Gelenkes ergibt sich aus    sen. Darüber hinaus könnte mit knie-
                                der Fußpathologie: Bei Spitzfuß wird die Plantar-      übergreifenden Nachtlagerungsschie-
                                flexion gesperrt und die Dorsalflexion um 5° frei-     nen die passive Kniestreckung ver-
                                gegeben. Bei Hackenfuß wird die Dorsalflexion ge-      bessert werden. Sollte diese Lagerung
                                sperrt und die Plantarflexion um 10° freigegeben.      über Nacht nicht akzeptiert werden
                                In Kombination mit dem Orthesenschuh wird beim         und/oder keine Verbesserung ergeben,
                                Gehen eine Vorlage von 12° angestrebt.                 kann eine operative knöcherne Kor-

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                                                                                      Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 01/20, S. 22
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